Das narrative Interview wurde in Deutschland von Fritz Schütze und seinen Kollegen als Forschungsmethode entwickelt. Es fügt sich in eine Reihe von qualifizierten Verfahren ein, die mit weitreichenden, auch gesellschaftstheoretischem Anspruch in den 1970er Jahren ausgebaut wurden. Dieses steht in dem Brauch der Phänomenologie und des symbolischen Interaktionismus.
Biographen sollen nicht in erster Linie schildern, beschreiben, oder argumentieren, sondern hinsichtlich der Konzepte selbst erlebte Ereignisse und die persönliche Teilnahme entlang der Zeit rekonstruieren. Die Rekonstruktion dieser Erfahrungen in der Erzählung weist dabei bestimmte Muster auf, die den Mustern des Handelns und seiner Begrenzung in der Realität entsprechen. Ereignisse und Handlungen werden erst dann zu Erfahrungen, wenn sie erst der rückblickenden Rekonstruktion unterliegen.
Inhaltsverzeichnis
1. Warum ein Interesse an Lebensläufen besteht
2. Herkunft der Methode
3. Allgemeine Merkmale des narrativen Interviews
4. Formale Merkmale des narrativen Interviews
5. Aufbau des narrativen Interviews
5.1 Die Erzählaufforderung
5.2 Die biographische Selbstpräsentation
5.3 Die Erzählkoda
5.4 Die erzählgenerierende Nachfragephase
5.5 Der Interviewabschluss
6. Zur Auswertung von autobiographischen Stegreiferzählungen
6.1 Schritte der Auswertung autobiographischer Stegreiferzählungen
7. Die Prozessstruktur der Verlaufskurve
8. Alternativen der Analyse und Auswertung autobiographisch- narrativer Interviews
9. Literaturverzeichnis
1. Warum ein Interesse an Lebensläufen besteht
In der Biographieforschung in den Sozialwissenschaften existiert eine große Wissbegierde an dem Leben von Altersgruppen einer Gesellschaft oder Menschen mit bestimmten gemeinsamen Kennzeichen, zum Beispiel Frauen aus der Unterschicht. Selbstpräsentationen und Selbstbeschreibungen werden auch oft als Biographie bezeichnet. Man versteht und stellt sich selbst in eigener Veränderung und Entwicklung dar und wird von anderen im Lebenslauf beobachtet, beschrieben und fixiert.
Wichtig bei der Biographieforschung sind die Prozessstrukturen des individuellen Lebens. Es gibt einige, die in allen Lebensläufen anzutreffen sind, sowie Kombinationen, die als Teile von Lebensschicksalen relevant sind. Zum Beispiel sind Lebenszyklus, und Familienzyklus nur gewöhnliche Konzepte, die keine andere Funktion besitzen, als dass die Messpunkte des Älterwerdens sind. Diese Messpunkte beziehen sich auf Lebensphasen und Übergänge des Lebenslaufs, sodass sie bedeutsam für die Lebensführung sind.
Fritz Schütze interessieren also biographische Deutungsmuster und Interpretationen des Biographen nur im Zusammenhang seiner rekonstruierten Lebensgeschichte. Vieles ist abhängig davon, wie der Biographieträger negative Ereignisverstrickungen, wie das Arbeitslos - Werden, Alkoholiker - Werden, Psychischer Patient - Werden, erlebt und verarbeitet. Es ist somit wichtig, von Anfang an die zeitliche Struktur der Erzählung des Biographen zu beobachten.
Mit geeigneten Forschungsmethoden ist es möglich, gesammelte Prozessstrukturen durch wechselhafte Auslegungen zu erfassen, wobei die sequentielle Analyseeinstellung Hilfestellung leistet. Es müssen sich folglich Fragen gestellt werden, wie: „Was kommt zuerst? Und was kommt dann?“, „Wie fängt es an? Wie hört es auf?“, „Wie ist die interne Abfolge von äußeren und inneren Ereignissen und Zuständen zwischen Anfangs- und Endpunkt?“ oder „Wie wird der Übergang zwischen einem Endpunkt und einem neuen Anfangspunkt geleistet?“
Dies sind zwar nur formale Fragen, die aber eine große heuristische Bedeutung haben.
