Ein Gedanke nimmt durch die Sprache Gestalt an. Sprachliche Mittel dienen in erster Linie dem Gedankenaustausch zwischen Menschen. Zu diesem Zweck nutzen wir unser Sprachmaterial meist ohne tiefere sprachliche Überlegungen. Wir beachten die Sprachformen, mit denen wir unsere Gedanken ausdrücken, nur soweit, wie es notwendig ist, um das Verständnis beim Gesprächspartner zu sichern. Unsere Konzentration ist auf den Denkinhalt gerichtet und nicht auf dessen sprachliche Form.
Anders verhält es sich beim literarischen Autor, der die Sprache bewusst formt. Er sucht nach Sprachformen, die dem Inhalt einen treffenden ästhetischen Ausdruck verleihen. Diese bewusste Arbeit an der Sprache wird als Stilisieren bezeichnet.
Die Frage nach dem Wesen des Stils spielt bereits seit dem Altertum eine bedeutende Rolle. Dennoch sind wichtige theoretische Grundfragen der Stilistik auch heute noch stark umstritten. Ein grundlegendes Problem ist die Frage nach der Form, in welcher der Stil auftritt. Mit diesem Streitpunkt beschäftigt sich eine große Zahl von Stildefinitionen. Eine empirische Untersuchung der stilistischen Merkmale eines Textes und ihrer Rezeption durch den Leser bedarf einer Definition des Stils.
Breites Interesse hat in der Fachliteratur die Theorie der Abweichungsstilistik gefunden, die der Gegenstand dieser Arbeit ist. Die Abweichungsstilistiker bezeichnen Stil als Abweichung von einer Norm. Bei der Aufstellung von Stilnormen und Abweichungen muss der Leser entscheiden, ob eine Äußerung in einem bestimmten Sprach- und Situationskontext üblich, vorhersehbar oder unüblich, unvorhersehbar ist. Ein solches Urteil trifft dieser aufgrund seiner Spracherfahrung. Demnach ist ein Stilurteil eine Aussage über die Häufigkeitsverteilung sprachlicher Merkmale in gewissen Kontexten.
