Zur Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei


Hausarbeit (Hauptseminar), 2004

28 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

I Nationalismus und Nationalitätenkonflikte

II Die Sudetendeutsche Minderheit in der Tschechoslowakei

III Die Entwicklung der Pläne zum Transfer der Sudetendeutschen
1. Die Planungen der tschechoslowakischen Exilregierung
2. Die Positionen der Alliierten
3. Die Haltung der KPTsch

IV Die Dynamisierung bis zur Potsdamer Konferenz

V Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Einleitung

„Dieser Mann [...] ist im Londoner Exil zum Symbol des tschechischen Kampfes gegen den Nationalsozialismus und unserer demokratischen Tradition geworden; zu dem, was De Gaulle für die Franzosen und Königin Wilhelmine für die Niederländer oder auch Churchill für die Briten war.“[1] So beschrieb Václav Havel 1992 den tschechoslowakischen Politiker Edvard Beneš.

Diese Beschreibung lässt aufhorchen, ist der Name Beneš doch aufs Engste mit der tragischen Vertreibung Hunderttausender Sudetendeutscher verknüpft; sudetendeutschen Vertriebenenverbänden gilt er gar als der „Austreiber-Präsident“.[2]

In der vorliegenden Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, wie es zu der brutalen Vertreibung einer ganzen Bevölkerungsgruppe aus ihrer Heimat kommen konnte. Dabei soll auch nach der Rolle Edvard Beneš` gefragt werden. Wie konnte ein, nach Havels Ansicht, so überzeugter Demokrat zu einem Befürworter radikaler Bevölkerungstransfers werden?

Bei genauerer Betrachtung der Vertreibungsproblematik kommt man zu dem Ergebnis, dass die These von Beneš als dem Hauptverantwortlichen und „Vater des Vertreibungsgedankens“ nicht haltbar ist. Vielmehr muss eine ganze Anzahl von Faktoren Beachtung finden: Die Idee der Konfliktprävention durch Aussiedlung ethnischer Minderheiten stammt nicht von Beneš, sondern geht einher mit dem Aufstieg des modernen Nationalismus. Dieser Themenkomplex soll im ersten Teil der Arbeit thematisiert werden.

Die Rolle der sudetendeutschen Minderheit während der ersten tschechoslowakischen Republik steht im Mittelpunkt der anschließenden Betrachtungen. Wie kam man darauf, dass die Sudetendeutschen eine Bedrohung darstellten?

Der dritte Teil beschäftigt sich mit den konkreten Planungen zur Vertreibung der Deutschen. Dabei kann man sich nicht auf die Pläne der tschechischen Exil-Regierung unter Beneš beschränken. Auch die Alliierten der Anti-Hitler-Koalition sahen Bevölkerungstransfers als Notwendigkeit an, zudem wäre ohne ihre Zustimmung eine Vertreibung niemals möglich gewesen.

Im letzten Abschnitt soll auf die Gründe für eine gegen Kriegsende einsetzende Dynamisierung des Vertreibungsgedankens eingegangen werden, die schließlich bis hin zur unkontrollierten „wilden Vertreibung“ Tausender Deutscher aus dem Sudetengebiet führte.

I Nationalismus und Nationalitätenkonflikte

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erlangt der Gedanke der Versicherung der eigenen Identität qua Zugehörigkeit zu einer Nation in weiten Teilen Europas eine immer größere Bedeutung; man kann von einem Zeitalter des einsetzenden Nationalismus sprechen. Die Idee der eigenen Nationalität wird zu einem identitätsstiftenden Moment und übernimmt mehr und mehr die Funktion einer kulturellen Leitideologie, die bis dato Religion oder Konfession innehatten.

Dabei handelt es sich zunächst um eine Art kulturellen Nationalismus. Hiernach definiert sich eine Nation besonders durch eine gemeinsame Sprache und Kultur, ein gemeinsames historisches und kulturelles Erbe. Die Klammer, die eine Nation zusammenhält, ist das Leben im gemeinsamen Kulturkreis.

