„Die Weimarer Sozialdemokratie hat einen Versuch gemacht, von der politischen Klassenpartei der Arbeiter zur linken Volkspartei zu werden: Das Görlitzer Parteiprogramm von 1921 war der Ausdruck dieser Zielsetzung.“
So wie es Heinrich August Winkler hier klar formulierte, scheint das Görlitzer Parteiprogramm darauf hinzuweisen, dass Ansätze einer inneren Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie von der Klassenpartei zur Volkspartei schon in der Zeit der Weimarer Republik vollzogen wurden.
Das Interesse dieser Arbeit besteht darin, die Veränderungen der Parteiausrichtung der Sozialdemokratie mit der Entwicklung der Labour Party zu vergleichen. Dabei stellt sich die Frage, ob nicht das Wahlsystem einen wesentlichen Einfluss auf einen solchen Wandlungsprozess ausgeübt hat.
Dabei spricht vieles für eine gemeinsame Ausgangslage der massenpolitischen Neuorientierung. In der Zeit des ersten Weltkrieges sind die Sozialdemokratie und die Labour Party als „offizielle Oppositionsparteien“ zu bezeichnen, die über den Druck von außen immer stärker in die Verantwortung gezogen wurden. Die SPD stellte nach dem Krieg die Weichen für eine parlamentarisch demokratische Verfassung in der Weimarer Republik und die Labour Party beschloss ein neues Grundsatzprogramm, dem eine völlig neue Organisationsstruktur vorangegangen war. Der Krieg bewirkte darüber hinaus eine sich wandelnde Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber der Arbeiterbewegung und einen rapide fortschreitenden Integrationsprozess der Arbeiterparteien in ihre jeweilige Gesellschaft. Diese historischen Wandlungsprozesse bewirkten in beiden Parteien schwere innerparteiliche Zerreißproben, die sich besonders in den Parteigründungen der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) und der Independent Labour Party (ILP) verdeutlichten.
Sowohl die Weimarer Sozialdemokratie als auch die Labour Party vollzogen nach den Erfahrungen des ersten Weltkrieges eine innere und äußere Erneuerung ihrer gesellschaftlichen Aufgabenpotentiale und versuchten in den Jahren danach, innerhalb einer massenpolitischen Wahlkultur ihre jeweilige Parteistruktur zu etablieren und zu stabilisieren.
Inhalt
A. Einleitung
B. Die Auswirkungen von Wahlsystemen im politikwissenschaftlichen Kontext
C. Die Beziehung zwischen Parteien und Wahlrecht im historischen Kontext
1. Die Zeit der Massenparteien
2. Die Entstehung eines partei-politischen Wahlrechtsverständnisses
in Deutschland und England
3. Die SPD auf dem Weg zur Volkspartei?
D. Schluss
E. Literaturverzeichnis
F. Anhang
A. Einleitung
„Die Weimarer Sozialdemokratie hat einen Versuch gemacht, von der politischen Klassenpartei der Arbeiter zur linken Volkspartei zu werden: Das Görlitzer Parteiprogramm von 1921 war der Ausdruck dieser Zielsetzung.“[1]
So wie es Heinrich August Winkler hier klar formulierte, scheint das Görlitzer Parteiprogramm darauf hinzuweisen, dass Ansätze einer inneren Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie von der Klassenpartei zur Volkspartei schon in der Zeit der Weimarer Republik vollzogen wurden.
Das Interesse dieser Arbeit besteht darin, die Veränderungen der Parteiausrichtung der Sozialdemokratie mit der Entwicklung der Labour Party zu vergleichen. Dabei stellt sich die Frage, ob nicht das Wahlsystem einen wesentlichen Einfluss auf einen solchen Wandlungsprozess ausgeübt hat.
