Das Reifenmodellen von L. Kohlberg folgt - in Abkehr von moralisch-kategorialen imperativischen Konzepten - primär rationalen, formalen Prinzipien des Moralerwerbs. Ist sein normativer Anspruch noch haltbar angesichts eines "atemlos in Fragmente zerfallenden Lebens" (Kierkegaard), eines Wertepluralismus im "Jenseits von Gut und Böse" (Sloterdijk)? Moraltheor. Antworten auf eine von Ethik entkoppelte Theorie der soz. Gerechtigkeit, die "vage, opportunistisch und revidierbar" (Habermas) bleibt ?
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Jürgen Habermas: Gibt es postmetaphysische Antworten auf die Frage nach dem „richtigen Leben“?
2.1 Der Rückzug der Philosophie aus der Theorie der Moral
2.2 Kierkegaards nachmetaphysischer Begriff des Selbstseinkönnens
3. Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft
3.1 Kritik des moralischen Scheins
3.2 Der Realismus von Wissen und Macht
4. Zurück zu Lawrence Kohlberg
5. Schlussbemerkung
6. Bibliographie
1. Einleitung
Anhand seines berühmten Heinz-Dilemmas[1] entwickelt, beschreibt und erklärt Kohlberg u.a. die Entwicklung der moralischen Urteilskompetenz des Individuums von einem einfachen, geringerwertigen moralischen Urteil hin zu einem komplexen, höherwertigen moralischen Urteil. Moralische Urteile gründen sich im wesentlichen auf kulturellen bzw. gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und intersubjektiven Beziehungen. Moralität misst sich in dieser Konzeption in der Erfüllung des jeweiligen moralischen Systems, das überwiegend rationalen und formalen Prinzipien folgt. „Moralische Urteile und Entscheidungen sind in allen Kulturen eine Mischung von Urteilen, die unter dem Gesichtspunkt der Konsequenzen für den individuellen menschlichen Nutzen oder aber unter dem der konkreten kategorischen Sozialregel gefällt werden“.[2] Im Falle des Heinz-Dilemmas etwa konfligieren Sozialregeln „Achtung des Eigentums“ und „Pflicht zu Hilfe und Beistand“ untereinander und erstere mit dem individuellen Nutzen des geretteten Lebens. Die moralischen Urteilsstufen i.S. Kohlbergs werden „durch ihre Form moralischen Urteilens, nicht durch dessen Inhalt definiert“.[3] So können bzgl. des Heinz-Dilemmas, zwei oppositionelle Urteilsbegründungen auf der „Moralstufe 5“ (Priorität der Wahrung menschlichen Lebens vs. Priorität des Gesetzes für den allgemeinen Schutz von Rechten) moralisch formal gleichwertig sein.
Kohlberg lässt gelten, dass stärker philosophisch orientierte Ansätze zusätzliche Ansprüche an Moralität erheben (z.B. die Qualifikationen „universell“ oder „objektiv richtig“), doch Maßstäbe einer moralischen Methode wie „Unparteilichkleit“ oder „Allgemeingültigkeit“ heben nach meiner Auffassung moralische Urteile nicht grundsätzlich aus ihrer Relativität und formalen Rationalität heraus. Ohnehin entspricht es nicht Kohlbergs Absicht, moralisch-kategoriale dogmatische Konzepte und Positionen für seine demokratische Werteerziehung heranzuziehen – sind diese doch ihrer Natur nach nicht vereinbar mit „dem Weg des Diskurses, der gemeinsamen, offenen und freien Diskussion über Entscheidungen und Lösungen“ und mit den der „Tragfähigkeit einer Entscheidung zugrundeliegenden Normen und Werte“[4].
