Zentrale Ausgangsfrage dieser Arbeit ist, ob Offener Unterricht bzw. Formen des Offenen Unterrichts Unterrichtsqualität effektiv verbessern können. Zum einen wird dabei hinterfragt, ob veränderte Gesellschaft und die wachsende Heterogenität als Begründung für diese Unterrichtsform angesehen werden können und zum anderen wird die Wirksamkeit des Offenen Unterrichts auf schulische Leistung anhand von empirischen Studien (IGLU) untersucht.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Diskussion um den Offenen Unterricht
2.1 Was soll geöffnet werden?
2.2 Veränderte Gesellschaft als Begründung für Offenen Unterricht
2.3 Offener Unterricht in der aktuellen Bildungsdiskussion
2.4 Die Schwierigkeit einer einheitlichen Definition
2.5 Zusammenfassung
3 Formen des Offenen Unterrichts und ihre Wurzeln in der Reformpädagogik
3.1 Freiarbeit
3.2 Wochenplanarbeit
3.3 Projektarbeit
3.4 Zusammenfassung
4 Offener Unterricht als Gegenstand der neueren Unterrichtsforschung
4.1 Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick
4.2 Interessengeleitetes Lernen als Untersuchungsgegenstand
4.3 Klassenklima als Untersuchungsgegenstand
4.4 Zusammenfassung und erste Rückschlüsse
5 Offene Unterrichtsformen an deutschen Grundschulen - Befunde der IGLU-Studie
5.1 Zur Konzeption von IGLU und IGLU-E
5.2 Das Testdesign
5.3 Wichtige Ergebnisse der Studie
5.3.1 Internationaler Vergleich der Ergebnisse
5.3.2 Nationaler Vergleich der Ergebnisse
5.4 Personelle und materielle Ausstattung deutscher Grundschulen
5.4.1 Klassengröße und Lehrer-Schüler-Relation
5.4.2 Ausstattung mit Bibliotheken und Computern
5.5 Individualisierung im Leseunterricht der Grundschule
5.5.1 Organisation des Leseunterrichts
5.5.2 Differenzierung durch Material
5.5.3 Leseaktivitäten
5.5.4 Fördermaßnahmen
5.5.5 Rückschlüsse aus den Befunden für den Offenen Unterricht
5.6 Zum Rechtschreibunterricht in vierten Klassen
5.6.1 Orthographische Kompetenzen in der vierten Klasse
5.6.2 Einsatz von Medien
5.6.3 Einsatz bestimmter Methoden und Übungsformen
5.6.4 Differenzierung
5.6.5 Rückschlüsse aus den Befunden für den Offenen Unterricht
6 Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1 Einleitung
„Die Grundschule ist schon längst nicht mehr das System, das im Schatten der Schulformen der Sekundarstufe dahinschlummert, mit niedlichen Kindern, die von älteren Frauen harmonisch und gemütlich betreut werden, sondern steht öffentlich auf dem Prüfstand“ (Drews/Wallrabenstein, 2002).
Auch wenn die „Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung“ (IGLU) gezeigt hat, dass deutsche Viertklässler grundlegende Kompetenzen im Lesen erworben haben und somit einen internationalen Vergleich nicht scheuen müssen, ist deutlich geworden, dass das deutsche Grundschulsystem stark verbesserungsbedürftig ist. Sein Schwachpunkt liegt vor allem in der frühen Aufteilung der Kinder auf die verschiedenen Schulformen (Haupt-, Real-, Gesamtschule, Gymnasium), da diese Aufteilung häufig von der sozialen Herkunft der Kinder abhängig ist.