Dabei spricht vieles für eine gemeinsame Ausgangslage der massenpolitischen Neuorientierung. In der Zeit des ersten Weltkrieges sind die Sozialdemokratie und die Labour Party als „offizielle Oppositionsparteien“ zu bezeichnen, die über den Druck von außen immer stärker in die Verantwortung gezogen wurden. Die SPD stellte nach dem Krieg die Weichen für eine parlamentarisch demokratische Verfassung in der Weimarer Republik und die Labour Party beschloss ein neues Grundsatzprogramm, dem eine völlig neue Organisationsstruktur vorangegangen war. Der Krieg bewirkte darüber hinaus eine sich wandelnde Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber der Arbeiterbewegung und einen rapide fortschreitenden Integrationsprozess der Arbeiterparteien in ihre jeweilige Gesellschaft. Diese historischen Wandlungsprozesse bewirkten in beiden Parteien schwere innerparteiliche Zerreißproben, die sich besonders in den Parteigründungen der Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) und der Independent Labour Party (ILP) verdeutlichten.
Sowohl die Weimarer Sozialdemokratie als auch die Labour Party vollzogen nach den Erfahrungen des ersten Weltkrieges eine innere und äußere Erneuerung ihrer gesellschaftlichen Aufgabenpotentiale und versuchten in den Jahren danach, innerhalb einer massenpolitischen Wahlkultur ihre jeweilige Parteistruktur zu etablieren und zu stabilisieren.
Trotz der Bedeutung des ersten Weltkrieges als partei-historische Zäsur, wird in dieser Arbeit immer auch auf Kontinuitäten zu achten sein. Gerade in der Parteistruktur der deutschen Sozialdemokratie haben Historiker starke Affinitäten zum Organisationsverhalten und zur politischen Kultur des Kaiserreiches herausgearbeitet[2], welche durchaus gegensätzlich zum neu geschaffenen Wahlsystem standen. Auch die britische Labour Party besaß trotz ihrer, im Vergleich zur SPD, jungen institutionellen Form in personeller, organisatorischer und ideologischer Hinsicht vielfach Kontinuitäten, die jedoch nicht mit Blick auf eine „radikale" Wahlsystem- und Wahlrechtszäsur bewertet werden müssen.[3]
Der politikwissenschaftliche Teil der Arbeit wird grundsätzliche Auswirkungen des englischen Mehrheitswahlsystems und des Verhältniswahlsystems der Weimarer Republik charakterisieren.
Der historische Teil der Arbeit liefert zunächst eine Einführung in die Zeit der „Fundamentalpolitisierung“, unter deren Rahmenbedingungen die Entwicklung hin zu „Massenparteien“ erst möglich wurde. Darauf folgt der parteigeschichtliche Vergleich zwischen der deutschen und der englischen Sozialdemokratie, bei dem das Verhältnis der Parteien zum Wahlrecht und zur massenpolitischen Ausrichtung im Vordergrund steht. Die von H. A. Winkler erkannten Anzeichen einer „Volkspartei“ innerhalb der SPD werden im letzten Abschnitt erläutert.
Der Schluss wird die anfangs aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang von Wahl- und Parteiensystemen aufgreifen und die unterschiedliche massenpolitische Entfaltung der englischen und deutschen Arbeiterpartei vergleichen.
B. Die Auswirkungen von Wahlsystemen im politikwissenschaftlichen Kontext
Schon 1950 versuchte Maurice Duverger erste soziologische Gesetze über den Zusammenhang von Wahl- und Parteiensystemen im transnationalen Vergleich zu erschließen. Obwohl der Anspruch seiner Arbeit lediglich darin lag, „einige Hypothesen zu bestimmen“[4], eröffnete Duverger einen „spezifisch methodologischen Zugang“, der „für die Erklärung von regelhaften politischen Verhaltensweisen und entsprechenden Wahlergebnissen“[5] unverzichtbar und bis heute hochmodern geblieben ist.