Dieser Entwurf von Nation beginnt sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu ändern. Einhergehend mit einer immer wissenschaftlicheren Weltsicht, besonders zu nennen ist hier der Darwinismus-Diskurs, wird Nationszugehörigkeit nicht mehr kulturell, sondern ethnisch begründet. Nationalität hat in diesem Denkmodell eine stark biologische Konnotation.

Dies hat weitreichende Konsequenzen: Angehörige einer ethischen Minderheit werden nicht mehr als nationszugehörig betrachtet, selbst wenn sie sich in Sprache, Kultur und Lebensweise kaum von der ethnischen Mehrheit unterscheiden. Dies kann bis hin zu chauvinistischen Ansichten, wie etwa der Überlegenheit der eigenen Nation gegenüber anderen Nationen, reichen. Dass eine solche Denkweise leicht zu Konflikten zwischen ethnischen Gruppen, von Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsschichten bis hin zu Unterdrückung oder Repressalien führen kann, liegt auf der Hand. Peter Alter definiert den Nationalismus folglich nicht nur als Ideologie, sondern auch als eine politische Bewegung. Durch das Appellieren an das Nationalgefühl ist es möglich, Menschen politisch zu mobilisieren.[3]

Aus der Überlegung, dass ethnisch definierter Nationalismus als „geistiges Leitprinzip“ der Epoche gelten, und ganze Bevölkerungsschichten politisch mobilisieren konnte (d.h. Nationalitätenkonflikte waren stets bedrohliche Massenkonflikte und konnten leicht zu sehr ernsthaften Konsequenzen bis hin zu Kriegen führen), begann man Anfang des 20. Jahrhunderts Konsequenzen zu ziehen. Besonders während und nach dem (als Nationalitätenkonflikt begriffenen) Ersten Weltkrieg wurden verstärkt Überlegungen angestellt, wie solche Konflikte in Zukunft am besten vermieden werden könnten. Dabei kam man zu dem Ergebnis, dass die territoriale Trennung von ethnischen Gruppen die wohl wirksamste Prävention vor neuen Eskalationen darstellen würde. „Die nationale Mischsiedlung wurde als die Ursache von Konfliktsituationen angesehen; diese scheinen durch „Säuberung“ oder „Reinigung“ sozusagen mit der Wurzel, also dauerhaft beseitigt zu werden. Das Ergebnis einer solchen „Säuberung“ wäre eine national homogene Bevölkerung eines Stadtviertels, eines Ortes, einer Region, ja im Idealfall ganzer Staaten.“[4]

Konkret formuliert wurde diese Idee erstmals im Jahre 1915 durch den Schweizer Anthropologen Georges Montandon. In seiner Broschüre Frontières nationales entwickelt er die These, dass sich zukünftige Kriege wohl am besten durch eine grundlegende Umgestaltung des bestehenden Staatensystems vermeiden ließen. Die bestehenden europäischen Staaten sollten „national homogenisiert“ werden, die probaten Mittel dafür seien: „die Festlegung einer (wenn möglich) natürlichen Grenze durch die massive Verpflanzung [sic!] von Nichtangehörigen der Nation, oder von solchen, die dafür erklärt werden, in Gebiete jenseits der Grenze, ferner das Verbot des Eigentumsrechts oder selbst des Aufenthaltsrechts für Ausländer in den Grenzprovinzen“.[5] Ein weiteres Mittel zur nationalen „Entmischung“ von Staaten sei der Austausch von Siedlungen gegenseitiger Minderheiten zwischen mehreren Ländern.

