Die Prozesse der hoch- und spätmittelalterlichen Entwicklung von Landesherrschaft und Siedlungsbewegung in den Gebieten jenseits der Elbe waren während der Zeit der deutschen Ostkolonisation in besonderer Weise miteinander verbunden. Das darf insbesondere für die Gebiete der ehemaligen Mark Brandenburg gelten, da hier die Eroberungen der askanischen Markgrafen zeitlich eng mit dem An- und Aufsiedlungsvorgang zusammen lagen. Die Markgrafen von Brandenburg haben seit der Belehnung Albrecht des Bären mit der Nordmark, 1134, die von ihnen forcierte Ostkolonisation bewusst für ihre offensive Territorialpolitik benutzt. Es muss davon ausgegangen werden, dass die für das 12. und 13. Jahrhundert nachvollziehbaren Veränderungen in der brandenburgischen Siedlungslandschaft in engstem Zusammenhang mit der Ausdehnung und Konsolidierung der markgräflichen Herrschaft in diesem Raum gestanden haben (vgl. Taf. I /Abb. l im Anhang). Somit lassen sich aus der Beschäftigung mit der hochmittelalterlichen Siedlungs- und Besiedlungsentwicklung wertvolle Hinweise über die Prozesse von Landesherrschaft und Landesausbau gewinnen. Um von den erkennbaren Stufen der Siedlungsgenese ausgehend auf die Veränderungen auf der Ebene der Landesherrschaft reflektieren zu können, bedarf es jedoch zunächst einer eingehenden Beschäftigung mit den Einflüssen, die der in den Kolonisationsgebieten angetroffenen slawischen Bevölkerung zuzuschreiben sind. Es stellt sich die Frage nach der inneren Struktur und Ausdehnung des slawischen Siedlungsraumes, nach den traditionellen Siedelformen der Slawen zwischen Elbe und Oder, den Wandlungen im Siedlungsbild und der Wirtschaftsweise unter deutschem Einfluss, nach den Formen des Zusammenlebens von Slawen und Deutschen bzw. dem Verlauf des Assimilierungsprozesses und nach dem letztendlichen Verbleib der slawischen Bevölkerungsteile in Ostdeutschland Die Siedlungstypen, die sich für das hoch- und spätmittelalterliche Brandenburg rekonstruieren lassen, unterscheiden sich nicht wesentlichen von denen, die für den gleichen Zeitraum aus den Altsiedelgebieten des westlichen Mitteleuropa bekannt sind. Eine Ausnahme bilden die Kietze. Dieser Siedlungstyp lässt sich nur im nordöstlichen Grenzbereich der Altmark, im nördlichen Ostdeutschland und in den ehemals deutschen Gebieten Pommerns und Posens nachweisen (vgl. Taf. I/Abb. l). Ein Bezug entweder zu der slawischen Besiedlung dieser Gebiete oder zu den Kolonisationsmaßnahmen ist anzunehmen. [...]
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Quellen. Publikationsstand und wissenschaftliche Ansätze
1.1. Primärquellen
1.2. Sekundärquellen
1.3. Archäologische Quellen
1.4. Aktueller Forschungsstand
2. Der Kietz als mittelalterlicher Siedlungstyp
2.1. Der Begriff „Kietz"
2.2. Lagemerkmale
2.3. Formen der Kietzsiedlungen
2.4 Die in den Kietzen lebende Bevölkerung
2.5. Größe und Wirtschaftsstruktur
2.6. Die rechtliche Situation der Kietzer
3. Abschlussbetrachtung
Anhang: Bildtafeln und Literaturverzeichnis
Einleitung
Die Prozesse der hoch- und spätmittelalterlichen Entwicklung von Landesherrschaft und Siedlungsbewegung in den Gebieten jenseits der Elbe waren während der Zeit der deutschen Ostkolonisation1 in besonderer Weise miteinander verbunden.
Das darf insbesondere für die Gebiete der ehemaligen Mark Brandenburg gelten, da hier die Eroberungen der askanischen Markgrafen zeitlich eng mit dem An- und Aufsiedlungsvorgang zusammen lagen. Die Markgrafen von Brandenburg haben seit der Belehnung Albrecht des Bären mit der Nordmark, 1134, die von ihnen forcierte Ostkolonisation bewusst für ihre offensive Territorialpolitik benutzt. Es muss davon ausgegangen werden, dass die für das 12. und 13. Jahrhundert nachvollziehbaren Veränderungen in der brandenburgischen Siedlungslandschaft in engstem Zusammenhang mit der Ausdehnung und Konsolidierung der markgräflichen Herrschaft in diesem Raum gestanden haben2 (vgl. Taf. I /Abb. l im Anhang). Somit lassen sich aus der Beschäftigung mit der hochmittelalterlichen Siedlungs- und Besiedlungsentwicklung wertvolle Hinweise über die Prozesse von Landesherrschaft und Landesausbau gewinnen3.
