Es ist empirisch erwiesen, dass Minderheitsregierungen (eine Regierung gilt nach Definition von Volker Schneider als Minderheitsregierung, „wenn die Parteien, die diese Regierung stellen, im Parlament über keine absolute Mehrheit verfügen“) in Europa nach dem 2. Weltkrieg ein häufig anzutreffendes Phänomen darstellen. Laut Kaare Strom waren rund 37% aller Regierungen in Westeuropa von 1945 bis 1997 Minderheitsregierungen.
Die Stabilität von Minderheitsregierungen war dabei weder sonderlich hoch noch sonderlich niedrig. Da die skandinavischen Staaten Dänemark, Schweden und Norwegen die höchste Anzahl dieser Regierungsform aufweisen, beschäftigten sich neben Strom auch Sozialwissenschaftler wie Franz Urban Pappi, Wolfgang C. Müller, Eric Damgaard, William Lafferty oder Heinrich Pehle u. a. mit der Frage, weswegen gerade in zuvor genannten Ländern diese Regierungsform derart häufig auftreten, sprich, welche politischen und institutionellen Rahmenbedingungen die Entstehung begünstigten. Die Forschungsansätze dieser und anderer Autoren sind in sich nachvollziehbar und scheinen durchaus Gründe für die Vielzahl von Minderheitsregierungen zu geben, jedoch sind sie sehr speziell auf Skandinavien angewendet worden, andere Staaten Mittel- und Westeuropas wurden nur recht gering beleuchtet. Als sehr prägnantes Beispiel dient hier der in Skandinavien vorherrschende negative Parlamentarismus und die fehlende Investiturabstimmung, die die Bildung von Minderheitsregierungen jeweils begünstigen sollen.
Tatsächlich betreibt auch Großbritannien einen negativen Parlamentarismus, jedoch sind Minderheitsregierungen hier die absolute Ausnahme, was auf eine gewisse Unstimmigkeit der vorliegenden Gründe hinweist. Diese Arbeit soll daher nun erörtern, inwieweit die vorliegenden Thesen der so genannten Skandinavienforschung auf empirische Beispiele aus anderen europäischen Staaten anwendbar sind.
Einleitend werden dabei die Thesen der Skandinavienforschung in aller Kürze skizziert, um dem Leser einen Überblick über die Thematik zu geben. Daraufhin sollen eben diese Annahmen anhand empirischer Beispiele überprüft werden. Dabei wird zum einen ein nichtskandinavisches Land mit einer hohen Anzahl von Minderheitsregierungen – Italien vor dem Zusammenbruch des bestehenden Parteiensystems im Jahr 1993 – betrachtet. Zum anderen wird ein Land mit wenigen Minderheitsregierungen – die V. Republik Frankreichs – Gegenstand dieser Untersuchung sein.
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG
- 2. DIE WICHTIGSTEN THESEN DER SKANDINAVIENFORSCHUNG
- 3. BLICK IN ANDERE EUROPÄISCHE LÄNDER
- 3.1 Koalitionen in Italien bis 1993
- 3.1.1 Instabilität mit zahlreichen Minderheitsregierungen
- 3.1.2 Institutionelle und politische Rahmenbedingungen
- 3.2 Die V. Französische Republik
- 3.2.1 Koalitionsstabilität mit wenigen Minderheitsregierungen
- 3.2.2 Institutionelle und politische Rahmenbedingungen
- 4. SCHLUSSFOLGERUNG – GENERELLE ANWENDUNG MÖGLICH?
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Anwendbarkeit von Thesen der Skandinavienforschung auf andere europäische Staaten, indem sie die Rahmenbedingungen für die Bildung von Minderheitsregierungen in verschiedenen Ländern vergleicht. Sie analysiert, ob die Faktoren, die in Skandinavien die Entstehung von Minderheitsregierungen begünstigen, auch in anderen Ländern zum Tragen kommen.
- Der negative Parlamentarismus in Skandinavien und seine Auswirkungen auf die Bildung von Minderheitsregierungen.
- Die Rolle des Parteiensystems und der Fraktionsdisziplin für die Stabilität von Mehrheits- und Minderheitsregierungen.
- Der Einfluss von institutionellen und politischen Rahmenbedingungen auf die Entstehung und Stabilität von Minderheitsregierungen.
- Empirische Beispiele aus Italien und Frankreich als Gegenüberstellung zur skandinavischen Situation.
- Die Frage der Generelle Anwendbarkeit der Skandinavienforschung auf andere Länder Europas.
Zusammenfassung der Kapitel
- Kapitel 1: Einleitung
- Kapitel 2: Die wichtigsten Thesen der Skandinavienforschung
- Kapitel 3: Blick in andere europäische Länder
- Kapitel 3.1: Koalitionen in Italien bis 1993
- Kapitel 3.2: Die V. Französische Republik
Die Einleitung stellt die Thematik der Arbeit vor und beleuchtet die Häufigkeit von Minderheitsregierungen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie führt die wichtigsten Forschungsansätze der Skandinavienforschung ein, die die Entstehung von Minderheitsregierungen in Skandinavien erklären.
Dieses Kapitel fasst die wichtigsten Thesen der Skandinavienforschung zusammen, die für das Auftreten von Minderheitsregierungen in Skandinavien verantwortlich gemacht werden. Dazu gehören der negative Parlamentarismus, das fragmentierte Parteiensystem, die geringe Dominanz der Exekutive gegenüber der Legislative, die parlamentarische Mitregierung der Opposition und die verfassungsrechtlichen Einschränkungen für die Abwahl der Regierung.
Dieses Kapitel analysiert die Situation in Italien vor dem Zusammenbruch des Parteiensystems im Jahr 1993 und in der V. Republik Frankreich. Beide Länder werden als Beispiele für nicht-skandinavische Staaten betrachtet, die unterschiedliche Erfahrungen mit Minderheitsregierungen gemacht haben.
Dieser Abschnitt untersucht die Koalitionslandschaft in Italien vor 1993 und zeigt die Häufigkeit von Minderheitsregierungen auf. Er beleuchtet die institutionellen und politischen Rahmenbedingungen, die zu dieser Situation führten.
Dieser Abschnitt analysiert die Koalitionsstabilität in der V. Republik Frankreich, die durch eine geringe Anzahl an Minderheitsregierungen geprägt ist. Er beleuchtet die institutionellen und politischen Rahmenbedingungen, die die Bildung von Minderheitsregierungen in Frankreich erschweren.
Schlüsselwörter
Minderheitsregierung, Skandinavienforschung, negative Parlamentarismus, fragmentiertes Parteiensystem, Koalitionsstabilität, institutionelle Rahmenbedingungen, politische Rahmenbedingungen, Italien, Frankreich, Vergleichende Politikforschung.
- Quote paper
- Dominique Sévin (Author), 2004, Begünstigte Bildung von Minderheitsregierungen durch politische und institutionelle Rahmenbedingungen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/42082