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Die Abweichungsstilistik
2.1 Die Abweichung als Fehler
3. Der stiltheoretische Ansatz von Michael Riffaterre
3.1 Der literarische Stil
3.2 Verschlüsseler und Entschlüsseler
3.3 Die Stilanalyse und ihre Kriterien bei Riffaterre
3.3.1 Kriterium 1: Der Archileser
3.3.2 Kriterium 2: Der Kontext
3.3.3 Die stilistische Untersuchung konventioneller literarischer Formen
3.3.4 Vorteile des theoretischen Ansatzes von Michael Riffaterre
4. Durchführung einer Stilanalyse nach dem abweichungsstilistischen Ansatz von Michael Riffaterre
4.1 Stilistische Untersuchung der Ergebnisse der Informantenbefragung
4.2 Methodische Probleme von Stilanalysen nach dem Konzept von Michael Riffaterre
5. Allgemeine Kritik an der Abweichungsstilistik
6. Die mustergültige Stiltheorie?
7. Schlussbetrachtung
8. Literaturverzeichnis
9. Quellenverzeichnis
1. Einleitung:
Ein Gedanke nimmt durch die Sprache Gestalt an. Sprachliche Mittel dienen in erster Linie dem Gedankenaustausch zwischen Menschen. Zu diesem Zweck nutzen wir unser Sprachmaterial meist ohne tiefere sprachliche Überlegungen. Wir beachten die Sprachformen, mit denen wir unsere Gedanken ausdrücken, nur soweit, wie es notwendig ist, um das Verständnis beim Gesprächspartner zu sichern. Unsere Konzentration ist auf den Denkinhalt gerichtet und nicht auf dessen sprachliche Form.[1]
Anders verhält es sich beim literarischen Autor, der die Sprache bewusst formt. Er sucht nach Sprachformen, die dem Inhalt einen treffenden ästhetischen Ausdruck verleihen. Diese bewusste Arbeit an der Sprache wird als Stilisieren bezeichnet.[2]
Die Frage nach dem Wesen des Stils spielt bereits seit dem Altertum eine bedeutende Rolle. Dennoch sind wichtige theoretische Grundfragen der Stilistik auch heute noch stark umstritten.[3] Ein grundlegendes Problem ist die Frage nach der Form, in welcher der Stil auftritt. Mit diesem Streitpunkt beschäftigt sich eine große Zahl von Stildefinitionen.[4] Eine empirische Untersuchung der stilistischen Merkmale eines Textes und ihrer Rezeption durch den Leser bedarf einer Definition des Stils.[5]
Breites Interesse hat in der Fachliteratur die Theorie der Abweichungsstilistik gefunden, die der Gegenstand dieser Arbeit ist. Die Abweichungsstilistiker bezeichnen Stil als Abweichung von einer Norm. Bei der Aufstellung von Stilnormen und Abweichungen muss der Leser entscheiden, ob eine Äußerung in einem bestimmten Sprach- und Situationskontext üblich, vorhersehbar oder unüblich, unvorhersehbar ist. Ein solches Urteil trifft dieser aufgrund seiner Spracherfahrung. Demnach ist ein Stilurteil eine Aussage über die Häufigkeitsverteilung sprachlicher Merkmale in gewissen Kontexten.[6]
In dieser Arbeit soll analysiert werden, in welchem Maße die Theorie der Abweichungsstilistik ihre Berechtigung zur Erfassung des Stils eines Textes findet. Da der Strukturalist Michael Riffaterre der bekannteste Vertreter dieser Stiltheorie ist, bildet seine Hypothese den Kern der Arbeit. Die Stilanalyse nach dem abweichungsstilistischen Ansatz von Michael Riffaterre wird auf ihren Wert hin überprüft. Das von Riffaterre aufgestellte Verfahren wird eigenständig erprobt. Auf diese Weise soll seine Effizienz getestet und bewertet werden. Dadurch soll die Frage geklärt werden, ob der Ansatz von Michael Riffaterre dazu geeignet ist, die stilistischen Merkmale eines Textes vollständig zu erfassen und zu analysieren.
Hierzu werden zunächst in Punkt 2 die grundsätzlichen Inhalte der Abweichungsstilistik dargestellt. Dabei wird im Unterpunkt 2.1 die Frage aufgeworfen, inwiefern man die Abweichung als Fehler bezeichnen kann. Anschließend wird in Punkt 3 der stiltheoretische Ansatz von Michael Riffaterre näher beleuchtet. Um zunächst die Grundlagen seiner Theorie vollständig zu erfassen wird in Unterpunkt 3.1 sein Verständnis vom literarischen Stil geklärt. Besonderes Augenmerk legt Riffaterre auf die Rollenverteilung zwischen dem Autor als Verschlüsseler einer Nachricht und dem Leser als dessen Entschlüsseler. Seine Ausführungen hierzu werden in Unterpunkt 3.2 dargelegt.
Danach werden in Punkt 3.3 die Stilanalyse und deren Kriterien nach Riffaterre erarbeitet. Um den literarischen Stil zu analysieren, konstruiert der Stiltheoretiker zunächst das Kriterium des Archilesers, das in Unterpunkt 3.3.1 beschrieben wird. Als zweites Stilkriterium entwickelt Michael Riffaterre den Kontext als Ersatz für die aufzustellende Norm. In Unterpunkt 3.3.2 wird dieses Phänomen erklärt. Darauf folgt in Unterpunkt 3.3.3 die Beschreibung der stilistischen Untersuchung konventioneller literarischer Formen. Abschließend werden kurz die Vorzüge der Theorie Riffaterres gegenüber anderen Ansätzen thematisiert.
Den Kern der Arbeit bildet der 4. Abschnitt. Hier wird eine eigene Stilanalyse nach dem Ansatz Riffaterres durchgeführt. Der zu analysierende Text von Franz Kafka „Eine alltägliche Verwirrung“ stammt aus dem Jahr 1917. Im Unterpunkt 4.1 wird die stilistische Wirkung der Ergebnisse der zuvor durchgeführten Informantenbefragung untersucht. Die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten werden in Unterpunkt 4.2 thematisiert. Daran schließt in Punkt 5 die allgemeine Kritik am abweichungsstilistischen Konzept an.
In Punkt 6 soll die Frage nach einer mustergültigen Stiltheorie behandelt werden. Mithilfe einiger alternativer stiltheoretischer Ansätze soll der Versuch gemacht werden, eine umfassende Lösung zu finden. In Punkt 7 werden die Ergebnisse noch einmal resümiert.