Eine solche soziale Ungleichheit darf nicht länger aufrechterhalten werden. Deshalb muss es neben der Grundlegung lebenslanger Lernkompetenzen Aufgabe und Ziel der Grundschule sein, die wachsende Heterogenität der Schülerschaft aufzugreifen und soziale Leistungsdisparitäten auszugleichen. Mit Hinblick auf dieses Ziel werden in der aktuellen Bildungsdiskussion Begriffe wie ‚ Integration ‘, ‚ Leistungsstandards ‘, ‚ Jahrgangsmischung ‘, ‚ Ganztagsbeschulung ‘ oder ‚ Kerncurriculum ‘ diskutiert, die den Nährboden für ein verwirrendes Netzwerk unterschiedlichster Ansprüche und Erwartungen liefern und die erahnen lassen, dass die Grundschule mit immer neuen Ansprüchen und mit einer wachsenden Aufgabenfülle zu rechnen hat. Wie aber kann sie dem gerecht werden? Untersucht man pädagogische Zielsetzung und praktische Erfahrung auf Gemeinsamkeiten, so findet sich die Schnittstelle Offener Unterricht , welche im Folgenden näher beleuchtet wird.
Zentrale Ausgangsfrage dieser Arbeit ist, ob Offener Unterricht bzw. Formen des Offenen Unterrichts Unterrichtsqualität effektiv verbessern können. Zum einen wird dabei hinterfragt, ob veränderte Gesellschaft und die wachsende Heterogenität als Begründung für diese Unterrichtsform angesehen werden können und zum anderen wird die Wirksamkeit des Offenen Unterrichts auf schulische Leistung anhand von empirischen Studien untersucht. Unter Einbeziehen der Ergebnisse der IGLU-Studie wird überprüft, ob und in welchem Ausmaß offene Unterrichtsformen an deutschen Grundschulen eingesetzt werden und ob sich daraus Folgen für die schulische Leistung der Kinder ableiten lassen.
2 Die Diskussion um den Offenen Unterricht
Schlagwörter wie Offener Unterricht , Öffnung von Schule und offene Curricula sind Begriffe einer seit Mitte der siebziger Jahre andauernden schulpolitischen und pädagogischen Diskussion, die sich besonders über die Grundschule ausbreitete. Im Mittelpunkt dieser Diskussion stand die Wiederentdeckung des Kindes bzw. die Subjektivität des Kindes und damit eine fast kompromisslose Kritik an geschlossenen Curricula und am lernzielorientierten Unterricht (vgl. Jürgens, 2000, S. 11).
Eine solche absolute Kritik trug dazu bei, dass Offener Unterricht oft mit lernzielfreiem Unterricht gleichgesetzt wurde. Doch kann ein Unterricht lernzielfrei sein? Allein diese Frage ist ein Widerspruch in sich, denn jede Art von Unterricht beinhaltet absichtsvolles Lehren und Lernen. „Ja, Unterricht ohne Ziele wäre kein Unterricht“ (Aschersleben, 1993, S. 52).
Offener Unterricht bedeutet also nicht, dass Unterricht nicht mehr geplant wird, es keine im Vorfeld festgelegten Lernziele gibt und das Kind ausschließlich das machen kann, was es möchte. Eine solche Auffassung von Offenheit würde zweifellos im Chaos enden. „Gerade der Prozeß der Öffnung benötigt [deshalb] klare Vereinbarungen über das Miteinander, sorgfältige Vorbereitungen von gemeinsamen Projekten und deutliche Strukturen im Lernfeld Freie Arbeit“ (Wallrabenstein, 2001, S. 13).
Die pädagogische Diskussion um Offenen Unterricht führt oftmals dazu, dass die Begriffe ‚ offen ‘ und ‚ geschlossen ‘ als zwei völlig gegensätzliche, einander ausschließende und fixierte Positionen betrachtet werden. „Diese Antithetik ist schon deshalb widersinnig, weil sie übersieht, daß ‘Offenheit’ und ‘Geschlossenheit’ Pole eines gemeinsamen Ganzen sind und es der jeweiligen didaktischen Entscheidung bedarf, wann ‘offenere’ und wann ‘geschlossenere’ Lernformen für die Bewältigung bestimmter Lerninhalte bzw. Unterrichtsthemen angemessen zu sein scheinen“ (Jürgens, 2000, S. 16).
