Die Novelle „Romeo und Julia auf dem Dorfe" von Gottfried Keller (1819-1890) 1
ist 1856 innerhalb der Sammlung „Die Leute von Seldwyla" erschienen.2
Zunächst wollte Keller den Stoff dieser Novelle als Gedicht verarbeiten,
entschloss sich jedoch später dazu, ihn in Prosaform zu fassen.3
Obwohl er sich mit seiner Erzählung an Shakespeares Drama anlehnt, geht er auf
ein tatsächliches Ereignis zurück, dass er aus der "Züricher Freitagszeitung" vom
3. 9. 1847 entnahm.
Sachsen. - Im Dorfe Altsellerhausen, bei Leipzig, liebten sich ein Jüngling von 19 Jahren
und ein Mädchen von 17 Jahren, beide Kinder armer Leute, die aber in einer tödlichen
Feindschaft lebten, und nicht in eine Vereinigung des Paares willigen wollten. Am 15.
August begaben sich die Verliebten in eine Wirtschaft, wo sich arme Leute vergnügten,
tanzten daselbst bis nachts 1 Uhr und entfernten sich hierauf. Am Morgen fand man die
Leichen beider Liebenden auf dem Felde liegen; sie hatten sich durch den Kopf
geschossen.4
Trotz dieses Zeitungsartikels begründet Keller, in seinem Vorwort, warum er
diesen Stoff verwendet hat, obwohl dieser schon oftmals in der Literatur
verarbeitet wurde.
Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf
einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener
Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist
mäßig; aber stets treten sie in neuem Gewande wieder in Erscheinung und zwingen alsdann
die Hand, sie festzuhalten. (Seite 3)5
Mit dem "neuen Gewande" meint er die bäuerlichkleinbürgerliche Lebensform in
seiner Zeit des 19. Jahrhunderts, deren Werte und Normen, und nicht der bloße
Irrtum wie in Shakespeares „Romeo und Julia", zum Tode der beiden
Hauptfiguren führen.
Ob Keller seinem eigenen Anspruch gerecht wird, soll in der vorliegenden
Hausarbeit dargestellt werden.
[...]
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Das Anthropologische der Novelle
3 Kellers Gesellschaftskritik
4 Die Manipulation des Lesers
5 Die Etappen der Dekadenz
6 Illusion und Desillusion
7 Zusammenfassung
8 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Die Novelle „Romeo und Julia auf dem Dorfe" von Gottfried Keller (1819-1890)[1] ist 1856 innerhalb der Sammlung „Die Leute von Seldwyla" erschienen.[2] Zunächst wollte Keller den Stoff dieser Novelle als Gedicht verarbeiten, entschloss sich jedoch später dazu, ihn in Prosaform zu fassen.[3]
Obwohl er sich mit seiner Erzählung an Shakespeares Drama anlehnt, geht er auf ein tatsächliches Ereignis zurück, dass er aus der "Züricher Freitagszeitung" vom 3. 9. 1847 entnahm.
Sachsen. - Im Dorfe Altsellerhausen, bei Leipzig, liebten sich ein Jüngling von 19 Jahren und ein Mädchen von 17 Jahren, beide Kinder armer Leute, die aber in einer tödlichen Feindschaft lebten, und nicht in eine Vereinigung des Paares willigen wollten. Am 15. August begaben sich die Verliebten in eine Wirtschaft, wo sich arme Leute vergnügten, tanzten daselbst bis nachts 1 Uhr und entfernten sich hierauf. Am Morgen fand man die Leichen beider Liebenden auf dem Felde liegen; sie hatten sich durch den Kopf geschossen.[4]
Trotz dieses Zeitungsartikels begründet Keller, in seinem Vorwort, warum er diesen Stoff verwendet hat, obwohl dieser schon oftmals in der Literatur verarbeitet wurde.
Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im Menschenleben jede jener Fabeln wurzelt, auf welche die großen alten Werke gebaut sind. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig; aber stets treten sie in neuem Gewande wieder in Erscheinung und zwingen alsdann die Hand, sie festzuhalten. (Seite 3)[5]
Mit dem "neuen Gewande" meint er die bäuerlichkleinbürgerliche Lebensform in seiner Zeit des 19. Jahrhunderts, deren Werte und Normen, und nicht der bloße Irrtum wie in Shakespeares „Romeo und Julia", zum Tode der beiden Hauptfiguren führen.
Ob Keller seinem eigenen Anspruch gerecht wird, soll in der vorliegenden Hausarbeit dargestellt werden.
