„Keine Zeit, tut mir leid.“
Es ist dies einer der Sätze, die sich immer wieder unüberhörbar ihren Weg bahnen – über unsere Ohren zu Hirn und Herz. Es handelt sich um eine Aussage, die trotz ihres hohen kollektiven Vertrautheitsgrades zumeist enttäuscht, oftmals verärgert und manchmal in einen nachdenklichen Modus versetzt: Denn was steckt dahinter, wenn Menschen sagen oder gar klagen, keine Zeit zu haben? Wie kann es sein, daß es Menschen gibt, die Zeit haben, und andere wiederum haben sie nicht? (Heißt es nicht, Zeit sei eine gleichverteilte Ressource? Oder täuscht der blanke Blick auf die Rechnung: 24 mal 60 gleich 1440 – so viele Minuten stehen jedem Menschen täglich zum Verleben zur Verfügung.) Worin unterscheiden sich Zeithaber von Zeitnichthabern, und fehlt letzteren etwas, oder haben sie von etwas zuviel? Wofür nehmen sich Menschen Zeit? Kann man Zeit gewinnen, kann man sie verlieren?
Solche und ähnliche Alltagsfragen der unmittelbaren Zeitwahrnehmung lassen sich auf eine übergeordnete zeitthematische Reflexionsebene hieven: Was ist Zeit über¬haupt? Ist sie sinnlich wahrnehmbar? Fällt sie in die Kategorie der subjektiven Angelegenheiten, oder stellt sie doch eine objektive Größe dar? Gab es sie als Maßeinheit und Ordnungskategorie, wie wir sie heute kennen, schon immer?
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Vorbemerkungen
1 Der theoretische Hintergrund – zeitsoziologische Anmerkungen
1.1 Die Zeit im Fokus
1.2 Zeitdimensionen
1.2.1 Allgemeine Zeitdimensionen
1.2.2 Soziale Zeitdimensionen
1.2.3 Individuelle Zeitdimensionen
1.2.4 Sonstige Strukturierungsmöglichkeiten von Zeit
Teil I: Das Forschungsprojekt
2 Untersuchungshypothese
2.1 Sozialer Kontext
2.2 Subjektive Zeitwahrnehmung
3 Theoretische Fundierung der subjektiven Zeitwahrnehmung
3.1 Umgang mit der Zeit
3.2 Subjektive lebensweltliche Zeitwahrnehmung
3.3 Subjektive arbeitsweltliche (bzw. studienbezogene) Zeitwahrnehmung
4 Methodik der Datenerhebung und Datenanalyse
4.1 Datenerhebungsmethode
4.2 Fragebogenkonstruktion
4.3 Stichprobenpläne und Stichprobenrealisierung
4.4 Methoden der Datenanalyse
Teil II: Die empirischen Befunde
5 Univariate Auswertung
5.1 Stichprobenstruktur
5.2 Repräsentativität der Stichproben
6 Bivariate Auswertung
6.1 Umgang mit der Zeit
6.2 Subjektive lebensweltliche Zeitwahrnehmung
6.3 Subjektive arbeitsweltliche (bzw. studienbezogene) Zeitwahrnehmung
7 Multivariate Auswertung
7.1 Vorgehensweise
7.2 Dimensionsreduzierung
7.2.1 Clusteranalyse – Klassifizierung der Befragten
7.2.2 Faktorenanalyse – Klassifizierung der Zeitwahrnehmung
7.3 Multiple Regression – sozialer Kontext und Zeitwahrnehmung
Resümee und Ausblick
Literaturverzeichnis
Teil III: Anhang
Einleitung
„Keine Zeit, tut mir leid.“
Es ist dies einer der Sätze, die sich immer wieder unüberhörbar ihren Weg bahnen – über unsere Ohren zu Hirn und Herz. Es handelt sich um eine Aussage, die trotz ihres hohen kollektiven Vertrautheitsgrades zumeist enttäuscht, oftmals verärgert und manchmal in einen nachdenklichen Modus versetzt: Denn was steckt dahinter, wenn Menschen sagen oder gar klagen, keine Zeit zu haben? Wie kann es sein, daß es Menschen gibt, die Zeit haben, und andere wiederum haben sie nicht? (Heißt es nicht, Zeit sei eine gleichverteilte Ressource? Oder täuscht der blanke Blick auf die Rechnung: 24 mal 60 gleich 1440 – so viele Minuten stehen jedem Menschen täglich zum Verleben zur Verfügung.) Worin unterscheiden sich Zeithaber von Zeitnichthabern, und fehlt letzteren etwas, oder haben sie von etwas zuviel? Wofür nehmen sich Menschen Zeit? Kann man Zeit gewinnen, kann man sie verlieren?
Solche und ähnliche Alltagsfragen der unmittelbaren Zeitwahrnehmung lassen sich auf eine übergeordnete zeitthematische Reflexionsebene hieven: Was ist Zeit überhaupt? Ist sie sinnlich wahrnehmbar? Fällt sie in die Kategorie der subjektiven Angelegenheiten, oder stellt sie doch eine objektive Größe dar? Gab es sie als Maßeinheit und Ordnungskategorie, wie wir sie heute kennen, schon immer?
Das konkrete Untersuchungsgebiet meiner Diplomarbeit
Meine Diplomarbeit beschäftigt sich mit subjektiven Zeitwahrnehmungen im gegenwärtigen Deutschland aus einer soziologischen Perspektive. Drei Aspekte sind in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung:
Erstens – das Hauptaugenmerk dieser Arbeit ist auf die Deskription, Analyse und Interpretation der Zeitwahrnehmung in der heutigen Zeit gerichtet. Diese temporale Konzentration – nämlich auf die heutige Zeit – bedingt auch meine Auswahl thematisch relevanter Literatur, die folglich vornehmlich neueren Datums ist.
Zweitens – die Ergebnisse der von mir durchgeführten schriftlichen Befragungen vermitteln eine Vorstellung von der subjektiven Zeitwahrnehmung deutscher bzw. in Deutschland lebender Befragter. Diese Eingrenzung erscheint bedeutsam, da sich die subjektive Zeitwahrnehmung der in westlichen Gegenwartsgesellschaften lebenden Menschen mit großer Wahrscheinlichkeit von zeitlichen Empfindungen anderer Kulturen unterscheidet. Solch ein Forschungsinteresse – der Vergleich der Zeitwahrnehmung in unterschiedlichen Kulturen – würde jedoch den Rahmen einer Diplomarbeit deutlich sprengen.[1]
Drittens – die Zeit stellt einen Untersuchungsgegenstand dar, für den die Soziologie gewiß keine Exklusivrechte für sich beanspruchen kann; zahlreiche sozial- und geisteswissenschaftliche Nachbardisziplinen – hier insbesondere die Philosophie und die Psychologie –, aber auch fachlich fernere akademische Disziplinen wie die Naturwissenschaften – dort insbesondere die Physik (vgl. beispielsweise Hawking 1988) –, beschäftigen sich mit der Zeitthematik. Trotz der interdisziplinären Behandlung dieses Untersuchungsgegenstands, die sich ansatzweise in der von mir herangezogenen Literatur widerspiegelt, betrachtet die vorliegende Arbeit das Thema aus einer vorwiegend soziologischen Perspektive – und zwar als subjektive Zeitwahrnehmung im sozialen Kontext.
Aufbau meiner Diplomarbeit
Nach der Einleitung biete ich in Kapitel 1 einen Überblick über die Entwicklung zeitsoziologischer Fragestellungen; dabei lenke ich meine Aufmerksamkeit vor allem auf den gegenwärtigen Stand zeitthematischer Reflexionen. Die Vorstellung unterschiedlicher Zeitdimensionen sowie darüber hinausgehender Strukturierungsmöglichkeiten von Zeit dient der Beleuchtung der Komplexität der vorliegenden Thematik.
Teil I dieser Arbeit ist der differenzierten Darstellung meines Forschungsprojekts, der subjektiven Zeitwahrnehmung im sozialen Kontext, gewidmet. In Kapitel 2 stelle ich meine Untersuchungshypothese sowie ihre Genese vor; hier schenke ich den beiden meine Untersuchungshypothese konstituierenden Konstrukten – dem sozialen Kontext einerseits und der subjektiven Zeitwahrnehmung andererseits – besondere Aufmerksamkeit. Kapitel 3 liefert die theoretische Fundierung der im Rahmen meiner Arbeit fokussierten subjektiven Zeitwahrnehmung. In Kapitel 4 gehe ich ein auf die für meine Arbeit relevanten Methoden der Datenerhebung und Datenanalyse.
Teil II der Arbeit präsentiert die empirischen Befunde meiner Datenerhebungen. In Kapitel 5 beschreibe ich – univariat – die Stichprobenstrukturen der Erhebungspopulationen und überprüfe ihre Repräsentativität. In Kapitel 6 wende ich mich bivariaten Betrachtungen zu und lege die sich aus der Datenanalyse ergebenden statistischen Zusammenhänge zwischen Aspekten des sozialen Kontexts einerseits und subjektiver Zeitwahrnehmung andererseits vor. Schließlich führe ich in Kapitel 7 multivariate Analysen durch, die dem Einflußgeflecht, dem die subjektive Zeitwahrnehmung als zentralem Untersuchungsgegenstand ausgesetzt ist, Rechnung tragen.
Die schließlich gewonnene Übersicht über den Forschungsgegenstand ergibt die Grundlage für Resümee und Ausblick. Dieser Teil enthält eine kritische Zusammenschau der zentralen Ergebnisse, nimmt Bezug zur Untersuchungshypothese und benennt Potentiale weiterführender zeitthematischer Fragestellungen.
Vorbemerkungen
Zur Sprachregelung der Geschlechterbezeichnungen möchte ich folgendes anmerken: Aus Gründen der Sprachökonomie verwende ich die knappe, im Regelfall männliche Bezeichnung einer Personengruppe – z.B. „Armbanduhrenträger“ – immer dann, wenn ich selbstverständlich „Armbanduhrenträgerinnen“ und „Armbanduhrenträger“ meine. Es widerstrebt mir, das verkürzende Wortungetüm „ArmbanduhrenträgerInnen“ zu wählen, das ich als formalistisch und hinderlich beim Lesen empfinde.
Für unkonventionelle Schlüsselbegriffe mit direktem Bezug zur Thematik (z.B. Zeitnutzungsimperativ), ausgewählte Formulierungen mit indirektem Bezug zur Thematik (z.B. Zeit ist Geld) sowie einige englischsprachige Ausdrücke (z.B. Monitoring) wähle ich die Kursivschreibweise.
Wenn im empirischen Teil meiner Arbeit von „Befragten“ die Rede ist, sind damit die Teilnehmer meiner drei Befragungen gemeint – also genaugenommen die mir Antwortenden aus dem Kreise der um Teilnahme Gebetenen. Demnach wäre es eigentlich zutreffender, wäre von „Teilnehmern meiner Befragung“ die Rede. Der Terminus „Befragte“ ist aber im Rahmen der empirischen Sozialforschung üblich, und deshalb verwende ich ihn hier.
