Christus medicus? Jesu Therapiemaßnahmen in den Heilungswundern des Markusevangeliums


Hausarbeit, 2017

24 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Christus Medicus – Eine Definition

3. Jesu Heilstaten im Markusevangelium
3.1 Formaler Aufbau
3.2 Analyse der Therapiemaßnahmen
3.2.1 Die Heilung der Schwiegermutter des Simon (Mk 1, 29-31)
3.2.2 Die Heilung eines Aussätzigen (Mk 1, 40-45)
3.2.3 Die Heilung eines Gelähmten in Kapernaum (Mk 2, 1-12)
3.2.4 Die Heilung einer abgestorbenen Hand am Sabbat (Mk 3, 1-6)
3.2.5 Die Heilung einer an Blutungen leidenden Frau und die Auferweckung der Tochter eines Synagogenvorstehers (Mk 5, 21-43)
3.2.6 Der Taubstumme (Mk 7, 31-37)
3.2.7 Der Blinde (Mk 8, 22-26)
3.2.8 Der blinde Bartimäus (Mk 10, 46-52)
3.3 Art der Krankheiten
3.4 Jesu Therapiemaßnahmen

4. Heilungen in der Umwelt des Neuen Testaments
4.1 Die frühchristliche Krankheitsauffassung
4.2 Das Berufsbild des Arztes in der antiken Umwelt
4.3 Wunderheilung und Magie
4.4 Heilung und Religion

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Christus medicus – ein gängiger Hoheitstitel, der die heilende Wirkung Jesu in den Vordergrund rückt. Die Bezeichnung ist lateinisch und bedeutet übersetzt so viel wie „Christus, der Arzt“. Wie kommt Jesus zu diesem Titel? Im Neuen Testament werden viele Erzählungen überliefert, in denen Jesus Wunder vollbringt. Die Gattung der Wundergeschichten lässt sich, nach G. Theissen, in verschiedene Untergattungen kategorisieren. Eine dieser Untergattungen ist die der Heilungswunder, denen Jesus seinen medizinischen Zusatztitel zu verdanken hat.

Im Markusevangelium, welches die Grundlage des Seminars und dieser Arbeit bildet, werden insgesamt 15 Heilungen überliefert.[1] Vier dieser Heilungen geschehen durch die Austreibung dämonischer Fremdmächte, die für diese Untersuchung der Tätigkeit Jesu als medizinischem Heiler, bzw. Arzt, weniger interessant sind. Die übrigen elf Heilungen vollbringt Jesus durch wunderliche, aktive oder passive Therapiehandlungen oder sogar allein durch sein Wort. Jesus heilt auf seinen Wegen zum einen ganze Gruppen von Menschen, die nicht näher definiert werden, zum anderen wird von Einzelheilungen erzählt. Die Heilungen geschehen entweder unaufgefordert oder auf Bitten der Kranken oder Angehörigen hin. Es wird davon berichtet, dass Jesus bei der Ankunft in neue Städte von Volksmengen belagert wird, die seine heilende Kraft in Anspruch nehmen wollen.

Wie aber vollbringt Jesus seine Heilstaten? Warum strömen die Menschen mit ihren Problemen von weit her zu Jesus und begnügen sich nicht mit den ansässigen praktizierenden Ärzten? In dieser Arbeit soll anhand ausgewählter, repräsentativer Heilungserzählungen des Markusevangeliums in exegetischer Weise untersucht werden, welche „Therapiemaßnahmen“ Jesus zur Heilung der Menschen anwendete und inwieweit diese die Charakterisierung und Titulierung Jesu als Arzt rechtfertigen. Im Zuge dieses Vorhabens soll zunächst der Hoheitstitel „Christus medicus“ näher definiert werden. Im nächsten Schritt sollen die markinischen Heilungserzählungen formal und gattungstechnisch betrachtet werden. Zur möglichst textnahen Analyse der Heilungsvorgänge wird aufgrund fehlender Griechischkenntnisse Lüdemann und Schleritts „Arbeitsübersetzung des Neuen Testaments“[2] als Grundlage genutzt. Zum Schluss soll die Krankheitsauffassung und das Medizinwesen in der Umwelt Jesu dargestellt werden, um Jesu Heilstätigkeiten vergleichen und kontextualisieren zu können. In einem Fazit soll anhand der Ergebnisse Jesu Bezeichnung als „Arzt“ kritisch hinterfragt und beurteilt werden.