2. Herkunft der Methode
Das narrative Interview wurde in Deutschland von Fritz Schütze und seinen Kollegen als Forschungsmethode entwickelt. Es fügt sich in eine Reihe von qualifizierten Verfahren ein, die mit weitreichenden, auch gesellschaftstheoretischem Anspruch in den 1970er Jahren ausgebaut wurden. Dieses steht in dem Brauch der Phänomenologie und des symbolischen Interaktionismus. Biographen sollen nicht in erster Linie schildern, beschreiben, oder argumentieren, sondern hinsichtlich der Konzepte selbst erlebte Ereignisse und die persönliche Teilnahme entlang der Zeit rekonstruieren. Die Rekonstruktion dieser Erfahrungen in der Erzählung weist dabei bestimmte Muster auf, die den Mustern des Handelns und seiner Begrenzung in der Realität entsprechen. Ereignisse und Handlungen werden erst dann zu Erfahrungen, wenn sie erst der rückblickenden Rekonstruktion unterliegen.
3. Allgemeine Merkmale des narrativen Interviews
Das narrative Interview erzeugt Datentexte, welche die Ereignisverstrickungen und die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung lückenlos reproduzieren. Der äußerliche Ablauf und die innere Reaktion, sowie Erfahrungen des Biographieträgers erhalten dabei eingehende Darstellung. Dadurch, dass der Erzählvorgang gerafft wird, werden große Zusammenhänge heraus gearbeitet, gekennzeichnet und mit besonderen Bedeutungen versehen. Teile von Erfahrungen von Ereignissen und Entwicklungen werden deutlich, die von dem Biographen selbst nicht bewusst, ausgeblendet oder verdrängt wurden. Es sind nur Datentexte für die spätere Analyse relevant, die andauernde gesellschaftliche Prozesse zeigen.
Im Vergleich zu anderen Befragungsmethoden ist diese Forschungsmethode allerdings „offener“ sowohl für den Befragenden als auch für den Befragten. Der Interviewpartner wird gebeten, einen bestimmen Ausschnitt aus dem Leben, ein Schlüsselerlebnis oder das ganze Leben lückenlos zu erzählen. Ausgangspunkt ist hierbei ein erzählungsgenerierender Stimulus, der eine Stegreiferzählung hervorruft. Wichtig bei der Befragungsform ist, den Interviewpartner nicht mit standardisierten Fragen zu konfrontieren, sondern ihn frei zum Erzählen zu animieren.
Ziel ist es, zusätzliche Informationen über den oder die Befragten zu gewinnen.
Dabei werden spezifische und individuelle Probleme des Befragten sichtbar gemacht, die durch festgesetzte Befragungen oder Tests nicht erhalten werden können.
Während der Erzählung greift der Interviewer nicht in die Erzählung ein, es sei denn der „rote“ Faden geht verloren. Er hat somit die Funktion einen Stichwortbringers, das bedeutet, durch eingestreute Fragen dafür zu sorgen, dass der Erzählfluss nicht abreißt und der Befragte nicht allzu sehr vom Thema anweicht.
Vorraussetzung für die Befragung ist die Tonbandaufzeichnung, die für die spätere Bearbeitung und Analyse notwendig ist. Somit kann sich der Interviewer dem Erzähler und seiner Erzählung widmen und eher eine persönliche Betroffenheit zu dem jeweiligen Themenkreis auslösen.