Diese Punkte bilden den Rahmen der Arbeit. Weiterführend könnte der Ansatz Riffaterres mit dem einiger anderer Abweichungsstilistiker verglichen werden, um so die Weiterentwicklung des theoretischen Ansatzes im Laufe der Zeit zu beobachten. Aus Platzgründen kann dieses Phänomen im vorgegeben Rahmen jedoch nicht thematisiert werden.
2. Die Abweichungsstilistik:
Ein Sprecher und Leser des Deutschen kann zwischen sprachlichen Ausdrücken, Wörtern und Äußerungen unterscheiden, die entweder sprachlich normal oder aber unnormal erscheinen. Der ungewöhnliche Sprachgebrauch wirkt auffällig und erregt dadurch Aufmerksamkeit.[7] Das steigende Interesse an sprachlichen Besonderheiten hat bei einigen Theoretikern[8] zu der Vorstellung geführt, dass abweichender Sprachgebrauch den Stil einer Äußerung ausmacht.[9]
Das Problem der Abweichung ergab sich im Zusammenhang mit den Bemühungen der Linguistik, auch poetische Sprachstrukturen exakt zu analysieren. Dabei sah man sich vor die Alternative gestellt, entweder die Daten dieses anders gearteten Sprachmaterials in das gültige Grammatikmodell einzubauen, oder aber eine eigene poetische Grammatik aufzustellen. Schwierigkeiten bereitet also weniger die linguistische Erklärung der Abweichungen, als vielmehr die Beurteilung ihres grammatischen und poetischen Stellenwerts.[10]
Aus diesem Phänomen hat sich in den Sechziger und Siebziger Jahren ein eigener Zweig der Stilistik herauskristallisiert. Er wird in der Literatur als Abweichungsstilistik, deviatorische, strukturalistische oder phänomenologische Stilistik bezeichnet. Um die Einheitlichkeit zu gewährleisten, wird in dieser Arbeit der Begriff der Abweichungsstilistik verwendet.
Neben Michael Riffaterre, dessen Theorie den Schwerpunkt der Arbeit bildet, ist Nils Erik Enkvist der bekannteste Vertreter der Abweichungsstilistik. Er verfolgt die Annahme, dass jeder Text mit seinen linguistischen Merkmalen mit anderen ähnlichen Texten, die als Norm gelten können, verglichen werden kann. Die Abweichung von dieser Norm wird als gegebener Stil interpretiert.[11] Enkvist zufolge hat jede Textstelle eine Konstellation von Kontexten und einen Stil. Eine Sprache ohne Stil gibt es nicht.[12]
Die herkömmliche Abweichungsstilistik beschäftigt sich hauptsächlich mit grammatischen und lexikalischen Abweichungen. Denn bezüglich Grammatik und Lexikon besitzen die Sprachteilhaber ein recht ausgeprägtes Normverständnis, welches das Gespür für Abweichungen schärft. Je auffälliger Abweichungen erscheinen, desto eher beschäftigt man sich mit ihnen.[13]
2.1 Die Abweichung als Fehler:
Man kann zwischen Abweichungen unterscheiden, die als Fehler betrachtet werden und denen, die als gewollt eingeschätzt werden. Klare Grenzen können hier jedoch nicht gezogen werden.
Was ein Fehler ist, hängt von der Auslegung Handlungsbeteiligter und Dritter ab. Die Fehlerhaftigkeit wird einer Äußerung vom Leser zugeschrieben, wenn seine Erwartungen an das Sprachhandeln nicht eingetroffen sind und wenn er glaubt, dass sie hätten eintreffen müssen. Bei der Zuschreibung eines Fehlers rechnet man mit dem Wissen des Handelnden davon, wie es eigentlich richtig wäre, da man davon ausgeht, der Fehler sei aus Versehen passiert.[14]
Die Abweichungen, die nicht als Fehler gesehen werden, werden stilistisch gewertet. Ihnen wird unterstellt, dass der Sprechhandelnde sie absichtlich macht. Die Abweichungen sind nicht nur gewollt, man ist sich ihrer auch bewusst. Stilistisch abweichen kann man jedoch auch aus Versehen. Durch das Merkmal versehentlich kann man demnach nicht hinlänglich klären, was als Fehler zu gelten hat.
