Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Repräsentation der Kindheit im filmischen italienischen Neorealismus und dessen Einfluss auf das Cinema Novo, das neue brasilianische Kino, insbesondere in seiner Spätphase und die darauffolgende kinematografische Entwicklung während der Militärdiktatur und Re-Demokratisierungszeit Brasiliens. Zugrunde gelegt werden die soziokulturellen sowie politisch – kritischen Aspekte in den ausgewählten Filmproduktionen Sciuscià (1946) von Vittorio De Sica und Pixote, Asphalt – Haie (1980) von Hector Babenco.
Im ersten Teil werden die wichtigsten Merkmale und Vertreter des filmischen Neorealismus und Cinema Novo dargestellt. Die Analyse beschränkt sich dabei auf die Betrachtungsweise der Kindheit dieser Filmschulen. Darauf aufbauend, werden die behandelten Thematiken in den Filmen analysiert.
Inhaltsverzeichnis
Einführung
Die Darstellung der Kindheit im italienischen neorealistischen Film und im brasilianischen Cinema Novo
Sciuscià von Vittorio De Sica
Handlung
Figuren und Laiendarsteller
Soziale Kritik in der italienischen Nachkriegszeit: Das Kind als Hoffnungsträger einer untergangenen Gesellschaft
Kritik
Pixote, Asphalt-Haie von Hector Babenco
Handlung
Figuren und Laiendarsteller
Gewalt und Kriminalität: Die Repräsentation des Kindes in der brasilianischen Subkultur
Das Schicksal des Straßenkindes als moderner Anti-Held
Zensur des Films in Brasilien und die Kritik im Ausland
Fazit
Bibliographie
Einführung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Repräsentation der Kindheit im filmischen italienischen Neorealismus und dessen Einfluss auf das Cinema Novo, Neues brasilianisches Kino (1954–1964), insbesondere in seinerSpätphase und die darauffolgende kinematografische Entwicklung während der Militärdiktatur (1964–1985) und Re-Demokratisierungszeit (1985) Brasiliens. Zugrunde gelegt werden die soziokulturellen sowie politisch – kritischen Aspekte in den ausgewählten Filmproduktionen Sciuscià (1946) von Vittorio De Sica[1] und Pixote, Asphalt – Haie (1980) von Hector Babenco[2].
Im ersten Teil werden die wichtigsten Merkmalen und Vertreter von dem filmischen Neorealismus und dem neuen brasilianischen Kino dargestellt. Die Analyse beschränkt sich dabei auf die Betrachtungsweise der Kindheit bezüglichdieser Filmschulen. Darauf aufbauend, werden die behandelten Thematiken in den Filmen analysiert: Im Sciuscià erfolgen viele von den neorealistischen Eigenschaften wie die dokumentarische und denunziatorische Ausdrucksweise von Vittorio De Sica. Als Hauptdarsteller stehen zwei Jungen, die um sich selbst nach dem Zweiten Weltkrieg (1939–1945) in Italien kümmern müssen. Sie werden von Erwachsenen für kriminelle Taten ausgenutzt bis sie beim Erziehungsheim landen und später vor Gericht verurteilt werden. Das schwierige Lebensverhältnis von Weisen – und Straßenkinder, die als Schuhputzer oder mit Diebstahl ums Überleben kämpfen müssen, wird hierbei durch einen großen Pathos und eine märchenhafteStimmung erzählt. Demgegenüber ist die Filmhandlung von Pixote, Asphalt-Haie sehr düster und realistisch. Erzählt wird die Geschichte ein kleiner Junge, der als Straßenkind in der großen Stadt São Paulo lebt und zum Erziehungsheim gebracht wird. Da lernt er eine Jugendbande kennen und wird von dieser in der Kriminalität eingeführt. Hector Babenco ist gelungen, durch die filmische neorealistischeGrundelementen das sozio-politische Phänomen der Straßenkinder und Jungendkriminalität in Brasilien zu dokumentieren und somit die Aufmerksamkeit der Gesellschaft darauf zu wecken. Anschließend werden die wichtigsten Anhaltspunkte dieser Arbeit zusammengefasst.