Um von den erkennbaren Stufen der Siedlungsgenese ausgehend auf die Veränderungen auf der Ebene der Landesherrschaft reflektieren zu können, bedarf es jedoch zunächst einer eingehenden Beschäftigung mit den Einflüssen, die der in den Kolonisationsgebieten angetroffenen slawischen Bevölkerung zuzuschreiben sind. Es stellt sich die Frage nach der inneren Struktur und Ausdehnung des slawischen Siedlungsraumes, nach den traditionellen Siedelformen der Slawen zwischen Elbe und Oder, den Wandlungen im Siedlungsbild und der Wirtschaftsweise unter deutschem Einfluss, nach den Formen des Zusammenlebens von Slawen und Deutschen bzw. dem Verlauf des Assimilierungsprozesses und nach dem letztendlichen Verbleib der slawischen Bevölkerungsteile in Ostdeutschland4
Die Siedlungstypen, die sich für das hoch- und spätmittelalterliche Brandenburg rekonstruieren lassen, unterscheiden sich nicht wesentlichen von denen, die für den gleichen Zeitraum aus den Altsiedelgebieten des westlichen Mitteleuropa bekannt sind. Eine Ausnahme bilden die Kietze. Dieser Siedlungstyp lässt sich nur im nordöstlichen Grenzbereich der Altmark, im nördlichen Ostdeutschland und in den ehemals deutschen Gebieten Pommerns und Posens nachweisen (vgl. Taf. I/Abb. l). Ein Bezug entweder zu der slawischen Besiedlung dieser Gebiete oder zu den Kolonisationsmaßnahmen ist anzunehmen. Ihr Ursprung und ihre Funktion konnten bislang in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht eindeutig geklärt werden5.
Die Kietze sind kleine Siedlungen, für die sich zumeist keine agrarische Wirtschaftsform nachweisen lässt. Dagegen erscheint durch die überwiegend gewässernahen Lagen eine Zuweisung zu den Fischersiedlungen, die in den wasserreichen Gebieten um Spree und Havel im Mittelalter bestanden haben, auf den ersten Blick indiziert. Auffallend ist, dass sich in unmittelbarer Nähe der Kietze häufig Burgen oder Herrenhöfe nachweisen lassen6. Möglicherweise sind die Kietze als spezielle Dienstsiedlungen der Burgen anzusprechen, die u. a. die Belieferung der herrschaftlichen Küchen mit Fischen übernommen haben.
Die Verbreitung der Kietze konzentriert sich deutlich im Gebiet der ehemaligen Mark Brandenburg, reicht jedoch auch stellenweise darüber hinaus (vgl. Taf. II Abb. 2). Das hat zu der Überlegung Anlass gegeben, dass die Anlage der Kietze in einem Zusammenhang mit der Ausdehnung der askanischen Territorialmacht zu sehen ist, d. h. dass die Kietze zu den Planformen der askanisch gelenkten Landesausbaumaßnahmen zu zählen sind. Die Einrichtung von Dienstsiedlung in dieser Form kennt jedoch keine Parallele in den deutschen Altsiedelgebieten. Daneben ist die Bezeichnung "Kietz" mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht den deutschen oder niederländischen Dialekten zuzuweisen, sondern geht auf eine westslawische Wurzel zurück. Für einige Kietze lassen sich darüber hinaus im 14. und 15. Jahrhundert slawische Bewohner nachweisen. Aufgrund von Befunden archäologischer Untersuchungen muss in einigen Fällen eine Entstehung der Siedlung in vordeutscher Zeit angenommen werden7.
Kann der Ursprung der Kietze in einer Zeit vor dem Einsetzen der planmäßigen Siedlungsmaßnahmen der deutschen Landesherren nachgewiesen werden, dann bietet sich die Möglichkeit Einflüsse und Veränderungen bezüglich von Form, Funktion, Bevölkerungsstruktur usw., die durch den Prozess des Landesausbaus hervorgerufen worden sind, am Beispiel des Wandlungsprozesses eines slawischen Siedlungstyps untersuchen zu können, der nicht-agrarisch sowie nicht-städtisch ist und keinen Befestigungscharakter aufweist. Darüber hinaus markiert das Einsetzen der Veränderungen, insofern sich dieser Zeitpunkt durch schriftliche oder archäologische Quellen feststellen lässt, die Ausweitung der askanisch-deutschen Herrschaft auf das entsprechende Gebiet.