Der Kohlberg’sche Moraldiskurs muss aber dort an seine Grenzen stoßen, wo nicht mehr der kognitive Gehalt der Moral i.S. Habermas im Vordergrund steht und seine rational-argumentative Verhandelbarkeit, sondern die präkonventionelle, religiöse, metaphysische, irrationale oder doktrinäre Auffassung über „gut“ und „böse“. An diesen „Sollbruchstellen“ der demokratischen Gesellschaft steht der Loyalität zum metaphysischen oder religiösen Prinzip die Loyalität zum rationalen Moraldiskurs, fußend auf demokratischen Gerechtigkeitsprinzipien, oft unvereinbar gegenüber. In so strittigen Fragen wie Sterbehilfe, Todesstrafe oder Schwangerschaftsabbruch scheinen gegnerische Positionen nicht vermittelbar.
Der Rückzug des Transzendentalen aus der modernen westlichen Wirklichkeit und ihr Wertepluralismus im Sinne eines nicht mehr starren Festhaltens an einem Idealtypus des gelungenen Lebens führen laut Habermas[5] zu einer Auflösung des Zusammenhangs, „der moralischen Urteilen erst die Motivation zum richtigen Handeln sichert“[6]. Theorien der Gerechtigkeit und Theorien der Moral gingen heute aus denselben Gründen „eigene Wege“. Sloterdijk sieht in dem modernen Werteneutralismus (dem Jenseits von Gut und Böse), dem Verlust unbezweifelter Verankerung, darüber hinaus die Gefahr der Instrumentalisierung der Moral durch die Wissenden, die Unnaiven:
„Denn sobald die metaphysische Unterscheidung von Gut und Böse hinfällig wird und alles, was ist, im metaphysischen Sinne neutral erscheint, dann beginnt erst wirklich das, was wir Modernität nennen: Es ist das Zeitalter, das keine transzendentale Moral mehr denken kann und das sich folglich in der Unmöglichkeit befindet, zwischen Mitteln und Zwecken sauber unterscheiden zu können. Von da an müssen alle Aussagen über Zwecke (und erst recht über letzte Zwecke) als Ideologien erscheinen, und was früher Ideale und Morallehren waren sind jetzt durchschaubare und benutzbare geistige Apparaturen “.[7]
Ich möchte im folgenden die Standpunkte von Habermas und Sloterdijk mit der kognitiven nicht-normativen Moralpädagogik Kohlbergs „konfrontieren“ um selbst Klarheit darüber zu gewinnen.
2. Jürgen Habermas: Gibt es postmetaphysische Antworten auf die Frage nach dem „richtigen Leben“?
2.1 Der Rückzug der Philosophie aus der Theorie der Moral
Die Philosophie, ehemals die Lehre vom richtigen Leben, ist zur traurigen Wissenschaft regrediert, weil sie bestenfalls „zerstreute, in aphoristischer Form festgehaltene Reflexionen aus dem beschädigten Leben“[8] erlaubt. Aus einen vermeintlich feststehenden Rahmen, dem Aufbau des Kosmos und der menschlichen Natur sowie der Heilsgeschichte der religiösen Gründer, ließen sich „normativ imprägnierte Tatsachen“ ableiten, die ihrerseits metaphysische und politische Gesellschaftsmodelle darboten. „Die Lehren vom guten Leben und der gerechten Gesellschaft, Ethik und Politik, waren noch aus einem Guss“. Mit der Beschleunigung des sozialen Wandels aber sind die Verfallszeiten dieser Modelle immer kürzer geworden, die Modelle selbst immer unverbindlicher. John Rawl’s politischer Liberalismus, die „gerechte Gesellschaft“, in der jeder nach eigenem Gutdünken ein ethisches Selbstverständnis entwickelt, in der Freiheit, „mit der Zeit seines Lebens“ selbstverantwortlich umzugehen, markiert nach Habermas den Endpunkt dieser Entwicklung der Abkehr des Lebens aus seiner moralischen Verankerung. „Gerade in den Fragen, die für uns die größte Relevanz haben, begibt sich die Philosophie (heute) auf eine Metaebene und untersucht nur mehr die Formeigenschaften von Selbstverständigungsprozessen, ohne zu den Inhalten selbst Stellung zu nehmen“[9]. Diese Einschätzung führt zurück auf den Moralbegriff Kohlbergs und auf die unbeantwortete Frage „warum wir überhaupt moralisch sein sollen“[10]. Eine von Ethik entkoppelte Theorie der Gerechtigkeit bleibt vage, opportunistisch und revidierbar. Sie muss auf ein „Entgegenkommen von Sozialisationsvorgängen und politischen Lebensformen hoffen “.[11] Die Behandlung psychischer Krankheiten, die eigentlich nur Symptome unserer Existenzweise, nämlich „unbewusst gemachtes Leid“ sind, überlässt die Philosophie der Psychoanalyse.
