Was ist und was darf Literatur? Gibt es ein Kriterium für Literatur oder kann man gar festlegen, wann sie gut oder schlecht sei?
Aus einer phänomenologischen Perspektive heraus werden diese zentralen Fragen der Literaturwissenschaft diskutiert.
Fast jeder verbindet Literatur mit gewissen Ansprüchen: politische Relevanz[1], eloquenter Stil [2], nicht verschroben, gut verständlich, doch auch nicht alltäglich, sie soll aus dem Alltag hebeln, sie soll begeistern, neu sein, kreativ, sie soll schön sein und gleichzeitig mit dem Hässlichsten des Menschseins konfrontieren, sie soll uns etwas geben wie Frieden, Befriedigung, Angst, Emotion, die Fähigkeit der Empathie, Wissen, den blanken Fakt, Humor, Zeitvertreib, alles, nichts, sie soll, sie soll, sie soll [3]...
Was unterscheidet einen Klassiker aus dem Literaturkanon, von einem Groschenroman, für den sich sein Autor schämt und der deshalb unter einem Pseudonym veröffentlicht werden soll [4]? Nimmt man das geschriebene Wort als Kriterium von Literatur? Sind etwa auch Kassenzettel und jede hingekrakelte Notiz Literatur? Muss ein Text gemocht werden, um Literatur zu sein? All diese Fragen können bis heute nicht eindeutig beantwortet werden. Man kann Stellung zu ihnen beziehen, man kann eine Meinung haben und man kann sich, bei dem Versuch, jene Meinung argumentativ zu untermauern, in endlose Widersprüche verwickeln. Ist deshalb jedes geschriebene Wort Literatur? Und darf Literatur, wenn es schon keine Richtlinie dafür gebe, was sie sei, über alles berichten? Nein! Dieses "Nein" ist meine These.
Fußnoten
[1] Es gibt in der Frage um die politische Relevanz zahlreiche Vertreter und literarische Strömungen, die der Meinung sind, dass Literatur immer politisch sei und politischen Einfluss geltend machen müsse. So schreibt Marion Schwenne in Was ist engagierte Literatur? Jean-Paul Satres Theorie des literarischen Engagements : "Anders als die Naturalisten meinten, kann der Autor eines literarischen Werkes kein objektiver Beobachter und Protokollant seiner Zeit und der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten sein, sondern ist immer faktisch situiert, in seiner Perspektivität bedingt." (S.4) Beispielsweise wird im russischen Formalismus des 20. Jhdts. gefordert, dass Literatur das Leben der Arbeiterbevölkerung darstellen müsse. Dies wird in der programmatischen Schrift Majakowskijs, Chlebnikows, Burljuks und Kručonychs Eine Ohrfeige für den öffentlichen Geschmack deutlich, die 1912 als erster programmatischer Text des russischen Formalismus erschien. Günter Grass verweist mehrfach auf die politische Dimension, die Literatur innehat und die politische Verantwortung, die ein Schriftsteller durch seine öffentliche Wirksamkeit trägt (er nennt dies die Verantwortung des Intellektuellen). Christian Sieg schreibt in Die engagierte Literatur und die Religion, dass die Literatur von Grass eine Autorschaft als "politische Einspruchsinstanz gegen gesellschaftliche Fehlentwicklungen" (S.1-2) inszeniere. Man kann als Beispiel aus der Dramatik Berthold Brecht anführen, der mit seinem "epischen Theater" eine moralische und politische Reflektion bei den Zuschauern hervorrufen wollte (Vgl. Maria-Carina Holz 2008: S.1.).
[2] Mit eloquentem Stil soll hier jene Sprache umschrieben werden, die gemäß der geläufigen Definition der "literarischen" Sprache von einer Alltagssprache verschieden ist (Vgl. von Werder 2013: Kap. 2.2. Seitenzählung im Werk nicht vorhanden.)
[3] Dass Literatur etwas solle, dass sie einen Zweck haben müsse ist eng verwandt mit der Frage, was verschiedene Menschen überhaupt als gute Literatur ansehen und welche Erwartungen sie dementsprechend gegenüber Texten äußern. Eine ausgiebe Untersuchung zu den verschiedenen Möglichkeiten Literatur als gut oder schlecht aufzufassen liefert Hans-Dieter Gelfert in Was ist gute Literatur? Wie man gute Bücher von schlechten unterscheidet. (C.H. Beck 2010).
[4] Dass der Groschenroman zu Beginn des 19. Jhdts. bereits einen "schweren Stand" innegehabt hätte, beschreibt Claudia Stockinger in Logik der Prosa: zur Poetizität ungebundener Rede: "Insbesondere die Obrigkeiten lehnten den Groschenroman ab. Man attestierte ihm subversives Potential [...]." (S. 91.) Zur Unterscheidung von Literatur und sogenannter "Trivialliteratur" ist 2017 im Springer Verlag eine Untersuchung von Peter Nusser zum Begriff der Trivialliteratur unter dem Titel Trivialliteratur erschienen.
- Quote paper
- Melwin Schneider (Author), 2017, Was ist und was darf Literatur?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/415640
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