Stanley Fish gehört zu den u.a. von Meyer Abrams als „Newreaders“ bezeichneten Kritikern, für die gilt, dass sprachliche Ausdrücke zwar jeweils eine ganz bestimmte Bedeutung haben, dass diese Bedeutung aber situationsabhängig ist:
Sentences emerge only in situations, and within those situations, the normative meaning of an utterance will always be obvious or at least accessible, although within another situation that same utterance, no longer the same, will have another normative meaning that will be no less obvious and accessible .
‚Situation’ wird hier von Fish in einer ganz speziellen Bedeutung gebraucht und von ihm selbst wie folgt definiert:
To be in a situation is already to be in possession of (or to be possessed by) a structure of assumptions, of practices understood to be relevant in relation to purposes and goals that are already in place; and it is within the assumption of these purposes and goals that any utterance is immediately heard .
Monique Wittig geht in ihrem Essay „ The Straight Mind“ (1980) noch ein wenig weiter, wenn sie sagt:
In my opinion, there is no doubt that Lacan found in the Unconscious the structures he said he found there, since he had previously put hem there .
Ein wenig verallgemeinernd bedeutet dies, dass der Leser, zumindest oder gerade wenn es sich um einen Leser mit wissenschaftlichen Zielen handelt, zunächst unterbewusst die Strukturen seiner ‚Situation’ auf das Objekt seiner Untersuchungen und Analysen überträgt, um sie dann anschließend bewusst und auf wissenschaftlichem Wege herauszuarbeiten.
In der Rede „Zum Schäkespears Tag“ finden sich jene Worte Goethes zum geheimen Punkt, die hier, da sie fortan als „unsichtbaarer Faden“ der nachfolgenden Arbeit dienen sollen, den unmittelbaren Textzusammenhang einbeziehend zitiert seien:
Schäkespears Theater ist ein schöner Raritäten Kasten, in dem die Geschichte der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaaren Faden der Zeit vorbeywallt. Seine Plane, sind nach dem gemeinen Styl zu reden, keine Plane, aber seine Stücke, drehen sich alle um den geheimen Punckt, I: den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat :I in dem das Eigenthümliche unsres Ich’s, die prätendierte Freyheit unsres Wollens, mit dem nothwendigen Gang des Ganzen zusammenstösst.
Inhalt
Gegenstand und Zielsetzung der Arbeit
1. Georg Lukács (Budapest, 1947), Theo Buck (1982), 3 Volker Neuhaus (1981, 1999)
2. Ilse Appelbaum Graham (Oxford, 1962)
3. Georg W. Bertram (München, 2000)
Zusammenfassung und offene Fragen
Literaturverzeichnis
Gegenstand und Zielsetzung der Arbeit
Stanley Fish gehört zu den u.a. von Meyer Abrams als „Newreaders“ bezeichneten Kritikern, für die gilt, dass sprachliche Ausdrücke zwar jeweils eine ganz bestimmte Bedeutung haben, dass diese Bedeutung aber situationsabhängig ist:
Sentences emerge only in situations, and within those situations, the normative meaning of an utterance will always be obvious or at least accessible, although within another situation that same utterance, no longer the same, will have another normative meaning that will be no less obvious and accessible[1].
‚Situation’ wird hier von Fish in einer ganz speziellen Bedeutung gebraucht und von ihm selbst wie folgt definiert:
To be in a situation is already to be in possession of (or to be possessed by) a structure of assumptions, of practices understood to be relevant in relation to purposes and goals that are already in place; and it is within the assumption of these purposes and goals that any utterance is immediately heard[2].
Monique Wittig geht in ihrem Essay „ The Straight Mind“ (1980) noch ein wenig weiter, wenn sie sagt:
In my opinion, there is no doubt that Lacan found in the Unconscious the structures he said he found there, since he had previously put hem there[3].
Ein wenig verallgemeinernd bedeutet dies, dass der Leser, zumindest oder gerade wenn es sich um einen Leser mit wissenschaftlichen Zielen handelt, zunächst unterbewusst die Strukturen seiner ‚Situation’ auf das Objekt seiner Untersuchungen und Analysen überträgt, um sie dann anschließend bewusst und auf wissenschaftlichem Wege herauszuarbeiten.