Eine große Bedeutung wurde der Minderheitenfrage bei der Bildung der ethnisch sehr heterogenen Staaten in Ost- und Südosteuropa kurz nach dem Ersten Weltkrieg beigemessen. Während der Balkankriege hatte es in diesem Gebiet bereits erste freiwillige Bevölkerungsaustausche zwischen Bulgarien, Griechenland und der Türkei gegeben. Als aber am 30. Januar 1923 mit dem Vertrag von Lausanne der lange und blutige Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei endgültig beigelegt wurde, gewann die Idee des Bevölkerungsaustauschs eine ganz neue Qualität. Erstmals in der Geschichte wurde ein zwangsweiser Austausch von nationalen Minderheiten zwischen zwei Staaten vertraglich vereinbart: Möglichst alle Türken sollten Griechenland, möglichst alle Griechen die Türkei verlassen. Dem von beiden Staaten unterzeichneten Vertrag lag ein Exposé des Flüchtlingskommissars des Völkerbundes, Fridtjof Nansen, zugrunde. Dort argumentiert Nansen: „that to unmix the population of the Near East will tend to secure the true pacification of the Near East […] an exchange of populations is the quickest and most efficacious way of dealing with the grave economic results which must result from the great movement of populations which has already occurred”.[6]

Mit der im Vertrag vereinbarten zwangsweisen Umsiedlung folgte man also auch der Überlegung, dass nur eine Zwangsumsiedlung in kurzer Zeit den gewünschten Erfolg, d.h. die Befriedung einer ganzen Region, bringen könnte. Denn besonders der Leiter der Lausanner Konferenz, der britische Außenminister Curzon, fürchtete, dass ein freiwilliger Austausch Jahre dauern und zu neuen Konflikten sowie zusätzlichen Härten für die betroffene Bevölkerung führen könnte.

Obwohl der Vertrag die Türkei und Griechenland einer nationalen Homogenität tatsächlich erheblich näher gebracht hat,[7] kann er bei genauerer Betrachtung dennoch nicht als Erfolg oder Modellösung bewertet werden: Der Transfer zog sich über Jahre hin und war für die Betroffenen mit zahllosen Härten und Ungerechtigkeiten verbunden. Die Integration der Flüchtlinge auf beiden Seiten erwies sich als sehr schwierig, die wirtschaftlichen Folgen der Umsiedlungen waren katastrophal. Zudem trat eine dauerhafte Verbesserung der griechisch-türkischen Beziehungen nicht im gewünschten Maße ein.

Wichtige Folgewirkungen hatte der in Lausanne vereinbarte Bevölkerungsaustausch jedoch auf der Ebene der internationalen Diplomatie. Die negativen Begleiterscheinungen des Austauschs wurden kaum wahrgenommen. Im Gegenteil, je weiter er zurück lag, „desto selbstverständlicher galt er Politikern und Diplomaten als ein faszinierendes Muster für die Durchführbarkeit radikaler ethnischer Entmischung“.[8] Der zwangsweise Austausch nationaler Minderheiten wurde nach Lausanne als ein legitimes Mittel der internationalen Politik anerkannt.

Im weiteren Verlauf der zwanziger Jahre verlor die Idee der Konfliktprävention durch Bevölkerungstransfers zunächst wieder an Bedeutung. Den Zeitgenossen erschien Lausanne gleichsam als ein später und abschließender Akt der 1918/19 begonnenen europäischen Friedensreglungen.[9] Die Zeit war geprägt von einer Konsolidierung des internationalen Staatensystems; weitere Grenzverschiebungen und damit einhergehende Bevölkerungstransfers erschienen nicht mehr notwendig.

Zunehmend wurden andere Modelle zur Prävention von Nationalitätenkonflikten diskutiert, wobei besonders der Gedanke des Schutzes von Minderheiten sowie der Gedanke der Assimilation zu Einfluss gelangten.

Minderheitenschutz konnte dabei unterschiedlichste Formen annehmen. Die Ideen reichten von einigen wenigen garantierten Grundrechten bis hin zu Forderungen nach weitgehender Autonomie für nationale Minderheiten. Die garantierten Rechte sollten eine Benachteiligung der Minderheiten so weit als möglich vermeiden helfen. So sollten eventuelle Konflikte von herein umgangen werden.