Offenheit und Geschlossenheit schließen sich also nicht gegenseitig aus, sondern stehen in einer wechselseitigen Beziehung zueinander. Deshalb ist es notwendig, darüber nachzudenken, wo und wie sich Unterrichtsstrukturen sinnvoll öffnen lassen, welche Lernziele gelten sollen und in welchem Maße das Kind ein Mitbestimmungsrecht bei der Planung und Gestaltung von Unterricht haben soll.
Bisherige Intentionen und Grundgedanken zu dieser Thematik haben zwar vielfältig Einfluss auf die Veränderung und Gestaltung von Unterricht und Schule genommen, doch kann man noch nicht von einer festen Theorie des Offenen Unterrichts oder einer Theorie der offenen Curricula sprechen, da dies schul- und unterrichtstheoretisch bislang nicht begründbar ist (vgl. ebd., S. 18). Jürgens schlägt deshalb vor, „danach zu suchen, ob sich in den verschiedenen Ansätzen grundlegende Leitgedanken wiederholen, die so etwas wie eine Art ‘Eckpfeilerfunktion’ für die allmähliche Herausbildung einer ‘theoriegeleiteten’ Rahmenkonzeption ‘Offenen Unterrichts’ übernehmen könnten" (Jürgens, 2000, S. 19). Diesen Vorschlag werde ich im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch einmal kurz aufgreifen. Zunächst soll aber geklärt werden, was eigentlich genau geöffnet werden soll, wenn wir von Offenem Unterricht sprechen, und wie sich eine solche Öffnung begründen lässt.
2.1 Was soll geöffnet werden?
Die Grundschule hat eine Doppelaufgabe. Sie muss das Kind auf die Angebote und Anforderungen weiterführender Schulen vorbereiten und sie muss dem Kind bei der Erschließung der Lebenswirklichkeit und bei der Bewältigung seiner Lebensaufgaben helfen (vgl. Schorch, 1998, S. 140). Mit dieser Doppelaufgabe ist Grundschule Lernort und Lebenswelt zugleich. Deshalb fordern Befürworter der Bewegung des Offenen Unterrichts, dass sich Schule (mehr) öffnen soll für die Lebenswirklichkeit des Kindes und für eine motivierende und kindgerechte Lernumwelt. Wallrabenstein (2001) spricht hier von innerer Öffnung als einer Veränderung des Unterrichts und von äußerer Öffnung als einer Veränderung der Institution Schule zu ihrer Umwelt. Nach seiner Auffassung hat der Prozess der Öffnung drei verschiedene Dimensionen: Die inhaltliche Dimension verlangt die Öffnung für die Erfahrungswelt der Kinder, die methodische Dimension meint die Öffnung für eine Beteiligung an der Gestaltung und Planung des Unterrichts und die organisatorische Dimension verdeutlicht die Notwendigkeit einer Öffnung für einen deutlich strukturierten Tagesablauf mit vielfältigen Organisationsformen des Lernens innerhalb und außerhalb der Schule (vgl. Wallrabenstein, 2001, S. 35).
Öffnung muss also geplant werden und kann nicht willkürlich stattfinden. Es darf schließlich nicht vergessen werden, dass die Grundschule einen Bildungsauftrag zu erfüllen hat. Ihre Funktion ist es, grundlegende Bildung zu vermitteln. Diese umfasst die vier Grundlegungsaufgaben ‚ gemeinsame Bildung für alle ‘, ‚ Gemeinsamer Grundstock ‘‚ ‚ Beginn der Allgemeinbildung ‘ und ‚ Stärkung der Persönlichkeit ‘ (vgl. Einsiedler, 2001, S. 189ff.). Insbesondere die Persönlichkeitsstärkung und das Erlernen und Einüben von grundlegenden Haltungen, wie Verantwortung, Hilfsbereitschaft und Toleranz werden heute als Basisqualifikationen angesehen, „die – angesichts gesellschaftlicher Vielfalt und Normenunsicherheit – für Kulturaneignung und Teilnahme am öffentlichen Leben unentbehrlich sind, und von denen erwartet wird, daß sie Weiterlernen ermöglichen“ (Schorch, 1998, S. 143) Für das verstärkte Lernen dieser Basisqualifikationen scheinen offene Unterrichtsformen sehr geeignet zu sein, denn sie werden verstanden als eine angemessene Reaktion auf die veränderte Gesellschaft.