Im größeren politisch-gesellschaftlichen Rahmen sieht Habermas Gefahren für den säkularen Verfassungsstaat. In einem Gespräch mit Kardinal Ratzinger[12] verweist er auf die Frage, was eigentlich der ethische und moralische „Grundwortschatz“ der Menschheit sei, auf den man sich vor jeder Staatenbildung einigen könnte. Und sofort steht die Frage im Raum, ob dieser seine Bestandsvoraussetzungen aus eigener Ressource erneuern kann, sowie die Vermutung, dass er auf autochthone weltanschauliche oder religiöse, jedenfalls kollektiv verbindliche ethische Überlieferungen angewiesen ist, dass der freiheitliche, säkularisierte Staat von normativen Voraussetzungen zehrt, die er selbst nicht garantieren kann – so Habermas. Am Ende des Gesprächs ist zwar erhebliche Nähe zwischen Habermas und Ratzinger festzustellen, etwa darüber, dass Staaten nur auf als gerechtempfundenen Rechtssystemen basieren könnten. Unstreitig war auch, dass einer demokratischen Mehrheitsentscheidung allein nicht notwendigerweise ein ethisch-moralischer Gehalt innewohnt, es also eine vorpolitische moralische Prägung der Menschen braucht. Die Frage allerdings, woher sie zu beziehen wäre, führte zu unterschiedlichen Antworten: Während Habermas von einer im Menscheninneren schlummernden Sozialisierung ausgeht und erneut die Übersetzung des Religiösen in die säkulare Debatte forderte, betonte Ratzinger die Notwendigkeit eines interkulturellen Gesprächs unter Beteiligung aller großen Religionstraditionen, um dem gemeinsamen moralischen Gehalt zum Durchbruch zu verhelfen in der Gestaltung einer Welt, deren Humanum durch übertriebenen Szientismus in Gefahr sei.
[...]
[1] In diesem Dilemma sieht sich Heinz vor die Wahl gestellt, ein für seine Frau überlebenswichtiges Medikament zu stehlen, weil er es nicht bezahlen kann, oder aber den Tod der Frau zu riskieren. Das Medikament war teuer in der Herstellung, aber der Apotheker, der den Wirkstoff entdeckt hatte, verlangte das zehnfache seiner eigenen Kosten. Vgl. Montada, Entwicklungspsychologie, S.661.
[2] Vgl. Kohlberg 1995, S.20.
[3] Vgl. Kohlberg, 1995, S. 411.
[4] Vgl. Dobbelstein-Osthoff, S. 10.
[5] Vgl. Habermas, Die Zukunft…, S. 14, 15.
[6] Ähnlich liest sich Jonas, S. 159: „Es hilft auch nichts, von der Überlegenheit höherer über niedriger Zwecke als Bestimmungsgrund der Wahl zu sprechen, solange diese Unterscheidung nicht bereits ethisch definiert und so etwas wie eine Pflicht zum höheren Zweck ausgemacht ist“.
[7] Vgl. Sloterdijk, S. 356.
[8] Vgl. T.W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt: 1951, S.7, bei: Habermas, Die Zukunft…, S.7.
[9] Habermas, Die Zukunft ..., S. 15.
[10] Ebenda.
[11] ebenda, S. 16.
[12] Rheinischer Merkur, 22.01.04
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