Im Zusammenhang mit der Angabe von Internetquellen gebe ich in Klammern das jeweilige Datum meiner Recherche an.
In dieser Arbeit widerstehe ich dem Beschleunigungsprozeß, der durch die Einführung der neuen deutschen Rechtschreibung erzeugt wurde.
1 Der theoretische Hintergrund – zeitsoziologische Anmerkungen
1.1 Die Zeit im Fokus
Was ist Zeit überhaupt? – Hillmann definiert den Zeitbegriff im Wörterbuch der Soziologie als „ein für die Menschen in der modernen Gesellschaft besonders bedeutungsvolles, aber nur schwer begreifbares, erklärbares Wort, das sich hinsichtlich der soziokulturellen Lebenswelt in seinem Bedeutungsinhalt auf die Erscheinungen bzw. Aspekte der Dauer, des Nacheinander und Ereignisstromes, der Veränderungen und Vergänglichkeit bezieht.“ (1994: 949)
Lüscher/Walter unterstreichen den Gedanken über die Schwierigkeit einer adäquaten Definition der Zeit; sie schreiben: „Noch immer ist es die Selbstverständlichkeit des Begriffes, die zu schaffen macht und die dazu verleitet, in ‚der Zeit‘ eine Gegebenheit a priori zu sehen, sie zu verdinglichen, sie als Ressource aufzufassen.“ (1991: 49)
Und letztlich faßt bereits der Kirchenlehrer und Heilige Augustinus (354-430) das Problem der Zeitdefinition in überzeugende Worte, indem er sinngemäß formuliert: „Was also ist Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich es; will ich es aber einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“[2]
Die Zeit stellt keine unmittelbar sinnlich wahrnehmbare Dimension dar – sie läßt sich beispielsweise weder visuell noch taktil erfassen. Trotz ihres zunächst amorph erscheinenden Wesens verfügt die Zeit „als von Menschen gestaltete und gleichzeitig das menschliche Handeln strukturierende Kraft“ (Maurer 1992: 24) auf eine lange Geschichte als Untersuchungs- und Erkenntnisgegenstand verschiedener Wissenschaftsdisziplinen.[3]
Auch als soziologisches Forschungsthema genießt die Zeit eine beachtliche Tradition: Schon einige der von Kaesler[4] als „Klassiker der Soziologie“ bezeichneten Gesellschaftswissenschaftler beschäftigen sich mit Überlegungen zur Zeit – exemplarisch und in gebotener Kürze seien genannt:
Georg Simmel (1858-1918), indem er das Neben- und Nacheinander sozialer Phänomene untersucht und dem Medium Geld einen temposteigernden Einfluß auf den Lebensstil der modernen Menschen zuweist (vgl. Nedelmann in Kaesler (Hrsg.) 1999: 138 und 142); Emile Durkheim (1858-1917), der bereits 1912[5] „auf den sozialen Ursprung des Begriffs Zeit und auf das Kollektive der Zeitmeßsysteme hin[weist]“ (Maurer 1992: 48); Max Weber (1864-1920), dem zufolge die „Rationalisierung [...] in allen nur denkbaren Ausschnitten gesellschaftlicher und historischer Wirklichkeit“ als „gemeinsame Formel“ fungiert für eine Vielzahl von sozialen Teilprozessen – so auch der „protestantischen Ethik“ (Kaesler in Kaesler (Hrsg.) 1999: 198), nach der Zeitverschwendung als geradezu frevelhaft erachtet wird; Norbert Elias (1897-1990) mit seiner wissenssoziologischen Schrift „Über die Zeit“ (1984), auf die ich weiter unten noch näher eingehen werde; Alfred Schütz (1899-1959) im Zusammenhang mit Überlegungen zum Phänomen der inneren Dauer[6].
Ungeachtet dieser vergleichsweise frühen zeitsoziologischen Arbeiten, die einer forschungsfeldrelevanten Grundsteinlegung entsprechen, aber zahlreiche lebens- und arbeitsweltliche Aspekte zeitbezogener Empfindungen – wie wir sie heute kennen – weitgehend unberührt lassen, läßt sich für die vorliegende Thematik ein gewisser, auch an den Publikationsdaten der Arbeiten zur Zeitforschung nachvollziehbarer Boom in den 70er und 80er Jahren des soeben abgeschlossenen 20. Jahrhunderts diagnostizieren (vgl. Maurer 1992: 18 und 25)[7]: Im Zuge von Technisierung und Ökonomisierung – zwei Trends der westlichen Welt, die im Zusammenhang mit der Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert ihren Anfang nehmen und sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg weiter verstärken – wird die Zeitgewinnung zu einer weithin verfolgten Ambition des sowohl arbeitsweltlichen als auch lebensweltlichen Alltags; Zeitgewinnung und Leistung als zwei positiv belegte Werte nehmen sich wechselseitig an die Hand (vgl. Ermert/Rinderspacher 1981). Vor diesem Hintergrund kreiert die Gesellschaft mitunter skurrile Zeitsparslogans, so etwa „Zeit sparen – Taxi fahren“ (Geissler 1992: 9).[8]
Paradoxerweise geht mit dem der modernen Medizin zu verdankenden Anstieg der Lebenserwartung sowie einem permanent zunehmenden Technisierungsgrad, dessen Hauptzweck der Zeitgewinn sein soll, ein sich gesellschaftsweit verbreitender, subjektiv empfundener Zeitmangel einher (vgl. Hörning et al. 1997; Imhof in Kamper/Wulf (Hrsg.) 1987).
Zeiterfahrung wird zunehmend als Konflikterfahrung begriffen (vgl. Rinderspacher 1985), Zeitkritik zur Kulturkritik stilisiert (vgl. Wendorff in Zoll (Hrsg.) 1988) – zahlreiche soziale Tatbestände weisen auf ein gestörtes Verhältnis zur Zeit, auf eine Krise der Zeiterfahrung hin (vgl. Schräder-Naef in Wendorff (Hrsg.) 1989). Der Terminus angina temporis (Lübbe 1992: 349), der die Assoziation mit einer ernsthaften Erkrankung geradezu heraufbeschwört, bringt das diffuse Unbehagen, das die (post-)moderne Zeit in den Menschen hervorruft, auf den Punkt. Die amorphe Ordnungskategorie Zeit mitsamt ihrer facettenreichen Konnotationen entwickelt sich also, der Gesellschaft als Kontrastmittel injiziert, zu einem Indikator sozialpsychologischer Befindlichkeiten.[9]
Als unerträglich empfundener Druck erzeugt nicht selten Gegendruck, und so bleibt im letzten Viertel des zurückliegenden Jahrhunderts die in Teilen von Kultur und Wissenschaft artikulierte Forderung nach einem nachhaltigen Umdenkprozeß nicht aus: Stellvertretend für Impulse aus der schreibenden Zunft sei Sten Nadolnys internationaler Bestseller „Die Entdeckung der Langsamkeit“ (1987) genannt, in dem der Autor die Langsamkeit als menschenfreundliches Prinzip präsentiert. In der Soziologie, deren Sichtweisen und Denkformen sich meine Arbeit verpflichtet fühlt, werden gegen den schnellen Strom der Zeit schwimmende Avantgardisten, die die positiven Aspekte der Langsamkeit für sich entdecken, als Zeitpioniere (vgl. Hörning 1991) bezeichnet.
Norbert Elias: „Über die Zeit“ (1984)
Aufgrund der breiten Rezeption der vielleicht bedeutsamsten zeittheoretischen Arbeit neueren Datums möchte ich die zentralen Gedanken von Norbert Elias’ „wissenssoziologische[r] Untersuchung der Gesellschaftsentwicklung anhand der Kategorie Zeit“ (Maurer 1992: 7) vorstellen. Elias’ Hauptaugenmerk gilt dabei der menschlichen Aktivität des Zeitbestimmens mittels Uhren und Kalender.
Für Elias symbolisiert der souveräne Umgang mit dem abstrakten Begriff der Zeit – „auf einem hohen Verallgemeinerungs- und Syntheseniveau“ (4) – sowohl eine phylogenetische (= stammesgeschichtliche) als auch eine ontogenetische (= individuale) Leistung (vgl. 127); das „hochentwickelte Zeitgefühl“ (146) der Mitglieder moderner Gesellschaften stellt das Ergebnis sowohl eines Zivilisationsprozesses, „der in Wirklichkeit Millionen Jahre dauerte“ (27), als auch das einer erfolgreichen Internalisierung im Rahmen eines individuell durchlaufenen Sozialisationsprozesses dar (vgl. XVIII).[10]
In funktional ausdifferenzierten und „hoch zeitregulierten Gesellschaften“ (125) wird die sozial standardisierte Zeit multifunktional instrumentalisiert als Mittel zum Zwecke der gesellschaftlichen Orientierung, Koordination, Integration und Synchronisation (vgl. beispielsweise XLV, 19, 100). Zeiterleben im Spannungsfeld „zwischen individuellem Selbstzwang und sozialem Fremdzwang“ (XLIV) wird zur Normalität, und „die innere Stimme, die nach der Zeit fragt, ist allgegenwärtig.“ (XXXII)
Gemäß Elias läßt sich sozio-historisch eine klare Entwicklung der Zeitwahrnehmung nachzeichnen: „von einer diskontinuierlichen Form des Zeitbestimmens zu einer kontinuierlichen Form, sozusagen rund um die Uhr.“ (180)[11] Im Zuge dieser Entwicklung bildet sich auch der dinghafte Charakter der Zeit heraus – Zeit wird substantiviert (vgl. 7), indem etwa die Rede davon ist, daß „‚die Zeit vergeht‘“ (44). Diese Dinghaftigkeit unterstreicht den von Elias zuvor betonten „Symbolcharakter der Zeit“ (XXV), der ihm zufolge allerdings die Gefahr des Sich-Verirrens „in einem Labyrinth von Symbolen [...] einer hohen Synthese-Ebene“ (167) nach sich zieht.[12]
Mit Blick auf den – vor knapp zwanzig Jahren, 1984 – aktuellen Stand soziologischer Zeitforschungen kritisiert Elias die „Untersuchungen über das Problem der Zeit nachhaltig blockier[ende]“ (61) Beständigkeit des dualistischen Weltbilds sowie begrifflicher Dichotomien – Naturwissenschaften versus Geisteswissenschaften sowie Objekt/Materie versus Subjekt/Geist (vgl. 58): Die „physikalischen Wissenschaften“ (93) nehmen dabei eine Art Hegemonialstellung ein im wissenschaftlichen Diskurs über die Zeit; unter dem starken Einfluß der Naturwissenschaften wird diese „zunehmend mathematisiert“ (83). Vor diesem Hintergrund stellt Elias’ beachtenswerte Abhandlung über die Zeit nicht nur eine Untersuchung derselben, sondern auch eine wissenschaftskritische Arbeit dar.[13]
Zur Literaturlage
Die gegenwärtige zeitthematische Literaturlage läßt sich grob wie folgt kategorisieren:
- Literatur mit deskriptivem Charakter befaßt sich vornehmlich mit temporalen Mustern, quantitativen Zeitbudgetstudien und ökonomischen Arbeitszeitstudien[14] (vgl. beispielsweise Dollase et al. (Hrsg.) 2000; Szalai (Hrsg.) 1972; Taylor 1972).