2.2 Veränderte Gesellschaft als Begründung für Offenen Unterricht
„Die Schule von gestern ist nicht mehr die Schule von heute. […] Kindheit hat sich aufgrund geänderter Rahmenbedingungen, geänderter Informationsvermittlungen, geänderter Umgangsformen, aufgrund einer gesteigerten Mobilität und eines geänderten Freizeitverhaltens gleichzeitig geändert“ (Millert, 2004).
Wallrabenstein (2001) beschreibt diese Veränderungen der Lebenswelt von Kindern in der heutigen Gesellschaft mit den Begriffen ‚ Überversorgung im Medienbereich ‘ und ‚ Unterversorgung im Sozialbereich ‘. Außerdem macht er die vielfältigen Freizeitangebote und die Privatisierung des Bildungsangebotes für ein verändertes Spielverhalten verantwortlich (vgl. Wallrabenstein, 2001, S. 45ff.). Hegele (1997) bemerkt ebenso, dass Kinder immer weniger Freiheits- und Handlungsräume haben. Hohe Verkehrsbelastungen und dichte Bebauungen drängen Kinder zunehmend in ihre Kinderzimmer zurück, sodass eigenständige Erfahrungen in der Umgebung kaum noch gemacht werden und Möglichkeiten zur Aktivität und Produktivität oftmals durch stundenlangen passiven Medienkonsum ersetzt werden (vgl. Hegele, 1997, S. 7).
Weitere Aspekte der veränderten Lebenswelt, wie Reduktion der Geburtenrate, Scheidungsfamilien, Auflösung von traditionellen Kernfamilien zu Eineltern-Familien und wachsende Müttererwerbstätigkeit, nennt Fölling-Albers (1996, S. 54f.). Diese Aspekte sind für eine zunehmende Vereinzelungsproblematik verantwortlich, die zu einer fortschreitenden asozialen Individualisierung führt, welche sich durch folgende Merkmale beschreiben lässt (vgl. Jürgens, 2000, S. 28): Kinder müssen sich immer weniger die Zuwendung ihrer Eltern mit Geschwistern teilen. Gleichzeitig wachsen sie aber auch viel einsamer auf und leiden oft unter dem Fehlen verlässlicher Sozialbindungen, was zu psychischen Störungen, wie autismusähnlichen Abkapselungen, Aggressionen und Vandalismus, führt. Die Familie fungiert immer weniger als Ort für Sozialerfahrungen. Das führt dazu, dass Kinder oftmals versuchen, ihre Rechte auch gegen die Interessen anderer und oftmals sogar ohne Rücksicht auf körperliche und seelische Unversehrtheit durchzusetzen.
Diese aufgeführten Aspekte veränderter Gesellschaft stellen die Grundschule vor ein großes Problem, da in ihr Kinder mit den unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen, Sozialerfahrungen und Lernvoraussetzungen aufeinander treffen. Lehrer und Lehrerinnen begegnen dieser Heterogenität oftmals mit großer Unsicherheit, da sie der Forderung nach gemeinsamer und gleicher Bildung für alle nicht mehr gerecht werden können. Es bedarf bestimmter Differenzierungs- und Förderungsmaßnahmen, die individuell auf die Kinder abgestimmt werden müssen. Es gilt „jedes einzelne Kind seinen Fähigkeiten, Interessen und Neigungen entsprechend angemessen zu fördern“ (Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen, 2003, S. 3). Hierzu bieten sich offene Unterrichtsformen an, da sie die Verschiedenartigkeit der Schülerinnen und Schüler aufgreifen und sinnvoll nutzen.