Die Darstellung der Kindheit im italienischen neorealistischen Film und im brasilianischen Cinema Novo
Die neorealistischen Filme werden durch diesozialen Ungleichheit, Armut und Arbeitslosigkeit im Land bezeichnet. Das Schauplatz ist fast immer gleich: Die Großstadt wurde in den Fabriken, Elendsviertel oder zerbombten Stadtlandschaften dargestellt und meistens aus der Sichtweise der untersten Schichten erzählt, d.h. „ die Erzählperspektiv neigte sich ziemlich eindeutig auf die Seite der Partisanen, der Antifaschisten und der Frauen und Kinder, die aufgrund ihrer Schwäche die größten Opfer im Krieg erleiden mussten “.[3] Die neorealistischen Regisseure beschäftigten sich mit einer kritischenBetrachtung der Kindheit und ermöglichen durch Filmproduktionen wie Germania anno zero (1947) von Rossellini, Bellissima (1951) von Visconti oder Sciuscià (1946) und I ladri di biciclette (1948) von De Sicaneue Perspektiven auf das Kind und die kindliche Weltsicht.
Darüber hinaus ist die Suche nach einer neuen kinematographischen Ästhetik anhand eines neorealistischen Ausgangspunkt unter den brasilianischen Regisseuren zwischen 1960 und 1980 zu betrachten. Das sogenannte Cinema Novo lässt sich als eine künstlerische und intellektuelle Avantgarde bezeichnen, die das Kino im ebenbürtigen Austausch mit der Literatur und anderen Künstler das cinéma d’auteurs weiterentwickelte und in ihren Filmen die aktuellen gesellschaftlichen Debatten ästhetisch reflektierte und in einer kritischen Ausdruckweise fortführte.[4]Daher waren der Sertão [5], die favelas [6] und die Elendsgürtel Schauplätze wichtiger Werke – unter anderem Rio Zona Norte (1957) und Rio 40 graus von Nelson Pereira dos Santos; Deus e o Diabo na Terra do Sol (1963), O Dragão da Maldade contra o Santo Guerreiro (1968) von Glauber Rocha; A hora e a vez de Augusto Matraga (1965) von Roberto Santos; A Grande Cidade (1965) von Carlos Diegues. Hierbei wird die Kindheit meistens in Krisengebiete dargestellt. Vidas Secas (1963) von Pereira dos Santos zeigt, der unglückliche Schicksaal einer Bauerfamilie, die von einem trocknen Gegend in eine andere wandert, um Arbeit zu finden. Lange, sich hinziehende Einstellungen bestärken die Atmosphäre von unendlicher Trockenheit, die das menschliche Leben kaum ermöglicht.[7] Die Nebendarsteller, die kleine Brüder Gilvan und Genivaldo, werden von der Armut und herrschenden sozialen Ungerechtigkeit am meisten betroffen. In diesem Zusammenhang setzte sich Pereira dos Santos und De Sicazugleich mit der Kinderarbeit und der Ausgrenzung zwischen erwachsene und kindlicheWelt auseinander.
In der Spätphase des Cinema Novo wird die Darstellung der Kindheit anhand der von Glauber Rocha ausgeprägten Ästhetik der Gewalt und Ästhetik des Hungers von Hector Babenco im Pixote, Asphalt – Haie (1981) weiterentwickelt. Der Regisseur strebte aber in diesem Film nach einem Realismus, der bis dahin von seinen Vorgängen noch nicht erreicht wurde. Daherstellt diesem Werk ein deutlicher Unterschied zu Sciuscià (1946), obwohl sie vergleichbaren Thematiken wie z. B. die Kinderarmut, Ausweg in der Kriminalität und die unsichere (teilweise nebulöse) soziale Einrichtungen für Kinder und Jugendlichen behandeln.
An dieser Stelle muss man besonders betonen, dass Babenco sowie die ersten Regisseuren des „neues brasilianisches Kino“ sich direkt von den neorealistischen Filmproduktionen inspirieren lässt und Jahrelang gegen die Zensur und die darauffolgenden Angriffen seines Films kämpfen musste.
Im Sciuscià wird aber gezeigt, wie De Sica und Zavattini soziale Kritik ausüben und diese gleichzeitig subtil äußern. So wird am Anfang des Films darauf hingewiesen, dass es sich um eine fiktive Geschichte handelt: „ I Personaggi e gli avvenimenti di questo film sono puramente immaginari.“[8]Demgegenüber lässt sichdie ethische und ästhetische Frage beim Asphalt - Haie, wie in den Sechzigern Jahren, durch die Ästhetik der Gewalt erklären, so „ […] sollen die Gefühle und das Denken des Betrachters gezielt verletzt werden, um die soziologischen, politischen, verhaltensbezogenen Klischees vom Elend zu zerstören. “[9]Im Folgenden wollen wir auf diese Aspekte eingehen.