- Literatur mit analytischem Charakter reicht über die reine Deskription hinaus und versucht, die Hintergründe der individuellen und kollektiven Zeitwahrnehmung wertneutral zu analysieren (vgl. beispielsweise Hinz 2000; Rinderspacher (Hrsg.) 2002; Wotschack 1997).
- Literatur mit kulturkritischem Charakter fokussiert die sozio-historischen Zusammenhänge der Zeitwahrnehmung; dabei werden vor allem Aspekte wie z.B. der in unserem Kulturkreis weithin anerkannte Zeitnutzungsimperativ wertend untersucht (vgl. beispielsweise Geissler 1992; Gronemeyer 1993; Hohn 1984; Nowotny 1989).
- Literatur mit ratgebendem Charakter findet sich an der Nahtstelle von Wissenschaft und Populärwissenschaft; sie läßt sich (auch) im buchhändlerischen Segment der Selbst- und Zeitmanagementliteratur lokalisieren (vgl. beispielsweise Backhaus/Bonus (Hrsg.) 1997; Reheis 1998).
- Literatur mit zeitphilosophischem Charakter betrachtet die Thematik von einer übergeordneten Reflexionsebene und in einem menschheitsgeschichtlichen Kontext. Als treffendes Beispiel läßt sich hier Elias’ oben vorgestelltes Werk „Über die Zeit“ (1984) anführen.
1.2 Zeitdimensionen
Es gibt eine Fülle von Differenzierungsmöglichkeiten der Zeit; sie fokussieren verschiedene Aspekte der Zeitlichkeit.[15] Ich beschränke mich hier auf die Vorstellung der wichtigsten Formen unterschiedlicher Ebenen zeitlicher Dimension – allgemein, sozial und individuell. In Kapitel 1.2.4 präsentiere ich einige weitere Strukturierungsmöglichkeiten von Zeit.
1.2.1 Allgemeine Zeitdimensionen
Wenn in dieser Arbeit von Zeit und Zeitwahrnehmung die Rede ist, so ist damit in erster Linie die soziale Zeit gemeint.[16] Zeit entspricht einer Ordnungskategorie, die in ihrer inter- und intrasubjektiv wahrnehmbaren Form erst im sozialen Zusammenhang entsteht (vgl. Elias 1984).
Der Vollständigkeit halber – und um auf den facettenreichen Charakter der Zeit aufmerksam zu machen – möchte ich darauf hinweisen, daß neben den im Rahmen meiner Arbeit fokussierten sozialen und individuellen Dimensionen der Zeit weitere Zeitdimensionen existieren; exemplarisch möchte ich die vier allgemeinen Zeitdimensionen vorstellen, die Schlote (1996) unterscheidet:
- Psychologische Zeit als „intrasubjektive Zeit von Personen“ (19) und Teilaspekt der sozialen Dimension von Zeit (welche konsequenterweise als intersubjektive Zeit bezeichnet werden kann) stellt in Form der subjektiven Zeitdimension den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit dar.
- Biologische Zeit bezeichnet „inhärente biologische Rhythmen der Körper von Menschen und anderen Lebewesen“ (20); zu diesen periodisch wiederkehrenden Mustern zählt beispielsweise der naturbedingt unabänderliche Moduswechsel von Wachen und Schlafen, von Anspannung und Entspannung.
- Astronomische Zeit ist der Begriff für „die Kontinuität, Gleichgeschwindigkeit und regelmäßige Wiederkehr der Bewegungen von Himmelskörpern“ (21); diese Zeitdimension spielt in der vorliegenden Arbeit keine Rolle.
- Physikalische Zeit als abstrakt-objektive Größe dient als Basis der modernen sozialen Standardisierung von Zeit und Zeitmessung (vgl. 21).
Obgleich diesem Schema folgend die psychologische Zeit als subjektive Zeitdimension im Vordergrund dieser Arbeit steht, sollte angemerkt werden, daß sowohl die biologische als auch die physikalische Zeit – letztere als unter Zuhilfenahme mechanischer oder digitaler Zeitbestimmer gemessene Zeit – einen Einfluß auf die subjektive Zeitwahrnehmung haben (vgl. beispielsweise Schlote 1996: 22).
1.2.2 Soziale Zeitdimensionen
Die im Mittelpunkt meiner Arbeit stehende soziale Zeitdimension läßt sich nun weiter differenzieren in verschiedene soziale Zeitbewußtseinsformen; in der einschlägigen Literatur finden sich dazu unterschiedliche Begrifflichkeiten, die aber alle dieselbe Stoßrichtung verfolgen (vgl. Häder 1996; Rinderspacher 1985; Rinderspacher/Ermert in Burger (Hrsg.) 1986; Schöps 1980).
Zielführend für meine Arbeit ist der Ansatz von Rammstedt (1975), auf den sich auch zahlreiche später publizierende Zeitforscher beziehen. Er benennt vier idealtypische Formen des Zeitverständnisses, deren Vorliegen vor allem abhängt von der jeweiligen Gesellschaftsform sowie dem mit ihr verbundenen Rationalitätsniveau – „das Zeitverständnis ändert sich [...], wenn sich das Verhältnis Gesellschaft/Natur inhaltlich ändert“ (50):
- Occasionales[17] Zeitbewußtsein führt dazu, daß Zeit „als erlebte Folge von nichtkontinuierlichen Ereignissen“ (50) verstanden wird; Gesellschaften, in denen das occasionale Zeitdenken dominiert, unterscheiden sozusagen punktuell zwischen Jetzt versus Nicht-Jetzt.
- Zyklisches Zeitbewußtsein paßt Zeiterleben in „kontinuierlich wiederkehrende gleiche [quasi-gesetzmäßige; Anm. der Verf.] Bewegungen“ (51) ein und hängt auf diese Weise zusammen mit der naturnahen biologischen und astronomischen Zeitdimension (siehe Kapitel 1.2.1); diese Form des Zeitverständnisses kann auf gesellschaftlicher Ebene beispielsweise durch den Glauben an die Wiedergeburt nach dem Tod evident werden.
- Linear geschlossenes Zeitbewußtsein hat zur Folge, daß die Zeitauffassung sich an einem fixen gesellschaftlichen Ziel orientiert, etwa an der arbeitsteilig organisierten Gesellschaft; die Bewegungen in Richtung dieses Ziels am geschlossenen Zeithorizont werden als progressiv und irreversibel erfahren (vgl. 54).
- Linear offenes Zeitbewußtsein visiert bereits in der Gegenwart die offene und machbare Zukunft an; konsequenterweise kommt es bei diesem gesellschaftlichen Zeitverständnis zu einer Vergegenwärtigung der Zukunft (vgl. 55).
1.2.3 Individuelle Zeitdimensionen
Auf der Ebene individueller Zeitdimensionsformen bietet sich eine der subjektiven Alltagserfahrung nahestehende Differenzierung an:
- Vergangenheit stellt als abgeschlossene Phase des individuellen Lebens die Form einer „explanatorische[n] Geschichte“ (Bieri in Burger (Hrsg.) 1986: 277) und damit einen festen Bestandteil des Ichs dar, dem unmöglich entkommen werden kann; „der offensichtlichste Bezug zur Vergangenheit erfolgt durch das Gedächtnis“ (Hinz 2000: 25), das heißt, die Vergangenheit ist der Raum der Erinnerungen.
- Gegenwart, als jeweils aktuelle Jetztzeit des individuellen Lebens, stellt strenggenommen einen punktuellen Moment „ohne sinnliche Wirklichkeit“ (Hinz 2000: 22) dar, reicht aber in der alltagsweltlichen Wahrnehmungsrealität über das zeitlich Punktuelle hinaus und schließt stets Teile der Vergangenheit in Form nachhaltiger, das jeweils derzeitige Leben beeinflussender Empfindungen sowie Teile der Zukunft in Form gegenwärtiger Erwartungen und Erwartungshaltungen ein – das heißt, die Gegenwart findet statt „im [ausbalancierten; Anm. der Verf.] Kontext einer angeeigneten Vergangenheit und eines Projekts für die Zukunft“ (Bieri in Burger (Hrsg.) 1986: 278).
- Zukunft bietet dem individuellen Leben Platz für „Erwartungen, Zielsetzungen, Antizipationen, Tagträume, Planungen, Prognosen, Hoffnungen, Wünsche oder Emotionen“ (Hinz 2000: 34); ein Großteil individueller Aktivitäten weist einen deutlichen Zukunftsbezug auf, bezieht sich mithin auf die „zukünftige Gegenwart“ (Bieri in Burger (Hrsg.) 1986: 277).
1.2.4 Sonstige Strukturierungsmöglichkeiten von Zeit
Zur Illustration des facettenreichen Charakters der Zeit möchte ich noch einige weitere Strukturierungs- und Differenzierungsmöglichkeiten, die Zeitforscher vornehmen, vorstellen. In der Mehrzahl der Fälle bedienen sich die Autoren dabei dualistischer Kategorien – und bieten Norbert Elias auf diese Weise Anlaß zur Kritik, da dieser, wie weiter oben angemerkt, den „Dualismus des menschlichen Weltbildes“ (1984: 93) tadelt.
Mit Lübbe läßt sich die Zeit grundsätzlich unterteilen in erlebte Zeit und gemessene Zeit (vgl. 1992: Kapitel 9). Dabei bezieht sich erstere auf die subjektive Zeit – zutreffender: Zeitwahrnehmung –, beispielsweise in Form subjektiv erlebter Langeweile, wohingegen letztere mittels der objektiven Zeit erfaßt wird, beispielweise in Form objektiv bemeßbarer Wartezeit (vgl. 1992: Kapitel 9.1). Es liegt mit Lübbe zudem nahe, die erlebte Zeit der Kulturzeit und die gemessene Zeit der Naturzeit zuzuordnen (vgl. 1992: Kapitel 9.2).
Zerubavel zufolge bietet die Zeit eine effiziente Möglichkeit der trennscharfen Differenzierung unterschiedlicher Lebenssphären – “time can function as a most effective principle of differentiation” (1981: 138). So unterscheidet er, in Anlehnung an Emile Durkheim, zwischen “sacred time and profane time” – als Beispiel nennt er “Sabbath and Weekdays” (110) – sowie zwischen “private time and public time” (vgl. 1981: Kapitel 5) – eine Abgrenzung, die auf die Trennung von Arbeit und Privatleben rekurriert.[18] Im Zusammenhang mit der Abgrenzung von privater Zeit und öffentlicher Zeit sollte verdeutlicht werden, daß die Mitglieder moderner Gesellschaften in der Regel an beiden zeitlichen Sphären teilhaben, aber möglicherweise in unterschiedlicher Ausprägung und Stärke eingebunden sind – “modern social structures are typically characterized by the pattern of divided commitment [Herv. im Original; Anm. der Verf.]” (139) und “multiple participation means segmented participation” (139).[19]
Nowotny wählt für den von Zerubavel dargelegten Sachverhalt zwei zunächst etwas abstrakt klingende Termini: Sie differenziert zwischen Eigenzeit und Fremdzeit (1989). Bei der Klärung des Verhältnisses dieser beiden Zeiten zueinander bezeichnet sie die Eigenzeit als Sammelbegriff für die „Vielfalt der privaten, subjektiven Zeiten“ (23) und die Fremdzeit als die „vereinheitlichte öffentliche Zeit“ (23).