Auch wenn Heterogenität von einigen Gruppen, wie z.B. dem Arbeitskreis Grundschule, als Bereicherung und Lernchance angesehen wird, gibt es doch auch viele skeptische Stimmen, die auf die mangelnde Erreichung der Mindestziele im kognitiven Bereich hinweisen (vgl. Einsiedler, 2001, S. 190). Gerade in der aktuellen Bildungsdiskussion über die Einführung von Bildungsstandards ist dies zum Hauptthema geworden. Die Rolle des Offenen Unterrichts in dieser Diskussion soll nun näher beleuchtet werden.
2.3 Offener Unterricht in der aktuellen Bildungsdiskussion
Die Ergebnisse von PISA und IGLU haben es deutlich gemacht: Deutsche Schülerinnen und Schüler schneiden in der Grundschule besser ab als am Ende der Sekundarstufe І. Offenbar scheinen sich dort die Probleme zu verschärfen. Doch auch schon am Ende der Grundschule sind deutliche soziale Leistungsdisparitäten vorhanden. In keinem anderen Land werden Bildungschancen so stark durch soziale Herkunft bestimmt wie in Deutschland (vgl. Lange, 2003, S. 32). So hat ein Kind mit Migrationshintergrund eine viel geringere Chance auf eine Schullaufbahn mit Besuch am Gymnasium als ein Kind ohne Migrationshintergrund und das bei gleicher erbrachter Leistung.
Abbildung 2.1 zeigt in diesem Zusammenhang sehr deutlich, wie groß die Leistungsüberlappungen in den für die verschiedenen Schularten empfohlenen Schülergruppen sind.
Abbildung 2.1: Schullaufbahnempfehlungen von Lehrkräften für Deutschland differenziert nach Lesekompetenz in Prozent – Gesamtskala Lesen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Es ist zu erkennen, dass es Schülerinnen und Schüler mit einer Gymnasialempfehlung gibt, deren Leseleistung der von hauptschulempfohlenen Kindern entspricht und umgekehrt. Die Leistung im Lesen scheint also keinen großen Einfluss auf die Schullaufbahnempfehlung zu haben. Ein ähnliches Bild ergibt sich für die mathematischen Kompetenzen (siehe Abbildung 2.2).
Abbildung 2.2: Schullaufbahnempfehlungen von Lehrkräften für Deutschland differenziert nach mathematischer Kompetenz in Prozent – Gesamtskala Mathematik
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Sowohl für das Lesen als auch für das Rechnen kann somit festgestellt werden, dass es große Bereiche gibt, „in denen sich die Leistungskurven überlappen und für die das Leistungsniveau offensichtlich nicht das alleinige Kriterium für die Zuteilung zu einer bestimmten Schulart ist“ (Bos u. a., 2004, S. 196). Vielmehr scheinen hier Sozialschicht und Migrationshintergrund eine Rolle zu spielen. Zu Recht kann deshalb behauptet werden, dass die Gliederung des deutschen Schulsystems und die pädagogische Praxis eher eine aussondernde und nicht eine fördernde Pädagogik hervorbringen (vgl. ebd., S. 34).
Dieser Tatsache begegnet die Kultusministerkonferenz (KMK) mit der Ankündigung von Standards. Sie hat die Erarbeitung von „Bildungsstandards zur Sicherung von Qualität und Innovation im föderalen Wettbewerb“ (KMK, 2002) beschlossen. „In diesen Standards sollen Kerninhalte, die als gesichertes Wissen zusammen mit Fertigkeiten und überfachlichen Kompetenzen am Ende eines Bildungsabschnitts vorhanden sein müssen, festgelegt werden“ (ebd.).
