1 Einleitung
1.1 Problem- und Zielstellung
„Die Diskussionen über den Schulsport in Deutschland sind bislang dadurch charakterisiert, dass allzu häufig mit Spekulationen jongliert wurde, wo Faktenwissen notwendig ist“ (BRETTSCHNEIDER, 2004, S.1).
Obwohl der Sportunterricht an Schulen bereits seit langem Gegenstand sportwissenschaftlicher aber auch gesundheits- und bildungspolitischer Diskussion ist, treten nach wie vor viele kontrovers diskutierte Inhalte auf. So werden z.B. Debatten darüber geführt, wozu der Sport an Schulen dient, welchen Bildungswert er besitzt oder wie sinnvoll eine dritte bzw. vierte Sportstunde ist. Dabei sollte allseits bekannt sein, welche positiven und nachhaltigen Auswirkungen Sport auf bio-psycho-sozialer Ebene hat.
Inzwischen scheint das Bild von Kindern und Jugendlichen unserer Gesellschaft zunehmend von negativen Attributen determiniert. Abgesehen von Erkenntnissen aus Studien die über die geistigen Fähigkeiten der nachwachsenden Generation entsprechend urteilen (vgl. BOS et. al., 2004), bezieht sich diese Aussage seit einigen Jahren auch deutlich auf den physischen Leistungs- und Gesundheitszustand. In diesem Zusammenhang findet WEIS (1996) treffende Worte, die Bedeutsamkeit sportiven Handelns hervorzuheben. Er stellt fest: „Sport besitzt in der modernen, technokratischen Gesellschaft, welche die Gefahr gesundheitlicher Probleme durch Bewegungsarmut, einseitige Belastungen sowie emotionale und soziale Verarmung heraufbeschwört, eine immense Bedeutung für die Menschen, insbesondere für Kinder und Jugendliche“ (1996, S. 2). Hier wird dem Sport eine übergreifende Funktion in der Gesellschaft zugeschrieben. Diese spielt vor allem für Kinder und Jugendliche eine große Rolle. Des Weiteren wird auch im „Zweiten Aktionsprogramm für den Schulsport“ u. a. von den Kultusministern der Länder vermerkt: „Der Sport kann angesichts dieser Lage einen wichtigen Beitrag leisten“. Und weiter: „ Der Schulsport, […], ist in hohem Maße geeignet, zur vielfältigen Bereicherung des schulischen Lebens beizutragen“ (SEKRETARIAT der STÄNDIGEN KONFERENZ der KULTUSMINISTER der LÄNDER in der BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND, 1985, S. 2). Ebenso deutliche Worte sind in einer Erklärung des DEUTSCHEN SPORTLEHRERVERBANDES (1992, S. 1) vermerkt: „Bewegung ist entscheidend für die Entwicklung unserer Kinder. [...]
Inhaltsverzeichnis
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
TABELLENVERZEICHNIS
1 Einleitung
1.1 Problem- und Zielstellung
1.2 Wissenschaftliche Fragestellungen
2 Forschungsstand
2.1 Bewegungskultur im Wandel der Zeit
2.1.1 Entwicklungsgeschichtliche Veränderungen des Bewegungsverhaltens
2.1.2 Auswirkungen von Bewegungsmangel auf die motorische Leistungsfähigkeit
2.2 Zur Funktion und Auswirkung des schulischen Sports
2.2.1 Anthropologische Funktion
2.2.2 Gesundheitsförderung im Schulsport
2.2.3 Anpassungserscheinungen durch den Schulsport
2.2.4 Schulsport und trainingswissenschaftliche Positionen
2.3 Zur Handhabung der Leistungsbewertung Sportunterricht
2.3.1 Die Kontroverse der Benotung
2.3.2 Möglichkeiten Leistungen zu bewerten
2.4 Normen und Grenzwerte als abzuleitende Handlungsstrategie?
3 Untersuchungsmethodisches Vorgehen
3.1 Untersuchungsplanung und Operationalisierung
3.2 Stichprobe
3.3 Untersuchungsdurchführung
3.4 Methoden der Datenauswertung
3.5 Methodenkritik
4 Darstellung und Interpretation der Ergebnisse
4.1 Datenrücklauf
4.1.1 Teilnahme in bundesweiter Relation
4.1.2 Stichprobengröße im Verhältnis der neuen und alten Länder
4.2 Kenntnisstand und Anwendung von Bewertungsgrundlagen
4.2.1 Kenntnisstand von Bewertungsgrundlagen im Sportunterricht
4.2.2 Datenquellen von Bewertungsgrundlagen im Sportunterricht
4.2.3 Anwendung von Bewertungsgrundlagen im Sportunterricht
4.3 Notwendigkeit von Bewertungsgrundlagen
4.3.1 Die Bedeutung von Normwerten und Richtlinien zur Leistungsbeurteilung für den Sportlehrer
4.3.2 Die Notwendigkeit von Bewertungsgrundlagen im Sportunterricht
4.3.3 Zeitliche Gültigkeit normorientierter Bewertungsgrundlagen
4.4 Optionale Anwendungsmöglichkeiten von normorientierten Bewertungsgrundlagen im Sportunterricht
4.4.1 Berücksichtigung somatischer Merkmale in der Beurteilung von Schülerleistungen
4.4.2 Ermittlung physischer Entwicklungstendenzen von Schülern mit Hilfe von Normwerten zur Leistungsbeurteilung
4.4.3 Talentsichtung auf Grundlage standardisierter Normwerte
4.4.4 Die Anwendung von Normwerten und Richtlinien auf Bundesebene
5 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
LITERATURVERZEICHNIS
ANHANG
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abb.1. Systematik der Kondition und Koordination unter Berücksichtigung der Wechselbezüge bei der Kraft, Schnelligkeit und Beweglichkeit (Hohmann et al., 2002, S. 50).
Abb.2. Prozentualer Anteil der Länder, deren Landesinstitute für schulische Entwicklung und Lehrerfortbildung an der Untersuchung teilgenommen / nicht teilgenommen haben.
Abb.3. Verteilung der Untersuchungsteilnehmer aus den alten und neuen Bundesländern.
Abb.4. Anzahl der Untersuchungsteilnehmer, denen Bewertungs- grundlagen für Schülerleistungen im Sportunterricht bekannt sind. [Modus: 1]
TABELLENVERZEICHNIS
Tab.1. Studien zur Ermittlung säkularer Trends der motorischen Leistungsfähigkeit (BÖS, 2003, S. 97).