Sciuscià von Vittorio De Sica
Handlung
Sciuscià (Schuhputzer, 1946)gilt als ein der wichtigsten neorealistischen Filmen und stellte die erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen De Sica und Zavattini nach I bambini ci guardano (1943) dar. Dabei befassensich die Regisseure wieder mit der Kinderweltwährend der Nachkriegszeit in Italia.[10]
Im Film handelt es sich um die Geschichte von Pasquale und Giuseppe, zwei Jungen, die als Schuhputzer arbeiten und davon träumen, ein weißes Pferd zu besitzen. Sie kaufen gemeinsam ein weißer Pferd und spazieren mit ihm durch die Straßen. Die erste Sequenz des Films wird von besonderem Optimismus und märchenhaften Zügen geprägt, wie z. B. das weiße Pferd und die Wahrsagerin. DieseElemente stehen im Kontrast zu der Realität der Darstellern.Giuseppe und Pasquale werden von Erwachsenen für den Schwarzhandel ausgenutzt. Als sie eine illegale Ware, zweigestohlene amerikanische Militärdecken, an eine alte Dame verkauften, bemerken sie, dass sie eine Wahrsagerin ist. In der darauffolgenden Szene werden sie von der Wahrsagerin angezeigt und von Polizisten wegen Diebstahl festgenommen. Dies stellt den Übergang von dem zweiten Abschnitten des Films dar, wenn die beiden Junge im Erziehungsheim aufgenommen werden.
Dort verdrängt sich das Elendssituation der Nachkriegszeit, sei es in der prekären Infrastruktur, wo Kinder und Jugendlichen auf den Boden ohne Deckeim Zelle schlafen, oder die anspürbare Verzweiflung von allen, die da leben müssen: überfüllte Zelle, keine „realistische“ gesundheitliche Versorgung, Krawalle der Kinder und Gewalt gehören zum alltäglichen Leben. Doch, nach welchen Kriterien wurden Kinder und Jugendlichen in solchen Jugendgefängnissen gebracht oder inhaftiert? Wie konnte man mit der wachsenden Anzahl der Weisenkinder umgehen, die hungrig auf den Straßen lebten? Wie setzte sich die italienische Gesellschaft mit dieser Problematik auseinander? Frage, die in den vielen Bildern dieses Films die Zuschauerzum Nachdenken bringen.In diesem Zusammenhang mussten Pasquale und Giuseppe zurechtfinden. Im Jugendgefängnis werden alle stark zensiert und innerhalb der Kinder und Jugendlichen besteht auch eine Hierarchie, in der die Schwachen schnell untergeordnet werden. Sie werden meistens von Eltern oder Familienangehörigen nicht besucht, d. h. sie sind an ihrem eignen Unglück verlassen. Im einzigen Besuch Giuseppes Mutter zeigte diese sich entsetzt, weil ihr Sohn und sein Freund Pasquale ihre Straftat und dabei beteiligte Erwachsene (u.a. Giuseppes älterer Bruder) an dem Kommissar erzählt hätten. Bis zu diesem Zeitpunkt ist Giuseppe aber nicht klar, warum Pasquale die Wahrheit weitererzählte. Bei der Polizei werden sie ausgetrickst: Pasquale glaubt durch eine offene stehende Tür zu hören, wie sein Freund Giuseppe im Nebenzimmer gefoltert wird. In Wirklichkeit haben die Polizisten einen anderen Jungen dazu gebracht, die Schmerzensschreie zu inszenieren, damit Pasquale die Namen der beiden Anstifter verrät. Die Peitschenschläge, die Pasquale hört, prasseln nicht auf Giuseppes schmalen Rücken, sondern auf einen prallen Sandsack nieder.[11]Hierbei werden die damaligen Freunde zu Feinden.