2. Christus Medicus – Eine Definition

Wie kam es dazu, dass Jesus der Titel des „Medicus“ zugeschrieben wurde? Die Tradition dieses Hoheitstitels lässt sich bis ins Alte Testament verfolgen. In mehreren Textpassagen des AT wird deutlich, dass Gott der einzige und größte Heiler der Menschen sei, wenn sie an ihn glaubten.[3] In dem Bibelvers Ex 15, 26 gibt Jahwe sich selbst als Arzt des Volkes Israel zu erkennen. Er ist der Herrscher über die Krankheiten und bestimmt, wem diese auferlegt werden und wer verschont bleibt:

Und er sprach: Wenn du auf die Stimme des HERRN, deines Gottes, hörst und tust, was in seinen Augen recht ist, wenn du auf seine Gebote hörst und alle seine Satzungen hältst, dann werde ich all die Krankheiten, die ich nach Ägypten gebracht habe, nicht über dich bringen. Ich, der HERR, bin dein Arzt. (Ex 15, 26)

Von Exodus, über die Chroniken, die Psalmen und bis hin zu den Propheten zieht sich die göttliche Funktion des Heilens durch die Bibel. Dass auch Jesus sich heilsam um seine Mitmenschen kümmerte, belegen viele Erzählungen des Neuen Testaments, insbesondere die Wunderheilungserzählungen in den Evangelien. Auf der Grundlage dieser Erzählungen entwickelte sich schon im frühen Christentum die Bezeichnung Jesu als Arzt, was sich aus den frühchristlichen Quellen ableiten lässt. Das früheste Zeugnis dieser Titulierung findet sich bei Ignatius von Antiochien um 100 n.Chr. mit den Worten „Einen Arzt gibt es, Jesum Christum, unseren Herrn.“[4] Die Tradition, von Christus als „dem Arzt“ zu sprechen reicht bis in die frühe Kirche zurück und hält sich bis in die Moderne. Auch in der bildenden Kunst und Malerei erfreute sich das Motiv des Jesus als Arzt großer Beliebtheit.[5]

Die Bezeichnung Jesu als Heiler ist jedoch nicht nur metaphorisch gemeint. In den Evangelien und den Berichten und Briefen der urchristlichen Gemeinden bezogen sich die Heilungen ganz deutlich auch auf die Heilung körperlicher Leiden. Die urchristlichen Schriften des Kyrill von Jerusalem belegen, dass Jesus explizit als „Arzt der Seelen und Körper“[6] bezeichnet wurde und auch körperliche Heilung mit Jesus verbunden wurde. Im Folgenden soll ein genauerer Blick auf das Markusevangelium, dass als Grundlage dieser Arbeit dient, geworfen werden.

3. Jesu Heilstaten im Markusevangelium

Jesu Heilstaten ziehen sich durch das gesamte Markusevangelium bis hin zum Beginn der Passionsgeschichte. Jesus trifft auf seinen Wegen auf Kranke oder deren Angehörige, die ihn um seine Hilfe bitten oder heilt Kranke aus freien Stücken. In den einzelnen Heilungswundern wird die Krankheit und Situation der Betroffenen knapp beschrieben, darauf folgt der Bericht Jesu Heilshandlung und dessen Ergebnis. Aus diesem formalen Aufbau fallen die drei Heilungssummarien heraus[7], in denen der Evangelist knapp zusammenfassend von mehreren Heilungen berichtet. Diese Summarien stellen einen Teilbereich der Wunderüberlieferung dar,[8] sind aber für die Untersuchung Jesu Therapiemaßnahmen nicht ergiebig und werden hier außer Acht gelassen.

Eine weitere Besonderheit stellt die Heilung durch Dämonenaustreibungen (Exorzismen) dar, die vier Mal im Markusevangelium vorkommt.[9] Heute wird formgeschichtlich zwischen Wunderheilungen und Exorzismen differenziert.[10] Für die Betrachtung von Jesus medizinischen Heilshandlungen fallen die Exorzismen aus inhaltlichen Gründen heraus, denn es handelt sich hierbei um eine krankmachende Fremdbeherrschung durch böse Geister, welche nicht einer Therapie, sondern einer Austreibung bedarf.[11]

Nach dieser systematischen Eingrenzung bleiben acht markinische Wunderheilungsgeschichten übrig, die Potenzial für die Beantwortung der Fragestellung dieser Arbeit aufweisen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

3.1 Formaler Aufbau

Ihrer Form nach sind die Heilungsgeschichten der Gattung der Wundererzählungen, der vom Textumfang her größten Gattung der Jesustradition, zuzuordnen.[12] Nach Gerd Theißen haben wir es bei den Heilungserzählungen mit der thematischen Untergattung der „Therapien“ zutun, die inhaltlich folgendermaßen zusammengefasst werden: „Heilung durch Übertragung einer wunderhaften Energie vom Wundertäter auf den Kranken“.[13] Alle Erzählungen der Wunderheilungen folgen einem standardisierten formalen Ablauf, der von Conzelmann und Lindemann folgendermaßen dargestellt wurde.