1. Quellen. Publikationsstand und wissenschaftliche Ansätze
1.1. Primärquellen
Für die Gebiete östlich der Elbe liegen aus dem 13. Jahrhundert und der vorhergehenden Zeit kaum Quellen vor, die Aussagen zur Besiedlung und Bevölkerung enthalten. In Brandenburg fehlt die für die Siedlungsforschung äußerst wichtige Quellengruppe der Lokatorenurkunden beinahe vollständig.8 Die Verwaltungsstrukturen, die zur Entstehung eines entwickelten Urkundenwesens und somit zur Schaffung von Quellengrundlagen beitragen, wurden erst mit dem Vordringen der Kolonisatoren in dieser Zeit geschaffen. Erwähnungen von Kietzen und Kietzbewohnern setzen in Brandenburg erst in der Mitte des 13. Jahrhunderts ein9, teilweise sogar erst im Verlauf des 15. Jahrhunderts oder noch später.10
Für die Beschäftigung mit Fragen zur Besiedlung und Bevölkerung Brandenburgs im Mittelalter stellt das so genannte Landbuch der Mark Brandenburg die wichtigste Quelle dar. Es wurde von Kaiser Karl TV. 1373 bei der "Übernahme" der Mark in Auftrag gegeben und beinhaltet Aufstellungen aller landesherrlichen Besitzungen und Einkünfte, sowie der von der Bevölkerung zu leistenden Abgaben und Dienste. Das Landbuch wurde um 1375 fertiggestellt.11
Eine weitere unentbehrliche Grundlage stellen die im 19. Jahrhundert veröffentlichten Quellensammlungen von A. F. WEDEL dar. Unter dem Titel Codex diplomaticus Brandenburgensis hat RJEDEL die verfügbaren mittelalterlichen Urkunden zusammengetragen und nach Themenbereichen in mehreren Bänden zusammengefasst. Für die im Nachfolgenden zu behandelnden Fragen ist insbesondere der Band I interessant, der die Urkunden zur Orts- und Landesgeschichte enthält.12
In einigen Fragen, auf die sich aus den hochmittelalterlichen Quellen keine Antworten finden lassen, erweisen sich auch die Schilderungen in jüngeren Quellen13 als informativ, insofern sie Ergebnisse einer Entwicklung seit dem Mittelalter beschreiben. Wo das nicht unzweifelhaft nachzuweisen ist, muss jede Aussage unter den angebrachten Hinweisen und Vorbehalten behandelt werden.14
1.2. Sekundärquellen
Auf die Kietze als eine Siedlungsform, die in ihrem Auftreten auf die mittelalterlichen Expansionsräume östlich der Elbe beschränkt ist, wurde bereits in verschiedenen Publikationen aus dem 19. Jahrhundert hingewiesen.
Der 1829 von S. W. WOHLBRÜCK vorgelegte erste Band zur Geschichte des Bistums und Landes Lebus enthält eine auf das Arbeitsgebiet beschränkte Aufstellung seinerzeit bekannter Kietzsiedlungen. Zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Frage nach dem Ursprung dieses Siedlungstyps kam es allerdings in dem Zusammenhang nicht.15
Weiterreichende Überlegungen über die ethnische Zugehörigkeit der "Ur-Kietzbewohner" stellte erstmals A. F. RIEDEL in seiner umfassend aus Urkunden und Chroniken erarbeiteten Darstellung der Situation in Brandenburg um 1250 an. Ausgehend von der für die Stadt Brandenburg bekannten urkundlichen Erwähnung slawischer Kietzbewohner16 gelangte RIEDEL zu der Überzeugung, dass das auf die Ostgebiete begrenzte Auftreten der Kietze in ihrem "slawischen Ursprung" begründet läge.
Aus einigen Quellen geht hervor, dass von den Kietzern Fischfang betrieben wurde17. An anderer Stelle werden unter den von den Kietzbewohnern zu entrichtenden Abgaben auch Fische in größeren Mengen aufgeführt.18 In Verbindung mit den regelhaft gewässernahen Lagen der Kietzsiedlungen ergab sich für RIEDEL daraus die Schlussfolgerung, dass die Kietze „slawische Fischerdörfchen" aus vordeutscher Zeit darstellten.19
Die Zuweisung der Kietze zu einem vorkolonialen, slawischen Ursprung durch RIEDEL traf in der zeitgenössischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung auf weitestgehende Akzeptanz und findet sich in der nachfolgenden Literatur häufig so zitiert.