In der realen Kommunikation ist es möglich, dass eine als abweichend angesehene Sprachhandlung sowohl als Fehler als auch als stilistisches Merkmal empfunden werden kann. Die Unterscheidung beruht allein auf der individuellen Interpretation.[15]
3. Der stiltheoretische Ansatz von Michael Riffaterre:
Der bekannteste Vertreter der abweichenden Stilauffassung ist der in Amerika lebende französische Strukturalist Michael Riffaterre. 1973 erschien die deutsche Übersetzung von Strukturale Stilistik. Riffaterre folgt der Auffassung, dass der abweichende Sprachgebrauch das Stilistische an einer Äußerung ausmacht. Was einer Zahl von neutralen Durchschnittslesern an einem Text stilistisch auffällt, soll analysiert werden.
Bei Riffaterre steht die Literatursprache als Objekt der Stilistik klar im Vordergrund. Er sieht den literarischen Prozess als einen Kommunikationsvorgang, der sich zwischen einem Codierer und einem Decodierer abspielt.[16]
Riffaterre geht von der Verwandtschaft von Sprache und Stil aus, die eine Übernahme linguistischer Methoden bei der Beschreibung des literarischen Gebrauchs der Sprache erwarten lassen. Stilistische Fakten seien nur in der Sprache greifbar, besäßen aber einen spezifischen Charakter, um von linguistischen Fakten unterscheidbar zu sein, was eine besondere Sammlung und Aussonderung der Elemente mit stilistischen Merkmalen bedinge. Dieses stilistische Merkmal sieht Riffaterre in der Emphase, in der Hervorhebung, durch die das jeweilige sprachliche Element eine zusätzliche Information erhält, die den Leser darauf aufmerksam macht.[17] Stil entsteht dann, wenn ein markiertes, also nicht vorhersehbares, Element auf ein unmarkiertes, also vorhersehbares, trifft.[18]
Diese Stilauffassung setzt einen Stilbegriff voraus, der nur der Abweichung von den Lesererwartungen Stilcharakter zuschreibt. Stil ist demzufolge keine allgemeine Eigenschaft aller Texte, sondern nur ein symptomatisches Merkmal bestimmter Texte.[19] Der Ansatz verdeutlicht den verständlichen Wunsch, das Stilproblem mit mathematischer Exaktheit aufzulösen.[20] Im Folgenden soll die abweichungsstilistische Theorie nach Michael Riffaterre vorgestellt werden.
3.1 Der literarische Stil:
Unter literarischem Stil versteht Riffaterre jede „individuelle Form mit literarischer Absicht“[21]. Darunter fasst er den Stil eines Autors, eines isolierten literarischen Werkes oder auch eines isolierbaren Textabschnittes.[22] Während die Sprache etwas ausdrücke, hebe der Stil etwas hervor. Sobald ein Autor Merkmale einer literarischen Sprache benutze, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen, werden sie Riffaterre zufolge Einheiten seines Stils.[23]
„Der Stil eines literarischen Werkes ist das System von Oppositionen, durch das expressive Veränderungen [...] zum linguistischen Ausdruck, zum minimalen
Kommunikationsprozess, hinzukommen.“[24]
Allgemein wird der Stil in bezug auf die linguistische Norm definiert, die durch Häufigkeitswerte ermittelt wird. Hier sieht auch Michael Riffaterre ein grundsätzliches Problem. Viele Theoretiker ersetzten diese Norm durch die Definition der Sprache eines Autors.[25] Die Sprache des Autors könne jedoch nicht den Gegenpol zum Stil bilden, da sie selbst als Stil definiert werden müsse. Für Riffaterre ist Stil vielmehr die Gesamtheit des Ideolekts.[26] Jedem Sprachfaktum könne somit eine stilistische Rolle zugeschrieben werden. Diese Rolle könne es jedoch nicht fortwährend spielen.
Durch das Herausstellen der Stimuli, also der auffälligen Merkmale, bei der Analyse nehme man nach und nach eine rein stilistische Aufteilung vor, welche die „vorgefaßten Kategorien der grammatikalischen Terminologie ersetzen wird.“[27] Am Schluss der Analyse solle man die erhaltenen Elemente in Funktion ihrer Ähnlichkeit, Abhängigkeitsbezüge, Ersetzbarkeit und Verteilung bewerten.