In der Rede „Zum Schäkespears Tag“ finden sich jene Worte Goethes zum geheimen Punkt, die hier, da sie fortan als „unsichtbaarer Faden“ der nachfolgenden Arbeit dienen sollen, den unmittelbaren Textzusammenhang einbeziehend zitiert seien:
Schäkespears Theater ist ein schöner Raritäten Kasten, in dem die Geschichte der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaaren Faden der Zeit vorbeywallt. Seine Plane, sind nach dem gemeinen Styl zu reden, keine Plane, aber seine Stücke, drehen sich alle um den geheimen Punckt, I: den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat :I in dem das Eigenthümliche unsres Ich’s, die prätendierte Freyheit unsres Wollens, mit dem nothwendigen Gang des Ganzen zusammenstösst.[4]
Dass ein Zusammenhang zwischen der Rede „Zum Schäkespears Tag“ und dem „Götz“[5] besteht, soll hier, da dies nicht Gegenstand sondern Voraussetzung der nachfolgenden Arbeit ist, durch Volker Neuhaus’ Beitrag hinreichend begründet sein. Neuhaus bezeichnet Goethes Rede „Zum Schäkespears Tag“ in seinem Beitrag von 1981 als „fast eine Art Vorrede zum Götz“[6] und in seinem Beitrag von 1999 als ein Programm Goethes für die eigene Arbeit[7]: Demnach ist es durchaus legitim auch und besonders im „Götz“ jene von Goethe an Shakespeare verehrte Dramenstruktur des Zusammenstoßes im „geheimen Punkt“ wiederzuentdecken, ja ein zentrales Strukturelement des „Götz“ in der dramaturgischen Ausformung dieses Zusammenstoßes zwischen dem Einzelnen und dem Gang des Ganzen zu sehen.
Im Folgenden soll nicht versucht werden, auf dem Wege der Philosophie oder gar einer einzigen einzig wahren Philosophie - und sei es auch die des Dichters selbst- doch noch die Koordinaten dieses Punktes auszumachen, von dem Goethe zu Recht meinte, kein Philosoph könne ihn (letztlich und endgültig) bestimmen. Es soll vielmehr dargestellt werden, wie verschiedene InterpretInnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund jeweils des philosophischen Systems ihrer Zeit[8], das zur Zeit ihrer Konfrontation mit Goethes „Götz“ für ihr literaturkritisches Denken und Schaffen bestimmend war, versuchten, sich diesem Punkt mittels ihrer Analyse des Textes zu nähern. Sie kommen dabei jeweils zu anderen Antworten auf die Frage, wer da mit wem zusammenstößt (oder auch nicht). Auch das Resultat des Zusammenstoßes wird je nach weltanschaulichem Hintergrund jeweils als ein anderes erfahren und beschrieben. Es wird das Ziel der folgenden Arbeit sein zu ermitteln, wie sich die Bedeutung von Goethes Wort vom Zusammenstoß des Einzelnen mit dem Gang des Ganzen im “geheimen Punckt” im Bezug auf die Handlungs- und Personenstruktur des “Götz” je nach der jeweiligen weltanschaulichen „Situation“ des/der InterpretIn wandelt und verändert.
1. Georg Lukács (Budapest, 1947), Theo Buck (1982), Volker Neuhaus (1981, 1999)
Der Sozialismus, zumal wenn man seinen Nachbarn den Marxismus hinzunimmt, ist eine ideologisch und politisch sehr unterschiedlich akzentuierte und organisierte Weltanschauung. Eine völlig homogene Interpretationssituation aus dieser Richtung zu erwarten, wäre also unangebracht. Es handelt sich um eine relativ weit verbreitete Perspektive[9], deren allen Ansätzen gemeinsame Grundlinien jedoch bei allen oben aufgeführten Interpreten mehr oder minder deutlich zu erkennen sind. Aus ihnen ergibt sich für unser Thema des Zusammenstoßes eine recht spezifische Sichtweise.
Aus sozialistischer Sicht ist der „Götz“ nicht so sehr ein Charakterdrama, sondern vielmehr ein Gesellschaftsdrama[10]. Goethe nimmt demzufolge besonders im „Urgötz“ die exemplarische Darstellung gestischer (im Sinne Brechts) Situationen und Verhaltensweisen als Darstellungsprinzip des modernen Sozialdramas[11] vorweg. Um das „Individualdrama um den Protagonisten auszuweiten zum Totalgemälde einer Zeitenwende [..] entfaltet Goethe ein Ständepanorama des 16. Jhs., in dem keine wichtige gesellschaftliche Gruppe fehlt.“[12]. Diese Sicht auf den „Götz“ als Gesellschaftsdrama impliziert eine Politisierung der Figuren. Sie werden zu Symbolen gesellschaftlicher Kollektive, zu Vertretern der jeweiligen miteinander rivalisierenden sozialen Schichten.[13] Dieses Aufgehen der Einzelfigur im Kollektiv führt dazu, dass auch die Feindschaft zwischen einzelnen Figuren als Feindschaft zwischen gesellschaftlichen Kollektiven, zwischen gesellschaftlichen Klassen[14] wahrgenommen wird.
