Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Teilung Deutschlands stellte sich in West und Ost die Frage nach einer erneuten Militarisierung in anbetracht der grausamen Erfahrungen des Nazi-Regimes und den Einsätzen der Wehrmacht. Hier soll nun der Blick auf die Nationale Volksarmee (NVA), den Streitkräften der DDR, gerichtet werden. Dabei entscheidend ist der oktroyierte Rahmen in der Ausgestaltung und Aufgabenübernahme durch die Sowjetunion und die gesellschaftliche Bedeutung jener zweiten neuen Armee auf deutschem Boden nach 1945.
Die Nationale Volksarmee – Armee des Volkes?
Nach dem Zweiten. Weltkrieg und der Teilung Deutschlands stellte sich in West und Ost die Frage nach einer erneuten Militarisierung in anbetracht der grausamen Erfahrungen des Nazi-Regimes und den Einsätzen der Wehrmacht. Hier soll nun der Blick auf die Nationale Volksarmee (NVA), den Streitkräften der DDR, gerichtet werden. Dabei entscheidend ist der oktroyierte Rahmen in der Ausgestaltung und Aufgabenübernahme durch die Sowjetunion und die gesellschaftliche Bedeutung jener zweiten neuen Armee auf deutschem Boden nach 1945.
Schon vor der tatsächlichen Gründung der NVA sollte die Aufrüstung von Streitkräften in der Größe von 300.000 Mann, gegliedert in Marine, Luftwaffe und Heer erfolgen. Getarnt unter dem Namen „Kasernierte Volkspolizei“ (KVP) begann der Aufbau der eigenen Streitkräfte noch ohne offiziellen Anspruch der Landesverteidigung. Die Militarisierung ging sehr rasch von statten, sodass schon Mitte 1953 eine Gesamtstärke von 113.000 Mann verbucht werden konnte.[1] Bemerkenswerterweise geschah diese schnelle Mobilisierung auf faktisch freiwilliger Basis, da zu diesem Zeitpunkt keine Wehrpflicht bestand. Die Kosten dieser Militarisierung, die 1952/1953 circa 20% des Staatshaushaltes vereinnahmten waren ein entscheidender Faktor für die wirtschaftliche und politische Krise 1953.[2]
Obgleich die DDR 1955 offiziell keine eigenen Streitkräfte besaß, als es am 14. Mai in Warschau zur Unterzeichnung des „Vertrages über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigem Beistand“ kam, wurde sie Mitglied dieses vom Westen als „Militärpakt“ betitelten Bündnisses. Da die DDR mit der Kasernierten Volkspolizei als Vorläufer der NVA allerdings über militärisches Potenzial verfügte, vertagte man die Entscheidung über die Teilnahme der DDR an vereinten militärischen Kommandos.[3]
Der Staatsvertrag vom 20. 09. 1955 zwischen der UdSSR und der DDR, indem die Sowjetunion die Souveränität des ostdeutschen Staates beinhaltete, ermöglichte der DDR die Wehrgesetzgebung und die Schaffung einer regulären Armee. Allerdings gestattete Moskau die Gründung der NVA erst im Januar 1956 als Reaktion auf die Remilitarisierung der Bundesrepublik durch die Bundeswehr.[4] Die Truppen der KVP wurden umbenannt und es startete ein weiterer struktureller Entwicklungsprozess der Streitkräfte zur DDR- Landesverteidigung und als operativ-taktische Kraft in Verbindung mit der GSSD.[5] Die GSSD galt als „zuverlässiger Vorposten der Sowjetunion beim Schutz des sozialistischen Vaterlandes“ und verfügt „Dank der Fürsorge der Kommunistischen Partei der Sowjetunion […] über ein beträchtliches Kampfpotential.“[6]. Ebenfalls in dieser Rolle wurde die NVA dann fließend am 28. 01. 1956 in die Vereinten Streitkräfte des Warschauer Paktes aufgenommen. Trotz der umfassenden Neu- bzw. Reorganisation der NVA blieb diese weiterhin eine Armee der Freiwilligen.