Um die für die Analyse benötigten Kriterien zu erhalten, klärt Riffaterre zunächst das kommunikative Verhältnis zwischen Autor und Empfänger der Nachricht. Er schreibt ihnen die Rollen des Verschlüsselers und des Entschlüsselers zu.
3.2 Verschlüsseler und Entschlüsseler:
Die Stilistik nach Michael Riffaterre untersucht diejenigen Elemente, die benutzt werden, um dem Entschlüsseler, dem Leser, die Denkweise des Verschlüsselers, des Autors, aufzuzwingen. Der Kommunikationsvorgang wird als Träger für den Ausdruck der Persönlichkeit des Sprechers und als Aufforderung für die Aufmerksamkeit des Empfängers analysiert. Die Techniken der Ausdrucksfähigkeit sollen als Wortkunst angesehen werden. In dieser Form untersuche die Stilistik den literarischen Stil.[28]
Ein Schlüsselbegriff der Riffaterreschen Theorie ist die Voraussehbarkeit, die in engem Zusammenhang mit der Aufmerksamkeit des Lesers steht. Um sich die Aufmerksamkeit des Lesers zu sichern, müsse der Schriftsteller die zu decodierenden Elemente unvorhersehbar machen.[29] In einem schriftlichen Text leite der Leser die Wörter aus fragmentarischen Komponenten ihrer Schreibung ab und rekonstruiere den gesamten Satz aus wenigen wahrgenommenen Wörtern.[30] Da die Voraussehbarkeit bewirke, dass dem Leser eine bruchstückhafte Entschlüsselung ausreiche, müssten die Elemente, die Aufmerksamkeit erregen sollen, unvorhersehbar sein.
Die einzige Möglichkeit, die dem Verschlüsseler bleibe, seine eigene Interpretation durchzusetzen, besteht nach Riffaterre darin, zu verhindern, dass der Leser irgendein wichtiges Merkmal durch Überlegung ableitet oder voraussieht. Die Vorhersehbarkeit könne eine oberflächliche Lektüre nach sich ziehen, wohingegen die Unvorhersehbarkeit den Leser zur Aufmerksamkeit zwinge.[31]
Wahrnehmung und Werturteile hängen Riffaterre zufolge von der veränderlichen psychologischen Verfassung der Leser ab. Die literarischen Aussagen selbst blieben gleich, während sich der Referenzcode des Lesers verwandele.
Die Stilistik müsse die Sprache vom Standpunkt des Entschlüsselers her untersuchen. Denn seine Reaktionen, Hypothesen über die Absichten des Autors und Werturteile seien Antworten auf die verschlüsselten Stimuli. Die Analyse müsse die Kontrastelemente, die Stimuli, herausarbeiten und ihre Ähnlichkeit und Abhängigkeit bewerten. Riffaterre folgend erhält man dadurch die stilistische Struktur eines Textes. Denn in diesem Sinne stelle die Stilistik eine Linguistik der Reaktionen der Nachricht, der Leistung des Kommunikationsvorganges und des auf unsere Aufmerksamkeit ausgeübten Zwanges dar.[32]
Der Autor als Verschlüsseler der Nachricht verfüge nicht über linguistische oder außerlinguistische Ausdrucksmittel wie Intonation und Gestik, sondern müsse diese durch Verfahren des Nachdrucks ersetzen. Das könne beispielsweise durch Hyperbeln, Metaphern und ungewöhnliche Wortfolgen erreicht werden. Da der Schriftsteller seine Äußerungen nicht den Reaktionen des Empfängers anpassen kann, müsse er seinem Verfahren eine Effizienz verleihen, die für eine unbegrenzte Zahl von Adressaten gelten könne.[33]
Nach Riffaterre beschäftigt den Autor besonders die Art und Weise, in der seine Nachricht entschlüsselt werden soll. Der Leser sei demgegenüber gezwungen zu verstehen sowie die Einstellung des Autors, bei dem was wichtig oder unwichtig ist, zu teilen.[34]
Der linguistische Referenzrahmen des Entschlüsselers verändere sich jedoch im Laufe der Zeit.[35] Riffaterre fordert, dass dieses Phänomen von der Stilistik berücksichtigt werden müsse. Er hofft damit herauszufinden, in welchem Maß ein unveränderliches System wirkungsvoll bleiben könne, obwohl sich die Referenzen veränderten und die Kluft zwischen dem Code des Autors und dem des Lesers immer größer werde.[36]
Nachdem Riffaterre die Verbindung zwischen dem Autor und dem Empfänger der literarischen Botschaft analysiert hat, stellt er zwei Kriterien zur Stilanalyse auf.