Daneben existierte z. B. die durch G. WENDT (1889) vertretene These, dass die Kietze auf Plansiedlungsmaßnahmen aus der Zeit der askanischen Herrschaft in Ostdeutschland zurückzuführen seien. WENDT stützte sich dabei auf ein von ihm skizziertes Verbreitungsgebiet, welches weitestgehend mit den Grenzen des ehemaligen askanischen Territoriums übereinstimmte. Jedoch ignorierte er dabei die außerhalb dieser Grenzen bekannten Kietze20 (vgl. Taf. n/Abb. 2 im Anhang). Seine Argumentation stützte sich u. a. auf Beobachtungen von regelmäßigen, linearen Strukturen in den meisten Kietzsiedlungen, die nicht in Übereinstimmung zur "typisch unregelmäßigen slawischen Dorf Form" stünden.21
1897 legte B. GUTTMANN seine eng an den Quellen orientierte Untersuchung zur Entwicklung rechtlicher Grundlagen in der Mark Brandenburg während der Kolonialisationsphase vor. Er konnte herausstellen, dass die Kietzbewohner hinsichtlich der zu leistenden Abgaben und Dienste ausschließlich einem Landesherren unterstanden.
Den Abhängigkeitsgrad charakterisierte GUTTMANN ähnlich dem der "Dienstdörfer", die im Rahmen der alten westslawischen Wirtschafts- und Sozialverfassungen22 entstanden sind. Dabei vertrat er die Auffassung, dass das in den mittellateinischen Quellen gebräuchliche "vicus" mit der ebenfalls anzutreffenden Kietzbezeichnung in der Bedeutung übereinstimme.23
G. WEISKER unternahm auf der Basis linguistischer Methoden den Versuch, den Verbleib slawischer Bevölkerungsteile im Havelland anhand von Sprachresten zu lokalisieren, um auf diese Weise herauszufinden, wo ein nachkoloniales Fortleben slawischer Siedlungen zu erwarten sein könnte. In der 1890 vorgelegten Veröffentlichung vertrat er als Konsequenz seiner Untersuchungen die Meinung, dass die Kietze kolonialisationszeitliche Gründungen darstellten, in denen angesichts des Arbeitskräftebedarfs Teile der slawischen Bevölkerung unter Gewährung gewisser Privilegien in der Nähe der Burgen ansässig gemacht wurden.24
Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangte auch M. BATHE, 1932 in seiner Dissertationsarbeit über die Herkunft der Siedler im Jerichower Land. Er bewertete die Kietzsiedlungen als Zwischenausbauten slawischer Siedler aus "deutscher" Zeit.25
Obwohl sich in den vorgelegten Arbeiten bereits abzeichnete, dass die Fragen nach den Umständen, die zur Entstehung der Kietzsiedlungen in den Plansiedlungsgebieten östlich der Elbe beigetragen haben ein komplexes wissenschaftliches Problem darstellten, fand bis in die 30er Jahre dieses Jahrhunderts keine Auseinandersetzung innerhalb eines monographischen Rahmens statt. Erst H. LUDAT legte 1936 ein umfassendes Basiswerk zu den ostdeutschen Kietzsiedlungen vor, das sich durch seine breite und exakt recherchierte Quellengrundlage auszeichnet.26
LUDAT stellte für sein Arbeitsgebiet einen Katalog mit 201 Kietzorten zusammen, in dem sowohl bestehende wie auch in Quellen und durch Flurnamen greifbare Kietzsiedlungen erfasst wurden. Die aufgeführten Orte wurden anhand einer Reihe vorformulierter Kriterien untersucht. Dabei kam LUDAT zu der Auffassung, dass es mehrere zeitliche Phasen der Entstehung von Kietzen gegeben hat.27 Bei dem Versuch eine generelle Trennung vorzunehmen, bezeichnete er lediglich die Siedlungen, deren Entstehung vor oder während des Landesausbaus anzusetzen ist, als sogen, "echte" Kietze28. Als Charakteristikum dieser "echten" Kietzsiedlungen nannte er die Lagen in unmittelbarer Nähe von zeitgleichen Befestigungen, durch die der Gedanke an ein grundsätzliches Schutz- und Abhängigkeitsverhältnis nahe gelegt würde. Eine Funktion der Kietze als Dienstsiedlungen der Burgen erschien ihm in diesem Sinne sehr wahrscheinlich.29 LUDAT war darüber hinausgehend der Meinung, dass unter der Bezeichnung „Kietz“ ursprünglich nur die Siedlungen bei strategisch bedeutsamen Burgen verstanden wurden.30 LUDAT vertrat in seiner abschließenden Betrachtung die Auffassung, dass die Kietze noch vor dem Beginn der deutschen Ostkolonisation in Schutzlagen bei den slawischen Burgen entstanden seien.31 Als Beleg für diese These verwies