Der Autor selbst benennt im Hauptgedanken als Anspruch für seine Gerechtigkeitstheorie die bekannte Theorie des Gesellschaftsvertrags zu verallgemeinern und auf eine höhere Abstraktionsebene zu heben. Er stellt sein Werk dabei selbst in direkten Bezug zu den neuzeitlichen Vertragstheorien von Thomas Hobbes‘ Leviathan, John Lockes Abhandlungen über die Regierung, Jean-Jaques Rousseaus Gesellschaftsvertrag und Immanuel Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Diese wiederum greifen vielfach auf Platons Politeia und Aristoteles‘ Politik zurück.
Sozialethik ist Strukturenethik: Sie beschäftigt sich demnach mit den sich Menschen gebenden Strukturen und Ordnungen von Institutionen und Normen. Hierzu prüft sie diese nach anthroposophischen Maßstäben und übt gegebenenfalls Kritik. Oberstes Prinzip ist hierbei der Mensch als Subjekt und Person.
Sie erstreckt sich folglich über die gleichen Wirkungsbereiche wie Rawls‘ Gesellschaftstheorie. Gemeinsam stellen sie die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit auf. Diese setzt sich aus den Gerechtigkeitsgrundformen der iustitia commutativa (Vertrags-Gerechtigkeit), iustitia distributiva (Teilhabe-Gerechtigkeit) und iustitia legalis (Gesetzes-Gerechtigkeit) zusammen. Darauf bauen die Dimensionen von Besitzstands-, Leistungs-, Chancen-, Bedürfnis- und Zukunftsgerechtigkeit auf.
John Rawls schuf 1971 mit A Theory of Justice gleichermaßen persönliches und philosophiegeschichtliches Hauptwerk. Auf durchaus utopisiernde Weise systematisiert er seine Idee einer gerechten „Sozialethik“, die sich u. a. aus zuvor veröffentlichten Einzelaufsätzen speist und er später mehrfach modifiziert und auch revidiert hat.
Versucht man eine kritische Wertung der Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie findet man als zentrale Beurteilungsbegriffe rasch „Praxisbezug“ und „Praktizierbarkeit“. Grund dafür ist, dass eine soziale Ethik um nützlich zu sein unmittelbaren Bezug zu einer gesellschaftlichen Wirklichkeit haben muss. Desweiteren sieht Rawls seine Ideen deontologisch. Das bedeutet, dass, was theoretisch aufgestellt wird, auch in der Praxis so sein soll.
Er bleibt dabei jedoch theorielastig und öffnet dem Einzelnen, der von der Theorie profitieren soll nur unzureichende Handlungsperspektiven. Verantwortung wird den Institutionen zugebilligt.
Diese Verwischung von Theorie und Praxis lässt A Theory of Justice leicht zum grandiosen Fehlschlag werden.
Inhalt
1. Grundlegendes
1.1 John Rawls – Biographisches
1.2 A Theory of Justice – Philosophische Einordnung
1.2.1 Staatsphilosophisches Hauptwerk
1.2.2 Gegenposition zum Utilitarismus
1.3 Gerechtigkeit aus sozialethischer Perspektive
2. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit – Formales
3. John Rawls‘ Theorie einer sozialen Gerechtigkeit
3.1 Anwendungsverhältnisse
3.1.1 Historisches Umfeld
3.1.2 Staatsphilosophischer Hintergrund
3.1.3 Anwendungsbereich – Die Institutionen
3.2 Die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit
3.3 Der Urzustand
3.3.1 Darstellung des Begründungsverfahrens
3.3.2 Der Schleier des Nichtwissens
3.4 Die beiden Gerechtigkeitsprinzipien aus der Perspektive des Urzustands
4. Kritisches
4.1 Philosophische Rezeption
4.2 Versuch einer kritischen Wertung
1. Grundlegendes
Das Jahr 2001 bedeutet für die moderne Philosophie zwei Jubiläen: John Rawls‘ 80. Geburtstag und vor allem den 30. Jahrestag der Veröffentlichung seines Hauptwerkes ATheory of Justice.
1.1 John Rawls – Biographisches
John Rawls, der am 21. Februar 1921 in Baltimore, Maryland geboren wurde, studierte an den Universitäten von Princeton und Cornell. Nachdem er 1950 in Princeton seine Promotion erworben hatte, begann er dort seine akademische Lehrtätigkeit auf. Nach seiner Tätigkeit als Assistant und Associate Professor für Philosophie in Cornell (1952-59) lehrte er 1959-61 am Massachusetts Institute of Technology (MIT). 1962 erwarb Rawls an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts seine Professur, wo er seitdem Philosophie lehrte.[1]
1.2 A Theory of Justice – Philosophische Einordnung
Peter Lasletts Ausspruch von 1956, die politische Philosophie sei für den Augenblick tot[2], sollte noch selbst an deren Wiederbelebung teilhaben. Als ebenso falsch kann heute die 1962 von Isaiah Berlin gemachte Aussage bewertet werden, im 20. Jahrhundert sei in der politischen Philosophie kein beherrschendes Werk erschienen.[3]
1971 veröffentlicht John Rawls mit A Theory of Justice sein persönliches Hauptwerk – „eine vollständige Gerechtigkeitstheorie“.[4]
1.2.1 Staatsphilosophisches Hauptwerk
Der Autor selbst benennt im Hauptgedanken[5] als Anspruch für seine Gerechtigkeitstheorie die „... bekannte Theorie des Gesellschaftsvertrags ...“ zu verallgemeinern „... und auf eine höhere Abstraktionsebene ...“ zu heben.[6] Er stellt sein Werk dabei selbst in direkten Bezug zu den neuzeitlichen Vertragstheorien von Thomas Hobbes‘ Leviathan, John Lockes Abhandlungen über die Regierung, Jean-Jaques Rousseaus Gesellschaftsvertrag und Immanuel Kants Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre.[7] Diese wiederum greifen vielfach auf Platons Politeia und Aristoteles‘ Politik zurück.[8]
Freilich ist der hier angesprochene Vertrag kein wirklich von einer zu definierenden Gesellschaft unterzeichneter, sondern eine Übereinkunft, wie sie „... freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden.“[9], also wie es zur Schaffung einer Gesellschaft unter sozialethischer Perspektive notwendig wäre.