Die Ankündigung und das Einführen dieser Standards haben in der aktuellen Bildungsdiskussion viele kontroverse Meinungen hervorgebracht. Es wird befürchtet, dass Standards zu einer outputgesteuerten Kontrollpraxis führen, in der nur noch Ergebnisse zählen und nicht die Qualität des Unterrichtsprozesses. Eine solche Entkoppelung der Ergebnisqualität von der Prozessqualität darf jedoch nicht stattfinden. Lernen ist nicht nur ein Ergebnis, sondern ein Vorgang, der von vielen Faktoren beeinflusst werden kann. Deshalb dürfen Standards nicht nur Ergebniskontrollmechanismen sein. Sie müssen vielmehr als Orientierungshilfe dienen und Erfolge garantieren. Gute Lernergebnisse können wiederum nur möglich gemacht werden, wenn adäquate Arbeits- und Lernbedingungen vorliegen.
So wird beispielsweise von einigen Autoren deutlich gemacht, dass Standards alleine nicht zur Verbesserung der Qualität von Schule, Unterricht und Lehrerbildung führen. Vielmehr müssen die Bedingungen für die Erreichbarkeit dieser Standards gesichert werden (vgl. Garlichs, 2004, S. 4).
Im „Bildungsbericht für Deutschland: Erste Befunde“ werden hierzu folgende Bedingungen genannt:
„– eine frühe Sprachförderung, insbesondere für Migrantenkinder bzw. Kinder mit Deutsch als Zweitsprache, in der Regel verbunden mit Sprachstandsfeststellungen für alle Kinder;
– die bessere Verzahnung von Kindertagesstätten, Vorschulerziehung und Grundschule sowie die Einführung einer verlässlichen Halbtagsgrundschule und von Ganztagsschulangeboten;
– die Ergebnissicherung mittels fortlaufender Lernstandsermittlung, der Entwicklung und Anwendung von Instrumenten der Leistungsdiagnose sowie die Durchführung schulübergreifender Vergleichsarbeiten;
– die Erstellung von Schulprogrammen;
– die Neufassung bzw. Weiterentwicklung von Rahmenplänen sowie die Erarbeitung von Standards in den Kernfächern;
– die Weiterentwicklung der methodischen und diagnostischen Kompetenz der Lehrkräfte insbesondere durch Lehrerfortbildung“ ( Avenarius u. a., 2003)
Mit Hinblick auf den Offenen Unterricht lassen sich diese Bedingungen auch folgenderweise interpretieren: Die Grundschule muss sich für wirklich alle Kinder öffnen (innere Öffnung) und speziell Migrationskinder und Kinder mit Deutsch als Zweitsprache individuell fördern. Des Weiteren muss sich die Grundschule durch äußere Öffnung anderen Institutionen zuwenden und verstärkt mit diesen zusammenarbeiten. Auch eine Öffnung der Halbtagsgrundschule zur Ganztagsschule ist sinnvoll, um Chancengleichheit abzubauen. Auf der methodischen und organisatorischen Ebene könnte eine Öffnung dazu beitragen, dass den Schulen mehr Eigenständigkeit zugesprochen wird, damit sie sich stärker und individueller an der Erarbeitung von Standards und Rahmenkonzeptionen beteiligen und eigene Schulprogramme entwickeln können. Letztendlich muss sich aber auch der Lehrer selbst der enormen Heterogenität seiner Schülerschaft öffnen und gewillt sein, seine Kompetenzen durch Fortbildungsmaßnahmen zu verbessern.