1. Exposition: Knappe Schilderung der Situation, die auf das kommende vorbereitet.

2. Vorbereitung: Die Handlung steuert auf das Wunder zu.

3. Durchführung: Das Wunder geschieht, entweder durch ein Wort oder durch eine Handlung.

4. Demonstration: Die Wirkung des Wunders zeigt sich.

5. Reaktion: Die Anwesenden preisen im ‚Chorschluss’ Gott oder den Wundertäter.[14]

Vor allem im 3. Gliederungspunkt dieses formalen Schemas, der Durchführung, sind die in dieser Arbeit besonders interessierenden Therapiemaßnahmen von Jesus zu erwarten.

3.2 Analyse der Therapiemaßnahmen

Im Folgenden werden die acht ausgewählten Heilungswunder näher untersucht. Herkunft der Kranken, Symptome, Merkmale und Umstände der Heilungen werden skizziert. Im Fokus der Analyse stehen die Therapiemaßnahmen, die Jesus zur Heilung der Kranken anwendet.

3.2.1 Die Heilung der Schwiegermutter des Simon (Mk 1, 29-31)

Die erste markinische Heilungsgeschichte wird in Kapernaum verortet, wo Jesus sich nach Taufe und Versuchung mit seinen ersten Jüngern aufhält. Dem vorherigem Erzählstoff zufolge ist es Sabbat (vgl. Mk 1, 21) und Jesus verlässt gerade die Synagoge, in der er gelehrt hat und einen Menschen von einem unreinen Geist exorzierte. Er kehrt, gefolgt von Johannes und Jakobus, in das Haus der Brüder Simon und Andreas ein. Diese berichten ihm, dass Simons Schwiegermutter fiebernd „danieder“ läge. Bis zu diesem Punkt (Mk 1, 29-30) kann die Exposition des Wunders verortet werden. Anschließend betritt Jesus den Raum (Vorbereitung), ergreift die Hand der Frau und richtet sie wieder auf (Durchführung):

Und er kam herbei und richtete sie auf, nachdem er die Hand (der Frau) ergriffen hatte. Und das Fieber verließ sie. Und sie bediente sie. (Mk 1,31).

Jesus Berührung heilt die Frau umgehend, sodass sie die Besucher sogar wieder bedienen kann. Ihre Arbeitsfähigkeit ist direkt wiederhergestellt, was erzählerisch der Demonstration der Heilung dient. Jesu Therapie bedarf in diesem Fall keinerlei Hilfsmittel und geschieht durch den schlichten Heilgestus der Handergreifung. Eine Reaktion der anwesenden Personen auf die Heilung fehlt in diesem Fall. Die Perikope der Fieberheilung ist mit zwei Versen sehr kurz gehalten und enthält nur die wichtigsten Erzählkonstituenten. Der bei Conzelmann/ Lindemann beschriebene formale Aufbau wird nicht vollständig ausgeschöpft, sodass es so scheint, als stehe das Heilungswunder nicht im redaktionellen Fokus der Erzählung.

3.2.2 Die Heilung eines Aussätzigen (Mk 1, 40-45)

Die nächste Wunderheilung findet in einem anderen galiläischen Dorf statt, dessen Name nicht genannt wird. Ein Aussätziger begibt sich, so scheint es, in das außerhalb des Dorfes gelegene Haus, indem Jesus sich aufhält. Der Aussätzige kniet vor ihm nieder und fragt ihn, ob er ihn reinigen möchte (Exposition, Mk 1, 40). Jesus reagiert wie folgt auf diese direkte Heilungsbitte:

Und er hatte Mitleid, streckte seine Hand aus, berührte (ihn) und sagte ihm: Ich will, sei rein! Und sogleich ging der Aussatz von ihm weg und er wurde rein. (Vorbereitung, Durchführung und Demonstration, Mk 1, 41)

In diesem Fall geschieht die Heilung wiederum durch Jesu Handberührung. Zusätzlich kommt ein Befehlswort Jesu dazu. Er spricht den Befehl „Sei rein!“ und die Heilung tritt auch in diesem Fall umgehend ein und wird am reinen Körper des Geheilten sichtbar.