Maurers „zwei Pole der Zeitbetrachtung“ (1992: 32) im Rahmen der Forschungsschwerpunkte soziologischer Zeittheorien des 20. Jahrhunderts ähnelt einer Synthese der Ansätze von Lübbe und Zerubavel: Sie nennt auf der einen Seite die subjektive Zeit und auf der anderen Seite die soziale Zeit. Gemäß Maurer ist erstere mit der soziologischen Schule der Phänomenologie und des Symbolischen Interaktionismus’ und zweitere mit der funktionalistischen Systemtheorie verknüpft. Es gilt, daß die Untersuchung der subjektiven Zeit sich vornehmlich auf individuelle zeitliche Wahrnehmungen und Empfindungen bezieht, während die der sozialen Zeit kontextuale Einflüsse – so etwa räumlich-organisatorische Differenzierungsmerkmale und verschiedenartige soziale Inklusionsverhältnisse – in ihre Betrachtung einbezieht.
Hinsichtlich der unterschiedlichen sozialen Zeitbewußtseinsformen – es sei an die Kategorisierung erinnert, die Rammstedt präsentiert (siehe Kapitel 1.2.2) – kann angemerkt werden, daß deren Auftreten nicht nur von der jeweiligen Gesellschaftsform, sondern nach Alheit – auf der mikrosoziologischen Ebene – auch vom jeweiligen individuellen zeitlichen Bezugsrahmen abhängt: Für ihn dominiert das zyklische Zeitbewußtsein die individuelle Alltagszeit, also „Routinen des tagtäglichen Lebens“ (in Zoll (Hrsg.) 1988: 373), während das lineare Zeitbewußtsein die individuelle Lebenszeit prägt (vgl. 373).
Ein letzter Hinweis auf eine weitere Strukturierungsmöglichkeit von Zeit sollte mit Blick auf eine potentielle Dreiteilung der Zeit gemacht werden, die Kamper (1987) vornimmt: Chronos stellt ihm zufolge die gemessene Zeit, „die den Alltag der Termine determiniert“ (in Kamper/Wulf (Hrsg.) 1987: 261), dar und entspricht so der objektiven Zeit Lübbes, die etwa durch den Wandel der Konstellation der Zeiger auf dem Ziffernblatt einer Armbanduhr vermittelt wird. Aion repräsentiert die zyklische Zeit, die durch den „astronomisch-astrologischen Kalender“ (261) gekennzeichnet ist. Kairos schließlich ist die Zeit des glücklich „gelebte[n] Augenblick[s]“ (261).[20]
Teil I: Das Forschungsprojekt
2 Untersuchungshypothese
Aus dem Bereich der Soziologie stammen – abgesehen von an Quantitäten orientierten Zeitbudgetstudien – vor allem zeittheoretische Abhandlungen; empirische Untersuchungen zur subjektiven Zeitwahrnehmung hingegen sind vergleichsweise selten. Dieser relative Mangel, den auch Bergmann (1983), Tismer (1985) und Wotschack (1997) beklagen, stellt eines der Hauptmotive dar, mich dieser Frage zuzuwenden.
Im Rahmen einer soziologisch orientierten empirischen Studie ist es eine interessante Forschungsfrage, wie sich die subjektive Zeitwahrnehmung im sozialen Kontext gestaltet bzw., differenzierter, inwieweit – und in welchen Richtungen – sich Zeitwahrnehmung in Abhängigkeit vom jeweiligen sozialen Kontext erfassen und tendenziell kategorisieren läßt.
Der Ausgangspunkt meiner gedanklichen Überlegungen läßt sich demnach als generelle Untersuchungshypothese wie folgt skizzieren:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Subjektive Zeitwahrnehmung – eingebettet in den sozialen Kontext
Verbalisiert lautet meine Untersuchungshypothese: Unterschiedliche soziale Kontexte können Unterschiede in der subjektiven Zeitwahrnehmung bedingen.[21]
Da es grundsätzlich nicht möglich ist, dafür zu sorgen, daß alle denkbaren Typen sozialer Kontexte[22] erfaßt und untersucht werden, nähere ich mich meinem Ziel, verschiedenartige soziale Kontexte in ihrer potentiellen Wirkung auf die subjektive Zeitwahrnehmung[23] zu untersuchen, indem ich mittels konzentrierter Beschäftigung mit drei Personengruppen drei Datenbestände durch schriftliche Befragungen erzeuge. Diese drei von mir schriftlich befragten Personengruppen sind die folgenden:
1. in Deutschland lebende Bürger
2. Studierende der Soziologie an der FernUniversität Hagen
3. Studierende der Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum
Für die Konstituierung dieser drei Erhebungspopulationen sind zunächst insbesondere pragmatische Gründe maßgebend:
1. Die bundesweite Repräsentativbefragung
Diese erste schriftliche Befragung entsteht im Rahmen eines Wettbewerbsbeitrags für den interdisziplinär ausgeschriebenen Deutschen Studienpreis 2002 der Hamburger Körber-Stiftung, der mich unter dem übergeordneten Wettbewerbsthema „tempo! Die beschleunigte Welt“ inspiriert, mich mit dem Thema Zeitwahrnehmung aus soziologischer Sicht zu beschäftigen.[24]
Schon bei der Abfassung dieses Wettbewerbsbeitrags stelle ich mir die Aufgabe, eine Verbindung zwischen theoretischen Überlegungen zur subjektiven Zeitwahrnehmung, daraus hergeleiteten Untersuchungshypothesen und empirischen Befunden herzustellen.
2. Die Befragung an der FernUniversität Hagen[25]
Die Durchführung dieser zweiten Befragung bietet sich an, da ich gegenwärtig als studentische Hilfskraft bei Prof. Dr. Wieland Jäger – FernUniversität Hagen, Institut für Soziologie, Bereich Arbeit und Gesellschaft – beschäftigt bin und mir somit ein erleichterter Zugang zu dieser Personengruppe geboten ist. Entscheidend ist aber nicht dieser, im Rahmen einer Diplomarbeit sicherlich nachvollziehbare Grund, sondern das Vorhaben, mehrere Stichproben hinsichtlich ihrer Antwortmuster – und vor dem Hintergrund meiner Untersuchungshypothese – zu vergleichen.
3. Die Befragung an der Ruhr-Universität Bochum
Die Durchführung dieser dritten Befragung bietet sich schließlich an, da mir der Datenzugang zu dieser Personengruppe relativ erleichtert wird durch die Tatsache, daß die Ruhr-Universität Bochum meine Heimathochschule ist. Hinzu tritt die mich persönlich besonders interessierende Frage, wie sich die Studierenden meines Studienfachs – meine Kommilitonen – zu verschiedenen Aspekten subjektiver Zeitwahrnehmung äußern.
Der ersten Untersuchung, der bundesweiten Repräsentativbefragung, wird ein hypothetisches Beziehungsmodell zugrundegelegt, das deutlich von schichtungssoziologischen Vorstellungen geprägt ist und sich wie folgt darstellen läßt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Soziale Schichtzugehörigkeit und subjektive Zeitwahrnehmung
Der in diesem Beziehungsmodell zum Ausdruck kommende gedankliche Ansatz entspricht meiner ursprünglichen Untersuchungshypothese: Die subjektive Zeitwahrnehmung wird durch unterschiedliche Aspekte sozialer Schichtzugehörigkeit beeinflußt. – Diese erste Hypothese erweist sich als nur beschränkt tragfähig, da in relativ wenigen Fällen direkte Beziehungen zwischen demographischen und sozio-ökonomischen Variablen einerseits und den zu bewertenden Aussagen zur subjektiven Zeitwahrnehmung andererseits identifiziert werden können.
Als mögliche Ursachen für diesen vergleichsweise unbefriedigenden empirischen Befund, können genannt werden:
1. Mein Fragebogen übernimmt bereits eine Selektionsfunktion: Wer mir aus dem Kreise der bundesweit Angeschriebenen antwortet, hat vermutlich schon zuvor ein latentes Interesse am vorliegenden Thema entwickelt.
2. Mit meinem Fragebogen setze ich – gemäß einem wertvollen Hinweis von Helmut Nolte – sprachliche Reize, auf die mit sprachlichen Reaktionen geantwortet wird: Auf dieser Ebene der sprachlich vermittelten Wahrnehmungen bleibt es deshalb fraglich, ob tatsächlich zum Kern der jeweiligen individuellen Fakten vorgedrungen werden kann.[26]
3. Die nivellierende Wirkung der Massenmedien, mithin die graduelle Diffusion von sozial anerkannten Wertemustern, mag eine gesellschaftliche Normierung der Zeitwahrnehmung nach sich ziehen: Im Falle der subjektiven Zeitwahrnehmung handelt es sich um eine weiche Variable, die durch massenmediale Inszenierungen überaus formbar ist. In der Folge könnte dies zu einem, wie Nolte es nennt, vermassten Zeitbegriff führen: Das Leben in chronischer Zeitnot wird zum gesellschaftlichen Standard.
Aus diesem Ergebnis der ersten Arbeit lassen sich zwei weitere alternative Vorgehensweisen herleiten:
1. Das im Rahmen des Wettbewerbsbeitrags verwendete Erhebungsinstrument wird aufgrund dieser ersten Ergebnisse überarbeitet – insoweit wäre die erste Erhebung als Pretest (vgl. Atteslander 2000: 315ff; Kirchhoff et al. 2001: 24) zu verstehen –, um mit diesem verbesserten Instrument erneut Befragungen, eventuell nochmalig auf bundesweiter Ebene, durchzuführen und dabei weiterhin von dem gedanklichen Ansatz der Abbildung 2 auszugehen.
2. Obwohl der dieser Diplomarbeit zugrundeliegende gedankliche Ansatz im Vergleich zu dem des Wettbewerbsbeitrags modifiziert wird – indem ein Wechsel vom ursprünglichen klassisch-schichtungssoziologischen Ansatz zum umfassenderen, den räumlich-organisatorischen Lebens- und Aktivitätsraum einschließenden Konstrukt „sozialer Kontext“ stattfindet –, wird das verwendete Erhebungsinstrument grundsätzlich beibehalten, um den Vorzug der Vergleichbarkeit der Datenbestände sicherzustellen.
Ich entscheide mich bezüglich der weiteren Vorgehensweise für den zweiten Weg: Durch die weitgehende Beibehaltung des Erhebungsinstruments[27] können die Ergebnisse der vorangegangenen ersten Untersuchung in diese Arbeit einfließen. Insbesondere aber kann auf diese Weise – durch den Vergleich der Ergebnisse der drei Erhebungen – der zu Beginn dieses Kapitels 2 genannten Untersuchungshypothese nachgegangen werden: Unterschiedliche soziale Kontexte können Unterschiede in der subjektiven Zeitwahrnehmung bedingen.