Assimilation wurde im Sinne einer weitgehenden Angleichung der kulturell-sprachlichen Identität der Minderheiten an die der Mehrheit verstanden. Die ethnischen Minderheiten sollten sich mit dem Staat, in dem sie lebten, identifizieren, mit andern Worten loyale Staatsbürger werden. Der Entmischungsgedanke spielte Ende der zwanziger Jahre kaum noch eine Rolle.

Dies änderte sich jedoch schlagartig mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland. Die Idee der Übereinstimmung der Nationalstaatsgrenzen mit den ethnographischen Grenzen wurde von Hitler propagiert. Dabei war die nationalsozialistische Definition von Nation freilich stark von rassistischen und chauvinistischen Ansichten geprägt, wie etwa der von der Höherwertigkeit des Deutschen Volkes. Der Slogan „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ wurde zum Dogma der deutschen Nationalitätenpolitik: Möglichst alle Deutschen, die außerhalb der Staatsgrenzen als Minderheit lebten, sollten wieder in das Deutsche Reich eingegliedert werden; alle ethnischen Minderheiten innerhalb Deutschlands sollten aus dem Reich entfernt werden.

Bei der Verfolgung dieser Politik setzte das NS-Regime zunächst auf die Änderung von Staatsgrenzen. Im März 1938 wurde Österreich an das Deutsche Reich angeschlossen. Im Herbst desselben Jahres wurden als Konsequenz des Münchner Abkommens große Teile der Tschechoslowakei an Deutschland angegliedert; die dort lebenden Sudetendeutschen wurden zu Reichsbürgern.

Eine neue Qualität erreichte die deutsche Nationalitätenpolitik in der Frage der Behandlung der deutschsprachigen Minderheit in Südtirol. Diese war dort einem starken assimilatorischen Druck von Seiten Italiens unterworfen, was ein potentielles Hindernis in der Achsenfreundschaft zwischen Berlin und Rom darstellte.

Zur Beseitigung dieses Hindernisses wurde in Südtirol, zum ersten Mal nach Lausanne, wieder ein internationaler Vertrag über einen Bevölkerungstransfer geschlossen. Im Herbst 1939 begann die Umsiedlung der Südtiroler Minderheit in das Deutsche Reich.

Obwohl diese Umsiedlung keine dauerhaften bevölkerungspolitischen Folgen hatte, die meisten Südtiroler kehrten nach dem Krieg in ihre Heimat zurück, wurde doch der Bevölkerungstransfer als eine potentielle Lösung eines nationalen Minderheitenproblems wieder in Erinnerung gerufen. Als erste Umsiedlungsaktion in Mitteleuropa hatte sie eine Art Signalfunktion. Sie zeigte, dass auch hier solche Bevölkerungstransfers möglich waren.

Im Verlauf der NS-Herrschaft kam es zu immer weiteren Umsiedlungen deutscher Bevölkerungsgruppen aus osteuropäischen Nachbarstaaten unter der Devise “Heim ins Reich“. Dabei wurde nach Ausbruch des Krieges dieses Umsiedlungsmodells noch verschärft: Statt ins Reich, wurden die Umgesiedelten in die neu eroberten Ostgebiete geleitet. Um Platz für die Umsiedler zu schaffen, wurden die Bewohner dieser Gebiete massenweise und mit äußerster Brutalität vertrieben.

Es war also das NS-Regime, das die Ende der zwanziger Jahre beinahe obsolet gewordene Idee des Bevölkerungstransfers wieder aufgriff und zudem extrem brutalisierte. Dies blieb selbstverständlich nicht ohne Einfluss auf der internationalen Ebene: „Die Entmischungsidee hat in der kurzen Ära der NS-Herrschaft über weite Teile Europas einen qualitativen Sprung erfahren: Sie war jetzt gekennzeichnet durch bisher unbekannte Mischung aus Zynismus, „wissenschaftlichem“ Herumexperimentieren mit dem Hin- und Herschieben von Menschengruppen und grenzenlose Brutalität. So ist durch Hitler die Hemmschwelle dessen, was man mit Menschen und Menschengruppen meinte tun zu können, gegenüber den Verhältnissen der Zwischenkriegszeit ebenso gesenkt worden, wie das Grenzenverschieben wieder in Schwung gekommen ist.“[10]

II Die Sudetendeutsche Minderheit in der Tschechoslowakei

Nachdem im ersten Teil das Aufkommen des Nationalismus sowie verschiedene Modelle des Umgangs mit nationalen Minderheiten skizziert wurde, soll im Folgenden darauf eingegangen werden, wie sich das Verhältnis zwischen tschechischer Mehrheit und sudetendeutscher Minderheit in den Jahren 1918 bis 1938 entwickelte.