Jesu Wunderhandlung schließt mit einem forschen Befehl an den Geheilten ab. Er befiehlt ihm zu gehen, niemandem etwas von dem Wunder zu sagen und schickt ihn zum Priester, bei dem er für seine Heilung das, was „Mose befohlen hat“ (Mk 1, 43-44) opfern soll. Hier ist vermutlich eine alttestamentliche Anspielung auf die Opfertora zu verorten, in welcher Opfermaß und -art detailliert festgelegt sind. Widererwarten verhält sich der Geheilte jedoch entgegen der Weisungen und geht ins Dorf hinunter und verkündet dort das Geschehen. Dies führt dazu, dass Jesus sich nicht mehr ins Dorf vorwagen kann (Mk 1, 45), da ihm vermutlich ein Ausschluss drohte, weil er den unreinen Menschen im Heilungsvorgang berührt hatte.

Das Besondere an dieser Geschichte ist die Nutzung der Begriffe „rein“ und „unrein“. Der Aussatz, bzw. im modernen Sprachgebrauch die Lepraerkrankung, wird in der Erzählung als unrein deklariert. Jesus macht den Mann durch seine Berührung und seinen Heilsbefehl wieder rein und damit verschwindet auch das äußere Zeichen der Unreinheit, die Hautkrankheit. Die Unterscheidung von rein und unrein geht auf die jüdische Tradition zurück, in deren Umgebung die Erzählungen der Evangelien stattfinden. Es handelt sich hierbei um eine kulturelle Grenzziehung in einem sozialen Raum, die das Innere vom Äußeren, das nicht in diesen Raum gelangen darf, abgrenzt.[15] Menschen mit Hautkrankheiten wie Lepra wurden hinter die Stadtgrenze verbannt, um das Unreine physisch aus dem kulturellen Raum zu entfernen.[16] Jesus stellt die kultische Reinheit des Mannes wieder her und heilt ihn damit einerseits. Andererseits stellt Jesus auch die Gesellschafts- und Kultteilhabe des Mannes wieder her, von der er aufgrund seiner Unreinheit scheinbar ausgeschlossen wurde.

3.2.3 Die Heilung eines Gelähmten in Kapernaum (Mk 2, 1-12)

Nach seinem Aufenthalt in benachbarten galiläischen Ortschaften kehrt Jesus mit seinem Gefolge in Mk 2 nach Kapernaum zurück. Jesus hält sich in einem Haus auf, welches, aufgrund seiner großen Bekanntheit, von Volksmengen belagert wird (Exposition, Mk 2, 1-2). Jesus verkündet die frohe Botschaft dem versammelten Volk. Diese Exposition wirkt redaktionell aufgebauscht, um Jesus große Wirkung und Bekanntheit zu hervorzuheben. Da Jesus von außen nicht erreicht werden kann, decken vier Menschen das Dach des Hauses ab und tragen einen Gelähmten auf einer Trage durchs Dach zu Jesus ins Haus (Vorbereitung, Mk 2, 3-4). Dies unterstreicht die schwere Erreichbarkeit des Wundertäters. Die Menschen zeigen großen Einsatz, um zu Jesus zu gelangen. Jesus sieht durch diese Handlung, wie stark ihr Glaube ist und sagt zu dem Gelähmten „Kind, in diesem Moment werden deine Sünden vergeben“ (Mk 2, 5). Mit diesen Worten löst Jesus ein Streitgespräch mit den anwesenden jüdischen Schriftgelehrten aus, die der Meinung sind, nur Gott könne Sünden vergeben. Jesus reagiert auf die Vorwürfe mit folgenden Worten und Handlungen:

Damit ihr aber erkennt, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf der Erde – sagt er dem Gelähmten: Dir sage ich, steh auf, heb deine Bahre auf und geh in dein Haus! Und er stand auf und nahm sogleich die Bahre und ging vor allen hinaus, so dass alle außer sich gerieten und Gott priesen, indem sie sagten: So etwas haben wir noch nie gesehen! (Mk 2, 10-12)

An dieser Textstelle wirkt der Text redaktionell überarbeitet. Der Übergang zwischen Jesu Worten gegenüber den Gelehrten und Jesu Worten zum Gelähmten wirkt holprig und nachträglich redaktionell geglättet, in dem Mk mit dem Einschub „sagt er dem Gelähmten“ versucht, die Gesprächssituation zu erklären. Die Heilungserzählung des Gelähmten wird nebenbei zur Demonstration Jesu Vollmacht und Gottessohnschaft vor den Schriftgelehrten genutzt.