Generell wird zwischen zwei verschiedene Arten von Wahlsystemen unterschieden: das Verhältniswahlsystem (VW) und das Mehrheitswahlsystem (MW) – im folgenden Abschnitt gelten für die Untersuchung der Auswirkungen zum einen das britische MW und zum anderen das reine VW der Weimarer Republik als repräsentativ, d.h. sie stellen in diesem allgemeingefassten politikwissenschaftlichen Teil den Bezugspunkt zur historischen Betrachtung der englischen und deutschen Arbeiterpartei dar.
Das MW ist durch einen mechanischen und einen psychologischen Faktor von einer dualistischen Tendenz gekennzeichnet. Mechanisch gesehen ist eine dritte Partei wesentlich unterrepräsentiert, da der prozentuale Mandatsanteil immer unter dem prozentualen Stimmenanteil der Partei liegt. Damit etabliert das Wahlsystem zwei Parteien und blockiert den Aufstieg einer dritten.[6]
Der psychologische Faktor sorgt dafür, dass Parteien, die keine Aussicht auf eine Mehrheit haben, weniger Stimmen bekommen, da die Wähler aus taktischen Gründen das geringere Übel wählen. Dies führt dazu, dass im MW auch die Wahlentscheidung der Wähler ein Zweiparteiensystem formt.
Bei Veränderungen in der Parteienlandschaft von MWen erfolgt die Umkehrung dieser zwei Mechanismen nicht immer gleichzeitig, sodass es, wie etwa in Großbritannien in der Zeit von 1923 bis 1935, einer Übergangsphase bedarf, die auf die Reetablierung des Parteiendualismus abzielt.[7]
Das VW bewirkt primär die Aufrechterhaltung der bestehenden Parteienlandschaft, die darüber hinaus eine Tendenz zur Aufsplitterung erkennen lässt, jedoch nicht in Einzelteile zerfällt, sondern strukturell vorhanden bleibt. Im Gegensatz zum MW erfolgt eine exakte Repräsentation der öffentlichen Meinung, bei der lokal auftretende Meinungen „nationalisiert“ werden.
Das MW weist einen dezentralen Charakter auf, wobei Minderheiten auf nationaler Ebene nur über die Mehrheit in regionalen Wahlkreisen aktiv werden können. Die Folge daraus ist eine „Regionalisierung der öffentlichen Meinung“[8].
Auch mit Blick auf die Opposition entsteht im MW das Prinzip der zwei Blöcke. Dies ist jedoch nicht zu verwechseln mit einer Polarisierung, bei der die beiden äußeren Ränder des politischen Spektrums dargestellt werden. Das Gegenteil ist hier der Fall: In einem Zweiparteiensystem tendieren die Parteien dazu, sich einander anzugleichen. Der Grund für dieses Verhaltensmuster liegt darin, dass die wahlentscheidenden Stimmen in der Mitte des politischen Spektrums liegen. Die Parteien müssen die sich nicht festlegenden Wähler gewinnen, um bei den Wahlen als Sieger hervorzugehen. Daraus ergibt sich im MW eine paradoxe Situation: „Gerade in einem Land, in dem das Wahlsystem die Bildung einer Partei der Mitte verhindert, beeinflusst die politische Mitte das gesamte parlamentarische Leben.“[9]
Man kann festhalten, dass das Wahlsystem einen wesentlichen Einfluss auf die Zahl, Repräsentation und die wechselseitige Abhängigkeit von Parteien hat. Dabei bedeutet ein anderes Wahlsystem andere Strukturbedingungen für die Etablierung traditioneller und revolutionärer Strömungen innerhalb des Parteiensystems.