Tab.2. Statistische Maßzahl der Datenauswertung.
Tab.3. Bewertungskriterien auf Grundlage von Erfahrungswerten.
Tab.4. Bewertungskriterien auf Grundlage von landeseigenen Erhebungen.
Tab.5. Bewertungskriterien auf Grundlage von Daten aus Erhebungen anderer Bundesländer.
Tab.6. Zusätzliche Datenquellen von Bewertungskriterien.
Tab.7. Die Verwendung von Daten zur Beurteilung von Schülerleistungen in der Schulpraxis. [Modus: 1]
Tab.8. Die Bedeutung von Normen und Richtlinien in der Beurteilung von Leistungen im Sport. [Modus: 3]
Tab.9. Die Bedeutung von Normen und Richtlinien für einen Sportlehrer, in der Beurteilung von Schülerleistungen im Unterricht. [Modus: 3]
Tab.10. Notwendigkeit normierter Werte in der Beurteilung von Schülerleistungen im Sportunterricht. [Modus: 2]
Tab.11. Notwendigkeit von Bewertungsrichtlinien in der Beurteilung von Schülerleistungen im Sportunterricht. [Modus: 3]
Tab.12. Aktualisierung von Bewertungsnormativen. [Modus: 1]
Tab.13. Zeitliche Abstände der Aktualisierung von Bewertungs-normativen. [Modus: 4]
Tab.14. Angaben zur erstmaligen Anwendung von normativen Bewertungsgrundlagen im Sportunterricht.[Modus: 3;5]
Tab.15. Die Berücksichtigung körperspezifischer Merkmale bei der Anwendung von normativen Bewertungsgrundlagen. [Modus: 3]
Tab.16. Die Anwendung von Normwerten zur Ermittlung von Entwicklungstendenzen physischer Leistungsfähigkeit. [Modus: 4]
Tab.17. Talentsichtung im Sportunterricht unter Verwendung normierter Daten. [Modus: 4]
Tab.18. Angaben über die bundesweite Anwendung normierter Bewertungsgrundlagen.[Modus: 2]
1 Einleitung
1.1 Problem- und Zielstellung
„Die Diskussionen über den Schulsport in Deutschland sind bislang dadurch charakterisiert, dass allzu häufig mit Spekulationen jongliert wurde, wo Faktenwissen notwendig ist“ (BRETTSCHNEIDER, 2004, S.1).
Obwohl der Sportunterricht an Schulen bereits seit langem Gegenstand sportwissenschaftlicher aber auch gesundheits- und bildungspolitischer Diskussion ist, treten nach wie vor viele kontrovers diskutierte Inhalte auf. So werden z.B. Debatten darüber geführt, wozu der Sport an Schulen dient, welchen Bildungswert er besitzt oder wie sinnvoll eine dritte bzw. vierte Sportstunde ist. Dabei sollte allseits bekannt sein, welche positiven und nachhaltigen Auswirkungen Sport auf bio-psycho-sozialer Ebene hat.
Inzwischen scheint das Bild von Kindern und Jugendlichen unserer Gesellschaft zunehmend von negativen Attributen determiniert. Abgesehen von Erkenntnissen aus Studien die über die geistigen Fähigkeiten der nachwachsenden Generation entsprechend urteilen (vgl. BOS et. al., 2004), bezieht sich diese Aussage seit einigen Jahren auch deutlich auf den physischen Leistungs- und Gesundheitszustand. In diesem Zusammenhang findet WEIS (1996) treffende Worte, die Bedeutsamkeit sportiven Handelns hervorzuheben. Er stellt fest: „Sport besitzt in der modernen, technokratischen Gesellschaft, welche die Gefahr gesundheitlicher Probleme durch Bewegungsarmut, einseitige Belastungen sowie emotionale und soziale Verarmung heraufbeschwört, eine immense Bedeutung für die Menschen, insbesondere für Kinder und Jugendliche“ (1996, S. 2). Hier wird dem Sport eine übergreifende Funktion in der Gesellschaft zugeschrieben. Diese spielt vor allem für Kinder und Jugendliche eine große Rolle. Des Weiteren wird auch im „Zweiten Aktionsprogramm für den Schulsport“ u. a. von den Kultusministern der Länder vermerkt: „Der Sport kann angesichts dieser Lage einen wichtigen Beitrag leisten“. Und weiter: „ Der Schulsport, […], ist in hohem Maße geeignet, zur vielfältigen Bereicherung des schulischen Lebens beizutragen“ (SEKRETARIAT der STÄNDIGEN KONFERENZ der KULTUSMINISTER der LÄNDER in der BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND, 1985, S. 2).
Ebenso deutliche Worte sind in einer Erklärung des DEUTSCHEN SPORTLEHRERVERBANDES (1992, S. 1) vermerkt: „Bewegung ist entscheidend für die Entwicklung unserer Kinder. Wer Kindern und Jugendlichen die zu ihrer Entwicklung notwendigen Bewegungsreize beschneidet, wer verhindert, dass sie ihrem natürlichen Bewegungstrieb in ausreichendem Maße nachgehen können, […], der behindert die Entwicklung dieser Kinder und belastet damit ihre und auch unsere Zukunft“.
Aber nicht nur an das Lehrfach Sport gebundene Fachkräfte äußern sich demgegenüber zustimmend. So beschreibt auch der Sportmediziner HOLLMANN (1992, S. 29) den Schulsport als „[…] noch nie so notwendig wie heute“.
Dem schulischen Sport werden also grundlegend positive Einflussnahmen auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zugeschrieben. In diesem Zusammenhang ist es von Interesse zu erfahren, inwiefern sich diese positiven Eigenschaften bezüglich einer effektiven Auswirkung in der Schulpraxis realisieren lassen. Welche Strategien erscheinen sinnvoll, um ein effektives, zielorientiertes und methodisches Vorgehen im Schulsport zu gewährleisten?
Aus vorangegangenen Überlegungen resultiert die Annahme, dass eine grundlegende Maßnahme zur Umsetzung leistungserhaltender und -fördernder Elemente des schulischen Sports, eine normorientierte Bewertung sportmotorischer Leistungsfähigkeit darstellt. Ziel dieser Arbeit ist es, in erster Instanz eine Bedarfsanalyse durchzuführen, die ein weiteres Vorgehen im Zusammenhang mit normorientierten Bewertungsgrundlagen rechtfertigen soll.