2 Das Anthropologische der Novelle
Schon in den Einleitungsworten unterstreicht Keller die Intension seiner Erzählung. Er nennt seine Geschichte eine Fabel[6], die „tief im Menschenleben" wurzeln würde und immer wieder „in neuem Gewande" auftrete (Seite 3). Das beschriebene Geschehen ist somit nicht auf einen bestimmten Personenkreis oder eine bestimmte Zeit begrenzt, sondern kann immer wieder und jedem Menschen geschehen. Schon allein die Titelwahl weist auf diesen Umstand hin, da Keller sein Werk zwar in Anlehnung an William Shakespeare „Romeo und Julia auf dem Dorfe" nennt, jedoch diese Namen während der gesamten Handlung nicht erwähnt. Sicherlich setzt man die beiden Hauptfiguren Sali und Vreni automatisch, auf Grund des Vorwissens, mit dem berühmten Liebespaar Romeo und Julia gleich, aber im Text wird dies nicht explizit hervorgehoben. Keller verfolgt mit diesem Namensspiel, dass eben alle Menschen, ob sie nun Sali und Vreni oder Kurt und Elisabeth heißen, zu Romeos und Julias werden können und somit auch deren Schicksal das Schicksal eines jeden Menschen werden kann.
Auch in der Exposition verfolgt Keller dieses Motiv weiter. Die beiden Bauern werden nicht als Individuen, sondern als Typen einer Gesellschaft dargestellt. Nicht nur im Namen ähneln sich Manz und Marti, sondern auch ihr Aussehen und ihr Tun lässt sie wie Zwillinge erscheinen. Die Kleidung der beiden besteht aus denselben „kurze[n] Kniehosen von starkem Zwillich" (Seite 3) und tragen „weiße[ ] Kappe[n]" (Seite 4). Auch ihr Handeln ist gleich, da sie beide zur gleichen Zeit eine Furche in den fremden Acker. Da sie beide „die ursprüngliche Art dieser Gegend dar[stellen]" (Seite 4) werden sie und ihr Handeln sogar mit allen Bauern dieser Lebensform verglichen. Dieses Motiv verfolgt Keller weiter, indem er ihre Tat als typisch und stellvertretend für die Mehrzahl der Gesellschaft darstellt, denn sie haben „nichts weiter getan [...], als was zwei Drittel der übrigen unter diesen Umständen auch getan haben würden" (Seite 12). Manz und Marti stehen mit ihrem Tun und Handeln somit für die gesamte Gesellschaft. Ihr Verhalten deckt etwas ab, was alle Menschen betrifft, da sich die Reichen und Mächtigen immer wieder an den Armen und Hilflosen bereichern werden.
Letztendlich kann man auch den Schwarzen Geiger als austauschbar ansehen, da er nicht mal einen richtigen Namen besitzt und aus diesem Grund mit jeder Person in einer ähnlichen Lage gleichzusetzen ist. Mit seinem Heimatrecht hat der schwarze Geiger anscheinend auch seinen Namen verloren und wird nur noch nach seiner äußeren Erscheinung benannt, denn er trägt, wie es der Name „schwarzer Geiger“ andeutet, „ein[ ] schwarze[s] Filzhütchen und eine[n] schwarzen rußigen Kittel“ und trägt meist „eine Geige mit dem Bogen unter dem Arm“ (Seite 36) mit dem er den Heimatlosen „in den Dörfern zum Tanz aufspielt“ (Seite 6).
Auch die zahlreichen Randfiguren typisieren die allgemeine Menschlichkeit. Da dies ihre einzige Funktion ist, werden sie nicht psychologisierend bzw. ausführlich dargestellt. Um dies zu unterstreichen, verwendet Keller drei Arten um seine Randfiguren in die Handlung einzubinden. Einige der Personen wie zum Beispiel die Bäuerin, die Wirtsleute, die Heimatlosen oder die Knechte werden nur einen kurzen Augenblick erwähnt und verschwinden kurz darauf wieder, andere wie zum Beispiel Manzens Frau werden für kurze Zeit in den Vordergrund gerückt und charakterisiert, während Martis Frau nur beiläufig erwähnt wird und nicht persönlich in der Handlung auftritt. Es handelt sich bei den Randfiguren ebenfalls nicht um Individuen.
Alle Personen der Handlung sind somit nicht einzigartig und jeder Mensch kann ihre Rolle in Kellers Stück einnehmen. Es ist möglich, dass der Verlauf der Handlung dadurch variiert, aber es wird immer Personen geben, die zu Schuldigen oder Opfer werden und die Konsequenzen ihres Handelns tragen müssen.