Giuseppe wird von seinen Zellekameraden manipuliert, sich gegen Pasquale zu revanchieren. In der letzten Sequenz und auch Höhepunkt des Films wird gezeigt, wie Giuseppe und seine Zellekameraden während einer Filmvorschau aus dem Erziehungsheim fluchten. Dies verursacht Unruhe und Aufstand und infolgedessen stirbt der kleine Napolitaner, mit dem Pasquale sich befreundet hat. Pasquale wird dann wütend auf Giuseppe und beschließ, zusammen mit den Kommissaren sein alter Freund zu suchen. Als Pasquale dann Giuseppe mit dem weißen Pferd auf einen Brücke findet, wiederholt er die Szene, in der er von dem Gefängnisdirektor mit einem Gürtel geschlagen wurde.
Giuseppe, der in diesem Moment versucht, aus dem Schlag zu entkommen, fällt aus der Brücker runter und ist tödlich verunglückt. Pasquale läuft in Richtung verzweifelt, in der Hoffnung sein Freund zu retten aber es ist zu spät. Nun wird er zum Mörder Giuseppes, seines Leidenskameraden – und damit zu dem, was er vorher nicht war: zum Verbrecher. Das weißePferd geht weg und verschwindet in der Dunkelheit. Schließlich lassen sich die starren Erziehungsmethoden und Gewalt im Umgang mit Kindern und Jungendlichen als unwirksam erwiesen.Nach Italo Moscati wirdeine neue Generation Italiens im Sciuscià repräsentiert und„ guardare i bambini che ci guardano era la chiave per rovesciare le prospettive, per controbattere il potere adulto non soltanto del fascismo sconfitto e comunque calato fino in fondo nelle pieghe della società, e abituato a distribuire divise e comandi.”[12]
Figuren und Laiendarsteller
Im Sciuscià stellte De Sica und Zavattini wieder Kinder im Vordergrund ihrer Filmproduktion. Dabei war der Regisseur überzeugt, keine professionellen Schauspieler für die Hauptrolle darzustellen. Auf die Suche nach neuen Filmgesichte entdeckte er in einem römischen Viertel die Hauptdarsteller, die die zwei Schuhputzer inszenieren wurden, nämlich Rinaldo Smordoni und Franco Interlenghi, der nach seinem Debut ein populärer Filmstar in Italien geworden ist.[13]
Die Laiendarsteller und die reale Schauplätzen implizieren die neorealistische Suche nach einer ästhetischen Glaubwürdigkeit. Die Kunst sollte doch auf die Straße gehen und die traurige Realität der verlorenen Kindheit in dem Land darstellen, auch wenn die Phantasie durch das weiße Pferd eine besondere Bedeutung trägt. Carlo Lizzaniweist darauf hin, dass die Phantasie sowie die Wirklichkeit eine große Rolle im neorealistischen Film spielten, weil das Leben sich ebenso von Träumen ergibt und„ […] questa è stata la grandezza del Neorealismo, di non esse la pura fotografia di una realtà, eccezionale benissimo, ma di far sentire che in questa vita reale passa anche l’immaginazione, la fantasia, il capriccio, la bizzarria.”[14]De Sica, der selber als Kind von der Armut betroffen war, entschied sich aber gegen eine schnulzige Handlung und engagierte sich für den künstlerischen Erfolg des Films. Er übernahm die Regie und Filmcoach, indem er die Laiendarsteller auf ihre Rolle vorbereitete, die einzelne Szene mit ihnen besprach und hierbei ihre große Erfahrung als Theaterschauspieler einsetzte.Die Nebendarsteller unterscheiden sich aber zwischen Laiendarstellen und professionellen Schauspieler, die bereits von dem italienischen Zuschauer bekannt waren wie Maria Campi (die Wahrsagerin), Emilio Cigoli (Staffera), Leo Garavaglia (il commissario) und Claudio Ermelli (l’infermiere). In einem späteren Interview erzählte Interlenghi schon als berühmter Schauspieler, wie die Dreharbeit im Sciuscià sein Leben und Berufsauswahl stark geprägt hatte und wie die Szenen mit dem weißen Pferd, für ihn und Smordoni, besonders aufregend und auch abenteuerlich waren:
„ Il cavallo era forte, ma il cavallo c’ha preso … Da via Veneto c’è scappato via. Siamo arrivati a piazza Barberini, noi due terrorizzati dietro attaccati l’uno all’altro. Il cavallo però c’ha combinato un guaio, potevamo morì tutti e due. Hai capito da via Veneto giù fino a Piazza di Spagna.”[15]
Soziale Kritik in der italienischen Nachkriegszeit: Das Kind als Hoffnungsträger einer untergangenen Gesellschaft
Die neorealistischen Regisseure beschäftigten sich mit einer neuen Ästhetik des Films, womit sie die soziopolitischen Konflikten und vor allem die Kriegsgeschehen im zweiten Weltkrieg realistisch darstellten. Infolgedessen wird die neorealistische Filmschule als eine Gegenreaktion des sogenannten Kinos „ Telefoni bianchi “ verstanden.Diese Filme wurden so bezeichnet, weil sie maßgeblich die Hollywood – Villas statt die reale Häuser der italienischen Mittelklasse wiederspiegelt haben.[16] Daher entstanden sich die ersten (Film-) Versuchen, ohne die schon verbreitenden Hollywood – Klischees, wie z. B. Teresa Venerdì (1941), I bambini ci guardano (1943) von Vittorio De Sica, Quattro passi fra le nuvole (1942) von Blasetti und Ossessione (1943) von Luchino Visconti.