2.1 Sozialer Kontext
Der Begriff des sozialen Kontexts dient in dieser Arbeit der Kennzeichnung wesentlicher Aspekte individueller Lebenssituationen. Das hinter diesem Begriff stehende gedankliche Modell begreift „sozialen Kontext“ als ein synthetisierendes Konstrukt aus demographischen und sozio-ökonomischen Variablen (bzw. ihrer jeweiligen Ausprägungen).[28][29] Diese zwei Determinanten des sozialen Kontexts bedingen ihrerseits die Lebensführung eines Individuums.
Somit können – eine Anregung von Klaus Peter Strohmeier aufgreifend – die relevanten Untersuchungsdimensionen im Hinblick auf den sozialen Kontext in der folgenden Skizze zusammengefaßt werden:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Lebensführung als Folgeprodukt von Lebensform und Lebenslage
Der Terminus der „horizontalen Lebensform“ bezieht sich dabei auf die – im Zusammenhang mit dem sozialen Kontext – interessierende Untersuchungsdimension „Demographie“, die als solche keine stratifikatorischen Implikationen beinhaltet.[30] Zu den Indikatorvariablen der horizontalen Lebensform zählen etwa Geschlecht, Alter, Familienstand, allgemeiner Status (im Sinne von Erwerbstätigkeit oder Nichterwerbstätigkeit).
Der Terminus der „vertikalen Lebenslage“ verweist auf die – im Zusammenhang mit dem sozialen Kontext – interessierende Untersuchungsdimension „sozio-ökonomische Situation“, die, im Gegensatz zur „Demographie“, eine stratifikatorische Differenzierung impliziert. Zu den Indikatorvariablen der vertikalen Lebenslage zählen etwa soziale Herkunft, Bildungsabschluß, beruflicher Status, Einkommen.
Diese Ausführungen zeigen, daß es durchaus zweckmäßig sein dürfte, den hier interessierenden Begriff des sozialen Kontexts mit den beiden zentralen Untersuchungsdimensionen „Demographie“ und „sozio-ökonomische Situation“ auf eine Weise zu erfassen, wie sie in vielen sozialstrukturellen Untersuchungen bewährte Tradition ist.[31]
Der Terminus der „Lebensführung“, der in der obigen Abbildung als Folgeprodukt von horizontaler Lebensform und vertikaler Lebenslage betrachtet wird, zielt ab auf alltagsorganisatorische Koordinationsnotwendigkeiten, so etwa unterschiedlicher Lebensbereiche und der mit ihnen verbundenen Rollen und Aktivitäten. Daß aus derartigen Konstellationen alltagsorganisatorische Kompatibilitätsprobleme – sogenannte constraints (im Sinne von Bedingungen, Zwängen und Restriktionen) – hervorgehen können, wird z.B. in Arbeiten zur Siedlungssoziologie deutlich (vgl. beispielsweise Chapin 1974; Hägerstrand 1970).
Auf das Thema der subjektiven Zeitwahrnehmung bezogen bedeuten diese theoretischen Annahmen, daß sowohl Lebensform als auch Lebenslage Einfluß nehmen auf die individuelle Lebensführung, da die individuelle Lebensorganisation unterschiedlichen Zeitskalen folgt, die untereinander zudem einer intelligenten Koordination bedürfen: Wie organisiere ich meinen Tag, meine Woche, mein Jahr, mein Leben – und zwar im Hinblick auf meine beruflichen und meine privaten Vorstellungen?
Als ein bedeutsamer Aspekt individueller Lebensführung kann schließlich die im Rahmen dieser Arbeit fokussierte subjektive Zeitwahrnehmung interpretiert werden.
2.2 Subjektive Zeitwahrnehmung
Für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse ist die Feststellung, daß das Phänomen Zeit – abgesehen von rein naturwissenschaftlichen Betrachtungsweisen – als wahrgenommene und empfundene Zeit zu verstehen ist: Es leuchtet beispielsweise unmittelbar ein, daß eine Stunde nicht gleich einer Stunde ist, wenn berücksichtigt wird, daß einzelne Individuen in Abhängigkeit von psychologischen, sozialpsychologischen und soziologischen Gegebenheiten durchaus unterschiedliche Wahrnehmungen der Zeit aufweisen dürften.[32]
Die Füllung des Konstrukts der subjektiven Zeitwahrnehmung mit empirischen Informationen stellt das zentrale Ziel meiner Datenerhebungen dar. Der Frage, wie dabei vorgegangen wird, muß deshalb besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.[33] Die Untersuchungsdimension „subjektive Zeitwahrnehmung“ kann auf vielfältige Weise operationalisiert werden. Ich entschließe mich im Hinblick auf die Untersuchung der subjektiven Zeitwahrnehmung zu einer dreigleisigen thematischen Annäherung:
1. Erfassung von sechs zeitthematisch relevanten Indikatorvariablen, die mit dem subsumierenden Etikett „Umgang mit der Zeit“ belegt werden können (siehe Kapitel 3.1 und Kapitel 6.1)
2. Erfassung von Einschätzungen der subjektiven lebensweltlichen Zeitwahrnehmung (siehe Kapitel 3.2 und Kapitel 6.2)
3. Erfassung von Einschätzungen der subjektiven arbeitsweltlichen (bzw. studienbezogenen) Zeitwahrnehmung (siehe Kapitel 3.3 und Kapitel 6.3)
Die Untergliederung der Einschätzungen subjektiver Zeitwahrnehmung in lebensweltliche und arbeitsweltliche (bzw. studienbezogene) Aspekte entspricht einer Dimensionsdichotomisierung: Ich gehe also im folgenden davon aus, daß es sinnvoll ist, das Konstrukt „subjektive Zeitwahrnehmung“ in zwei unterschiedlichen Sphären, in denen mit einiger Wahrscheinlichkeit unterschiedliche Bedingungen und Kontrollen (constraints) zeitlicher Wahrnehmung vorliegen, zu betrachten.[34]
3 Theoretische Fundierung der subjektiven Zeitwahrnehmung
Bezüglich der inhaltlichen Gestaltung des Fragebogens entscheide ich mich vor allem zur Formulierung von allgemeinverständlichen, teils sogar umgangssprachlichen und von den Befragten zu bewertenden Aussagen, die unterschiedliche Aspekte subjektiver Zeitwahrnehmung thematisieren; Allgemeinverständlichkeit ist geboten, da es der Intention meiner ersten Befragung – der bundesweiten Repräsentativbefragung – entspricht, möglichst alle Bevölkerungsschichten, nicht ausschließlich zeitthematisch Vorgebildete, zu erreichen.
Neben Fragen, die der Erfassung demographischer und sozio-ökonomischer Variablen dienen (siehe Kapitel 2.1) sowie Fragen zum „Umgang mit der Zeit“ (siehe Kapitel 3.1), enthält der Fragebogen für die bundesweite und die Hagener Befragung 48 zu bewertende Aussagen zur subjektiven Zeitwahrnehmung; der Fragebogen für die Bochumer Befragung besteht aus 29 zu bewertenden Aussagen zur subjektiven Zeitwahrnehmung.[35]
In der Folge biete ich eine theoretische Fundierung der in Teil II dieser Arbeit vorgestellten empirischen Befunde. Es handelt sich – neben den sechs Untersuchungsaspekten zum „Umgang mit der Zeit“ – um 25 Aussagen zur subjektiven Zeitwahrnehmung, die in allen drei Erhebungen zu bewerten sind und sich darüber hinaus in der ersten Befragung als zeitthematisch besonders bedeutsam erwiesen haben.
3.1 Umgang mit der Zeit
Die nachfolgend vorgestellten sechs unmittelbar zeitbezogenen Indikatorvariablen dienen dazu, unterschiedliche Aspekte des individuell-pragmatischen Umgangs mit der Zeit zu beleuchten. Es handelt sich um drei geschlossene und drei offene Fragen, die die Aussagen zur subjektiven Zeitwahrnehmung abrunden und darüber hinausgehende Informationen liefern, die über die Bewertung von Aussagen nicht erhalten werden können.
Durchschnittliche Schlafdauer
Zahlreiche Aspekte dieser zeitthematisch relevanten Indikatorvariablen mögen individuell variieren – beispielsweise das generelle Schlafbedürfnis (in Abhängigkeit von Lebensphase bzw. Lebensalter sowie weiteren persönlichen Umständen), die gemessene Schlafdauer in Stunden, die zeitliche Lage des Schlafs (z.B. in Abhängigkeit von zeitlichen Lagen der Erwerbstätigkeit; es sei an Erwerbstätige in Spät- oder Nachtschichten erinnert) oder sonstige Schlafgewohnheiten (z.B. Ausschlafen an den Wochenenden) –, doch der grundsätzliche „Wechsel zwischen Wach- und Schlafzustand“ stellt einen „zirkadiane[n] Zyklus“ (Aveni 1991: 42) dar, der unmöglich auf Dauer durchbrochen werden kann. Garhammer erwähnt in diesem Zusammenhang den schwedischen Zeitgeographen Torsten Hägerstrand, nach dem die Unabwendbarkeit regenerativer Ruhephasen zu den sogenannten capability constraints zählt (vgl. 1999: 371).
Trotz dieser „Naturnotwendigkeit“ (Garhammer 1999: 377) der täglichen – bzw. in den meisten Fällen treffender: nächtlichen – Ruhe sind Tendenzen der „Erschließung neuer Zeiträume für Lebens- und Arbeitsprozesse“ (Rinderspacher 1985: 19) erkennbar, die sich, da der Tag begrenzt ist, auf die Nacht ausdehnen; Nowotny bezeichnet diesen Trend als „Kolonialisierung der Nacht“ (1989: 101). Zumindest aus medizinisch-physiologischer Sicht ist die Erschließung der Nacht zwecks Gewinnung eines zusätzlichen Aktivitätszeitraums als bedenkenswert und ambivalent einzustufen.[36]
Die Ursachen dieser Neigung zur Nachtkultur (vgl. Garhammer in Meyer/ Schulze (Hrsg.) 1993: 198) mögen vielschichtig sein; mit einiger Wahrscheinlichkeit spielt neben der allgemeinen Handlungsoptionenvielfalt (vgl. Gross 1994) auch die Motivation, die „Schlafverkürzung als Mittel der Lebensverlängerung zu nutzen“ (Lübbe 1992: 361), eine Rolle.[37]
Uhrzeitorientierung
Die Frage des gewohnheitsmäßigen Tragens einer Armbanduhr trägt in sich das Potential einer Spaltung vermutlich jeder hochentwickelten Gesellschaft in zwei Lager: Auf der einen Seite stehen diejenigen, „die auf Verbreitung und größtmögliche Nutzung der Uhren dräng[en]“ und auf der anderen Seite jene, „die auf sie eigentlich lieber verzichte[n] und einen freieren Umgang mit der Zeit schätz[en].“ (Wendorff in Burger (Hrsg.) 1986: 20)
Eine vergleichbare Polarisierung findet sich auch in der zeittheoretischen Literatur: Während einerseits die Vorzüge – mehr noch: die Notwendigkeit – von Uhren zwecks sozialer Synchronisation und Koordination betont werden (vgl. beispielsweise Lübbe 1992: 326), wird andererseits gerade diese kollektivierte Uhrzeitorientierung[38] als ein Unterordnen des Alltags unter die „selbstgeschaffene Fessel der Zeit“ (Gross in Garhammer 1994: 25) kritisiert.