Erst mit dem Wehrpflichtgesetz vom 24. 01 1962 und den folgenden Anordnungen des Nationalen Verteidigungsrates über die Erfassung, Musterung und Einberufung sowie die Reservistenverordnungen (beide vom 30. 07.1969) wurde die bisherige Freiwilligenarmee durch Wehrdienstleistende aufgestockt. Mit dem Artikel 23. der Verfassung, welcher „den Schutz des sozialistischen Vaterlandes als Recht und Ehrenpflicht der Bürgers“[7] beschreibt, ferner zu Leistungen zur Landesverteidigung verpflichtet und das Verhalten in bestimmten kriegerischen Auseinandersetzungen verbietet, ist die verfassungsrechtliche Grundlage für das Wehrpflichtgesetz und damit für eine tiefere gesellschaftliche Vernetzung des Militärs. Die Wehrdienstzeit wurde auf 18 Monate festgesetzt. Desweiteren wurden alle Wehrpflichtigen nach ihrer Dienstzeit der Reserve zugeteilt und können zu Ausbildung und Übungen des Reservisten-Wehrdienstes einberufen werden. Hochschulstudenten konnten für die Dauer des Studiums zurückgestellt werden. Ebenso sollten Wehrpflichtigen nach Ausscheiden aus dem Dienst für bessere Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten bevorzugt werden. Im Vergleich zur Wehrpflicht in Westdeutschland bestand keine direkte Form der Wehrdienstverweigerung für ostdeutsche Männer. Zwar musste nicht zwingend in der NVA gedient werden, allerdings unmittelbar in anderen bewaffneten Einheiten, wie beispielsweise denen des Ministeriums für Staatssicherheit oder der Volkspolizei.[8]
Allein der letzte Umstand lässt auf eine höhere Bedeutung der NVA im gesellschaftlichen Leben der DDR schließen. Mit dem Verständnis als „Ehrendienst“ sollte dem Bürger ein leichterer Zugang zu militärischen Handlungen suggeriert werden, um als Teil der Landesverteidigung und der Bündnisarmee zu fungieren. Letztendlich musste, zumindest formell, jeder gesunde ostdeutsche Mann damit rechnen in seinem Leben Dienst an der Waffe leisten zu müssen. Die Verbindung zwischen der Zivilgesellschaft und dem Militär erlangte durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht eine höhere Vernetzungsstufe. Die Bedeutung für die DDR- Gesellschaft äußerte sich besonders mit dem Zitat Heinz Hoffmanns, der die „Pflicht zum Waffendienst in einem sozialistischen Staat als besonders hoch“ und weiter als „Schule der politisch-militärischen Ausbildung und Erziehung“ deklarierte.[9] Unmissverständlich zeigte sich hier die Indoktrinierung der Streitkräfte mit dem sozialistischem Gedankengut, welche sich ebenfalls in der Einflussnahme der SED in die Struktur des Militärs manifestiert.
Nicht selten wird die NVA in der postsozialistischen Literatur als „Parteienarmee“ anstatt „Volksarmee“, beziehungsweise lediglich als Bündnisarmee der UdSSR mit „HiWi“ Charakter bezeichnet.[10] Der Status eines Militärs mit nationalen Interessen bleibt daher fraglich. Zudem waren 80% der Berufssoldaten SED-Mitglieder, was die Präsenz der Führungspartei unterstreicht. Politoffiziere übernahmen die Politikhauptverwaltung der Streitkräfte und waren den jeweiligen Positionen, wie Divisionsführern oder Kompaniechefs, parallel zugeteilt.[11] Neben der militärischen Ausbildung wurde auch in diesem Bereich des DDR-Lebens die sozialistische Erziehung durch die SED sichergestellt. Jedoch begann die geistige Ausbildung und Etablierung des sozialistischen und wehrideologischen Gedanken für die Bevölkerung schon vor dem eigentlichen Dienst in den Streitkräften. Mit der Freien Deutschen Jugend oder dem Deutschen Turn- und Sportbundes sicherte die SED-Führung ihr Herrschaftsgebiet bei den Heranwachsenden und formte so Institutionen zur Vorbereitung auf den Wehrdienst. Prägnanz entwickelte sich für die DDR Bürger spätestens nach der Mauerschließung 1961, da sie sich der Militarisierung kaum entziehen konnten, und falls doch, solche Aktionen als Haltung gegen den Frieden und den Sozialismus galten.[12]
Betrachtet man die Fülle von militärisch beeinflussten Bürgern stellt sich die Frage, ob in der DDR eine neue Form des Militarismus herrschte. Zwar erklärt die Verfassung von 1968 „der deutsche Militarismus und Nazismus sei ausgerottet“[13], jedoch fanden militärische Zeremonien auch außerhalb der Kasernen statt. Dazu kommt der hohe Anteil von militärisch ausgebildeten Bürgern. 1978 verfügte die NVA in allen drei Teilstreitkräften über 157.000 Mann, zuzüglich 3,6 Millionen Reservisten. Ebenfalls zugehörig sind Angehörige anderer bewaffneter Organe der Grenztruppen (ca. 50.000), des Ministeriums für Staatsicherheit (5.000 + 350.000 Kampftruppen), Volkspolizei-Bereitschaften (20.000), Kompanien der Transportpolizei (8.500) sowie vor- und paramilitärische Organisationen wie die Gesellschaft für Sport und Technik (ca. 490.000 Jugendliche) und der Zivilverteidigung (ca. 15.000).[14] Mit diesen Zahlen gehörte die DDR zu den höchst militarisierten Staaten des Warschauer Paktes im Verhältnis zur Bevölkerungszahl. Militärischer Drill, Paraden, Fahnenappelle und Uniformen bestimmten den Alltag der DDR-Bürger. Benutzt man den Begriff des Militarismus so kann er hier dennoch nicht völlig greifen, da keinesfalls von einem von „unten getragenen Militarismus“ gesprochen werden kann[15], bedenkt man den Zwang zur Militarisierung durch die SED-Führung.