Die erste tschechoslowakische Republik entstand im Oktober 1918. Zu dieser Zeit lebten auf dem Territorium des neu entstandenen Staates ca. 3,2 Millionen Deutsche. Sie bildeten dort eine nationale Minderheit und standen einer in etwa doppelt so großen tschechischen Mehrheitsnation gegenüber.[11]

Mit dieser, von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs verordneten, Einbeziehung der sudetendeutschen Gebiete in einen tschechisch dominierten Staatsverband wollte sich die Mehrheit der Sudetendeutschen nicht abfinden. Die Gründe dafür waren sowohl wirtschaftlicher als auch sozialpolitischer Natur: Die Gründung des tschechischen Staates war auch mit einem weitreichenden infrastrukturellen Umbau verbunden. Die Wirtschaft des neu entstandenen Landes konzentrierte sich im tschechisch dominierten Teil; Wirtschaftswachstum blieb folglich auf diese Gebiete beschränkt. Dagegen stagnierte die sudetendeutsche Wirtschaft; der Lohnvorsprung der deutschen gegenüber den tschechischen Arbeitern schmolz und viele Arbeitsplätze gingen ganz verloren.

Hinzu kamen bewusste Benachteiligungen der Deutschen von Seiten der tschechischen Bürokratie (wie z.B. das Sprachgesetz) und teilweise sogar öffentliche Anfeindungen. Der neu entstandene Staat wurde als exklusives Eigentum der tschechischen Nation begriffen: „Die Deutschen in den böhmischen Ländern waren aus dieser Sicht keine potentiellen Partner, sondern wurden gleichsam der örtlichen Konkursmasse des Habsburgerreiches zugeordnet.“[12]

Andererseits wurde auch auf sudetendeutscher Seite der Status als nationale Minderheit von keiner politischen Kraft voll akzeptiert. Es wurde entweder die Anerkennung als gleichberechtigtes Staatsvolk neben den Tschechen und Slowaken gefordert, oder es wurden Ansprüche auf ein nationales Selbstbestimmungsrecht der Deutschen formuliert. Es ging den Sudetendeutschen also nicht um die Erlangung von Minderheitenrechten, sondern vorrangig um Selbstbestimmung. Diesem Separationswillen der Sudetendeutschen stand jedoch ein ebenso rigoroser Herrschaftsanspruch der provisorischen tschechischen Nationalversammlung auf die Sudetengebiete entgegen. Von den Deutschen wurde die Anerkennung des tschechoslowakischen Staates mitsamt seines betont tschechischen Charakters ohne Verhandlungen eingefordert. Unter diesen Voraussetzungen war ein deutsch-tschechischer Konflikt vorprogrammiert.

Auf deutscher Seite war das Ergebnis dieses Konfrontationskurses die Herausbildung und Festigung des sudetendeutschen Negativismus.[13] Hauptträger dieser Konzeption waren die „Nationaldemokratische Partei“ (DNP) und die „Deutsche Nationalsozialistische Partei“ (DNSAP), eine ältere Variante der NSDAP. Diese politische Richtung stellte die nationalstaatliche Konzeption der ČSR prinzipiell in Frage und beharrte strikt auf dem Prinzip der Nicht-Kooperation mit der tschechischen Seite, sie verstand sich als das „nationale Gewissen“ der Sudetendeutschen.