Duverger charakterisiert diese über die „Sensibilität“ der Wahlsysteme gegenüber dem öffentlichen Meinungsspektrum: So erscheint das VW als überaus unsensibel gegenüber traditionellen und sensibel gegenüber neuen Strömungen in der Öffentlichkeit, die nur provisorisch und schwach sein können. Dies erklärt sich über den „passiven“ Charakter des VW. Es registriert lediglich die Wandlungen in der Wählerschaft, ohne sie zu verzerren. Dabei erlangen neue Strömungen (wie etwa der Kommunismus und der Nationalsozialismus in Form der KPD und der NSDAP innerhalb des Weimarer Systems) über ihren „engagierteren“ Charakter im allgemeinen größeren Einfluss. Ein „etablierter“ Charakter der Parteien hat anders als im MW keinen Einfluss auf den Wahlerfolg.[10]
Diesem Wahlsystem kann der „aktive“ Charakter des MW gegenübergestellt werden, der sensibel auf leichte Änderungen der etablierten Parteien und unsensibel auf neue Strömungen reagiert. Diese allgemeinen grundsätzlichen Tendenzen basieren auf den oben erläuterten mechanischen und psychologischen Faktoren, die durch den Einfluss anderer Faktoren stark verändert werden können. Dabei sind vor allem die lokalen Bedingungen und die Art und Stärke neuer Bewegungen zu beachten. Das MW vermag die Entwicklung einer neuen Partei von dem Augenblick an zu beschleunigen, wo sie eine gewisse Stärke erzielt und schnell die Position der „zweiten Partei“ erlangt. In diesem Fall beschleunigt das MW den natürlichen Alterungsprozess der neuen Partei.[11]
Inwieweit diese Hypothesen bzw. erste Tendenzen zum Einfluss von Wahlsystemen mit den parteipolitischen Entwicklungen der englischen und deutschen Arbeiterpartei zusammenhängen, wird in den folgenden Abschnitten erläutert werden.
[...]
[1] Heinrich August Winkler: Klassenbewegung oder Volkspartei? – Zur Programmdiskussion in der Weimarer Sozialdemokratie 1920-1925, in: Geschichte und Gesellschaft, Nr.8, Göttingen 1982, S.9. (9-54)
[2] Vgl. Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung: Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918-1924, Berlin 1984, S.245.
[3] Eine Änderung des Wahlsystems stand nie zur Diskussion. Nach dem ersten Weltkrieg waren in Großbritannien die Grundlagen für ein annähernd allgemeines Wahlrecht geschaffen worden. Mit der Wahlrechtsreform vom Februar 1918 konnten Männer ab 21 Jahren und Frauen ab 30 Jahren wählen. Vgl. Gottfried Niedhardt: Geschichte Englands im 19. und 20. Jahrhundert, München 1987, S.161.
[4] Maurice Duverger: Der Einfluss der Wahlsysteme auf das politische Leben, in: Otto Büsch; Peter Steinbach: Vergleichende europäische Wahlgeschichte, Eine Anthologie – Beiträge zur historischen Wahlforschung vornehmlich West- und Nordeuropas, Berlin 1983, S.31.
[5] Otto Büsch: Europäische Wahlgeschichte im Vergleich – Eine Einführung, in: Ders.;Peter Steinbach: Vergleichende europäische Wahlgeschichte, Eine Anthologie – Beiträge zur historischen Wahlforschung vornehmlich West- und Nordeuropas, Berlin 1983, S.XXII/XXIII.
[6] Vgl. Anhang - FIGUR IV/ FIGUR VIII/ FIGUR I à Die Graphen verdeutlichen, dass die drittstärkste Partei in Großbritannien zumeist einer Benachteiligung in der Mandatsverteilung ausgesetzt war und ist. Das Wahlsystem beschleunigte den Niedergang der Liberalen Partei.
[7] Vgl. Duverger, Der Einfluss der Wahlsysteme, S.33. – Vgl. Anhang - FIGUR II
[8] Duverger, Der Einfluss der Wahlsysteme, S.51.
[9] Duverger, Der Einfluss der Wahlsysteme, S.58.
[10] Vgl. Anhang - FIGUR X à Das Weimarer System repräsentierte von Anfang an neben den traditionellen Parteien neue Bewegungen.
[11] Vgl. Duverger, Der Einfluss der Wahlsysteme, S.67.
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- Robert Westermann (Author), 2004, Welche Rolle spielte das Wahlsystem bei der Entfaltung von Massenparteien , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/38363
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