Um den Erfolg der sozialistischen Erziehung in der NVA zu sichern und zu überprüfen, waren in der Armee außerordentlich viele Informanten des Ministeriums für Staatssicherheit. Unmittelbar nach der Gründung waren etwa 10% der Soldaten parallel für das MfS zuständig, später galt das Verhältnis 1:20 als optimal. Ein herausragend hoher Proporz im Vergleich zur zivilen Überwachung (ca. 1:100).[16]
Wahrscheinlich sah die SED gerade in den Streitkräften hohen Kontrollbedarf wegen der aktiven Gegenüberstellung und Etablierung eines Feindbildes, zum anderen zur Sicherung der Treue zum Sozialismus.
Die größte Ambivalenz zwischen dem Militär des Volkes und selbigem, wird sich sicherlich an der Grenze der DDR offenbart haben. Nach der Mauerschließung am 13.08.1961 als Höhepunkt der Grenzsicherung und ideologischen Abschottung der SED-Führung standen die Soldaten der Grenztruppen im Zwiespalt zwischen indoktrinierter „Landesverteidigung“ und der Achtung von Menschenleben. Dieser Gewissenskonflikt äußerte sich praktisch in dem Missverhältnis zwischen Munitionsverbrauch und Trefferquote, vor allem der subjektiven Einstellung des „Treffen - Wollens“ des einzelnen geschuldet.[17] Dem entgegenzuwirken konzentrierten sich die ideologischen Funktionen auf die Schulung der Grenztruppen. Mit der Darstellung der Flüchtlinge als Landesverräter und Gleichstellung jener mit Verbrechern und Mördern, sollte den Soldaten der Schießbefehl sinnvoller und durchsetzungsfähiger beschrieben werden. Ehrungen für erfolgreiche Schützen erinnerten die Soldaten an die „ehrvolle“ Aufgabe, die sie als Armeeangehöriger inne hatten.[18]
Wenn auch dieser kurze Blick auf die Thematik der gesellschaftlichen Rolle der NVA keineswegs als umfassend zu beurteilen ist, so schildert sich hier zumindest grob die Bedeutung der Armee für die DDR-Bürger. Gekennzeichnet durch de Militarisierungs-Gedanken, der Hegemonie des Warschauer Paktes und sowjetischer Führung, der Einflussnahme der SED und der Zwietracht zwischen militärischer Professionalität und politischer Indoktrinierung, war die NVA ebenso Teil der sozialistischen Führung, wie Untersuchungsfeld. Die Verankerung in der Gesellschaft mit der Wehrpflicht, vormilitärischen Organisationen und paramilitärischen Strukturen in Erziehungseinrichtungen sollten die politische Führungsrolle der SED sichern und schützen. Die Armee des Volkes wurde von Anfang an eher als Armee gegen das Volk organisiert, ob es die Verteidigung der Grenze betraf, oder zur Festigung der Erziehungsdiktatur diente. Doch fraglich bleibt wie bei vielen Debatten zum Militär während einer Diktatur, inwieweit ein Auflehnen gegen das System möglich, gewollt oder erfolgreich gewesen wäre. Im Falle der NVA, die als Teil des sozialistischen Apparates gegründet wurde, muss die Beantwortung dieser Frage Thema einer anderen Forschung sein.