Zunächst wird auf der Basis von sportwissenschaftlichen Erkenntnissen eine theoretische Position begründet. Bezug nehmend auf das Eingangszitat dieses Kapitels erfolgt eine empirische Analyse, von dessen Ergebnissen ein richtungweisender Handlungsansatz erwartet wird.
1.2 Wissenschaftliche Fragestellungen
Die Beurteilung von Schülerleistungen im Sportunterricht auf der Grundlage von Normativen ist aufgrund vielseitiger Bedenken, z.B. vor einer dogmatischen Handhabung, stets kritisch betrachtet worden. Dennoch bedarf es, um nur ein Beispiel zu nennen, standardisierter Vorgaben und Richtlinien, die es einer Lehrkraft für Sport ermöglichen, sich einer Orientierungshilfe zu bedienen. Um dem bedarfsanalytischen Ansatz dieser Arbeit gerecht zu werden, erfolgt im Vorfeld eine Formulierung spezifischer Fragestellungen.
I Zur Anwendung von Bewertungsgrundlagen und deren Datenquellen
- Werden Bewertungsgrundlagen zur Beurteilung von Schülerleistungen im Sportunterricht in der Schulpraxis zur Anwendung gebracht und auf welche Datenquellen sind sie zurückzuführen?
II Zur Notwendigkeit normierter Bewertungsgrundlagen
- Besitzen normierte Bewertungsgrundlagen einen praktischen Nutzen und inwiefern besteht die Notwendigkeit einer Anwendung im Sportunterricht?
- Ist die zeitliche Gültigkeit normierter Bewertungsgrundlagen begrenzt und wenn Ja, welchen Zeitrahmen umfasst sie?
III Zur optionalen Verwendung normierter Bewertungsgrundlagen
- Inwiefern besteht die Möglichkeit einer Anwendung normierter Bewertungsgrundlagen unter den Aspekten:
- Ermittlung physischer Entwicklungstendenzen;
- Berücksichtigung körperbaulicher Merkmale;
- Talentsichtung im Sportunterricht;
- Anwendung von leistungsbewertenden Normen auf Bundesebene?
2 Forschungsstand
2.1 Bewegungskultur im Wandel der Zeit
2.1.1 Entwicklungsgeschichtliche Veränderungen des Bewegungsverhaltens
Durch die evolutionäre Entwicklung des menschlichen Gehirns, einhergehend mit der Aufrichtung des Gangs und der dadurch bedingten Freisetzung der Hände aus dem urtypischen Bewegungsbild, wurde der Mensch dazu befähigt, das beherrschende Lebewesen der Erde zu sein. So wurden schon in der Vorzeit die vorteilhaften Fähigkeiten, über die viele Tiere verfügen, durch den Vorgang des komplexen Denkens bzw. der Intelligenz kompensiert. Menschen bildeten Gemeinschaften, um unter größter körperlicher Anstrengung und mit primitiven Mitteln aus naher Distanz ihre Beute zu jagen. Heutzutage werden Antilopen, die sich doppelt so schnell fortbewegen können wie der schnellste Mensch (FLINDT, 1995), mit einem Gewehr über hunderte von Metern aus Gründen des Zeitvertreibs erlegt. Mit Beginn des Agrarzeitalters, aber insbesondere in den letzten Jahrzehnten, ist die Entwicklung der menschlichen, vor allem der westlichen Kultur, sehr schnell vorangeschritten.
Der Konflikt zwischen Mensch, Zeit und Gesellschaft hat sich zunehmend erhärtet. Sehr treffend erläutert UMMINGER (2000, S. 7) diesen Sachverhalt: „Die Art und Weise des Daseinskampfes erstreckt sich über mehrere Millionen Jahre. Fasst man den gesamten Zeitraum vom ersten Auftreten des Menschen bis heute zusammen, hat der Mensch 99% seines Daseins auf der Jagd verbracht“. So hat sich aus einem einstig bewegungsintensiven, ein aufgrund technisierter Umwelt nur noch selten zur Anstrengung fordernder Alltag für die Menschen entwickelt.
Diese, im eigentlichen Sinne rudimentäre Entwicklung, betrifft nicht ausschließlich den Alltag erwachsener Menschen. Zunehmend dringt eine durch Bewegungsarmut gekennzeichnete Umwelt in das Leben der heutigen Kinder und Jugendlichen ein (BILITZKI, 2002). So nennt beispielsweise SCHMIDT (2003) neuzeitliche Ursachen bewegungslimitierender Faktoren, die den Wohnraum betreffen und eine kindgerechte Entwicklung behindern.
Eine Übermöblierung der Kinderzimmer sowie deren multifunktionale Nutzung verweigern eine zum Aufrichten, Gehen, Hopsen und Springen animierende Umgebung (SCHMIDT, 2003). Zudem verhindert der kontinuierliche Vormarsch hochtechnisierter Unterhaltungsmedien in die kindliche Umwelt, den instinktiven Spiel- und Bewegungsbedürfnissen nachzukommen (vgl. HOHLMEIER, 1995).
Doch nicht nur den direkten Wohnraum betreffende Faktoren beschneiden Kinder und Jugendliche ihres ureigenen Bewegungsdranges. Der „Essener Kinderbericht“ (1999) weist darauf hin, dass sich innerhalb der letzten 30 Jahre die Anzahl der zugelassen Fahrzeuge um etwa 500% gesteigert hat. Eine Konsequenz daraus ist aber nicht nur ein erhöhtes Verkehrsaufkommen, welches eine grundlegende Gefahr für Kinder und Jugendliche darstellt. Die für diese Fahrzeuge benötigten Abstellflächen erfordern eine um das siebenfach höhere Kapazität, als dies noch vor 40 Jahren der Fall gewesen ist. So ist es insbesondere der nachwachsenden Generation in städtischen Ballungszentren nicht mehr möglich, eine ausgeprägte Straßenspielkultur zu entwickeln, wie es noch in den 60er Jahren der Fall war (vgl. SCHMIDT, 2003). THIEMANN (1989) lässt sich aufgrund der beschriebenen Situation dazu verleiten, die Restbestände bewegungsfreien Raumes als „Bewegungsghettos“ zu bezeichnen.