4. Formale Merkmale des narrativen Interviews
Bevor eine Befragung durchgeführt wird, ist es wichtig, einen Fragenkatalog oder Themenkreis zu erstellen, der aber nicht standardisiert und in keiner bestimmten Reihenfolge durchgegangen werden sollte. Eine Frage des Fragenkatalogs sollte vorgezogen werden, wenn diese besser auf die gerade getroffene Aussage passt. Verweigert der Befragte eine Antwort auf eine Frage, dann sollte nicht auf die Beantwortung gedrängt werden, sondern eine nächste Frage sollte gestellt werden. Zu Beginn des Interviews sollte auch der Zweck der Untersuchung bekannt gegeben werden, wofür die Angaben verwendet werden. Dem Interviewpartner sollte Anonymität zugesichert werden, falls dieses von dem Befragten angesprochen wird. Während des Interviews soll der Interviewer den Erzählfluss nicht unterbrechen, sondern aufmerksam zuhören und nebenbei fallspezifische Nachfragen entwickeln. Werden persönliche Fragen an den Interviewer gestellt, die nichts direkt mit der Befragung zu tun haben, sollte man den Befragten bitten, erst am Ende des Gesprächs dazu Stellung zu nehmen. Dabei sollte niemals die positive Grundstimmung des Gesprächs gefährdet werden
Eine Befragung kann von einem oder mehreren Interviewern an einen oder mehrere Befragte gerichtet sein. Bei den einzelnen Fragen wendet man sich immer konkret nur an eine Person, dann erst an die Anderen. Ein neuer Themenkreis sollte möglichst abwechselnd bei den verschiedenen Personen begonnen werden, indem der Befragende sie durch Blicke kontaktiert. Antworten dazu sollten möglichst ausführlich notieren, wobei die Angaben der Personen, zum Beispiel durch Buchstaben, getrennt gekennzeichnet werden Am Ende des Gesprächs sollte man sich für das Interview bedanken und eine Rückmeldung oder Auswertung ankündigen.
5. Aufbau des narrativen Interviews
5.1 Erzählaufforderung
Dem Interviewpartner soll in einer Eingangsfrage das Thema vorgestellt und begründet, sowie der Ablauf erklärt werden. Wichtig ist es, zu Beginn eine Vertrauensbasis gegenüber dem Interviewpartner herzustellen, um den Befragten dann aufzufordern, sich eine Erzählung zurechtzulegen. Wenn eine Erzählstimulierung einen Anfangspunkt setzt, muss dieser so gewählt werden, dass er noch vor der zu interessierenden Lebensphase liegt. Der Endpunkt jedoch sollte nicht so vorgegeben werden, so dass er zeitlich in einer belastenden Lebensphase der Vergangenheit verankert ist. Für die Autobiographen ist es nämlich wichtig, dass sie sich aus dieser Zeit „herauserzählen“ können. Es gibt zwei Formen der Erzählaufforderung. Zum einen die offene Erzählstimulierung zur Lebenserzählung, die jede Themenbeschränkung vermeidet. Ein Beispiel wäre: „Ich möchte Sie bitten, mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen, all die Erlebnisse, die Ihnen einfallen. Sie können sich dazu so viel Zeit nehmen, wie sie möchten. Ich werde Sie auch erst man nicht unterbrechen, mir nur einige Notizen machen und später noch darauf zurückzukommen.
Ein weiteres Beispiel ist: „ Mein Interesse liegt an Ihrem ganzen Leben, so von Anfang an, und zwar in Bezug auf Das Interview hat selbst zwei Teile. Im ersten Teil sind erst nur sie dran. Da können sie erzählen, frei weg, so wirklich von Anfang an, wie alles passiert ist, wie alles gekommen ist. Und dann im zweiten Teil stelle ich Ihnen noch ein paar Nachfragen, wenn ich etwas nicht verstanden habe. Ich würde gerne - wenn es Ihnen recht ist - ein paar Notizen machen, wenn sie erzählen, damit ich später noch weiß was ich nachfragen wollte.“
Hier wird nicht nur der Erzählstimulus angegeben, sondern auch der Aufbau erklärt, damit der Erzähler weiß, wie das Interview vonstatten geht.
Die zweite Form zur Lebensgeschichte ist die geschlossene Erzählaufforderung. Sie enthält die Angabe des Forschungsthemas sowie einen temporalen Anfangs- und Endpunkt. Mit dieser zeitlichen Strukturierung verhilft man dem Gesprächspartner, in einen Erinnerungs- und Erzählfluss zu gelangen. Ein Beispiel hierzu ist: „ Wir sind am Leben von Menschen interessiert, die nach Deutschland immigriert sind. Vielleicht fangen Sie einmal an zu erzählen, als Sie zum ersten Mal daran dachten, wegzugehen, und erzählen bis in die Gegenwart, also den Verlauf ihrer Emigration bis zum heutigen Tage“.