3.3 Die Stilanalyse und ihre Kriterien:
Riffaterres Stilanalyse folgend müssen zunächst alle Elemente gesammelt werden, die stilistische Merkmale aufweisen. Diese sollen dann der linguistischen Analyse unterzogen werden. Nur so könne man die Verwechselung von Sprache und Stil vermeiden. Um mit diesem vor der Analyse liegenden Schritt zu beginnen, bedürfe es spezifischer Kriterien, um die distinktiven Merkmale des Stils zu bestimmen.[37]
3.3.1 Kriterium 1: Der Archileser:
Die Werturteile der Leser werden der Abweichungsstilistik folgend durch einen im Text auffindbaren Stimulus verursacht. Der Stilforscher müsse diese Reaktionen von Informanten auf einen Text sammeln. Die Merkmale, die Reaktionen auslösen, könnten vom Informanten beispielsweise als schön, unästhetisch, gut oder schlecht bezeichnet werden. Dem Forscher sollen diese Angaben als Indizien für die relevante Struktur dienen. Die Frage nach ihrer Berechtigung in ästhetischer Hinsicht werde nicht gestellt.[38] Das Werturteil ist eine psychologische Reaktion auf den Stil. Man kann es nach Riffaterre über jede literarische Aussage treffen. Das Urteil hänge von der jeweils lesenden Person, vom Augenblick und von weiteren Faktoren ab. Es zeige dem Linguisten die Fakten des Textes, an denen er weitergehen könne. Nach Riffaterre soll es jedoch gereinigt werden, bis es nur noch das Kriterium für die Existenz dessen ist, was es hervorbringt.
Bei Riffaterres Analyseverfahren stellt der Analytiker keine Hypothese über die markierten Fakten auf. Er wartet, bis alle gesammelten Signale durch ihre Übereinstimmungen und Überschneidungen eine Interpretation ermöglichen, die sie alle mit einbezieht.
Die für jeden Stimulus oder für eine stilistische Sequenz benutzte Informatorengruppe nennt Riffaterre Archileser. Der Archileser bildet das erste Analysekriterium. So wie der gewöhnliche Leser entschlüssele auch der Archileser den Text. Er sei dabei ein Werkzeug zum Herausarbeiten der Stimuli. Der Inhalt der Leserreaktionen müsse dabei vollständig ausgeschaltet werden. Das Werturteil soll wie ein einfaches Signal behandelt werden.[39]
Auf diese Weise solle die Subjektivität ausgeschlossen werden, die ausschließlich zum Textinhalt gehört. Der Archileser solle lediglich auf das eingehen, was seine Reaktionen auslöst, die Komponenten des Textes. Dabei hält Riffaterre es für wichtig, ihn nicht durch einen Fragebogen zu orientieren. Er solle vielmehr im Text das, was seine Aufmerksamkeit erregt, unterstreichen.[40]
Die Verwendung des Archilesers bezeichnet Riffaterre als das erste, das heuristische Stadium der Analyse. Diese Phase solle garantieren, dass sich die spätere Interpretation mit der Gesamtheit der bedeutsamen Fakten befasst.[41] Obwohl die Interpretation des Archilesers nicht berücksichtigt werden dürfe, rät Riffaterre dazu, dessen fachliche Begriffe beizubehalten, um Informationen über das sprachliche Bewusstsein und das Sprachgefühl zu erhalten. Damit solle es möglich sein, die unterschiedlichen Richtungen zu erkennen, die die Existenz dieses Abweichungsfaktors für die Entschlüsselung des Textes anführen könne.[42]
Von den im gesamten Text gesammelten relevanten Stilfakten kommen nach der Theorie für die Gesamtanalyse nur diejenigen in Frage, welche die Aufmerksamkeit von n Lesern erregen. Im fortgeschrittenen Analysestadium wird der Archileser dann ersetzt durch die „Festlegung der Minimalbedingungen für die Kontrastwahrnehmung im Kontext“[43].