„Diesem objektiven Verlust wohnnaher freier Bewegungs- und Spielflächen, […], stehen erstaunlich viele positive Meinungsäußerungen, […], älterer Kinder (6 bis 13 Jahre) gegenüber“ (SCHMIDT, 2003, S. 119). So haben sich insbesondere in dieser Altersgruppe neue Spielformen entwickelt, die sich den Gegebenheiten ihrer direkten Umwelt angepasst haben. Auf THIEMANN’S und RUSCH’S Tätigkeitsliste (1998) bezüglich der Ausübung von Spielsportarten der acht bis zwölfjährigen lassen sich demnach bevorzugt sportive Formen wie Streetball, Hockey, Inline-Hockey, Skateboarding, Mountenbiking und Inline-Skating finden. In diesem Zusammenhang wird dieser Entwicklung, die Ausprägung einer neuen Asphalt-Kultur zugeschrieben.
Aber nicht nur die Eigenkultivierung sportlichen Handelns von Kindern und Jugendlichen scheint eine Bedeutungsaufwertung und tendenziell positive
Entwicklung der Bewegungskultur darzustellen. Auch der stetige Zuwachs von Vereinsmitgliedschaften mit Beginn der 50er Jahre bis Heute spricht dafür. So verglich ZINNECKER (1987) den Anteil der Kinder im Sportverein von 1954 und 1975. Er stellte dabei fest, dass in dieser Zeit der Anteil der Kinder von 15% auf 35% zugenommen hat. Erhebungen der frühen 80er und der 90er Jahre machen zudem deutlich, dass sich der Anteil von Kindern in Sportvereinen bei ca. 40% befindet (SACK, 1980: 47,7%; BRETTSCHNEIDER & BRÄUTIGAM, 1990: 45,5%; KURZ et. al., 1996: 40,7%). Ausgehend davon kann von einer Bewegungsflucht der Kinder in die Sportvereine die Rede sein. Diese Aussage lässt sich auch durch die von ZINNECKER aufgestellte These unterstützen. Er ist der Auffassung „[…], dass die Idee des spielend sich entwickelnden Kindes durch das Ideal sportiver Kindheit ersetzt werde“ (ZINNECKER, 1990, S. 648).
Zusammenfassend ist zu bemerken, dass sich in der Kindheits- und Jugendentwicklung ein traditioneller Wandel von einer Spielkultur (im Sinne von spielerischer Bewegung) zu einer Sportkultur vollzogen hat. Verursacht durch Eingriffe in den bewegungsfreien Raum und den Angeboten neuer Medien ist es bereits in der frühkindlichen Phase nur noch bedingt möglich, ein ausgeprägtes Bewegungsverhalten zu entwickeln. Um aber dem inneren Bewegungsdrang trotz dessen gerecht zu werden, “fliehen“ Kinder zunehmend in den Sportverein.
Inwiefern die o. g. Entwicklung des Bewegungsverhaltens mögliche Auswirkungen auf die motorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen hat, wird im folgenden Kapitel näher betrachtet.
2.1.2 Auswirkungen von Bewegungsmangel auf die motorische Leistungsfähigkeit
Trotz der anzunehmenden positiven Entwicklung sportiven Handelns und der Entfaltung neuer Bewegungskulturen (vgl. Kap. 2.1.1) lassen sich dennoch negative Auswirkungen eines veränderten Bewegungsverhaltens nicht leugnen. Ein Hinweis darauf ist diesbezüglich, dass Mädchen nur schwer bis gar nicht
den Weg in Formen neuer Bewegungskulturen finden (WOPP, 1999). Dieses Faktum korreliert in der Konsequenz auch mit den von STROECH (2004) gemachten Aussagen. Es kommt zum Ausdruck, dass nach Untersuchungen mittels des von KIPHARD & SCHILLING (1970) entwickelten Körperkoordinationstest für Kinder, die Jungen in den betreffenden Altersklassen einen entsprechend besseren motorischen Quotienten aufweisen als die Mädchen.
Ebenfalls sehr deutlich formuliert sind die Erkenntnisse von BÖS (2003), betreffend einer vergleichenden Betrachtung der motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen über einen Zeitraum von 25 Jahren. „Die vergleichende Betrachtung zeigt, dass die motorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen in den vergangenen 25 Jahren um durchschnittlich mehr als 10% abgenommen hat“ (BÖS, 2003, S. 105). Auch die Ergebnisse einer Untersuchung von TOMKINSON et al. (2003), in der 55 Studien mit ca. 130.000 Kinder aus 11 Ländern metaanalytisch ausgewertet wurden, lassen erkennen, dass von 1981 bis 2000 die aerobe Fitness um durchschnittlich 0,43% pro Jahr abgenommen hat.
In Tabelle 1 ist nach BÖS (2003, S. 97) eine Auswahl von Studien zu säkularen Trends betreffend der motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen zusammenfassend dargestellt. Die zeitlichen Intervalle der Datenerhebungen erstrecken sich von fünf bis dreißig Jahren. In diesen Untersuchungen ist zu erkennen, dass sich trotz der z. T. unterschiedlich angewandten Testmethoden eine tendenzielle Verschlechterung der motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen nachweisen lässt. Die umfangreichste der dargestellten Studien stammt von RACZEK (2002) und umfasst einen Zeitraum von dreißig Jahren. Auf Basis von vier aufeinander folgenden Erhebungen untersuchte er die motorische Leistungsfähigkeit von insgesamt 10.015 Kindern und Jugendlichen. Er stellt fest, dass insbesondere im energetisch-konditionellen Bereich ein hochsignifikanter Leistungsrückgang bei Jungen und Mädchen zu verzeichnen ist. In der “IDEFIKS - Studie“ von KLEIN et al. (2004) wird zudem auf die abweichende motorische Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Schulformen hingewiesen.
Tab. 1. Studien zur Ermittlung säkularer Trends der motorischen Leistungsfähigkeit
(B ÖS , 2003, S. 97).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Es wird deutlich, dass Gymnasiasten ein tendenziell höheres Leistungsniveau aufweisen als Schüler anderer Schulformen. So ist nicht nur ein Gefälle motorischer Leistungsfähigkeit im Laufe der historischen Entwicklung zu erkennen. Es zeigt sich ebenfalls eine unterschiedliche Ausprägung innerhalb des zurzeit in Deutschland bestehenden Schulsystems (vgl. STROECH, 2004).