Fest steht, daß der „Siegeszug der Uhr“ (Vogt in Fürstenberg/Mörth (Hrsg.) 1986: 228) aufgrund seines flächendeckenden Charakters einem gesellschaftlich großangelegten Experiment mit der Zeit entspricht (vgl. Nowotny 1989: 135), dessen Ergebnis – Leitfrage: Ist eine ausgeprägte Uhrzeitorientierung dem menschlichen Wohlbefinden abträglich oder nicht? –, weder endgültig bestimmbar noch unstreitig sein wird.
Literatur zu Selbst[39] - und Zeitmanagement
Das Geschäft mit populärwissenschaftlichen Ratgebern zu Selbst- und Zeitmanagement unterliegt zweifellos gewissen Schwankungen, gleichwohl erweckt ein Blick in die wohlgefüllten Regale der Buchhandlungen den Eindruck eines möglicherweise zeitlosen Interesses an der Zeitthematik.[40]
Im Zuge von Beschleunigung und „Vergleichzeitigung“ (Backhaus in Aus Politik und Zeitgeschichte 1999: 21) werden beispielsweise Kurse in Schnell-, Diagonal- und Schwerpunktlesen[41] angeboten – und auch offensichtlich nachgefragt. Dieser Eindruck eines „Boom[s] der psychologischen Ratgeber [Hervorh. im Original; Anm. der Verf.] und Kurse für die Bewältigung zeitlicher Probleme“ (Garhammer in Dollase et al. (Hrsg.) 2000: 305) wird verstärkt, wenn man sich vor Augen führt, daß offenbar sogar die „in nicht wenigen Großstädten [angebotene] ‚besinnliche 10-Minuten-Andacht‘“ (Busch in Backhaus/Bonus (Hrsg.) 1997: 194) ihre Interessenten findet.
Geissler deutet Phasen zeitthematischer Hochkonjunktur als „Ausdruck einer Verunsicherung“ (1992: 15); für Hinz liegen die Ursachen der Sensibilisierung für das Thema Zeit in der Erfahrung des latenten Konfliktcharakters der endlichen Ressource Zeit – so vor allem im „Unbehagen, wenn einem im Streß die Zeit ‚im Nacken sitzt‘“ (2000: 8).
Die Zweckmäßigkeit großer Mengen populärwissenschaftlicher Selbst- und Zeitmanagementliteratur wird jedoch vielfach in Frage gestellt: So interpretiert beispielsweise Fischer das „Arbeitszeit-Management“ nicht als die Schaffung von etwas tatsächlich Neuem, sondern lediglich als den Versuch, „gegebene Zeit zu formen“ (1991: 68). Auch Hinz geißelt die Vertreter des Ziel- und Zeitmanagements, indem er ihnen vorhält, „daß sie das Leben nur als Plan begreifen, den man zwar selbst aufstellt, dann aber nur abarbeiten muß.“ (2000: 39)
Zeitgewinn[42]
Für Menschen, die der Vorstellung anhängen, Zeit ließe sich gewinnen und damit sparen wie Geld auf einem Sparkonto (vgl. Fülgraff in Backhaus/Bonus 1997: 51), lautet die handlungsleitende Maxime: „Maximaler Zeitgewinn durch optimale Zeitausnutzung“ (Wulf in Kamper/Wulf (Hrsg.) 1987: 271). Diese Devise setzt die Überzeugung einer „grenzenlose[n] Planbarkeit, Machbarkeit und Kontrollierbarkeit“ (Geissler in Zoll (Hrsg.) 1988: 673) der Zeit voraus.
In der lebens- und arbeitsweltlichen Praxis werden von Zeitjägern und „Beschleunigungsfetischisten“ (Backhaus in Aus Politik und Zeitgeschichte 1999: 18) eine Vielzahl „unspezifische[r] Qualifikationen wie Pünktlichkeit, Ausdauer, schnell arbeiten [...] können, Dinge schnell [...] erfassen [können]“ (Rinderspacher/Ermert in Burger (Hrsg.) 1986: 318)[43] – mithin die Bereitschaft zu Askese, Rationalität und Selbstdisziplin – abverlangt.
Über diese durch Menschen gestaltbaren Methoden des Zeitgewinns hinaus spielen technische Errungenschaften – Haushalts- und Küchengeräte, Computer, computergestützte Einparkhilfen, etc. – eine wichtige Rolle, denn an sie werden ebenfalls konkrete Hoffnungen auf Zeitgewinnchancen geknüpft (vgl. Garhammer in Meyer/Schulze (Hrsg.) 1993: 177ff).[44]
Zeitverlust[45]
Während die Hauptquellen des Zeitgewinns sich anscheinend im variablen Verhalten der Zeitgewinnler finden lassen, liegen die Hauptquellen des Zeitverlusts offenbar außerhalb des menschlichen Einflußbereichs – einmal abgesehen von zeitraubenden individuellen Charakteristika wie etwa mangelnder Selbstdisziplin oder unzureichender Zeitplanungskompetenz.
Hinsichtlich der konkreten Hoffnungen auf Zeitgewinnchancen, die an technische Errungenschaften geknüpft werden (siehe „Zeitgewinn“), bietet das domestic labour paradox, Garhammer zufolge, eine Enttäuschung: „[D]ie versprochene Entlastung [ist] nicht eingetreten“ (in Meyer/Schulze (Hrsg.) 1993: 177), vielmehr werden „wachsende Zeitnöte durch mehr Zeitbearbeitungstechniken“ (198) beobachtbar. Er bietet auch eine Erklärung für diesen offensichtlichen Widerspruch: „Im Zuge der Technisierung wachsen die Aktivitäten, die Zeitansprüche stellen, so daß sich bei begrenzten Zeitressourcen [...] die zeitlichen Konflikte verschärfen.“ (198)
Auf einer übergeordneten Ebene erscheinen die Wirkungszusammenhänge der Zeitverlustproblematik eindrucksvoll komplex: Der sozio-technologische Fortschritt[46] wartet mit einer Vielzahl – nicht-intendierter – Nebenfolgen auf, die dazu führen, daß viele Menschen als „Nomaden zwischen unterschiedlichen Zeitanforderungen und verschiedenen Zeitmustern“ (Geissler in Aus Politik und Zeitgeschichte 1999: 9) sich dazu gezwungen sehen, auch bestehende und unabänderliche Formen des Zeitverbrauchs – etwa in Form von Wartezeiten (in Verkehrsstaus, beim Einkaufen, in Ämtern, etc.) – zu übernehmen (vgl. Rinderspacher 1985: 291).
Verwendung frei verfügbarer Zeit[47]
Der „Wunsch der Menschen nach mehr Zeit für sich selbst“ (Nowotny 1989: 105) zählt zu jenen Begehren, die oftmals geäußert, aber kaum befriedigt werden.
Die freien Zeitkontingente, die den Menschen zur Verfügung stehen[48], können auf unterschiedliche Weise verwendet werden.
Grundsätzlich lassen sich – in Anlehnung an Wotschack (1997: 33) – drei Verwendungsformen frei disponibler Zeit unterscheiden: Erstens die produktive Zeitverwendung, die der Nutzung von Zeit für Erwerbstätigkeit entspricht (d.h. in diesem Falle würde auch die freie Zeit für den Gelderwerb genutzt[49] ). Zweitens die konsumtive Zeitverwendung, die gemäß Rinderspacher/Ermert nicht selten „ein hohes Maß an Passivität“ (in Burger (Hrsg.) 1986: 327) aufweist und vor allem dem „physische[n] Regenerationsbedürfnis“ (Hielscher/Hildebrandt 1999: 118) Rechnung trägt; in diese Kategorie fallen etwa Sozialkontakte (Freundschaften, Vereinszugehörigkeiten, etc.) oder Medienkonsum (Lesen, Fernsehen, etc.) (vgl. beispielsweise Geissler 1992: 99; Heintel 1999: 95).[50] Frei verfügbare Zeit kann aber auch, drittens, für eigene Ziele und Zwecke investiv verwendet werden – z.B. in Form von „‚Bildung und Qualifizierung‘ als Freizeittätigkeit“ (Häder 1996: 24).
3.2 Subjektive lebensweltliche Zeitwahrnehmung
Die nachfolgend vorgestellten und theoretisch begründeten siebzehn Aussagen zur subjektiven lebensweltlichen Zeitwahrnehmung dienen als Indikatoren subjektiver Zeitwahrnehmung. Sie lassen sich, wie die nachstehende Abbildung 4 zeigt, verschiedenen Untersuchungsdimensionen subjektiver Zeitwahrnehmung zuordnen:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Dimensionen der subjektiven lebensweltlichen Zeitwahrnehmung
Die Untersuchungsdimensionen
- Lebenstempo und Tempowechsel – Untersuchung potentieller Geschwindigkeits- und Beschleunigungswahrnehmungen in der lebensweltlichen Praxis
- Freizeit – Untersuchung potentieller Empfindung von Freizeitstreß
- Zeitorientierung – Untersuchung einer potentiell primär zukunftsorientierten Lebensführung
- Zeitsouveränität – Untersuchung des potentiell zeitsouveränen Umgangs mit alltagsorganisatorischen Koordinations- und Kompatibilitätsherausforderungen (constraints)
- Pathologien der Moderne – Untersuchung potentiell vorliegender Symptome zeitlicher Getriebenheit
- Lebenseinstellungen – Untersuchung zeitthematisch relevanter Einstellungen zum Leben generell
Aussage 1
„Ich habe mein Leben schon immer als recht schnell ablaufend empfunden.“
Bei dieser Aussage geht es um eine retrospektive Deskription der individuellen Lebenstempoempfindung. Die – wohlgemerkt: subjektive – Empfindung eines raschen Lebensablaufs läßt deren Bewertung offen, denn Tempo und Taktung beschreiben zunächst wertneutral, „wie die Menschen den Fluß oder die Bewegung der Zeit erfahren“ (Levine 1998: 31): Sie können die Zeit als schnell oder weniger schnell fließend empfinden.
Eine geeignete, wenn auch abstrakte Maßeinheit der Lebensgeschwindigkeit könnte zum Beispiel Aktivitäten pro Zeiteinheit lauten, und damit entspräche einem schnellen Leben eine hohe Aktivitätendichte. Solch ein schnelles, also aktivitätendichtes Leben kann auf der individuellen Ebene als bereichernd-inspirierend oder als nervenaufreibend-überfordernd – „[m]an fühlt sich selber als Geschoß in der Zeit“ (Gross 1994: 157) – empfunden werden.