Genauer bedeutet das, es werden mit dem Vertrag für jeden Vorteile erreicht. Dabei verhindert das Eigeninteresse umgekehrt, dass durch den eingegangenen Vertrag für eine bestimmte Person bzw. -engruppe Privilegien geschaffen werden. Eventuell erforderliche Prämissen für diesen Vertrag müssen für alle annehmbar und vernunftgemäß sein. Deshalb sind spätere Verstöße gegen den Vertrag gleichzeitig Verstöße gegen die individuelle Vernunft.
Unter Annahme sozialer Gerechtigkeitsprinzipien wird der Vertrag bindend und unabänderlich endgültig.[10]
1.2.2 Gegenposition zum Utilitarismus
Rawls bezieht in seinen Ausführungen klar Position gegen die vielgestalte Lehre des Utilitarismus, der die bekannteste normative Ethik in England und Nordamerika darstellt.
„Als „Utilitarismus“ wird eine Theorie der Ethik bezeichnet, die den Wert sittlichen Handelns vom Nutzen her bestimmt.“[11] Seine Akzeptanz und Nachvollziehbarkeit hängt zu einem Großteil damit zusammen, dass er ohne religiös-metaphysischen Unterbau auskommt und sich somit nahezu ausschließlich mit dem „gesunden Menschenverstand“ auskommt.[12]
Formuliert Jeremy Bentham um 1780 als höchstes Ziel[13] unter der Vorraussetzung der Quantifizierbarkeit gesellschaftlichen Nutzens noch „das größte Glück der größten Zahl“[14], ergänzt John Stuart Mill später: „Auch Qualität bestimmt das Nützliche.“[15] Die Unterscheidung eines strikten „Regelutilitarismus“ und eines Pragmatismus erfordernden „Handlungsutilitarismus“ des australischen Philosophen John J. C. Smart fällt unmittelbar in die Zeit von Rawls.[16] Da jedoch auch diese den vollkommenen Verzicht auf Über-Rationales[17] nicht ausgleichen kann und in der Praxis eine absolute Quantifizierung des Nutzens sowenig wie eine erschöpfende Zukunftsprognose nicht möglich ist, stellt Rawls nach seiner eigenen Darstellung[18] des Utilitarismus ausführliche Kritik[19] gegenüber. Hierbei betont Rawls die mangelhafte Durchsetzbarkeit sowie die Ignoranz der Heterogenität der unterschiedlichen Bedürfnisse und Werte der Einzelnen.[20]
[...]
[1] Vgl. Kersting, S. 256.
[2] Vgl. Kersting, S. 11.
[3] Vgl. Kersting, S. 16.
[4] Vgl. Kühn, S. 9.
[5] Rawls, 3. Der Hauptgedanke der Theorie der Gerechtigkeit, S. 27-34; Rawls wird im Folgenden in der deutschen Übersetzung von Hermann Vetter zitiert.
[6] Rawls, S. 27f.
[7] Knappe Darstellungen zu den oben genannten philosophischen Schriften finden sich u. a. bei Vorländer, Bd. 3. Neuzeit bis Kant und bei Röd in den einschlägigen Kapiteln
[8] Für einen kurzen Einblick zu Politeia und Politik empfiehlt sich Vorländer, Bd. 1. Altertum.
[9] Rawls, S. 28.
[10] Vgl. Kühn, S. 13f.
[11] Heller, S. 104.
[12] Vgl. Heller, S. 96f.
[13] Der Utilitarismus muss also zu den teleologischen Ethiken gezählt werden.
[14] Zur Grundlegung des Utilitarismus bei Bentham (An Introduction to the Principles of Moral and Legislation) vgl. Heller S. 91f.
[15] Zur weiteren Ausgestaltung des Utilitarismus bei Mill (Utilitarianism) vgl. Heller, S. 93f.
[16] Vgl. Heller, S. 97.
[17] Über-Rationales: was über direkte Folgerungen aus Erkenntnissen des menschlichen Sinnesapparates hinausgeht, z. B. Menschenwürde; vgl. Heller, S. 100f.
[18] Rawls, 5. Der klassische Utilitarismus, S. 40-45.
[19] Rawls, 6. Einige Gegenüberstellungen, S. 46-52.
[20] Vgl. Rawls, S. 45.