Diese Aussagen stehen zu den in Kapitel 2.1.1 positiv dargestellten sportiven Entwicklungen in einem Widerspruch. Offensichtlich lassen sich die nachhaltig negativen Auswirkungen auf eine mangelnde Bewegungsentfaltung im Alltag von Kindern und Jugendlichen zurückführen. BÖS (2003, S. 106) erklärt dazu: „Es scheint allerdings so, dass die modernen Trendsportarten sowie die frühe Mitgliedschaft im Sportverein die fehlende Bewegung im Alltag nicht oder nur zum Teil kompensieren kann“. Diese Aussage stützen Ergebnisse von STROECH (2004). Anhand der Auswertung von einem kategorisierten Bewegungsverhalten eines Schultages von Schülern der Klassenstufen 3, 5 und 7 beschreibt STROECH (2004) eine durchschnittliche Dauer von ca. 17,5 Stunden, in der die Schüler entweder Schlafen, Liegen oder Sitzen (vgl. auch BÖS, 1995, S. 63 ff.).
Doch die Erkenntnisse über den Verlust physischer Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen scheinen angesichts mahnender Worte der Vergangenheit nicht verwunderlich. Bereits Ende der 20er Jahre meint SPRANGER (1929) Symptome einer tiefgreifenden Kulturerkrankung zu erkennen, die unter anderem darin besteht, dass die Menschen in Gefahr sind, ganz Geist zu werden und vital abzusterben. Auch HAHN (1957) bemängelt den Rückgang der Fitness als eine Verfallserscheinung der modernen Zivilisation.
Fasst man die Erkenntnisse aus Studien und Untersuchungen der letzen Jahrzehnte zusammen, so lässt sich entgegengesetzt der sportiven Entwicklung eine stetige Verschlechterung der motorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen nachweisen. Diese Entwicklung ist unter Berücksichtigung bekannter Einflussgrößen auf das zu geringe Bewegungsverhalten im kindlichen und jugendlichen Alltag zurückzuführen (vgl. auch Kap. 2.1.1). Welche tatsächlichen Konsequenzen diese Entwicklung für die betreffenden
Generationen in Zukunft mit sich bringt, kann an dieser Stelle nur vermutet werden. Unbestritten ist jedoch, dass die gesundheitliche Unversehrtheit der Kinder und Jugendlichen zunehmend bedroht ist.
2.2 Zur Funktion und Auswirkung des schulischen Sports
2.2.1 Anthropologische Funktion
Das Lehrfach Sport unterliegt der Gefahr einer latent abwertenden Position im allgemeinen Fächerkanon. Zu erkennen ist dies ohne Zweifel anhand von immer wiederkehrenden Diskussionen über dessen Sinnhaftigkeit, einhergehend mit der stetigen Infragestellung des Bildungswertes. Vertreter und Befürworter sind somit ständig dazu aufgefordert, der Bedeutsamkeit dieses Unterrichtsfaches ihre Rechtfertigung zu verleihen. Diese fortwährend defensive Stellung scheint umso schwerer nachvollziehbar, da die positiven Funktionen des Sports im Kindes- und Jugendalter keineswegs bestritten sind. Doch woran liegt diese zum Teil stark ablehnende Haltung gegenüber dem schulischen Sport?
In früherer Form als Tanz- und Jagdspiel der ägyptischen und mesopotamischen Hochkulturen schon nicht unbekannt und im Unterrichtsprogramm des antiken Griechenlands in dominanter Position vorhanden, hat der schulische Sport erst sehr spät einen Platz in der Schule des Industriezeitalters gefunden (BOCK, 1993). Ab dem 19. Jahrhundert fester Bestandteil des Unterrichts, ist er aber stets umstritten. In den weiterführenden Schulen beherrschten die alten Sprachen das Feld. Dann beanspruchten die explosionsartig anwachsenden theoretischen Fachgebiete zunehmend Raum im Unterrichtskanon. Sport tauchte ohnehin zunächst nur während des Sommers an den Schulen auf und war vielfach auf die unterrichtsfreie Zeit des Nachmittags verlegt (vgl. BOHUS, 1986; LIEDTKE, 1993). LIEDTKE (1995) verweist darauf, dass dies Erscheinungen sind, die bei Etablierung eines jeden neuen Unterrichtsfaches beobachtet werden können. Doch wie bereits vermerkt, sind die Ausläufer dieser Erscheinung noch bis in die heutige Zeit deutlich zu erkennen. Gibt es also in der Tat rationale Gründe die eine minderwertige Position des schulischen Sports rechtfertigen?
Um diese Frage beantworten zu können, muss die Funktion des Schulsports aus anthropologischer Sicht betrachtet werden. Dabei wird der Begriff der Anthropologie aus seinem naturwissenschaftlichen Verständnis heraus verwendet, als die wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der Analyse des Menschen und seiner evolutionären Entwicklung befasst (DUDEN, 2002).
Die Annahme, dass komplexe Verhaltensweisen des Menschen auf eine exakte genetische Basis zurückzuführen sind, ist bisher nicht eindeutig belegbar. Die Vermutung klingt jedoch plausibel, wenn es sich dabei um interkulturell übergreifende Verhaltensbereiche handelt, die offensichtlich nicht auf Lernprozessen beruhen (LIEDTKE, 1995). So z.B. die kreuzkoordinierte Bewegung von Armen und Beinen. Lassen sich zudem noch vergleichbare Muster in der zum Menschen hinführenden subhumanen Ahnenreihe finden, wie es auch in dem angeführten Beispiel der Fall ist, dann kann jedoch die Vermutung einer genetischen Veranlagung verstärkt angenommen werden (LIEDTKE, 1995).