Zu Jesu Therapiemaßnahmen kann man sagen, dass er dem behinderten Mann zuerst seine Sünden vergibt, was den Anschein hinterlässt, als sei der Mann durch sein sündiges Verhalten gelähmt geworden. Jesus unterbricht damit den mutmaßlichen Tun-Ergehen-Zusammenhang von Sünde und Krankheit.[17] Nachdem Jesus die Sünde des Mannes vergeben hat, kann dieser, auf Jesus Befehl hin, sofort aufstehen und seine eigene „Bahre“ tragen, was hier zur Demonstration des Wunders dient (Mk 2, 12). Der gesundheitliche Status klafft hier demonstrativ weit auseinander, um die Größe des Wunders zu unterstreichen. Der Mann wandelt sich vom Gelähmten auf der Bahre hin zum gesunden Träger der Bahre.

Auf die Heilung folgt sogleich die Reaktion auf das Wunder. Alle Anwesenden preisen im Chorschluss, wie bei Conzelmann/Lindemann[18] als typischer Ablauf beschrieben, den Wundertäter. Es wirkt, als seien die Schriftgelehrten hier miteinbegriffen sind, was wiederum einen kleinen inhaltlichen Bruch darstellt. Zuvor stand die Diskussion mit den Schriftgelehrten im Fokus der Handlung und nach Jesu Wundervollzug geschieht keine Auflösung dieses Streits.

3.2.4 Die Heilung einer abgestorbenen Hand am Sabbat (Mk 3, 1-6)

Bis zum nächsten Heilungswunder geschieht kein offensichtlicher Ortswechsel. Zeitlich ist es der Sabbattag und Jesus geht erneut in die Synagoge, um das Reich Gottes zu verkündigen. In der Synagoge ist ein Mensch, dessen Hand abgestorben war. Markus berichtet davon, dass „sie“ belauern, ob Jesus den Mann am Sabbat heilen werde, um ihn daraufhin anklagen zu können (Mk 3, 1). Mit „sie“ sind vermutlich wieder die Schriftgelehrten gemeint. Jesus fordert den Kranken auf, in die Mitte zu treten (Vorbereitung, Mk 3, 3). Erneut kommt es zu einem Disput zwischen Jesus und den Schriftgelehrten. Das Streitgespräch mündet in einem apophthegmatischen Ausspruch Jesu: „Soll man am Sabbat Gutes tun oder Böses tun, Leben erhalten oder töten?“. Mit diesem Ausspruch möchte Jesus den Schriftgelehrten ihre Engstirnigkeit bei der wörtlichen Auslegung der Toragesetze vorhalten. Jesus kritisiert die „Verstockung ihrer Herzen“ (Mk 3, 5) und blickt die Pharisäer zornig an, während er die Maßnahmen zur Heilung einleitet:

Und nachdem er sie ringsum mit Zorn angeblickt hatte, betrübt über die Verstockung ihrer Herzen, sagt er dem Menschen: Streck die Hand aus“ Und er streckte sie aus, und seine Hand war wiederhergestellt. (Durchführung, Mk 3, 4-5)

Hier passiert Jesu Heilung wiederum zusätzlich zur Demonstration seines Status. Er sorgt sich nicht um die Verurteilung durch die Pharisäer, sondern handelt nach seinen Idealen. Die Heilung erfolgt diesmal ohne vorherige Sündenvergebung allein durch den wörtlichen Befehl Jesu. Da der Kranke sich in der Synagoge aufhält, könnte eine Sündenvergebung durch seinen Glauben bereits vorausgegangen sein. Eine Demonstration des Wunders geschieht nur durch den Bericht über die Wiederherstellung der Hand durch den Evangelisten. In diesem Fall folgt aber eine Reaktion der Pharisäer auf das Wunder, welches im vorangegangenen Fall ausblieb:

„Und die Pharisäer gingen hinaus und hielten mit den Herodianern sogleich Rat gegen ihn, damit sie ihn vernichteten.“ (Reaktion, Mk 3, 6).

Im Gegensatz zur typischen Preisung des Wundertäters geschieht hier eine Anklage. Die Reaktion des Geheilten und der anderen Anwesenden wird nicht erwähnt. An dieser Stelle wird deutlich, dass Jesus die Menschen nicht heilt, um sein Ansehen zu erhöhen. Im Gegenteil, er bringt sich sogar sich selbst für die Gesundheit eines Menschen in Gefahr.