2.4 Die Schwierigkeit einer einheitlichen Definition
„Offenen Unterricht definieren zu wollen, ist ein Widerspruch in sich selbst“ (Kasper, 1995, S. 5). Dieser ist nämlich, wie die vorangegangen Kapitel deutlich gemacht haben, viel zu komplex, um ihn auf eine einheitliche Definition zu reduzieren. Deshalb möchte ich an dieser Stelle Jürgens Vorschlag (siehe Kapitel 2, S. 4), verschiedene Definitionen auf gleiche Merkmale hin zu untersuchen, noch einmal aufgreifen. Er nennt aufgrund von mehreren untersuchten und ausgewerteten Zitaten die folgenden Kriterien, die Offenen Unterricht beschreiben und anhand derer es möglich wird, zu untersuchen, ob Unterricht eher geschlossen oder eher geöffnet stattfindet:
„1. Schülerverhalten:
- Eigenständigkeit hinsichtlich Entscheidungen über Arbeitsformen und Arbeitsmöglichkeiten, soziale Beziehungen, Kooperationsfomen o. ä.,
- Selbst- bzw. Mitbestimmung bei der Auswahl von Unterrichtsinhalten, der Unterrichtsdurchführung und des Unterrichtsverlaufs,
- Selbständigkeit in Planung, Auswahl und Durchführung von Aktivitäten.
2. Lehrerverhalten:
- Zulassung von Handlungsspielräumen und Förderung von (spontanen) Schüleraktivitäten,
- Preisgabe bzw. Relativierung des Planungsmonopols,
- Orientierung an den Interessen, Ansprüchen, Wünschen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler.
3. Methodisches Grundprinzip:
- Entdeckendes, problemlösendes und handlungsorientiertes sowie selbstverantwortliches Lernen.
4. Lern-/Unterrichtsformen:
- Freie Arbeit
- Arbeit nach einem Wochenplan
- Projektunterricht“ (Jürgens, 2000, S. 45f.).
Diese genannten Merkmale sind also ein Indiz für die in unterschiedlicher Ausprägung mögliche Öffnung von Unterricht. Für eine theoriegeleitete Rahmenkonzeption, wie sie Jürgens fordert, reichen sie jedoch noch nicht aus, da zu wenig über die Zusammenhänge der einzelnen Kriterien bekannt ist. „Um es klar zu sagen: Präskriptive Aussagen, wie beispielsweise ‘die Schülerinnen und Schüler sollen selbständig über Zeitbedarf bzw. -abläufe ihrer Arbeit entscheiden’, oder ‘sie sollen zur Selbstkontrolle ihrer Lernprozesse und -produkte befähigt werden’, müssen rational begründet werden können, […]“ (ebd., S. 48). Es muss also untersucht werden, warum Aspekte offener Unterrichtsarbeit für die Persönlichkeitsentwicklung wichtig sind und ob empirische Untersuchungen die Wirksamkeit dieser mehrdimensionalen Unterrichtsform belegen können. Die Deutung der Ergebnisse von IGLU und IGLU-E wird in diesem Kontext noch Aufschluss über den Zusammenhang von schulischer Leistung und angewandten offenen Unterrichtsformen geben (siehe dazu Kapitel 5).
2.5 Zusammenfassung
Die Diskussion um Offenen Unterricht hat sich teilweise versteift auf die beiden Wörter ‚ offen ‘ und ‚ geschlossen ‘, die als zwei völlig gegensätzliche und einander ausgrenzende Begriffe verstanden werden. Offenheit wird somit zur absoluten Kritik an Geschlossenheit und damit am lernzielorientierten Unterricht. Dies darf nicht dazu führen, dass Offener Unterricht mit lernzielfreiem Unterricht gleichgesetzt wird, denn das ist er auf keinen Fall. Der Grad der Offenheit und der Einsatz verschiedener Arbeits- und Sozialformen im Unterricht und die damit beabsichtigten Ziele müssen klar bestimmt, strukturiert und geplant werden. Dies ist besonders mit Hinblick auf die aktuelle Bildungsdiskussion von großer Bedeutung.