„Sport als das uns geläufige gesellschaftliche Phänomen von Bewegungsspielen und organisiertem Wettkampf, […], ist selbstverständlich nicht in gleicher Weise genetisch disponiert wie die kreuzkoordinierte Bewegung von Armen und Beinen“ (LIEDTKE, 1995, S. 14). Ein wesentlicher Grund dafür ist die starke interkulturelle Varianz konkreter Formen des Sports. Interessant scheint aber die Tatsache, dass in Situationen, in denen Menschen einen extrem großen körperlichen Aufwand betreiben müssen um ihre Minimalexistenz zu sichern, der Sport nicht auftaucht (LIEDTKE, 1995). Es kann daraus die Schlussfolgerung gezogen werden, dass eine ausgeprägte Kultur sportiven Handelns erst ab einem gewissen Niveau der Existenzsicherung auftritt. Sport hat an dieser Stelle eine kompensatorische bzw. ausgleichende Funktion. Aus diesem Aspekt heraus werden in Anlehnung an LIEDTKE (1995, S. 14 ff.) vier Faktoren abgeleitet, die mutmaßlich eine endogene Basis haben und das o. g. Phänomen aus anthropologischer Sicht versuchen zu erklären:
Der Bewegungsdrang
Es ist grundlegend davon auszugehen, dass das Bewegungsverhalten des Menschen durch seine vorgeschichtliche Stammeszeit geprägt ist. Seit mehreren Millionen Jahren, bis vor etwa 10.000 Jahren galt der Mensch als Jäger und Sammler und hat somit die längste Zeit seiner evolutionären Entwicklung ein bewegungsaktives Dasein gefristet (vgl. UMMINGER, 2000). „Nur vor diesem Hintergrund wird es verständlich, dass ein Großteil der Zivilisationskrankheiten auf einem Mangel an Bewegung beruht. Wären wir in unserer Stammesgeschichte Beutelauerer gewesen, wir würden uns in glänzender Weise zu sitzender Bürotätigkeit eignen und wären sicher auch stets eine ungeheuer ruhig auf Informationen lauernde Schülerschaft“ (LIEDTKE, 1995, S. 14). Der Bewegungsdrang, so scheint es, ist somit die elementarste anthropologische Quelle des Sports.
Der schulische Sport erlaubt es, diesem Phänomen gerecht zu werden!
Das Bedürfnis der Leistungssteigerung
Das Leistungsprinzip zielt darauf ab, unter den Bedingungen der Ressourcenknappheit einen größtmöglichen Gewinn zu erzielen. Dieser Aspekt zählt ebenfalls zu den elementaren Konstruktionsprinzipien der Evolution. In diesem Zusammenhang schreibt LIEDTKE (1995) lebenden Systemen nur dann die Fähigkeit zum Überleben zu, wenn sie nicht nur nach Systemerhaltung sondern auch nach Systemverbesserung streben. Dieses Streben ist selbstverständlich auch ein typisches Charakteristikum des Menschen. Es gilt nicht nur für wirtschaftliche und industrielle Aspekte,
sondern ebenso für sportives Handeln. Das ist die Natur des Menschen.
Der schulische Sport erlaubt es, diesem Phänomen gerecht zu werden!
Der Wettbewerb
Einhergehend mit dem Leistungsprinzip gilt die Annahme, dass auch der Wettbewerb ein elementares Konstruktionsprinzip der Evolution ist. „In einer Welt, deren Ressourcen an Raum und Nahrungsmitteln begrenzt sind, in der
andererseits das Prinzip des Wachstums und der Situationsverbesserung gilt, kann der Zugang zu den Ressourcen nur über den Wettbewerb laufen“ (LIEDTKE, 1995, S. 16). So gibt es kaum ein Merkmal eines Lebewesens und kein Verhalten, das nicht in ständiger Form unablässig unter den Bedingungen des Wettbewerbs steht. Der Wettbewerb versteht sich somit auch als
urmenschliches Streben und ist als evolutionäre Grundlage unablässig.
Der schulische Sport erlaubt es, diesem Phänomen gerecht zu werden!
Das soziale Bedürfnis beachtet zu werden
LIEDTKE (1995) verweist darauf, dass es dem Menschen in der Regel nicht nur darum geht etwas zu können oder zu leisten, sondern dass er ebenfalls das Bedürfnis der Selbstdarstellung ausleben möchte. Als auf Sozialität angelegtes Wesen geht es dem Menschen somit auch darum, dass das, was er meint zu können, auch sozial beachtet wird. Eine Dauerhafte Nichtbeachtung einer Leistung zählt zu den härtesten Strafen die ein Mensch in einer Gesellschaft erfahren kann. Dieses bezieht sich natürlich nicht nur auf sportliches Handeln. Aber es erklärt den exhibitionistischen Charakter, der gerade bei sportlichen
Leistungen vielfach zu beobachten ist.
Der schulische Sport erlaubt es, diesem Phänomen gerecht zu werden!
Diese phylogenetischen Aspekte werden zudem durch ontogenetische überlagert. Die Phasen des größten Bewegungsdrangs wie zugleich die Phasen besonderer Notwendigkeit von Bewegung sind bei allen höheren Lebewesen das Kindheits- und Jugendalter. Dieses Faktum hat eine biologische Grundlage und ist damit zu begründen, dass über den Bewegungsdrang in der Kindheits- und Jugendphase offensichtlich die Grundlagen für Verhaltenweisen gelegt werden sollen, die letztlich das spätere Überleben sichern (LIEDTKE, 1995). „Erst durch diese ontogenetische Überlagerung, die sich im Schutz der elterlichen Obhut vollzieht, wird dem Bewegungsdrang, wird dem Bedürfnis nach Leistungssteigerung und Wettbewerb der Ernstcharakter genommen […] hier werden Bewegungsdrang, Leistungssteigerung und Wettbewerb zum
Sport“ (LIEDTKE, 1995, S. 18).
Der schulische Sport erlaubt es, diesem Phänomen gerecht zu werden!
2.2.2 Gesundheitsförderung im Schulsport
Die Auffassungen über gesundheitliche Auswirkungen des Sports sind ebenso umstritten wie viele andere Positionen in der allgemeinen Schulsportdiskussion. Sport ist vor allem für Kinder und Jugendliche gesund meinen Vertreter auf der einen Seite. Sport ist Mord, sagen Kritiker auf der anderen. Beide Parteien sind zudem in der Lage, ihre Theorien und Aussagen wissenschaftlich zu begründen (vgl. B RODTMANN, 2003). Das eine zielgerichtet gesundheitsorientierte Unterrichtsgestaltung in den meisten Schulsportkonzepten (noch) nicht formuliert wird, ist somit nicht weiter verwunderlich.
Die Gesundheitsperspektive des Sports in der Schule steht immer in einer Verbindung mit vielen anderen Parametern, z.B. mit Elementen wie Leistung, Eindruck, Ausdruck etc. Dabei wird vorwiegend auf den Anreiz und die Bindungskraft sportiver Lebensstilmuster gesetzt, wie freudvolles Tun, unmittelbare körperliche Erfahrung oder Gemeinsinn. Dennoch sind gesundheitsfördernde Effekte bei Kindern und Jugendlichen durch schulischen Sport nicht von der Hand zu weisen. Um diese jedoch diskutieren zu können, bedarf es in erster Linie einer grundlegenden Definition des Gesundheitsbegriffs.