3.2.5 Die Heilung einer an Blutungen leidenden Frau und die Auferweckung der Tochter eines Synagogenvorstehers (Mk 5, 21-43)

Das nächste Heilungswunder (1) inkludiert ein zweites beiläufig geschehenes Heilungswunder (2). Es spielt sich an einem galiläischen See ab, an dem Jesus und seine Gefolgschaft sich seit dem letzten Heilungswunder aufhalten und diesen mit dem Boot überqueren. Als Jesus im Boot ans Ufer gelangt, versammelt sich schon eine große Volksmenge um ihn herum. Ein Synagogenvorsteher namens Jairus kniet vor Jesus nieder und bittet ihn um die Heilung seiner im Sterben liegenden Tochter (Exposition 1, Mk 5, 22). Er bittet ihn explizit darum, seine Hände auf sie zu legen. Die heilende Kraft wird demnach mit Jesu Händen in Verbindung gebracht. Jesus geht mit ihm fort (Vorbereitung 1), gefolgt von einer großen Volksmenge (Mk 5, 24), in welcher sich die zweite Heilung vollzieht. Ausführlich berichtet Markus von einer Frau, die seit zwölf Jahren an Blutungen leidet. Er betont, dass sie bereits ihr ganzes Geld für Ärzte ausgegeben hat, die ihr Leiden aber nicht heilen konnten. Stattdessen verschlechtert sich ihr Zustand immer weiter (Exposition 2, Mk 5, 25-26).

Und als eine Frau (…) von Jesus gehört hatte, kam die in der Volksmenge von hinten und berührte sein Gewand. Sie sagte sich nämlich: Wenn ich auch nur seine Gewänder berühre, werde ich gerettet werden. Und sogleich versiegte die Quelle ihres Blut(fluss)es, und sie spürte am Körper, dass sie von der Plage geheilt war. (Vorbereitung 2, Durchführung 2 und Demonstration 2, Mk 5, 27-29)

Der Glauben der Frau ist so groß, dass sie allein von der Berührung des Gewands Jesu eine Heilung erwartet und so geschieht es der markinischen Demonstration zufolge auch. Jesus merkt sogleich, dass Kraft von ihm ausgegangen ist, wendet sich suchend um und fragt in die Menge, wer seine Gewänder berührt habe (Mk 5, 30).

Die Frau aber fürchtete sich und zitterte, da sie wusste, was ihr geschehen war, kam und warf sich vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit. Er aber sagte ihr: Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh hin in Frieden und sei gesund von deiner Plage. (Reaktion 2, Mk 5, 33-34).

Jesus reagiert anders, als die Frau es scheinbar erwartet. Die Heilung ging in diesem Fall, Jesus Worten zufolge, allein von ihrem starken Glauben aus, eine Therapiemaßnahme von Jesus war gar nicht nötig. Es wird zweimal betont, dass nur Jesu Gewand berührt wurde, nicht einmal Jesu Körper. Dies erweckt den Anschein, dass Jesus von einer magisch heilenden Kraft geladen ist, die bereits bei einer kurzen Berührung übertragen wird. Als Reaktion auf die Heilung spricht Jesus noch einen Segenswunsch an die Frau aus, bei dem er selbst noch einmal betont, dass ihr Glaube allein sie geheilt habe.

Etwas holprig mit redaktionellem Anklang kehrt die Erzählung zurück zum eigentlichen Krankheitsfall. Jairus Tochter, so berichten seine Angehörigen, sei zwischenzeitlich bereits verstorben (Mk 5, 35). Dies betont die Schwere der Krankheit und die Unmöglichkeit der Heilung. Jesus aber beruhigt Jairus und fordert ihn auf zu glauben: „Fürchte dich nicht, glaube nur!“ (Mk 5, 36). Jesus lässt nur Petrus, Jakobus und Johannes mit sich ins Haus des Jairus gehen, in welchem alle Angehörigen weinen und wehklagen. Jesus sagt den Anwesenden, dass das Mädchen nur schliefe. Ihm wird jedoch nicht geglaubt, sodass er alle Ungläubigen, außer Vater, Mutter und seine Begleiter, aus dem Haus hinauswirft (Vorbereitung 1, Mk 5, 37-39).