Oft wird aber eine allgemein gehaltene Erzählaufforderung gemacht, um die Schilderung der Lebensgeschichte oder die bestimmten Phasen und Bereiche des von allen n zu reflektieren. Auch für die spätere biographisch - interpretative Analyse ist diese Form die konsequenteste. Sie ist dazu ökonomischer, da sich mehrere Fragen im folgenden der Erzählung erübrigen.
5.2 Die biographische Selbstpräsentation
Nach der Erzählaufforderung folgt die autonom gestaltete Haupterzählung oder auch die biographische Selbstpräsentation. Die Regie bei der Gestaltung der biographischen Selbstpräsentation wird natürlich dem Biographen selbst überlassen. Wie der Erzähler seine Präsentation gestaltet, worüber er erzählt, argumentiert oder was er auslässt, gibt dem Interviewer in der Analyse Aufschluss über die Struktur seiner biographischen Selbstwahrnehmung und die Bedeutung seiner Lebenserfahrung. Wichtig ist, dass der Befragte durch keinerlei Fragen unterbrochen oder abgelenkt werden soll. Der Erzähler spürt dann, dass man ihm interessiert, aufmerksam und verständnisvoll zuhört und er sich somit zunehmend seinem Erinnerungsstrom überlassen kann. Ohne Interventionen werden die Erzählungen von Geschichte zu Geschichte detaillierter und aus dem Gedächtnis tauchen mehr und mehr Einzelheiten und Erlebnisse auf. Kommen Stockungen während der Erzählung auf, so sollte der Interviewer ihn durch Aufforderungen zum Weitererzählen ermutigen. Diese sollten aber nicht neue Themen setzen, sondern zum Fortfahren motivieren. Zum Beispiel: „Wie ging es dann weiter?“ oder „An was können Sie sich noch erinnern?“
Die biographische Selbstpräsentation wird durch drei Erzählzwänge gesteuert. Der Erste ist der Gestaltschließungszwang. Das ist der Zwang, angefangene Themen oder Erzählstränge auch in irgendeiner Art und Weise abzuschließen. Der zweite Zwang ist der Kondensierungszwang. Hierbei soll die Erzählung so weit verdichtet werden, dass sie angesichts begrenzter Zeit für den Zuhörer nachvollziehbar bleibt. Der Letzte ist der Detaillierungszwang. Hier werden Hintergrund- und Zusatzinformationen eingebracht, die für das Verständnis der Erzählung erforderlich sind. Die Zwänge sollen dafür sorgen, dass dich wichtigsten Ereignisse berichtet werden und dass das Interview für die Beteiligten handhabbar bleibt. Hierbei ist aber zu erwähnen, dass der rote Faden der Erzählung nicht verloren gehen darf. Wenn dies doch geschieht, muss der Interviewer den Erzählenden wieder auf den rechten Weg bringen.
5.3 Die Erzählkoda
Der Befragte schließt seine Lebensgeschichte mit einer Erzählkoda ab. Sie soll das Ende der Berichterstattung signalisieren. Ein Beispiel für eine Koda ist: „So, das war´s, mehr weiß ich nicht.“
Es kann natürlich auch vorkommen, dass eine solche Koda auch mehrmals benutzt wird und die erzählende Person von sich aus fort fährt, noch zusätzliche Informationen darzubieten. Deshalb sollte man mit den Nachfragen nicht so früh beginnen, sondern dem Erzähler noch etwas Zeit lassen.
5.4 Die erzählgenerierende Nachfragephase
Nach der Beendigung des Interviews erfolgt die Nachfragephase des Interviewer, die sich direkt auf das Erzählte beziehen. Sie hat deshalb eine hohe Relevanz für die Auswertung. Die Nachfragen haben die Funktion des „Abtestens“ von Annahmen, die sich bei der Erzählung ergeben, aber nicht klären ließen. Hierbei gibt es zwei Arten von Nachfragen: immanente und exmanente Fragen. Bei den immanenten Fragestellungen handelt es sich um die in der zweiten Phase knapp notierten Stichpunkte, die nicht detaillierter erzählt wurden und in ihrer Bedeutung unklar geblieben sind oder zu den Lebensphasen nur angedeutet wurden oder gar unerwähnt blieben.
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- Quote paper
- Sebastian Meyer (Author), 2010, Das narratives Interview. Herkunft, Merkmale, Aufbau und Auswertung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/412702
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