Das allgemein gültige Verständnis von Gesundheit besitzt einen ganzheitlichen Charakter und erfasst den Zustand des Menschen auf bio-psycho-sozialer Ebene. Diese Grundaussage verfolgt in ihrer Auffassung bereits seit 1946 als zentrales Gesundheitsorgan auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Demzufolge ist die Gesundheit „[…] ein Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen“ (WHO zit. nach FRANKE, 1993, S. 17). Kritisch zu betrachten ist bei diesem Ansatz, dass ein gesundheitlicher Idealzustand beschrieben wird, der in der Regel niemals zu erreichen ist. Zudem wird die Gesundheit nicht als ein Prozess dargestellt, der aktiv gestaltet werden muss. Positiv ist jedoch die Bindung an das Wohlbefinden, womit Gesundheit wiederum zu einer subjektiven Kategorie wird. H URRELMANN beschreibt seine Vorstellung von der Gesundheit des Menschen etwas differenzierter. Seiner
Meinung nach gilt sie als der „Zustand des objektiven und subjektiven Befindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich in physischen, psychischen und sozialen Bereichen ihrer Entwicklung im Einklang mit den eigenen Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet“ (HURRELMANN, 1994, S. 16).
Der Zustand von Gesundheit an dem es sich in diesem Zusammenhang zu orientieren gilt, definiert sich demnach über das Wohlbefinden als grundlegendes Element, unter Berücksichtigung individueller bio-psycho-sozialer Komponenten, die einen aktiven Prozess erfordern.
Das Gefährliche für die Gesundheit von Menschen der modernen Gesellschaft ist, dass sich Degenerationsprozesse nur langsam und deshalb fast unmerklich vollziehen. Erst nach Jahren treten plötzlich deutliche Beschwerden und Schäden auf. Da Kinder und Jugendliche einen Großteil ihres Alltages in der Schule verbringen, beeinflusst sie über viele Jahre deren kognitive, soziale, emotionale und motorische Entwicklung. „Dazu gehört natürlich auch die Einflussnahme auf die Entwicklung des Gesundheitsbewusstseins und des Gesundheitszustandes“ (GABRIEL, 2002, [Internetquelle]). Die Frage die sich nun stellt ist, inwiefern der Schulsport dazu beitragen kann der o. g. Auffassung von Gesundheit gerecht zu werden bzw. dem Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen beizusteuern?
Die Schule besitzt günstige Voraussetzungen, mit unterschiedlichen pädagogischen Perspektiven die Gesundheitsförderung für den Schüler erfahrbar zu gestalten (GABRIEL, 2002). Sie hat insbesondere mit dem schulischen Sport ein Instrument zur Verfügung, das Kinder und Jugendliche in unvergleichlicher Art und Weise erreicht. Eine differenzierte Betrachtung von Risiko- und Schutzfaktoren denen der Schulsport begegnen kann, lässt so deutliche Handlungsmöglichkeiten erkennen. Der wohl schwerwiegendste Risikofaktor, dem der schulische Sport entgegenwirkt, ist der allgemeine Bewegungsmangel von Kindern und Jugendlichen. Ein tätigkeitsorientierter Sportunterricht mit umfangreichen sportpraktischen Inhalten, die in Kooperation mit einem zusätzlichen Angebot von Bewegungs- Spiel- und Sportformen stehen, ermöglicht es diesen Risikofaktor mit seinen
einhergehenden Folgen wie z.B. Adipositas, Diabetes Mellitus Typ II, Hypertonie usw. um ein Vielfaches zu reduzieren (vgl. G ABRIEL , 2002). So verweisen unter anderem M ARTI et al. (1999, S. 175) darauf „[…], dass körperlich-sportliche Betätigung in Kindes- und Jugendalter mit Übergewicht entgegengesetzt gekoppelt ist“ (vgl. auch Malina 1994; Bar-Or 1994). Unter der Voraussetzung eines bewegungsintensiven Sportunterrichts kann somit dem auf Bewegungsmangel zurückzuführenden Übergewicht von Kindern und Jugendlichen entgegengewirkt werden.
Die durch motorische Ungeschicklichkeit verursachten Unfälle von Kindern können durch eine akzentuierte Förderung sportmotorischer Fähigkeiten weitgehend reduziert werden. Doch nicht nur die Ausprägung koordinativer Fähigkeiten begünstigt diese Entwicklung. Es gilt zudem als gesicherte Erkenntnis „[…], dass das Ausmass körperlich-sportlicher Betätigung im Jugendalter einen hochrelevanten Einflussfaktor der bei Wachstumsabschluss erreichten Knochendichte, […], darstellt“ (M ARTI et al., 1999, S. 175).
Der schulische Sport ist zudem in der Lage eine ausgleichende Funktion zu übernehmen, indem er den Stressoren des schulischen Alltags entgegenwirkt. Weiterhin kann der Sportunterricht dazu beitragen soziale Konflikte positiv zu beeinflussen.
Durch die Freisetzung und Förderung der Widerstandsressourcen von Kindern und Jugendlichen mit Hilfe des schulischen Sports ist es möglich, salutogenetische Aspekte (vgl. A NTONOVSKY , 1997) hervortreten zu lassen. Ausreichende Bewegung als ein wesentlicher Schutzfaktor beeinflusst viele weitere positive Ausprägungen. Die Widerstandsfähigkeit der Schüler gegenüber endogenen und exogenen Einflüssen wird gestärkt und geht einher mit einer verbesserten Fähigkeit zur Regeneration von spezifischen Belastungsmustern wie z.B. Stress oder bestimmten Krankheiten und Verletzungen (vgl. W EINECK, 1995). Die Schaffung dieser Widerstandsressourcen durch den schulischen Sport muss somit als wesentlicher Bestandteil eines Schulsportkonzeptes angesehen und gezielt darauf ausgerichtet werden. So kann der schulische Sport dazu beitragen, dem
Gesundheitsverständnis im Sinne von Wohlbefinden für Kinder und Jugendliche entgegenzukommen. B RODTMANN (1998, S. 24) setzt dafür jedoch voraus: „ Ein gesundheitsförderlich ausgerichteter Schulsport muss sich notwendig in Formen des Umgangs mit Leistungsanforderungen, Leistungsvergleichen und Konkurrenz äußern, [...]“. Um im Rahmen der Gesundheitsförderung die notwendigen Ressourcen zu entwickeln und spezifischen Kompetenzen auszuprägen, bedarf es einer akzentuierten Steuerung belastungsintensiver Inhalte im schulischen Sport.