LUDAT u. a. auf die slawische Ethymologie des Wortes "Kietz".32 Im Anschluss an die Übernahme der Befestigungen durch die Kolonialherren sind die Kietze demzufolge in ihrer bisherigen Form bestehen geblieben; das Bindungsverhältnis wurde unverändert auf die neuen Burgherren übertragen.33 In Zuge der Aussiedelung erfolgte zunächst auch in den Kietzen der planmäßige Zuzug von Neusiedlern. Spätestens im Verlauf des 15. Jahrhunderts überwog der Anteil der nicht-slawischen Bevölkerung unter den Kietzern und die Abgrenzung zu den Slawen hatte sich durch Assimilierungsprozesse soweit verloren, dass in den Quellen keine explizite Nennung mehr erfolgen mußte.34
1.3. Archäologische Quellen
LUDAT hat in seiner Publikation von 1936 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass zur Klärung der Frage nach der Entstehungszeit der älteren Kietzsiedlungen unbedingt archäologische Untersuchungen notwendig sein würden. Zwar lagen aus dem ersten Drittel dieses Jahrhunderts vereinzelte Ausgrabungsergebnisse vor, jedoch fanden sie in der historisch - wissenschaftlichen Auseinandersetzung wenig Beachtung. Lediglich in einer 1910 vorgelegten Dissertationsarbeit zur Siedlungskunde des Havelwinkels von M. BOLLE (1910) wurden einzelne Ausgrabungsergebnisse berücksichtigt.35
Die Ergebnisse stratigraphischer Untersuchungen im Altstadtbereich von Berlin-Köpenick, die in den 1950ziger Jahren von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Rahmen eines breit angelegten Programms zur Erforschung frühgeschichtlicher Wall- und Wehranlagen vorgenommen wurden, gaben schließlich den Anstoß zur eingehenden archäologischen Beschäftigung mit den Kietzsiedlungen.36
Während die Existenz einer slawischen Befestigung unzweifelhaft nachgewiesen werden konnte37 ließen sich anhand der 5 im Köpenicker Kietz angelegten Sondageschnitte keine geschlossenen Schichten aus slawischer Zeit feststellen. Es wurden lediglich vereinzelte und mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr in situ angetroffene spätslawische Keramikreste geborgen.38 Selbst die frühdeutsche Fundschicht erschien den Ausgräbern unerwartet schwach ausgeprägt.39 Damit stellte sich die Frage, ob eine Entstehung der Kietze in slawischer Zeit aus archäologischer Sicht nachweisbar sein würde.
Dieser Frage ging B. KRÜGER in Rahmen einer Untersuchung zu den Kietzsiedlungen im nördlichen Mitteleuropa nach.40 Die Arbeit basiert zu einem erheblichen Anteil auf den Vorleistungen LUDATs. KRÜGERs Katalog nennt 190 Kietzorte, 7 davon liegen östlich der Oder. Mit Ausnahme der 7 polnischen Orte hat der Bearbeiter alle aufgeführten Kietze selber aufgesucht und unter siedlungsarchäologischen und topographischen Gesichtspunkten untersucht. Dabei war es nur in einigen Fällen möglich Sondageschnitte anzulegen, um Aufschlüsse über die Stratigraphien zu erhalten.41 Grundsätzlich wurden auch die jeweiligen Ortsakten der Bodendenkmalpflege und die Sammlungen der örtlichen Museen konsultiert.
Als ein Kennzeichen des behandelten Siedlungstyps hob KRÜGER das regelhafte Fehlen von Kirchen innerhalb der Kietze hervor.42 Außerdem lag die Kietzsiedlung in Fällen, in denen an einem Ort eine slawische und eine deutsche Befestigung nachzuweisen waren, regelmäßig bei der deutschen Anlage.43 Ähnlich wie vor ihm bereits LUDAT nahm auch KRÜGER eine Unterscheidung zwischen "echten" alten Kietzen und jüngeren Ausbauten vor, wobei er sich überwiegend auf die bekannten Schriftquellen berief. Nur in 12 bzw. 14 Fällen (s. Anm. 27) konnte der sichere Nachweis von ungestörten spätslawischen Schichten erbracht werden.44
KRÜGER betonte in seinem Resümee, dass lediglich in 5 Fällen eine vordeutsche Besiedlung mit Sicherheit angenommen werden könne und sprach sich aus archäologischer Sicht dagegen aus, die Kietzentstehung grundsätzlich in vorkolonialer Zeit anzusetzen. Eine klar formulierte Alternative wird jedoch nicht angeboten. Die Möglichkeit, die Kietze erneut als Anlagen aus der Zeit der Askanier einzuordnen45 klingt in der Publikation ebenso untergründig an, wie eine Reihe ebenfalls schon genannter Ansätze46.
[...]