Alle Punkte, auf die diese Bedingungen zutreffen, sollen hervorgehoben werden. Es sollen somit die im Kontext belebten Formen gesammelt werden, also die, die sich der Beobachtung aufzwingen. Riffaterre gibt an, auf diese Weise nicht nur Vollständigkeit, sondern auch Relevanz dessen zu erhalten, was das jeweilige Werk charakterisiert.[44]
Riffaterre sieht jedoch auch Beschränkungen für das Kriterium des Archilesers. Die Verschiedenheit der Entschlüsseler könne zu einer Zerstückelung der Textstruktur führen, so dass eine Analyse nicht mehr möglich wäre.
Außerdem betreffe das Sprachgefühl des Lesers nur einen begrenzten Zeitabschnitt innerhalb der Evolution der Sprache. Dadurch könne er linguistische Elemente, die in der Vergangenheit normal waren, die er aber nicht mehr kennt, als stilistisch kennzeichnen. Solche Fehleinschätzungen bezeichnet Riffaterre als Additionsirrtümer auftreten.[45] Andererseits könne der Leser auch stilistisch relevante Elemente, die mit der Zeit vom normalen Gebrauch assimiliert wurden, nicht mehr wahrnehmen.[46] Solche Reaktionen des Archilesers seien Folgen aus dem Fortleben eines literarischen Textes über die Zeit.
[...]
[1] Faulseit, Dieter, Kühn: Stilistische Mittel und Möglichkeiten der deutschen Sprache. 5. Aufl. Leipzig: VEB 1965, S. 13.
[2] Ebd., S. 14.
[3] Michel, Georg: Einführung in die Methodik der Stiluntersuchung, Ein Lehr- und Übungsbuch für Studierende. Berlin: Volk und Wissen 1968, S. 13.
[4] Ebd., S. 16.
[5] Frey, Eberhard: Text und Stilrezeption, Empirische Grundlagenstudien zur Stilistik. Königstein: Athenäum 1980 (= Empirische Literaturwissenschaft Bd. 4), S. 2.
[6] Ebd., S. 2.
[7] Püschel, Ulrich: Das Stilmuster „Abweichen“. Sprachpragmatische Überlegungen zur Abweichungsstilistik. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 16 (1985) H. 55. S. 9-24, hier: S. 9.
[8] U. a. Charles Bruneau, Nils Erik Enkvist, Solomon Marcus, Georges Mounin, Michael Riffaterre.
[9] Püschel, Stilmuster, S. 9.
[10] Sanders, Willy: Stil und Stilistik. Heidelberg: Groos 1995, S. 28.
[11] Sowinski, Bernhard: Stilistik, Stiltheorien und Stilanalysen. Stuttgart: Metzler 1991, S. 36.
[12] Ebd., S. 37.
[13] Püschel, Stilmuster, S. 15.
[14] Ebd., S. 14.
[15] Ebd., S. 15.
[16] Zimmer, Rudolf: Stilanalyse. Tübingen: Niemeyer 1978, S. 16.
[17] Sowinski, Stilistik, S. 141.
[18] Zimmer, Stilanalyse, S. 17.
[19] Sowinski, Stilistik, S. 38.
[20] Ebd., S. 31.
[21] Riffaterre, Michael: Strukturale Stilistik. München: List Verlag KG 1973 (= Linguistik Bd. 1422)., S. 30.
[22] Ebd., S. 30.
[23] Ebd., S. 32.
[24] Ebd., S. 85.
[25] Ebd., S. 85f..
[26] Ebd., S. 88f..
[27] Ebd., S. 96.
[28] Ebd., S. 125.
[29] Zimmer, Stilanalyse, S. 16.
[30] Riffaterre, Strukturale Stilistik, S. 34.
[31] Ebd., S. 35.
[32] Ebd., S. 125.
[33] Ebd., S. 33.
[34] Ebd., S. 34.
[35] Ebd., S. 36.
[36] Ebd., S. 38.
[37] Ebd., S. 29f.
[38] Ebd., S. 40f..
[39] Ebd., S. 40.
[40] Ebd., S. 48.
[41] Ebd., S. 44.
[42] Ebd., S. 45f..
[43] Ebd., S. 45.
[44] Ebd., S. 45.
[45] Ebd., S. 48.
[46] Ebd., S. 48f..
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