3 Kellers Gesellschaftskritik
Obwohl „Romeo und Julia auf dem Dorfe" zu den Erzählungen der „Leute von Seldwyla", spielt sich die Handlung vorrangig in einem nahe gelegenen Ort statt. Trotzdem spielen die Bewohner von Seldwyla und deren Institutionen eine große Rolle. Wie zu Beginn der Novelle führt Keller auch in seinem Vorwort zu den „Leuten von Seldwyla" seinen Leser zunächst auf die falsche Bahn. So schreibt er:
Seldwyla bedeutet nach der älteren Sprache einen sonnigen und wonnigen Ort [...] mitten in grünen Bergen, die nach der Mittagsseite zu offen sind, sodass die Sonne wohl herein kann, aber kein rauhes Lüftchen.[7]
Die Stadt Seldwyla, welche Keller frei erfunden hat[8], entspricht allen Anschein nach einer wahren Idylle. Doch schon bald ändert sich dieser Eindruck ins Gegenteil, indem Keller weiterbeschreibt:
Der Kern und der Glanz des Volkes besteht aus den jungen Leuten von etwa zwanzig bis fünf-, sechsunddreißig Jahren, und diese sind es, welche den Ton angeben, die Stange halten und die Herrlichkeit von Seldwyla darstellen. Denn während dieses Alters üben sie das Geschäft, das Handwerk, den Vorteil oder was sie sonst gelernt haben, das heißt, sie lassen, solange es geht, fremde Leute für sich arbeiten und benutzen ihre Profession zur Betreibung eines trefflichen Schuldenverkehrs, der eben die Grundlage der Macht, Herrlichkeit und Gemütlichkeit der Herren von Seldwyla bildet [...]. Heute wollen sie das Veto haben und sogar die unmittelbarste Selbstregierung mit permanenter Volksversammlung, wozu freilich die Seldwyler am meisten Zeit hätten, morgen stellen sie sich übermüdet und blasiert in öffentlichen Dingen und lassen ein halbes Duzend alte Stillständer, die vor dreißig Jahren falliert und sich seither stillschweigend rehabilitiert haben, die Wahlen besorgen; alsdann sehen sie behaglich hinter den Wirtshausfenstern hervor die Stillständer in die Kirche schleichen und lachen sich in die Faust [...][9]
Vor allem diese Tagesprofitler, Konkursaktionäre, Schadenfreudige und Abseitsstehende, welche die Geschicke aus dem Hintergrund lenken, kritisiert Keller auch in seiner Novelle „Romeo und Julia auf dem Dorfe“. Da die Hauptpersonen die Allgemeinheit darstellen[10], wird auch die Seldwyler Gesellschaft als die typische Gesellschaft dargestellt und kritisiert. Dies geschieht überwiegend in kleinen Episoden, die die Misskritik Kellers auch zwischen den Zeilen zum Ausdruck kommen lassen.
Schon von Anfang an verweist der Erzähler auf verschiedene Stellen, die das unsoziale Verhalten der Gemeindemitglieder, gegenüber dem schwarzen Geiger und somit beispielhaft gegen die anderen Heimatlosen, hin. Vor allem die Tat der beiden Bauern wird als typisch und steht somit stellvertretend für die Mehrzahl der Gesellschaft dargestellt. Obwohl Manz und Marti „nichts weiter getan hatten, als was zwei Drittel der übrigen unter diesen Umständen auch getan haben würden" (Seite 12) werden sie von diesen zu Sündenböcken erklärt. Sie machen die beiden Bauern „zu de[n] Schlechtigkeitsmesser ihrer Eigenschaften" und sehen sie „als Ableiter des Übels" (Seite 12). Diese Textstelle macht deutlich, dass jeder Mensch in Seldwyla zu dieser Sünde bereit gewesen wäre, wenn es nur um seinen eigenen Vorteil gegangen wäre. Da dies aber nicht der Fall gewesen ist, werden Manz und Marti, stellvertretend für die Gedanken aller, bestraft, um die Unfehlbarkeit der Allgemeinheit wieder herzustellen.
[...]
[1] Vgl. Ruppel, Seite 12.
[2] Vgl. Kindlers Literaturlexikon © CD-ROM.
[3] Vgl. Sautermeister, Seite 72.
[4] Vgl. Sauermeister, Seite 67.
[5] Im Folgenden beziehe ich mich bei den Seitenangaben auf die Reclamausgabe, 2000.
[6] Mit dem Begriff der Fabel ist an dieser Stelle nicht die literarische Gattung der Tiergeschichten gemeint, sondern eine Sammlung von Geschichten mit gleichem Handlungsverlauf. (Vgl. Sauermeister, Seite 5.)
[7] Vgl. Ruppel, Seite 23.
[8] Vg.. Sautermeister, Seite 5.
[9] Ruppel, Seite 23-24.
[10] Siehe vorhergehendes Kapitel.
- Quote paper
- Doreen Oelmann (Author), 2003, Gottfried Keller "Romeo und Julia auf dem Dorfe" - Analyse und Interpretation, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/40103
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