Für den geschichtlichen Zeitpunkt des Dramas, das 16. Jahrhundert, bedeutet das, dass Götz, aber auch Hanns von Selbitz und Franz von Sickingen den Stand der Reichsritter niederen Adels personalisieren. Mit ihnen verbunden sind die weiteren „Kräfte der Beharrung“[15]: der Kaiser[16], die aufständischen Bauern, personifiziert in Metzler, Sievers, Kohl und Wild, und, mit Einschränkungen, die Zigeuner, personifiziert in dem Zigeunerhauptmann, dem Zigeunerknaben mit seiner Mutter, zwei Zigeunerinnen und drei Zigeunern. Die geschichtliche, gesellschaftliche und damit auch machtpolitische Situation dieser Gruppe, vor allem aber der Bauern und Reichsritter charakterisierte Friedrich Engels in seiner Schrift „Der deutsche Bauernkrieg“. Lukács, der sich - noch ganz in den Zwängen des Stalinismus – ohne das explizit zu erwähnen vermutlich an Engels Schrift orientierte, charakterisiert den Werdegang der Reichsritter und seine Auswirkungen selbst auf die Gegenwart Lukács’ wie folgt:
In Deutschland, wie überall, schafft der Kleinstaatenabsolutismus einen Hof-, Beamten- und Militäradel aus dem früher selbständigen Feudaladel. Der Sickingen-Aufstand, der dem Bauernkrieg unmittelbar zuvorging, war die letzte selbständige Bewegung des Kleinadels alten Stils. Seitdem können wir […] die Bürokratisierung, das Lakaiwerden des Adels beobachten.[17]
Den ‚Kräften der Beharrung’ gegenüber stehen, analog gesprochen, die ‚Kräfte des Fortschritts’[18]. Bei ihnen handelt es sich vor allem um die Fürsten, d.h. die Reichsstände[19], personifiziert durch den Bischof von Bamberg, und die bürgerlichen Städter, personifiziert durch die Ratsherren von Heilbronn und die Nürnberger Kaufleute[20]. Ihnen schließen sich Teile des Landadels an, die ‚modernen’ Ritter, im „Götz“ personifiziert durch Weislingen. Ziele dieser Gruppe sind die Umwandlung der kaiserlichen Monarchie in einen (Kleinstaaten-)Absolutismus[21], das alleinige Recht auf Gewaltausübung[22] sowie die Förderung der Geldwirtschaft gegenüber der Naturalwirtschaft[23]. Weg zum Ziel ist ihnen dabei die gesellschaftliche Marginalisierung und falls nötig die Liquidierung der feindlichen gesellschaftlichen Gruppen, vor allem der Reichsritter und der Bauern. Dieser ihrer Bewegung der Ausgrenzung entgegengesetzt verläuft die daraufhin zunächst von den Reichsrittern Götz, Hanns und Franz initiierte, dann von den Bauern aufgenommene Bewegung der Auflehnung. Im Sinne der teleologischen Geschichtsauffassung des Sozialismus stehen die Ritter und Bauern, die ‚Kräfte der Beharrung’ also, hier eigentlich für den Fortschritt der Menschen und damit der Gesellschaft hin zu Emanzipation und Selbstbestimmtheit, während die Fürsten, Bischöfe und städtischen Bürger, die Kräfte des Kapitals also, die Reaktion repräsentieren.
[...]
[1] Fish, S.307-308
[2] Fish, S.318. Auch Stephen Greenblatt, der Begründer des New Historicism, weist auf die „Unmöglichkeit, die eigene historische Situation zurückzulassen“ (Baßler, S.41) hin.
[3] Wittig, S. 23
[4] Hanna Fischer-Lamberg, Bd.2 S.85
[5] Da eine präzise Unterscheidung zwischen „Urgötz“ und „Götz“ für die nachfolgende Arbeit von allenfalls marginaler Bedeutung ist, soll hier davon abgesehen werden. Wenn nicht anders angegeben ist im Zweifel bei der Nennung des „Götz“ immer der „Urgötz“ mitgemeint.