Bibliographie
Diedrich, Torsten (2004), „Herrschaftssicherung, Aufrüstung und Militarisierung im SED-Staat.“, in Ehlert, Hans; Rogg, Matthias (Hrsg.) „Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR. Forschungsfelder, Ergebnisse, Perspektiven“, Ch. Links Verlag, Berlin. S. 257-284.
Diedrich, Torsten (2009), „ Die DDR zwischen den Blöcken. Der Einfluss des Warschauer Paktes auf Staat, Militär und Gesellschaft der DDR.“, in Diedrich, Torsten; Heinemann, Winfried; Ostermann Christian F (Hrsg.) „Der Warschauer Pakt. Von der Gründung bis zum Zusammenbruch 1955 bis 1991.“, Bundeszentrale für politische Bildung, Band 782, Bonn. S. 59-84.
Grafe, Roman (2004), „Die Grenztruppen der DDR. Selbstbild, Propaganda, Wirklichkeit.“ in in Ehlert, Hans; Rogg, Matthias (Hrsg.) „Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR. Forschungsfelder, Ergebnisse, Perspektiven“, Ch. Links Verlag, Berlin. S. 337-350.
Ihme-Tuchel, Beate (2004), „Armee des Volkes? Anmerkungen zur wechselseitigen Reflexion von Militär und Gesellschaft in der DDR“, in Ehlert, Hans; Rogg, Matthias (Hrsg.) „Militär, Staat und Gesellschaft in der DDR. Forschungsfelder, Ergebnisse, Perspektiven“, Ch. Links Verlag, Berlin. S. 359-376.
Hoffmann, Heinz (1962). „Waffendienst – Ehrendienst für Frieden und Sozialismus.“ Rede zur Begründung des Gesetzes über die allgemeine Wehrpflicht auf der 21. Tagung der Volkskammer der DDR am 24.01.1962.
Nawrocki, Joachim (1979), „Bewaffnete Organe in der DDR.“, Holzapfel Verlag, Berlin.
Satjukow, Silke (2008), „Besatzer. Die Russen in Deutschland 1945-1994“, Vandenhoeck und Ruprecht. Göttingen.
Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 06.04.1968.
[...]
[1] Vgl. Diedrich, Torsten (2004), S. 268.
[2] Vgl. Diedrich, Torsten (2009), S. 66.
[3] Vgl. Nawrocki, Joachim (1979), S. 14.
[4] Vgl. Diedrich, Torsten (2009), S. 68.
[5] Vgl. Ebd. S. 69. Die Strukturierung der NVA äußerte sich besonders in der militärischen Organisation von Divisionen und Regimentern, sowie der Einführung und Ausgestaltung von Waffengattungen aller Art. Mit „GSSD“ ist hier die „Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte Deutschlands“ gemeint.
[6] Satjukow, Silke (2008), S. 110.
[7] Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 06.04.1968, Artikel 23.
[8] Vgl. Ebd. S. 39/40
[9] Hoffmann, Heinz (1962). Rede zur Begründung des Gesetzes zur allgemeinen Wehrpflicht. Zu dieser Zeit hatte der Armeegeneral Hoffmann die Position des DDR-Ministers für Nationale Verteidigung inne.
[10] Ihme-Tuchel, Beate (2004), S. 360.
[11] Vgl. Nawrocki, Joachim (1979), S. 49.
[12] Vgl. Diedrich, Torsten (2009), S. 77.
[13] Verfassung DDR (1968) Artikel 6 Abs. 1.
[14] Nawrocki, Joachim (1979), S. 11. Die Angaben des Autors beruhen hauptsächlich auf einem Bericht des International Institutes of Strategic Studies (IISS). „Assessing the NATO/Warsaw Pact Military Balance“. Elektronisch veröffentlicht auf: http://www.cbo.gov/ftpdocs/101xx/doc10146/77doc579.pdf (Datum letzter Einsicht 29.12.2011)
[15] Vgl. Ihme-Tuchel, Beate (2004), S. 361/362.
[16] Vgl. Ebd. S. 363.
[17] Vgl. Grafe, Roman (2004), S. 341.
[18] Vgl. Ebd. S. 343ff.
- Quote paper
- Stefan Rausch (Author), 2011, Die Nationale Volksarmee. Eine Armee des Volkes?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/412099