Dem unbekannten Propheten der in der exegetischen Literatur – etwas behelfsmäßig – als Deuterojesaja bezeichnet wird, verdanken wir einige der größten und berührendsten Texte des Alten Testaments. Hier finden wir Worte, in denen das Alte Testament bereits über sich selbst hinausweist. "Tröstet, tröstet mein Volk!" lautet die Zusage an Israel (Jes 40,1). An die im babylonischen Exil Gebeugten ergeht der Zuspruch "Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich habe deinem Namen gerufen, du bist mein!"(Jes 43,1b). Dies ist neu in der Prophetie des Alten Testaments: "So hat Jahwe noch durch keines Propheten Mund gesprochen. Noch nie hat er sich in seinen Worten so tief zu seinem Volk herabgeneigt, hat sich so alles Schrecklichen entäußert, um keinen der Verzagten zu verscheuchen." Gleichzeitig gehören viele dieser Texte auch zu jenen, deren Verständnis sich nur mühevoll, nach und nach und oft auch nur bruchstückhaft erschließt: "Wer sich auf die Auslegung von Jes 53 einläßt, sollte zwei Dinge wissen. Erstens wird das historische wie das theologische Verständnis des großen Textes bis zum Jüngsten Tag umstritten bleiben. Zweitens wird man eine gänzlich neue historische Erklärung des Textes (wie der Gottesknechtslieder überhaupt) nur noch beibringen, wenn man sich auf das reich bestellte Feld der Absonderlichkeiten begeben will." Mit diesen nicht gerade ermutigenden Sätzen umreißt H. – J. HERMISSON die Situation all derer, die sich an die Exegese des vierten Gottesknechtsliedes heranwagen. In der Tat sind die offenen Fragen zu Jes 53 ebenso vielfältig wie die im Rahmen dieses Textes auftauchenden Themenkomplexe. Sind die Lieder vom Gottesknecht, insbesondere das vierte, als Teil der Botschaft Deuterojesajas anzusehen oder entstammen sie ganz anderen, eigenen Zusammenhängen? Handelt es sich bei der in den Liedern auftretenden Person des Gottesknechts um ein Individuum oder ist hier eine kollektive Deutung intendiert? Wie versteht Jes 53 so entscheidende Glaubensinhalte wie Opfer, Sühne, Stellvertretung und Repräsentation? Welche Bedeutung haben Krankheit, Tod, Schuld und Schuldlosigkeit im vierten Gottesknechtslied? Diesen Fragen nachzugehen, ist die Aufgabe, die an eine Exegese von Jes 52,13 – 53,12 zu stellen ist. Es ist einsichtig, dass dabei keine Vollständigkeit zu erreichen ist. Trotzdem gilt es, die wesentlichen Gedanken des Textes zunächst einmal vor dem alttestamentlich-jüdischen Hintergrund zu erfassen.
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- 1. Zur Einführung: Ein umstrittener Text
- 1.1 Der Kontext: Deuterojesaja und die Ebed-JHWH-Lieder
- 1.1.1 Die Botschaft des Propheten Deuterojesaja
- 1.1.2 Die vier Gottesknechtslieder und die Gestalt des Ebed JHWH
- 1.2 Der Text: Exegese von Jes 52,13 – 53,12
- 1.2.1 Der Aufbau des vierten Gottesknechtsliedes
- 1.2.2 Jes 52,13 – 53,12 von Vers zu Vers
- 1.2.3 "Mein Knecht, der Gerechte, macht die Vielen gerecht, und ihre Verschuldungen - er trägt sie." (Jes 53,11) Zur Interpretation des vierten Gottesknechtsliedes
- 1.3 Jes 53 als Teil der Botschaft Deuterojesajas
- 2. Die Wirkungsgeschichte von Jes 53 im Judentum zu hellenistisch-römischer Zeit
- 2.1 Der Befund: Jes 53 in den Schriftzeugnissen des Judentums zu hellenistisch-römischer Zeit
- 2.1.1 Im alttestamentlichen Kanon: Die Bücher Sach und Dan