Und er ergreift die Hand des Kindes und sagt ihr: Talitha kum!, was übersetzt heißt: Mädchen, dir sage ich, steh auf!“ Und sogleich stand das Mädchen auf und ging umher. (Durchführung, Demonstration, Mk 5, 41-42)

Die Heilung geschieht hier, wie in 3.2.1 und 3.2.2, durch eine Handberührung von Jesus. Dazu kommt der aramäische Befehl an das Mädchen aufzustehen. Für die griechischsprechende Bevölkerung dürfte dieser Ausspruch nicht verständlich sein und eher wie eine magische Zauberformel wirken. Die Heilung tritt unverzüglich ein, was durch das Umhergehen des Mädchens demonstriert wird. Die Reaktion auf diese Wunderheilung fällt nach dem üblichen Chorschluss-Muster aus: Die Anwesenden geraten „außer sich mit großem Entsetzen“ (Mk 5, 43). Jesus gebietet ihnen daraufhin, niemandem von den Geschehnissen zu erzählen (Mk 5, 43). Zu Beginn ist Jesus bemüht, den Zustand des Mädchens harmloser darzustellen, als er ist. Er möchte die Angehörigen davon überzeugen, dass das Mädchen nur schlafe. Das Gebiet der Totenerweckung scheint eine Grenze zu überschreiten, der Jesus aus dem Weg zu gehen versucht. Damit geht auch das Verbot der Weitererzählung einher.

Im äußeren Erzählrahmen, der Tochter des Jairus, haben wir es also mit einer Heilung durch Handberührung und Befehl und im inneren Erzählrahmen, bei der blutflüssigen Frau, mit einer Heilung ohne jegliche Therapiehandlung zutun. Im Fokus beider Erzählungen steht der Glaube, der die Heilung verursacht. In Bezug auf die blutflüssige Frau betont Jesus, dass allein der Glaube sie geheilt habe und auch von Jairus verlangt Jesus, dass er nur glauben müsse.

3.2.6 Der Taubstumme (Mk 7, 31-37)

Im 7. Kapitel des Markusevangeliums begegnet uns das nächste Heilungswunder. In der Exposition wird berichtet, dass Jesus aus Tyrus über Sidon zurück zum See von Galiläa reiste, wo sich auch die in 3.2.5 geschilderte Heilungserzählung abspielte. Hier wird es noch näher als Gebiet der Dekapolis klassifiziert. Die Dekapolis bezeichnet ein zehn antike Städte umfassendes Gebiet südöstlich des See Genezareths. „Sie“, wobei diese Menschengruppe nicht näher definiert wird, bringen einen taubstummen Mann zu Jesus und bitten ihn explizit, seine Hand aufzulegen (Vorbereitung, Mk 7, 31-32). Jesus reagiert folgendermaßen auf die Heilungsbitte:

Und er nahm ihn von der Volksmenge weg, für sich allein, legte seine Finger in seine Ohren und spuckte aus und berührte seine Zunge. Und er blickte hinaus zum Himmel, seufzte und sagte ihm: ‘Ephata‘, was heißt: Sei geöffnet! Und seine Hörorgane öffneten sich, und die Fessel seiner Zunge wurde gelöst, und er redete richtig. (Durchführung, Demonstration, Mk 7, 33-35)

Der Vorgang dieser Heilung ist schwer zu verstehen. Zunächst führt Jesus den Taubstummen, wie auch in einigen der vorherigen Heilungserzählungen, von der Volksmenge weg. Er scheint verhindern zu wollen, dass die Menge das Heilungsgeschehen mitansieht. Dann legt er seine Finger in die Ohren, „spuckte aus“ und berührt seine Zunge. Berührt Jesus nun mit seinem Speichel Ohren und Zunge des Taubstummen? Die Zürcher Bibel übersetzt diese Passage folgendermaßen: „Und er nahm ihn beiseite, weg aus dem Gedränge, legte die Finger in seine Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel.“ Der Speichel spielt demnach also nur bei der Zunge eine Rolle, die Ohren werden in dieser Übersetzung allein durch Jesu Fingerberührung geheilt. Diese Übersetzung berücksichtigt jedoch nicht Jesu Handlung des „Ausspuckens“, die in Verbindung mit Jesu Fingern in den Ohren des Taubstummen überliefert wird. Sieht man hier wieder eine Verbindung zum zeitgemäßen Dämonenglauben, könnte das Ausspucken die Befreiung von der bösen Macht darstellen.