In diesem Zusammenhang werden die verlorene Kindheit und das Erwachsenwerden unter schweren Lebensbedingungen im filmischen Neorealismus besonders thematisiert.Dabei sollten die Zuschauer nachdenken, wie die sozialen Probleme des Landes sich auf das Leben der italienischen jungen Generation reflektieren. De Sica äußerte sich kritisch gegen die Situation der Schuhputzer und so viele Kinder, die unter der Armutsgrenze auf die Straßen wie Erwachsenen arbeiteten oder von kleinen Delikten lebten. So wird im Sciuscià das Elend der von der Gesellschaft verlassenen Kinder denunziert.[17] Demgegenüber stellte De Sica dar, wie diese Kinder ihr eignes Leben auch steuern können:
„[…] diese herumlungernden, hungernden, schiebenden, altklugen, pfiffigen, einsamen Kinder sehnen sich nach einem kleinen Fleck inmitten des Lasters, wo sie sich geboren fühlen. Für Giuseppe und Pasquale ist es das Pferd. Kaum haben sie sich ein paar Hundert-Lire-Scheine zusammengebettelt, eilen sie sich in den ‚Villa-Borghese‘ – Park und mieten sich den Apfelschimmel.“[18]
Im aktuellen Kontext widmen sich Wissenschaftler und Filmexperten der Forschung, wie und warum überhaupt wir als Erwachsene uns mit Kindern im Film beschäftigen. Nach Joachim Valentin wird diese Aussage aus der Sicht der Erwachsene erklärt,weil sie selber Kinder waren und dann weil sie eine Art Beheimatung in der Kindheit erfahren oder dort zumindest so etwas wie Heimat vermuten:
„Von daher gibt es eine Tradition, die positive Erfahrungen, Glückserfahrungen immer auch als Heimkehr in die Welt der eigenen Kindheit stilisiert. Dass diese Vorstellung über die Romantik und das Kindheitsbild der Aufklärung über die Hochschätzung des Kindes bis zum Gotteskind und Kinderfreund Jesus Christus zurück reicht, ist in jüngerer Zeit erst wieder deutlich herausgearbeitet worden.“ [19]
Kritik
Sciuscià erhielt den Oscar-Preis für die höchste Qualität unter widrigen Umständen im 1947.[20]Der Film kam noch zu jenem Zeitpunkt (im Erscheinungsjahr 1946) ins Kino, als die ersten Hollywoodstreifen den Markt die italienische Zuschauer zu sich gewonnen. Die meisten von ihnen lebten noch in so einem Elend, dass sie gern für ein paar Stunden die traumhaften und farbigen Filme angesehen haben. Aus diesem Grund wurde Sciuscià in Italia wie die meisten neorealistischen Filmproduktionen eher als ein kommerzieller Misserfolg in Italien bezeichnet.
Nach Lizzanihatte den Film weniger als eine Million Lira gekostet und wurde von Tamburella für viertausende Lira an einem US-Produzent (Ilya Lopert) verkauft, der dadurch eine Millon Dollar gewonnen hatte. Andere ausländische Verleiher nutzten ebenso di Möglichkeit, durch den Film viele Millionen zu verdienen, obwohl sie gar nichts daran investiert haben.[21] Im Ausland bekam Sciuscià aber die Aufmerksamkeit und Anerkennung von Kritikern und Publikum, denn der Film stellte ein ungeschminktes Bilds des Lebens im Nachkriegsitalien vor Augen dar:
[...]