1 In der vorliegenden Hausarbeit werden Begriffe wie beispielsweise "deutsche Ostkolonisation ", "Kolonisation ", "deutsche bzw. niederländische Ost(be)siedlung", usw. zur Anwendung kommen, ungeachtet der in den letzten Jahrzehnten diesbezüglich aufgekommenen Diskussion, der zur Folge die Termini in die Nähe von "Deutschtümelei", Verherrlichung des Nationalbewusstseins im Sinne der NS-Propaganda, Diskriminierung der Slawen usw. geruckt worden sind. Der Inhalt der vorliegenden Arbeit ist in keiner Weise als ein Beitrag zur Verherrlichung des deutschen Kolonisationswerkes zu verstehen, sondern stellt lediglich den Versuch einer kritischen Auseinandersetzung mit einem Teil der Brandenburgischen Siedlungsgeschichte dar. Da es jedoch in der Diskussion über die Verwendbarkeit der Begriffe noch zu keinem allgemein anerkannten Konsens gekommen ist, fehlt es an Alternativen. Anm. d. Verf.
2 Die Phase des intensivsten Landesausbaus fiel in die Herrschaftszeit der Markgrafen Johann I. und Otto III. aus dem Haus der Askanier in die l. Hälfte des 13. Jahrhunderts; vgl. B. KRÜGER (1962); Die Kietzsiedlungen im nördlichen Mitteleuropa, S. 47
3 vgl. H. FUHRMANN (1983); Deutsche Geschichte im hohen Mittelalter (von der Mitte des 11. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts), S.138-141
4 vgl. H. K. SCHULZE (1979); Die Besiedlung der Mark Brandenburg im hohen und späten Mittelalter. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, S. 45f.
5 vgl. E. BOHM (1977); Die Kietze als Problem der nichtstädtischen Herrschaftssiedlungen in der Mark Brandenburg. In: Berichte zur deutschen Landeskunde, Bd. 51, S. 41-43
6 vgl. H. LUDAT (1936); Die Ostdeutschen Kietze
7 vgl. BOHM (1977); S. 49
8 vgl. H. K. SCHULZE (1979); S. 47
9 Die erste urkundliche Erwähnung liegt aus dem Jahre 1249 für den Altstädter Kietz der Stadt Brandenburg vor. Vgl. E. BOHM (1977); S. 41-59
10 vgL H. LUDAT (1936); S. 109f.
11 hrsgg. als Quellenedition von J. SCHULTZE (1949); Das Landbuch der Mark Brandenburg von 1375
12 s. Codex diplomaticus Brandenburgensis; mehrere vielteilige Hauptbände, 1838-1869
13 Soweit es sich um registerartige Quellen in der Art des Landbuches handelt, wie sie aus dem 16. Jahrhundert vor allem in Form der Erbregister der Brandenburgischen Ämter verfügbar sind. S. entspr. Hinweise bei BOHM (1977), S. 45
14 E. BOHM unternimmt z B. den Versuch, über die Art und Strukturen der von den Beeskower Kietzern im 18. Jahrhundert zu verrichtenden Dienste, für die es entsprechende Quellen gibt, Aufschlüsse über die entsprechenden mittelalterlichen Verpflichtungen zu erhalten. Dabei geht er davon aus, dass die neuzeitlichen Dienstleistungen sich aus älteren Traditionen entwickelt haben; vgl. (1977); S. 53
15 S. W. WOHLBRÜCK (l 829); Geschichte des ehemaligen Bisthums Lebus und des Landes dieses Namens, Bd. l, S. 281-283
16 Die Urkundliche Erwähnung für einen der Brandenburger Kietze von 1321 stellt den ältesten schriftlichen Beleg für die in den Kietzen lebenden Slawen dar, s. z. B. wörtlich zitiert bei LUDAT (1936); S. 109
17 BOHM bezieht sich diesbezüglich auf entsprechende Belege für Alt-Ruppin (1525), die Brandenburger Domkietze, Fahrland (1450/1624) usw. S. (1977), S. 50
18 In Landbuch werden als Abgabe der Potsdamer Kietzer beispielsweise 60 Aale genannt. Vgl. J. SCHULTZE (1949); S. 41
19 vgl. A. F. RIEDEL (l 832); Die Mark Brandenburg im Jahre 1250 oder bist. Beschreibung der Brandenburgischen Lande und ihrer politischen und kirchlichen Verhältnisse um diese Zeit, eine aus Urkunden und Chroniken bearbeitete Preisschrift, Bd. 2, S. 32f.