Neben der beschriebenen Therapiehandlung wird von einem Seufzen Jesu, einem Blick zum Himmel und dem aramäischen Ausruf „Ephata“, was übersetzt „Sei geöffnet!“ bedeutet, berichtet. Hierbei handelt es sich vermutlich um ein Anrufen Gottes durch Jesus. Das „richtige Reden“ des Geheilten (Mk 7, 35) demonstriert die Wirkung des Wunders, die „Fessel seiner Zunge“ ist gelöst. Dieses metaphorische Bild der Behinderung geht vermutlich auf den zeitgemäßen Dämonenglauben zurück – ein Krankheitsdämon umschließt demnach die Zunge und verhindert so das Sprechen. Dies zeugt von einer sehr altertümlichen Krankheitsauffassung, da heute bekannt ist, dass die Stummheit in den meisten Fällen nur eine Begleiterscheinung der Taubheit darstellt, da den Betroffenen die Möglichkeit zur Kontrolle der sprachlichen Artikulation fehlt.[19] Die Therapieelemente der Speichelbehandlung und des Blickes zum Himmel treten in dieser Heilungserzählung erstmalig auf und hinterlassen den Eindruck eines magischen, an Schamanismus erinnernden Heilsritus.

[...]


[1] Körperliche Heilungen: Mk 1, 29-31; 1, 32-34; 1 40-45; 2, 1-12; 3, 1-6; 3, 7-12; 5, 21-43; 6, 53-56; 8, 22-26; 10; 46-52; Dämonenaustreibungen: 1, 23-28; 5, 1-20; 7, 24-30; 9, 14-29.

[2] Lüdemann, Gerd/ Schleritt, Frank, Arbeitsübersetzung des Neuen Testaments, Göttingen 2008.

[3] Vgl. Loos, Hendrik van der, The Miracle of Jesus, Leiden 1968, S.293.

[4] Funke, Franziskus (Hg.), Patres Apostolici, Bd. 1. Tübingen 1941, S.218. Z.14-20. Zitiert nach:

Gollwitzer-Voll, Woty, Christus Medicus – Heilung als Mysterium, Interpretationen eines alten Christusnamens und dessen Bedeutung in der Praktischen Theologie, Paderborn 2007, S.23.

[5] Vgl. Gollwitzer-Voll, Christus Medicus, S.23f.

[6] Vgl. ebd., S.43.

[7] Mk 1, 32-34; 3, 7-12; 6, 53-56.

[8] Vgl. Kollmann, Bernd, Neutestamentliche Wundergeschichten, Stuttgart 20072, S.58.

[9] Mk 1, 23-28; Mk 5, 1-20; Mk 7, 24-30; Mk 9, 14-29.

[10] Vgl. Wetz, Christian, Dämonen/ Dämonenaustreibung (NT), Wibilex 2015, verfügbar unter: https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/46933/.

[11] Vgl. ebd.

[12] Vgl. Kollmann, Neutestamentliche Wundergeschichten, S.58.

[13] Vgl. Kollmann, Neutestamentliche Wundergeschichten, S.63.

[14] Conzelmann, Hans/ Lindemann, Andreas, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 199511, S.93.

[15] Vgl. Malina, Bruce J., Die Welt des Neuen Testaments, Kulturanthropologischen Einsichten, Stuttgart 1993, S.148-149.

[16] Vgl. Malina, Welt, S.151.

[17] Vgl. Erlemann, Kurt/ u.a. (Hgg.), Neues Testament und Antike Kultur, Band 2, Familie – Gesellschaft – Wirtschaft, Neukirchen-Vluyn2 2010, S.66.

[18] Vgl. Conzelmann/Lindemann, Arbeitsbuch, S.93.

[19] Vgl. Kollmann, Bernd, Krankheitsbilder und soziale Folgen: Blindheit, Lähmung, Aussatz, Taubheit oder Taubstummheit, in: Zimmermann, Ruben: Kompendium frühchristlicher Wundergeschichten, Gütersloh 2013, S.87-93, hier S.90.

Ende der Leseprobe aus 24 Seiten

Details

Titel
Christus medicus? Jesu Therapiemaßnahmen in den Heilungswundern des Markusevangeliums
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Note
1,7
Autor
Jahr
2017
Seiten
24
Katalognummer
V414479
ISBN (eBook)
9783668658165
ISBN (Buch)
9783668658172
Dateigröße
588 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
christus, jesu, therapiemaßnahmen, heilungswundern, markusevangeliums
Arbeit zitieren
Anke Herten (Autor:in), 2017, Christus medicus? Jesu Therapiemaßnahmen in den Heilungswundern des Markusevangeliums, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/414479

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