2.2.3 Anpassungserscheinungen durch den schulischen Sport
SAß (1995, S. 37) spricht der sportlichen Leistung zu, die grundlegende „Zielgröße bzw. Sinnrichtung“ des schulischen Sports zu sein. In Anlehnung an KURZ (1993) empfiehlt er, den „Sportunterricht unter Beachtung der Individualität“ immer mit dem Thema Leistung zu verbinden und „den Schulsport als Leistungserziehung anzulegen“. Aber warum muss Leistung ein unmittelbarer Bestandteil des Sportunterrichts sein? Die Antwort scheint mehr als offensichtlich. Die physischen Belastungsreize des Alltags alleine sind zu schwach, um die gesunde Funktionsfähigkeit des Organismus mit seinen unterschiedlichen Organsystemen aufrechtzuerhalten (WEINECK, 1995). Aber der Mensch braucht regelmäßige und vor allem überschwellige Belastungsreize, „[…] um seine angeborenen Möglichkeiten in ganzer Breite entfalten zu können […]“ und „[…] um seine durch Wachstum und körperliche Aktivität erworbene psychophysische Leistungsfähigkeit möglichst lange zu erhalten und bewegungsmangelbedingten Zivilisationskrankheiten vorzubeugen, […]“ (WEINECK, 1995, S. 150). Dieser Prozess verlangt unmittelbar nach Leistung bzw. einem Leistungshandeln. Dabei trifft diese Aussage insbesondere auf Kinder und Jugendliche zu.
Um die genannten Faktoren zu begünstigen ist es unabdingbar, die notwendigen Anpassungserscheinungen zu fördern (vgl. Kap. 2.2.2). Die Rahmenbedingungen des heutigen Sportunterrichts gewährleisten ein dementsprechend zielgerichtetes Vorgehen. Es gibt zwar immer Aspekte die es zu verbessern gilt, jedoch klagen wir verglichen im internationalen Standard
auf hohem Niveau (BÖS, 1999). BÖS erläutert die diesbezüglichen Möglichkeiten des schulischen Sports wie folgt: „Zum einen können stabile Gewohnheiten aufgebaut werden, zum anderen lassen sich trotz der zeitlichen Restriktionen bei einer intensiven Nutzung der personellen und materiellen Ressourcen Leistungssteigerungen erzielen. Dies umso mehr, da in vielen Fällen das Ausgangsniveau der Kinder erschreckend niedrig ist“(1999, S. 40).
Inwiefern im Sportunterricht bei gezielter Steuerung der Inhalte eine effektive Regulation von Adaptationen des Organismus erfolgt, belegen nur wenige Erhebungen. BÖS (1999) verweist jedoch auf Studien von BUMB, HAUSBEI und SCHOLTENS, in denen es um den kurzfristigen Nutzen von akzentuiertem ausdauer- und fitnessorientiertem Training im Sportunterricht geht. BUMB (1995) konnte anhand seiner Untersuchung nachweisen, dass nach einem achtwöchigen Ausdauertraining im Rahmen des Sportunterrichts einer zweiten Klasse eine signifikante Steigerung der Leistung im aeroben Bereich zu verzeichnen ist. In diesem speziellen Fall lag die Leistungssteigerung bei sieben Prozent. Die Kontrollgruppe hingegen, die einen regulären Sportunterricht absolvierte, ließ keinen Leistungszuwachs erkennen. In der Studie von HAUSBEI (1995) konnten ähnliche Verbesserungen der aeroben Ausdauer von Grundschülern nachgewiesen werden. Aufgrund eines effektiv in den Sportunterricht integrierten Aerobic-Programms war es auch hier möglich, einen Leistungszuwachs von sieben Prozent zu belegen. Einschränkend bei diesem Ergebnis ist zu bemerken, dass die Leistungssteigerung nur bei Kindern nachzuweisen war, die im Sportunterricht von einer ausgebildeten Aerobic-Expertin unterrichtet wurden. Das gleiche Programm von einer nicht ausgebildeten Lehrerin durchgeführt, erwies sich als nicht effektiv und ließ keinen Leistungszuwachs erkennen. SCHOLTENS (1990) untersuchte den effektiven Nutzen eines Fitnesstrainings im Rahmen des Sportunterrichts bei Jugendlichen. Zur Überprüfung der Auswirkungen eines Trainings von fünf Trainingseinheiten á 60 Minuten wurden ein Vortest und ein Nachtest zu den motorischen Fähigkeiten Ausdauer, Kraft und Schnelligkeit durchgeführt. Die ermittelten Ergebnisse ließen eine durchschnittliche Leistungsverbesserung von sechs Prozent erkennen.
Was der schulische Sport zudem bei einer Durchführung der täglichen Sportstunde bewirken kann, wurde anhand eines Modellversuchs an einer Grundschule im hessischen Bad Homburg eindrucksvoll nachgewiesen. Von Wissenschaftlern der Universität Frankfurt begleitet, wurde über einen Zeitraum von vier Jahren bei allen Grundschulklassen die tägliche Sportstunde eingeführt. Nach dieser Zeit konnte im Vergleich zu Schülern anderer Schulen eine signifikante Verbesserung der motorischen Leistungsfähigkeit nachgewiesen werden. Die Auswirkungen beliefen sich aber nicht nur auf physische Aspekte. „Die Aggression unter den Schülern ging […] deutlich zurück, sichtbar auch an weniger Raufereien auf dem Schulhof. Überdies registrierten die Wissenschaftler weniger Unfälle und Verletzungen im Unterricht. Die Konzentrationsfähigkeit der Kinder nahm zu, ja nach Aussagen der Lehrer konnten sogar dank besserer Noten 15 Prozent mehr Schüler fürs Gymnasium empfohlen werden als vorher“ (VESTEWIG, 2003, S.4).
[...]
[1] SMT = sportmotorische Einzeltests ; DMB = Diagnostisches Inventar motorischer
Basiskompetenzen von Eggert; MFT = Münchener Fitness Test von Rusch und
Irrgang
- Arbeit zitieren
- Nico Stroech (Autor:in), 2005, Bedarfsanalytische Betrachtung zur normierten Bewertung der sportmotorischen Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen im Schulsport der Bundesrepublik Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/41069
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