20 G. WENDT (l 889); Die Germanisierung der Länder östlich der Elbe. Programm Liegnitz; Teil 2, S.36; zitiert in: B. KRÜGER (1962a), S. 13
21 s. hierzu in neuerer Zeit J. HENNING (1991); Germanen-Slawen-Deutsche. Neue Untersuchungen zum Siedlungswesen östlich der Elbe, in: Prähistorische Zeitschrift, 66. Bd. Heft l, S. 130-133
22 Gemeint sind hier z. B. die Vorlagen aus den piastisch-polnischen und den przemyslidisch-böhmischen Herzogtümern. Bereits in der ältesten Geschichte Böhmens des Kosmas von Prag aus dem 12. Jh. werden in Verbindung mit der Przemychl-Saga spezielle Dienstsiedlungen zur Wahrnehmung spezifizierter Aufgaben erwähnt Vgl. Z. FIALA (1967); Die Anfänge Prags bis zum Jahre 1235.
23 B. GUTTMANN (1897); Die Germanisierung der Slawen in der Mark; in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Bd. 9, S. 395-514
24 G. WEISKER (1890); Slawische Sprachreste, insbesondere Ortsnamen, aus dem Havellande und den angrenzenden Gebieten, s. insbes. S. 6
26 M BATHE (1932); Die Herkunft der Siedler in den Landen Jerichow, erschlossen aus der Laut-, Wort- und Flurnamengeographie, Diss. Halle 1932, S. 115; zitiert in: B. KRÜGER (1962a); Die Kietzsiedlungen im nördlichen Mitteleuropa; S. 14
26 H. LUDAT (1936);
27 Häufig bezieht sich die Bezeichnung "Kietz" auch auf nach dem Hochmittelalter entstandene Siedlungsausbauten u. ä. Viele Kietze haben sich nicht bis in unsere Zeit hinein erhalten und sind wüst gefallen. Diese "abgebrochenen" Siedlungen lassen sich oft noch in entsprechenden Flurnamen wie z. B. "Kietzer Wiesen", "Kietzauen" usw. erfassen. KRÜGER nennt sie "Flurnamenkietze" [(1962a), S. 22] und BOHM weist daraufhin, dass diese Flurnamen meistens jüngeren Ursprungs sind und nicht davon ausgegangen werden kann, dass sie die Erinnerung an eine entsprechende mittelalterliche Siedlung wach halten. Vielfach können sie auch auf Begriffe wie "Kiebitz" oder "Kies" zurückgeführt werden. Eine weitere Gruppe der Kietzbezeichnungen umfasst daneben Stadtbezirke, in denen häufig minder geachtete soziale Schichten und Berufsgruppen angesiedelt waren, wie beispielsweise die in den letzten 100 Jahren entstandenen Kietze der Großstädte (s. insbesondere Berlin und Hamburg), die von BOHM als "Pseudokietze" bezeichnet werden [(1977); S. 45-47].
28 ebd., S. 91-102
29 ebd., S. 90-92, bes. S. 91
30 ebd., S. 90: [...] Es kann nicht angenommen werden, dass allein ausgerechnet an diesen Stellen ursprünglich die Kietzbezeichnung haftete, sondern vielmehr muss mit aller Bestimmtheit betont werden, dass bereits dieser auffällige Zusammenhang den Beweis dafür in sich birgt, dass den Siedlungen bei den strategisch wichtigen Burgplätzen der Name "Kietz" beigelegt wurde...
31 In Weiterführung dieses Gedankens unternahm LUDAT später an anderer Stelle den Versuch, den Kietzen in der Frage nach der frühen Genese ostdeutscher Städte die Funktion frühstädtischer Suburbien zuzuschreiben, [vgl. LUDAT (1955); Vorstufen und Entstehung des Städtewesens. Zur Frage der vorkolonialen Wirtschaftszentren im slawisch-baltischen Raum, Osteuropas und des deutschen Ostens; Reihe III, Buch 4 u. ders. (1958); Frühformen des Städtewesens in Osteuropa. In: Studien zu den Anfangen des europäischen Städtewesens (Reichenau Vorträge), S. 520f. Die Diskussion um die vorkolonialen, frühstädtischen Prozesse hat in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nach 1989/90 an Aktualität gewonnen und ist noch nicht abgeschlossen. Jedoch durfte die versuchte Deutung der Kietzsiedlungen als frühstädtische Suburbien durch LUDAT u. a. als verworfen gelten und soll an dieser Stelle keine weitere Berücksichtigung erfahren. Vgl. auch J. HERRMANN, Hrsg., (1985); Die Slawen in Deutschland. Ein Handbuch -Neubearbeitung; S. 411-412 und bes. S. 563, Anm. 165
32 s. LUDAT (1932); S. 197
33 ebd.