Da es jedoch noch kein allgemein gültiges und unterrichtstheoretisch begründetes Unterrichtskonzept für den Offenen Unterricht gibt, stellt die Forderung nach innerer und äußerer Öffnung von Schule und Unterricht keine leichte Aufgabe für Lehrer und Lehrerinnen dar. Sie sind es nämlich, die täglich Gegengewichte zu der, aufgrund von veränderter Kindheit und Gesellschaft, gewachsenen Heterogenität in den Klassen finden und sich dem Problem ‚ Wissensvermittlung versus Sozialerziehung ‘ stellen müssen.
Ob sich hierfür offene Unterrichtsformen, wie sie im Folgenden erläutert werden, bewähren können, muss noch untersucht werden. Fest steht: „Den Offenen Unterricht gibt es nicht“ (Jürgens, 2000, S. 24).
3 Formen des Offenen Unterrichts und ihre Wurzeln in der Reformpädagogik
Die Forderung nach Offenem Unterricht ist „beeinflusst durch das reformpädagogische Gedankengut, insbesondere von Montessori, Parkhurst, Freinet, Dewey, Kilpatrick, B. Otto, Reichwein, Petersen, Gaudig u.a.“ (Hanke, 2001, S. 376f.). Der Begriff an sich geht auf den englischen Terminus ‚ open education ‘ zurück, der sich wiederum an Konzeptionen der englischen Primarstufenreform, wie z.B. den ‚ Plowden-Report ‘, anlehnt (vgl. ebd., S. 41).
Zu den wichtigsten Formen der offenen Unterrichtsarbeit „gehören […] die Arbeit nach einem Wochenplan, die Freie Arbeit sowie Formen der Projektarbeit“ (Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes Nordrhein-Westfalen, 2003, S.17).
3.1 Freiarbeit
Die Freiarbeit hat eine lange Tradition. Schon Maria Montessori (1870 - 1952) stellte die Bedürfnisse und Interessen des einzelnen Kindes ins Zentrum des Unterrichtes. Grundlegendes Prinzip der Freiarbeit nach ihr ist die ‚ freie Wahl ‘ der Arbeit: Das Kind kann frei wählen, was es machen möchte, mit wem es arbeiten möchte und wie lange es arbeiten möchte (vgl. Elsner, 1995, S. 82).
Im Gegensatz hierzu ist die Zeit für Freiarbeit heute meistens genau festgelegt und umfasst zu Beginn ein bis zwei Stunden pro Woche und im fortgeschrittenen Stadium ein bis zwei Stunden täglich (vgl. Kasper, 1996, S. 194; Wallrabenstein, 1994, S. 95). Nach wie vor ist aber die Wahlfreiheit das Hauptkennzeichnen von Freiarbeit. Kasper unterteilt diese in drei Varianten (vgl. Kasper, 1996, S. 194f.): Die offene Lernumgebung schließt den gesamten Klassenraum mit all seinen Ressourcen und Lernecken sowie die Lernumgebung der Schule mit ein. An der Lerntheke können Kinder zwischen verschiedenen Arbeitsmaterialien wählen und diese an ihren Gruppentischen bearbeiten. Lernstationen ermöglichen, dass die Kinder ihren Arbeitsplatz von Station zu Station wechseln können. Während die erste Variante die weiteste Öffnung bietet, ist es bei den beiden zuletzt genannten Versionen besonders wichtig, eine geplante Vorauswahl an Materialien und Handlungsmöglichkeiten zu treffen. Gemeinsam ist allen Varianten, dass im Vorfeld abgesprochene und einsichtig gemachte Regeln eingehalten werden müssen. Eine besondere Chance bietet die Freiarbeit letztendlich auch dadurch, dass die Lehrperson von der direkten Lehrfunktion entlastet ist und somit viel besser einzelne Kinder oder Gruppen fördern und eine prozessbezogene Beobachtung vornehmen kann.
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- Quote paper
- Birte Glass (Author), 2005, Formen des Offenen Unterrichts in der Grundschule unter Einbeziehung der Befunde der IGLU-Studie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40415
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