In der „ruhelose(n) Gesellschaft“ (Rinderspacher 1987) bleibt die individuelle Empfindung jedoch nicht das alleinige Maß der Dinge; die in dieser Aussage untersuchte subjektive Wahrnehmung einer hohen Lebensgeschwindigkeit transzendiert den Geltungsbereich persönlicher Angelegenheiten und erhält auf der kollektiven Ebene eine Chiffrierung, die gesellschaftsweit entschlüsselt werden kann: Schnell ist gut, denn in der modernen Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft bedeutet Schnellsein potentiell Erfolgreichsein (vgl. Ermert/Rinderspacher 1981; Laermann in Zoll (Hrsg.) 1988; Rifkin 1988).
Dem Charakter der heutigen Zeit entspricht es, der vita activa das normative Primat über die vita contemplativa zu gewähren – oder wie Geissler es metaphorisch zum Ausdruck bringt: „Der Weg über die Aktivität ist heute zur mehrspurigen Straße ausgebaut, jener über die Kontemplation wurde dabei zugeschüttet.“ (in Zoll (Hrsg.) 1988: 679)
Ein offenes Bekenntnis zur Präferenz eines gemächlichen Lebensstils würde den Bekennenden möglicherweise in soziale Verlegenheit bringen, erschiene es doch konträr zur herrschenden „Tempoideologie der Moderne“ (Schöps 1980: 169) – allenfalls den sogenannten Zeitpionieren (Hörning 1991), einem alternativen Leitbild zeitlicher Wahrnehmung, gelänge dies guten Gewissens: Sie stellen eine kleine gesellschaftliche Gruppe dar, die dem hohen Lebenstempo den Kampf ansagt und die Insignien eines im konventionellen Sinne erfolgreichen Lebens – angesehener Beruf, voller Terminkalender, sattes Konto – bewußt eintauschen für ein Mehr an frei disponibler Zeit, für eine Drosselung des Lebenstempos aus freien Stücken.
Aussage 2
„Mein Leben hat sich in den letzten Jahren wesentlich beschleunigt.“
Hier wird nach der Einschätzung der persönlichen Lebenstempoentwicklung im Laufe der vergangenen Jahre gefragt. Auch in diesem Falle gilt: Die subjektive Empfindung einer Lebensbeschleunigung – also einer Steigerung der Lebensgeschwindigkeit – läßt deren Bewertung offen.
Es darf erstaunt gefragt werden, worin die Ursachen der Beschleunigung eines womöglich bereits zuvor schnell abgelaufenen Lebens liegen. Negt bringt diese Verwunderung auf den Punkt, indem er schreibt: „Irgend etwas treibt den Prozeß der Beschleunigung voran, der ohne Willen und Bewußtsein verläuft.“ (2001: 138)
In Anlehnung an den Bedeutungsgehalt der vorangegangenen Aussage – in der galt: Schnell ist gut – könnte es hier heißen: Schneller ist besser. Zwar kann es sein, daß die Zielrichtung dieser „Schnelligkeitsforderung“ (Wendorff in Zoll (Hrsg.) 1988: 635) unreflektiert – also wie Negt betont: „ohne Willen und Bewußtsein“ (2001: 138) – bleibt, gleichwohl ist sie sozio-historisch tief verwurzelt: „Das Tempo des Hastens [...] ist seit Napoleons Zeiten dauernd beschleunigt worden.“ (Kamper in Kamper/Wulf (Hrsg.) 1987: 259).
Das an ökonomischen Kriterien der Rationalität und Effizienz orientierte Leben in der modernen Leistungsgesellschaft (vgl. beispielsweise Garhammer 1999: 463) führt, wenn man sich ihm anpaßt, unweigerlich zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Dieses Leben forciert die Herausbildung eines Beschleunigungsimperativs, indem es zum Leitsatz wird, daß „die genutzten Gelegenheiten [...] die verpaßten in den Schatten stellen“ (Gronemeyer 1993: 103).[52] Für Hohn stellt die Zeitbeschleunigung „das zentrale Lebensgefühl der Industrialisierung“ (1984: 154) dar.
[...]
[1] Als Beispiel für eine international vergleichende Untersuchung möchte ich nennen: Manfred Garhammer (1999): Wie Europäer ihre Zeit nutzen. Zeitstrukturen und Zeitkulturen im Zeichen der Globalisierung. Berlin.
[2] Im Original: „Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare velim, nescio.“ (Confessiones XI, 14, 22f) Quelle: http://www.uni-rostock.de/fakult/ philfak/fkw/iph/strobach/veranst/therapy/confessiones.html (20.04.2003) Es existieren unterschiedliche Übersetzungen aus dem Lateinischen, die jedoch alle in dieselbe Richtung gehen. Eine weitere interessante Internetquelle ist die folgende: http://www.uni-giessen.de/~gde9/seminare/zeitakt1.htm (20.04.2003)
[3] Einen guten Überblick über die Zeit im sozial- und geisteswissenschaftlichen Diskurs bietet Andrea Maurer (1992): Alles eine Frage der Zeit? Die Zweckrationalisierung von Arbeitszeit und Lebenszeit. Berlin.
[4] Dirk Kaesler macht mich in einem Gespräch Anfang Februar 2003 dankenswerterweise darauf aufmerksam, daß die Zeit, entgegen meinem ersten Eindruck während der Arbeit an einem Wettbewerbsbeitrag im Jahre 2002, als soziologisches Thema durchaus seit langem etabliert ist; mein thematischer Einstieg war geprägt durch die Lektüre von „Klage[n] über die Vernachlässigung und die Marginalität des Zeitproblems in der Soziologie“ (Bergmann 1983: 462). Und auch andere Zeitforscher konstatieren diesen relativen Mangel an zeittheoretischer Fundierung (vgl. beispielsweise Hinz 2000: 7; Rinderspacher 1985: 9; Tismer 1985: 677; Wendorff in Burger (Hrsg.) 1986: 41). Im Hinblick auf die soziologischen Klassiker mag jedoch festgehalten werden, daß sich der Fokus zeitsoziologischer Betrachtungen im Laufe der Jahre bzw. Jahrzehnte gewandelt hat – und zwar von zeitbezogener Grundlagenforschung (z.B. der Untersuchung des Verhältnisses von Religion und Zeit) zu Deskriptionen und Analysen post-moderner Zeitwahrnehmungen (z.B. Zeitknappheitsempfindungen). Die knappe und exemplarische Vorstellung der „Klassiker der Soziologie“ erklärt sich dadurch, daß subjektive Zeitwahrnehmungen in der Gegenwart im Vordergrund meiner Arbeit stehen.
[5] Emile Durkheim (1981): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt/Main.
[6] Alfred Schütz (1981): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Frankfurt/Main.
[7] Beispielhaft für diesen Boom sei die vom US-amerikanischen Naturwissenschaftler und Techniker J. T. Fraser initiierte Gründung der “International Society for the Study of Time” im Jahre 1966 erwähnt. Weitere Informationen im Internet: http://www.studyoftime.org/index.html und http://www.timesmith.net/JTF/ (24.03.2003)
[8] Zum mitunter skurrilen Umgang mit der Zeit möchte ich folgende zwei Entdeckungen erwähnen: Erstens wirbt ein renommierter Uhrenfabrikant (Glashütte/SA) im Spiegel vom 31. März 2003 für seine „professionelle Zeit“. Es drängt sich damit die Frage auf, was „professionelle Zeit“ ist – und ob es, konsequent weitergedacht, auch „semi-professionelle Zeit“ bzw. „amateurhafte Zeit“ gibt. Zweitens findet man in der Buchgeschenk-Ecke wohlsortierter Buchhandlungen neuerdings Zeit-Scheckhefte; diese beinhalten Gutscheine über kleine Zeit-Aufmerksamkeiten „für einen lieben Menschen und für alle Situationen“, z.B. „Mehr Zeit für gemeinsame Aktivitäten: Gutschein für 3x miteinander joggen“ (Quelle: Ich schenk dir Zeit-Schecks. ars edition. München 2003.)
[9] Die Neigung zu Ideologisierung und Normativierung mancher Aspekte der Zeitthematik – wie etwa dem Pro und Contra der Pünktlichkeit (siehe Kapitel 3.2: Komplement zu Aussage 14) – läßt sich vermutlich auf diese kulturkritischen Entwicklungen zurückführen.
[10] Die im Zusammenhang mit Reflexionen über vermeintliche Selbstverständlichkeiten menschlicher Charakteristika häufig auftauchende Frage – nature or nurture? – beantwortet Elias bezüglich der menschlichen Beziehung zur Zeit zu Gunsten von nurture, also Erziehung (vgl. 1984: 118 und 121).
[11] Diese Einschätzung harmoniert mit jener anderer Zeitsoziologen, die in der Folge vorgestellt werden; auch sie diagnostizieren einen evolutionären Prozeß von okkasionalen über zyklische zu linearen Zeitbewußtseinsformen (siehe Kapitel 1.2.2).
[12] Symbole sind Sinnbilder, und als solche bedeuten sie eine gewisse, potentiell entfremdende Distanz zur Wirklichkeit.
[13] Ob diese „für Kampffronten“ (Elias 1984: 58) stehenden Dualismen und Dichotomien heute, knapp zwanzig Jahre nach Erscheinen von Elias’ Werk über die Zeit, überwunden sind, kann bezweifelt werden.
[14] Als Prototyp ökonomischer Arbeitszeitstudien gelten die im Rahmen des scientific managements von Frederick W. Taylor durchgeführten time-and-motion-studies, deren Ziel es war, Kontrolle zu erlangen über die zeitlich-räumliche Dimension der Arbeitsverausgabung; mittels ökonomisierter Bewegungsabläufe sollte die Produktion gesteigert werden.
[15] Vgl. Adam: “No coherent social science approach [to time; Anm. der Verf.] was discernible.” (1990: 45)
[16] Der Behauptung Adams, “all time is social time”, würden vermutlich zahlreiche Naturwissenschaftler widersprechen; weniger strittig – und im Sinne Durkheims – ist sicherlich ihr Befund: “time as a social fact” (1990: 42).
[17] Zuweilen findet sich in der von mir zitierten Literatur auch die Alternativschreibweise „okkasional“. Ich passe mich der jeweiligen Schreibweise an.
[18] Diese Trennungsmöglichkeit wähle auch ich für die Auswahl der von den schriftlich Befragten zu bewertenden Aussagen: Ich unterscheide zwischen „lebensweltlicher Zeitwahrnehmung“ und „arbeitsweltlicher (bzw. studienbezogener) Zeitwahrnehmung“ (siehe Kapitel 3.2 und 3.3 sowie Kapitel 6.2 und 6.3).
[19] Diese Basisannahme wird Untersuchungsgegenstand eines von der DFG ab Juli 2003 geförderten zweijährigen Forschungsprojekts an der FernUniversität Hagen sein: „Inklusionsprofile – eine differenzierungstheoretische Sozialstrukturanalyse der Bundesrepublik Deutschland“. An diesem Projekt werde ich mitarbeiten.
[20] Die Vorstellung, Chronos könnte der größte Feind des Kairos sein, mag sich in diesem Zusammenhang aufdrängen. Zur Mythologie: Kronos war (u.a.) Vater des Zeus und gilt als „Herrscher über die Menschheit im ‚Goldenen Zeitalter‘“ (Das Neue Taschenlexikon 1992, Band 8: 330); Kairos gilt als „der griech. Gott des ‚günstigen Augenblicks‘“ (ebd.: 12).