34 Den ältesten von LUDAT zitierte Quellenbeleg für die in den Kietzen lebenden Slawen stellt eine Erwähnung von 1321 für einen Kietz der Stadt Brandenburg dar. [s. (1936); S. 109] Im Verlauf des 14. Jahrhunderts nehmen die Erwähnungen stetig ab, bis schließlich um 1450 keine Belege mehr auftreten, s. hierzu auch KRÜGER (1962a); S. 16
35 M BOLLE (1910); Beiträge zur Siedlungskunde des Havelwinkels, Diss. HALLE 1910, zitiert in: KRÜGER (1962a); S. 14
36 Das eigentliche Ziel dieser Untersuchungen war die Erstellung von einem Handbuch frühgeschichtlicher Wall und Wehranlagen. Unter diesem Titel erfolgte eine mehrbändige Veröffentlichung der Ergebnisse ab 1958, hrsgg. von J. HERRMANN. Zu Köpenick s. insbes. Bd. 2: Die vor- und frühgeschichtlichen Burgwälle Groß-Berlins und des Bezirkes Potsdam. 1960
37 vgl. J. HERRMANN/ P. DONAT, Hrsg. (1979); Corpus Archäologischer Quellen zur Frühgeschichte auf dem Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik (7. - 12. Jh.), Kat.-Nrn. 88/24 - 26, S. 322f.
38 Dennoch sind Slawen als Siedler im Kietz von Köpenick bis 1387 urkundlich bezeugt: [...] und och die wende uf dem Kitze darselbens... vgl. A. F. RIEDEL (l 838); Codex diplomaticus Brandenburgensis; zitiert in KRÜGER (l 962a); S. 45
39 vgl. KRÜGER ebd.
40 s. o. (1962a);
41 Es konnten bei einer Gesamtzahl von 183 untersuchten Kietzen in 12 (!) Fällen sondiert werden, [s. ebd., S. 134). Interessanter Weise erwähnt KRÜGER in 14 Fällen das Vorliegen ungestörter Stratigraphien, während er gleichzeitig bedauert, dass aufgrund der teilweise kompakten Bebauung nur in 12 Fällen Schnitte angelegt werden kannten...
42 Der Umstand findet sich bereits bei LUDAT hervorgehoben der damit zu erklären versucht, dass die Kietze vermutlich unter die Zuständigkeit der Stadtpfarrkirchen gehörten, obwohl sie als Siedlungen selbständig waren. Allerdings wertete LUDAT die Beobachtung als Indiz für die slawische, nichtchristliche Tradition der Kietzbewohner. (1936); s. S. 91
43 ebd., S. 87
44 Es ist zu bedenken, dass das Bild von der zur Anwendung gekommenen Methode nicht unbeeinflusst geblieben ist, da bei der Anlage von l m x 3 m Suchschnitten nicht das gleiche, deutliche Ergebnis zu erwarten ist, wie bei großflächigen Untersuchungen. Anm. d. Verf.
45 Bemerkenswerterweise ließen sich im Kietz von Potsdam, für den sich slawische Kietzer bis 1375 explizit in schriftlicher Form nachweisen lassen, durch die von KRÜGER durchgeführten archäologischen Untersuchungen keine spätslawischen Fundschichten feststellen. KRÜGER bietet als Erklärung hierfür die These an, dass die im Potsdamer Kietz niedergelassenen Slawen sich bereits ausschließlich der hart gebrannten graublauen Keramik bedient hätten, die erst durch die deutschen Neusiedler in das Land gelangt war. M. E. kann diese Aussage in der Form allein jedoch nicht befriedigen, da neben der gebräuchlichen Keramik auch andere Funde, die eine slawische Population möglicherweise deutlicher identifizieren, in den Boden gelangt seien sollten (Schmuck und andere Trachtbestandteile z. B., mit deren längerem Nachleben trete der Anpassung an die deutschen und niederländischen Ansiedler zu rechnen ist). Für das Fehlen von Spuren einer älteren, slawischen Vorgängersiedlung muss es andere Ursachen gegeben haben. Entweder haben die von KRÜGER angewandten Untersuchungsmethoden nicht die notwendige Feinheit gehabt, um eine ausreichende Fund- bzw. Befunddichte sicherzustellen, oder es liegen vielleicht Unsicherheiten in der Datierung des deutsch-slawischen Übergangshorizontes vor. Vgl. J. HENNING (1991); Slawen-Germanen-Deutsche. Neue Untersuchungen zum frühgeschichtlichen Siedlungswesen östlich der Elbe; in: Praehistorische Zeitschrift, 66. Bd./ Heft 1991/1,8. 119-133
46 vgl. KRÜGER, ebd.; S. 37
- Arbeit zitieren
- Tanya Armbruester (Autor:in), 1996, Die Kietze als Sonderform der mittelalterlichen Siedlung in Brandenburg, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40904
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