[6] Neuhaus 1981, S.85.
[7] Präziser lässt sich der Götz nicht auf einen Punkt bringen als in der Formel vom Zusammenstoß der „prätendierten Freyheit unseres Wollens mit dem nothwendigen Gang des Ganzen“. (Neuhaus 1999, S.60.)
[8] Vor dem Hintergrund von philosophischen Systemen also, die Goethe zur Zeit der Entstehung des „Götz“ noch gar nicht kennen konnte.
[9] Daher auch die Nennung gleich mehrerer Literaturkritiker und der im Vergleich zu den anderen Interpretationen große Umfang des Kapitels.
[10] Buck, S.34. Martini spricht von einem Nebeneinander von Gesellschafts- und Charakterdrama.
[11] Vgl. Buck, S.38.
[12] Neuhaus 1999. S.62.
[13] „Wichtiger als Götz […] wird die [gesellschaftliche] Konstellation, in welche der Autor ihn gestellt hat.“ (Buck, S.35).
[14] Diese Sichtweise fußt auf den zwei Grundannahmen der Marxschen Geschichtsphilosophie: „erstens, dass eine durchgehende Gesetzmäßigkeit den Verlauf der menschlichen Geschichte beherrscht, und zweitens, dass diese Gesetzmäßigkeit sich im wesentlichen durch den Begriff des Klassengegensatzes beschreiben lässt.“. (Hoerster, S.178)
[15] Neuhaus 1981, S.89.
[16] Götz bindet sich mit den Worten:“Ich liebe ihn, denn wir haben einerlei Schicksal.“ (Fischer-Lamberg, Bd.2, S.174 und Goethe, S. 73.) an den Kaiser.
[17] Lukács, S.9
[18] Marx schreibt ab Beginn des 16. Jhs. der Bourgeoisie eine „höchst revolutionäre Rolle“ im Sinne des Fortschritts zu. (vgl. Hoerster, S.178).
[19] Historischer Hintergrund: Die Reichsstände waren zusammengeschlossen im Schwäbischen Bund. Selbiger wollte zur Zeit Götzens das bereits 1495 im „Ewigen Landfrieden“ erlassene allgemeine Fehdeverbot unter Aufbietung einer gewaltigen Heeresmacht durchsetzen. (Deghaye, S.55) Im „Urgötz“ wird der „Landfrieden“ sowohl aus der Sicht Gottfrieds (Fischer-Lamberg, Bd.2, S. 109, Zeile 10-13) als auch aus der Sicht des Bamberger Bischofs (Fischer-Lamberg, Bd.2, S.115, Zeile 9-15)dargestellt.
[20] „ Selbitz: Die Reichsstädte und die Pfaffen halten doch von jeher zusammen.“ (Goethe, S.38)
[21] „Götz: […] Und mit unserm Kaiser spielen sie auf eine unanständige Art. […] Nun ergehn Verordnungen über Verordnungen, und wird eine über die andere vergessen; und was den Fürsten in ihren Kram dient, da sind sie hinterher, und gloriieren von Ruh und Sicherheit des Reichs, bis sie die kleinen unterm Fuß haben.“ (Goethe, S.22; vgl. Fischer-Lamberg, B d.2, S.108.)
„Max.: Wofür binn ich Kayser. Soll ich nur Strohmann seyn, […] keinen eignen Willen haben“ (Fischer-Lamberg, Bd.2, S. 146.)
[22] Gottfried z.B. soll dazu gezwungen werden, seinem Recht auf Fehde abzuschwören.
[23] Die Geldwirtschaft ermöglicht es ihnen Kapital anzusammeln und ohne eigene Arbeit von der Arbeit anderer zu leben. So lebt Weislingen seit seinem Amtsantritt bei Hofe vom Pachtzins anstatt sich selbst um die Bewirtschaftung seiner Güter zu kümmern. Gottfried meint dazu: „So sind unsere Herren [die Fürsten] ein verzehrendes Feuer das sich mit untertahnen Glück Habe Blut und Schweis, nährt ohne gesättigt zu werden.“ (Fischer-Lamberg, Bd.2, S.191)
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- Karolin Dunschen (Author), 2005, Der Zusammenstoß der praetendierten Freiheit des Einzelnen mit dem Gang des Ganzen in Goethes "Goetz von Berlichingen", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40942
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