[21] Diese generelle Untersuchungshypothese läßt sich in Teilhypothesen zerlegen, die sich auf einen eventuellen Zusammenhang zwischen einzelnen demographischen und sozio-ökonomischen sowie lebenskontextualen Variablen einerseits und den Variablen zur Deskription subjektiver Zeitwahrnehmung andererseits beziehen (z.B. „das Alter beeinflußt die Empfindung zeitlicher Getriebenheit“ oder „der Studierendenstatus beeinflußt die subjektive Zukunftsorientierung“).
[22] Zum Konstrukt „sozialer Kontext“: siehe Kapitel 2.1.
[23] Zum Konstrukt „subjektive Zeitwahrnehmung“: siehe Kapitel 2.2.
[24] Der Titel meines Wettbewerbsbeitrags lautet: „Der bewegte Mensch“. Dieser Wettbewerbsbeitrag erzielt, wie mir während der Abfassung der vorliegenden Arbeit mitgeteilt wird, einen ersten Preis.
[25] Diese Schreibweise entspricht der offiziellen Schreibweise der „FernUniversität Hagen“. Analog verwende ich in dieser Arbeit die Schreibweise „FernStudierende“.
[26] Sprachlich vermittelte Einschätzungen stellen jedoch ein generelles Problem schriftlicher (und auch mündlicher Befragungen) dar. Zu alternativen Datenerhebungsmethoden: siehe Kapitel 4.1.
[27] Für die Befragung unter Studierenden der Sozialwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum wird der Fragebogen um einige Untersuchungsaspekte ergänzt, die speziell bei Befragungen unter Studierenden in Präsenzstudiengängen von Interesse sind (z.B. belegte Semesterwochenstunden, täglicher Zeitaufwand für Vor- und Nachbereitung des Studiums).
[28] Entsprechend der Abbildung 1 stellt der soziale Kontext die unabhängige bzw. beeinflussende Variable X dar: Sozialer Kontext (X) → Subjektive Zeitwahrnehmung (Y).
[29] Diese Definition des sozialen Kontexts – als Kennzeichnung wesentlicher Aspekte individueller Lebenssituationen – unterscheidet sich von der konventionellen Definition eher sozialräumlichen Charakters (Familie, Peer Group, Milieu, Subgruppe, etc.), indem sie in dieser Arbeit mittels der Untersuchungsdimensionen „Lebenslage“ und „Lebensform“ enger an das Individuum geknüpft ist. Nichtsdestotrotz werden auch hier Unterschiedlichkeiten im Hinblick auf die Lebens- und Aktivitätsräume der Befragten berücksichtigt: Meine drei Erhebungspopulationen – zufällig ausgewählte in Deutschland lebende Bürger, Hagener FernStudierende, Bochumer Präsenzstudierende – entstammen unterschiedlichen sozialen Kontexten.
[30] Die zunächst nicht-hierarchisierende horizontale Lebensform bildet gleichwohl das Fundament, auf dem die hierarchisierende vertikale Lebenslage aufbaut. Dieser Tatbestand läßt sich besonders gut nachvollziehen am Beispiel der demographischen Variablen „Geschlecht“, weil Frauen sich in einer spezifischen Situation hinsichtlich der sozio-ökonomischen Variablen „Beruf“ und „Einkommen“ befinden (vgl. beispielsweise Crompton 1998; Savage 2000; Scott 1996).
[31] Derartige sozialstrukturelle Differenzierungsmerkmale, die als Determinanten sozialer Ungleichheit erachtet werden, behandelt auch die einschlägige theoretische Literatur (vgl. beispielsweise Geissler 1996; Hradil 2001; Schäfers 2002).
[32] Entsprechend der Abbildung 1 stellt die subjektive Zeitwahrnehmung die abhängige bzw. beeinflußte Variable Y dar: Sozialer Kontext (X) → Subjektive Zeitwahrnehmung (Y).
[33] Ich habe zu Beginn von Kapitel 2 angemerkt, daß empirische Studien zur subjektiven Zeitwahrnehmung im sozialen Kontext kaum vorliegen. Infolgedessen begründen die vorgestellten Überlegungen eine empirische Studie explorativer Art. Es muß späteren Untersuchungen vorbehalten bleiben, meine Ansätze im Lichte neuer empirischer Befunde zu überprüfen. Insofern weisen meine Versuche, Aspekte subjektiver Zeitwahrnehmung zu erfassen, ihrerseits hypothetischen Charakter auf, das heißt, die Formulierung der Untersuchungsdimensionen und die Benennung der zu erhebenden Variablen sind ihrerseits Hypothesen, die – um Zirkelschlüsse zu vermeiden – mit den gewonnenen Daten nicht, wohl aber mit alternativ gestalteten Folgeuntersuchungen überprüft werden können.
[34] Dieser Ansatz entspricht der Strukturierung von Zeit, die beispielsweise Nowotny – Eigenzeit versus Fremdzeit – und Zerubavel – private time versus public time – vornehmen (siehe Kapitel 1.2.4).
[35] Die Verringerung der Anzahl der zu bewertenden Fragen in der zweiten Fragebogenversion, der für die Bochumer Befragung, ist das Ergebnis der Identifikation von Aussagen, die sich in der Datenanalyse der ersten (bundesweiten) Befragung als besonders aussagekräftig erwiesen haben.
[36] So stellt Schlafentzug neben einem juristischen auch ein medizinisch-physiologisches Problem dar; Rudolf Henke, Zweiter Vorsitzender des Marburger Bundes, schreibt dazu: „Fast schon klassisch ist der Befund von Dawson und Reid aus Nature 1997, wonach anhaltendes Wachsein über 24 Stunden die kognitiven psychomotorischen Fähigkeiten ebenso beeinträchtigt wie eine Blutalkoholkonzentration von 1,0 Promille.“ Quelle:
http://www.marburger-bund.de/nrwhld/landesverbandaktuell/texte/henke0201.html (25.03.2003)
[37] Gemäß dem deutschen Sprichwort: „Je länger man schläft, desto weniger man lebt.“ Eine Alternative dazu bietet der römische Redner Cicero (106-43 v. Chr.), nach dem der Schlaf einem Bild des Todes entspricht: „Somnus imago mortis“ (Mackensen 1985: 412 und 674).
[38] Es sei mit Elias (1984) nochmals auf den sozialen Charakter der Zeit hingewiesen. Elias seinerseits, so merkt Fischer an, habe einmal gesagt, er könne sich nicht vorstellen, daß es im Paradies Uhren gäbe (vgl. 1991: 66). Solch eine Aussage verdeutlicht Elias’ uhrenkritische Position; diesem Standpunkt hält Hinz entgegen, indem er in bezug auf den Verzicht von Uhren auf eine eigene empirische Untersuchung zurückgreift und schreibt: „Signifikante Zusammenhänge mit dem Wohlbefinden findet man in der durchgeführten Erhebung nicht.“ (2000: 179)
[39] „Selbstmanagement“ wird in diesem Zusammenhang in erster Linie als „zeitliches Selbstdisziplinierungs- und Rationalisierungsbestreben“ begriffen.
[40] Eine Recherche in der Suchmaschine Google ergibt 52.500 deutschsprachige Einträge zum Stichwort „Zeitmanagement“. Die Recherche bei der Online-Buchhandlung Amazon bringt es zum selben Stichwort auf 251 Buchtitel. (19.03.2003) Auch die renommierte Wochenzeitung Die Zeit veröffentlicht in ihrer Ausgabe vom 3. April 2003 ein umfangreiches „Leben-Special“ zum Thema Zeit.
[41] Das vielleicht prominenteste Beispiel effektiver Lesetechniken ist die sogenannte SQ3R-Methode; dabei handelt es sich um eine Abkürzung für Survey (Orientieren) – Question (Fragen) – Read (Lesen) – Recite (Rekapitulieren) – Review (Wiederholen). Quelle:
http://www.ews.uni-heidelberg.de/~busse/KniggeTexteRichtigLesen.html (19.03.2003)
[42] Dieses Denken setzt nach Elias die Aufrechterhaltung des „Mythos von der dinghaften Zeit“ (1982: 842) voraus: Der Zeit werden nach dieser Denkart ähnliche Charakteristika zugeschrieben wie dem Geld; Zeit wird ökonomisiert (siehe Kapitel 3.2: Aussage 16).
[43] Diese Qualifikationen fallen zu einem großen Teil in die Kategorie der sozialen Kompetenzen (soft skills); diese werden seitens der Arbeitgeber in ähnlicher Weise eingefordert wie die rein fachlichen Kompetenzen (hard skills). (Vgl. Wörterbuch der New Economy 2001: 224)
[44] Hörning et al. erwähnen in diesem Zusammenhang den “technikfaszinierte[n] Wellenreiter” (1997: Kapitel 6) mit Spaß an Leistungssteigerung und Tempo. Zur Realisierung dieser Hoffnungen auf Zeitgewinnchancen: siehe „Zeitverlust“.
[45] Hier gilt wieder Elias’ Anmerkung (siehe Fußnote 42).
[46] Zum sozio-technologischen Fortschritt zählen Faktoren wie Urbanisierung, Bürokratisierung, Technikunterstützung (vgl. Fülgraff in Backhaus/Bonus (Hrsg.) 1997: 52; Garhammer 1999: 395 und 483; Schöps 1980: 168).
[47] Eine Definition von „frei verfügbare[r] Zeit“ bietet Rinderspacher: Er beschreibt sie als „eine nicht unter dem Einfluß des Erwerbsverhältnisses stehende Zeit“ (in Rinderspacher (Hrsg.) 2002: 77).
[48] Nach Wotschack „beläuft sich die durchschnittliche Tagesfreizeit [von Montag bis Freitag; Anm. der Verf.] auf ca. dreieinhalb Stunden“ (in Rinderspacher (Hrsg.) 2002: 159).
[49] Das bedeutet z.B., daß ein Erwerbstätiger – wohlgemerkt: in seiner Freizeit – Nebentätigkeiten nachgeht; im Falle freiberuflich Erwerbstätiger hingegen ist der Übergang von Arbeitszeit zu Freizeit eher diffus. Und auch Studierende kennen keinen wirklichen Feierabend.
[50] Diese (Frei-)Zeitverbringungsform korrespondiert mit dem alltagssprachlichen Empfinden von Freizeit als einem Zeitkontingent, das primär der Entspannung dient.
[51] Der Variablenname „A01“ steht für „Aussage 1“. Entsprechendes gilt für die übrigen Variablennamen.
[52] Dieser gedankliche Ansatz läßt Assoziationen mit dem Terminus der Versäumnisgesellschaft (Heintel 1999) zu: Das Leben in der Versäumnisgesellschaft wird dominiert vom „Gefühl, ständig etwas zu versäumen“ (Heintel 1999: 107).
- Quote paper
- Nadine M. Schöneck (Author), 2003, Subjektive Zeitwahrnehmung im sozialen Kontext, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/39668
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