[1] Vittorio De Sica (Sora Italien, 7/7/1901 – Paris Frankreich 13/11/1974) ist ein italienischer Schauspieler und Filmregisseur, der als ein der wichtigste Vertreter des filmischen Neorealismus gilt. Er drehte unter anderem I bambini ci guardano (1943), I ladri di biciclette (1948), Miracolo a Milano (1950) und La ciociara (1960).
[2] Hector Eduardo Babenco (Buenos Aires Argentina, 7/2/1946) ist ein argentinisch-brasilianischer Filmregisseur. Er wurde international bekannt u.a. mit den Filmen Pixote, Asphalt – Haie (1981) und Kuss der Spinnenfrau (1985), mit dem er zur besten Regie in der Oscar – Verleihung nominiert wurde.
[3] Polverini, Chiara (2007): Schauspiel oder Dokumentation?: Dimensionen der Wirklichkeit in Neorealismo und neuer Sachlichkeit. Bonn: Romanistischer Verl., S. 277.
[4] Vgl.: Michael, Joachim (2013): Film und Fernsehen. In: Birle, Peter (Hrsg.): Brasilien: eine Einführung. Frankfurt am Main: Vervuert [u.a.], S. 208.
[5] Portug. „das Landesinnere“, gemeint sind hier die dünn besiedelten Gebiete im Nordosten Brasilien mit extrem trockenem Klima. In: Giesenfeld, Günter (2006): Im Schatten des cinema novo: Kino und Filmwissenschaft in Brasilien. Marburg: Schüren, S. 75.
[6] Elendesviertel (Slums) in den brasilianischen Großstädten. In: Ebd.
[7] Vgl.: Aggio, Regina (2005): Cinema Novo – ein kulturpolitisches Projekt in Brasilien: Ursprünge des neuen brasilianischen Films im Kontext der Entwicklungspolitik zwischen 1956 und 1964. Remscheid: Gardez!-Verlag, S. 150.
[8] De Sica, Vittorio (1946): Sciuscià. Schuhputzer [DVD], Italien: Umbrelle, 00:02:13-00:02:17.
[9] Giesenfeld, Günter (2006): Im Schatten des cinema novo: Kino und Filmwissenschaft in Brasilien. Marburg: Schüren, S. 77-78.
[10] Vgl.: Lizzani, Carlo/ Bozzacchi, Gianni (2013): Neorealismo: non eravamo solo ladri di biciclette. Roma: Triworld, S. 53.
[11] Vgl.: Pelzer, Helmuth (1964): Vittorio de Sica. Berlin: Henschelverlag, S. 28.
[12]Moscati, Italo (2004): Vittorio De Sica: vitalità, passione e talento in un’Italia dolceamara. Roma: Ediesse, pp. 114.
[13] Vgl.: Pelzer, Helmuth (1964): Vittorio de Sica. Berlin: Henschelverlag, S. 27.
[14]Lizzani, Carlo/ Bozzacchi, Gianni (2013): Neorealismo: non eravamo solo ladri di biciclette. Roma: Triworld, S. 52.
[15] Ebd.
[16] Vgl.: Lizzani, Carlo/ Bozzacchi, Gianni (2013): Neorealismo: non eravamo solo ladri di biciclette. Roma: Triworld, S. 27.
[17] Vgl.: Masecchia, Anna (2012): Vittorio De Sica: storia di un attore. Torino: Kaplan, S. 171.
[18] Pelzer, Helmuth (1964): Vittorio de Sica. Berlin: Henschelverlag, S. 25.
[19] Valentin, Joachim (2004): Kinder sehen uns an – Wie sehen wir sie? Eine historisch-kritische Phänomenologie des Kindes. In: Orth, Stefan (Hrsg.): Kinder im Kino: Religiöse Dimensionen. Marburg: Schüren, S. 14.
[20]Vgl.: Lizzani, Carlo/ Bozzacchi, Gianni (2013): Neorealismo: non eravamo solo ladri di biciclette. Roma: Triworld, S. 53.
[21] Vgl.: Pelzer, Helmuth (1964): Vittorio de Sica. Berlin: Henschelverlag, S. 30.
- Arbeit zitieren
- Samantha Silva (Autor:in), 2016, Die Kindheit im italienischen Neorealismus und im brasilianischen Cinema Novo. Betrachtet an "Sciuscià" von Vittorio de Sica und "Pixote, Asphalt-Haie" von Hector Babenco, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/415891
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