- 2.1.2 Im außerbiblischen Schrifttum: Der äthHen und die SapSal
- 2.1.3 In der LXX
- 2.2 Beurteilung des Befunds
- 3. Zusammenfassung: Jes 53 im Alten Testament und zu vorneutestamentlicher Zeit
- 4. Die neutestamentliche Rezeption des Wortes vom leidenden Gottesknecht: Der Textbefund
- 4.1 Die Zitate aus dem vierten Ebed-JHWH-Lied
- 4.2 Anklänge an die alttestamentliche Prophetie
- 5. Jes 53 im Neuen Testament: Analyse ausgewählter Textstellen
- 5.1 Das Wort vom leidenden Gottesknecht im Munde Jesu…
- 5.1.1 Gottesknecht und Menschensohn: Mk 10,45
- 5.1.2 Das Kelchwort: Mk 14,23
- 5.1.3 Zu den Übeltätern gezählt: Lk 22,37
- 5.2 Jes 53 im Zeugnis der urchristlichen Gemeinde
- 5.2.1 Der äthiopische Hofbeamte: Apg 8,26-40
- 5.2.2 Ein urchristlicher Hymnus: Phil 2,6-11
- 5.2.3 Die Gemeindeüberlieferung von der Auferstehung: 1Kor 15,3b-5
- Exkurs: Jesus der Menschensohn
- 6. Die Deutung der Ergebnisse: Der Einfluss von Jes 52,13 – 53,12 auf Jesu Selbstverständnis und auf die Urgemeinde
- 6.1 Das Selbstverständnis des Jesus von Nazareth
- 6.2 Jes 53 und die Anfänge der Christologie
- 7. Verzeichnis der Quellen und der zitierten und verwendeten Literatur.
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Bedeutung des vierten Gottesknechtsliedes (Jes 52,13 – 53,12) für das Neue Testament. Sie untersucht den Einfluss dieses alttestamentlichen Textes auf die Entstehung der ältesten Christologie und das Selbstverständnis Jesu von Nazareth.
- Die Botschaft des Propheten Deuterojesaja
- Die Rolle des Ebed-JHWH in den vier Gottesknechtsliedern
- Die Interpretation von Jes 53 im Judentum zu hellenistisch-römischer Zeit
- Die Rezeption von Jes 53 im Neuen Testament
- Der Einfluss von Jes 53 auf Jesu Selbstverständnis und die Urgemeinde
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel beleuchtet den Kontext des vierten Gottesknechtsliedes innerhalb der Botschaft des Propheten Deuterojesaja und der Ebed-JHWH-Lieder. Es analysiert den Text von Jes 52,13 – 53,12 und diskutiert verschiedene Interpretationen. Kapitel zwei widmet sich der Wirkungsgeschichte von Jes 53 im Judentum zu hellenistisch-römischer Zeit, indem es den Text in verschiedenen Schriftzeugnissen untersucht.
Kapitel drei fasst die Erkenntnisse über Jes 53 im Alten Testament und zu vorneutestamentlicher Zeit zusammen. Kapitel vier befasst sich mit der neutestamentlichen Rezeption des Wortes vom leidenden Gottesknecht, analysiert Zitate und Anklänge an die alttestamentliche Prophetie.
Kapitel fünf untersucht den Einfluss von Jes 53 im Neuen Testament anhand ausgewählter Textstellen, die das Wort vom leidenden Gottesknecht in den Reden Jesu und im Zeugnis der Urgemeinde beleuchten. Der Exkurs befasst sich mit der Figur des Menschensohns. Abschließend diskutiert Kapitel sechs die Deutung der Ergebnisse und den Einfluss von Jes 53 auf Jesu Selbstverständnis und die Anfänge der Christologie.
Schlüsselwörter
Deuterojesaja, Gottesknecht, Ebed-JHWH, Jes 53, Christologie, Selbstverständnis Jesu, Urgemeinde, alttestamentliche Prophetie, neutestamentliche Rezeption.
- Arbeit zitieren
- Marcus Weber (Autor:in), 2003, Das Wort vom leidenden Gottesknecht im Kontext der Botschaft Deuterojesajas und in der Verkündigung des Neuen Testaments, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39965