Dieses Konzept erwies sich jedoch unter den gegebenen Umständen bald als nicht alltagstauglich, pragmatische Kompromisse mit der neuen Staatsmacht waren unausweichlich. Mit zunehmender Lebensdauer der neuen, sich als stabil erweisenden Republik, kam es zu einer Umorientierung in der sudetendeutschen Politik: Fortan sollten die eigenen Interessen in kleinen Schritten durch aktive Mitarbeit im Staat erkämpft werden. Zum Durchbruch gelangte diese neue , aktivistische Politik[14] Mitte der zwanziger Jahre. Von 1926 bis zum Frühjahr 1938 waren aktivistische sudetendeutsche Parteien (etwa der Bund der Landwirte oder die sudetendeutschen Sozialdemokraten) stets in der tschechoslowakischen Regierung vertreten.

Dennoch blieb dieser Aktivismus immer eine Haltung mit schlechtem nationalem Gewissen. Die aktivistischen Parteien waren nicht in der Lage, bei den Sudetendeutschen einen umfassenden Umdenkungsprozess in Gang zu setzen. Vielmehr mussten sie stets in der Sorge leben, des nationalen Verrats bezichtigt zu werden. Denn die öffentliche Meinung in den Sudetengebieten wurde immer noch weitestgehend von den Parolen der Negativisten beherrscht.

[...]


[1] Havel, Václav: Beneš und das „Tschechische Dilemma“. Das Drama eines europäischen Politikers, In: Neue Züricher Zeitung, 19. April 2002.

[2] Vgl. Lemberg, Hans: Die Entwicklung der Pläne für die Aussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei, In: Brandes, Detlev/ Kural, Václav (Hrsg.): Der Weg in die Katastrophe. Deutsch- tschechoslowakische Beziehungen 1938-1947. Essen 1994, S. 78.

[3] „Nationalism [...] will be understood as both an ideology and a political movement which hold the nation and the sovereign nation-state to be crucial indwelling values, and which manages to mobilize the political will of a people or a large section of the population. Nationalism is hence taken to be a largely dynamic principle capable of engendering hopes, emotions and action; it is a vehicle for activating human beings and creating political solidarity amongst them for the purposes of achieving a common goal.” – Alter, Peter: Nationalism, London; New York; Sydney; Aukland 1994, S.4.

[4] Lemberg, Hans: „Ethnische Säuberung“: Ein Mittel zur Lösung von Nationalitätenproblemen? In: Aus Politik und Zeitgeschichte B46, 1992, S. 28.

[5] Zitiert nach: Ebd., S.29.

[6] Zitiert nach: Ebd., S.31.

[7] Etwa 400 000 Türken übersiedelten in die Türkei, ca. 1,3 Millionen Griechen nach Griechenland. In Grichisch-Mazedonien beispielsweise, stieg der Anteil der Griechen von 42,6 Prozent im Jahre 1912 auf 88,8 Prozent im Jahre 1926. – Vgl. Ebd., S. 32.

[8] Henke, Klaus-Dietmar: Der Weg nach Potsdam – Die Alliierten und die Vertreibung, In: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, Frankfurt/Main 1995, S. 49-69.

[9] Vgl. Lemberg 1992 (wie Anm. 2), S. 30.

[10] Lemberg 1992 (wie Anm. 3), S. 38.

[11] Vgl. Jaworski, Rudolf: Die Sudetendeutschen als Minderheit in der Tschechoslowakei 1918-1938, In: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, Frankfurt/Main 1995, S.29.

[12] Jaworski 1995 (wie Anm. 10), S. 30.

[13] Vgl. Ebd., S. 32.

[14] Vgl. Ebd., S. 34.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Zur Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Zeitgeschichte)
Veranstaltung
Hauptseminar Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten
Note
1,3
Autor
Jahr
2004
Seiten
28
Katalognummer
V40785
ISBN (eBook)
9783638392150
Dateigröße
586 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Vertreibung, Sudetendeutschen, Tschechoslowakei, Hauptseminar, Vertreibung, Deutschen, Osten
Arbeit zitieren
Sven Hacker (Autor:in), 2004, Zur Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40785

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