Systemaufstellungen gewinnen nicht nur im deutschsprachigen Raum an immer größerer Beliebtheit. Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Menschenbild in Systemischen Aufstellungen und begibt sich auf die Suche nach einem Subjektverständnis, das auch für die Aufstellungsarbeit weiterführend sein könnte. Angeregt wurde diese Beschäftigung durch Texte von Sparrer und Essen. In ihren Schriften hinterfragen die beiden AufstellerInnen das traditionelle Bild von Subjekt und Authentizität und rufen implizit zur Suche nach einem neuen Subjektverständnis auf. Dieser Suche wird in der vorliegenden Magisterarbeit mit der Philosophie Gilles Deleuzes begegnet.
Deleuze kann in seinen frühen Werken „Woran erkennt man den Strukturalismus?“ und „Logik des Sinns“ als Strukturalist gelten. Strukturalistische Autoren haben sich – inspiriert durch die Linguistik Saussures – sehr ausführlich mit der Rolle des Subjekts auseinandergesetzt. Mit dem Konzept des Schauspielers ist in Deleuzes Philosophie ein besonderes Verhältnis zum dargestellten Ereignis verbunden. Deleuze versteht den Schauspieler nach stoischem Verständnis als jemanden, der zwischen eigener Person und Rolle zu unterscheiden gelernt hat und seine Rolle qua Profession auf Distanz hält. Der Stellvertreter in einer Aufstellung – der aufgrund der repräsentierenden Wahrnehmung Ereignissen nachspürt, die er persönlich nicht erlebt hat – soll mit diesem deleuzianischen Schauspieler verglichen werden.
Das Subjektverständnis, das Deleuze in seinen frühen Schriften zugrunde legt, nimmt Abstand von einem Subjekt, welches von „Einheitsstiftern“ geprägt ist. Deleuze plädiert für ein mannigfaltiges Denken, das sich von einem dialektischen Widerspruchsdenken befreit und stattdessen Vielfalt annehmen kann. Das Subjekt dieses vielfältigen Denkens ist nicht an eine feste Identität gebunden. Stattdessen wird es als Element einer Struktur gedacht, welches an jedem neuen Platz des strukturalen Raumes einen neuen Sinn erfährt. Deleuze benennt ein solches Subjekt mit der Metapher des Nomaden – eine Metapher, die Bewegung verbildlichen soll.
Die vorliegende Arbeit widmet sich der Frage, inwieweit der Strukturalismus dem Ruf Sparrers und Essens nach einem anderen Bild von Selbst und Authentizität gewinnbringend nachkommen kann und verdeutlicht im Gegenzug die Bereicherung, welche die Aufstellungsarbeit als Praxis für eine theoretische Philosophie bedeuten könnte.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Inhaltliches Vorgehen
1.2 Methodisches Vorgehen
2. Erfahrungen aus Systemischen Aufstellungen können die Vorstellung von Subjektivität und Authentizität verändern
2.1 Systemische Aufstellungen – philosophisch betrachtet
2.1.1 Grundlagen und Phänomene in Systemischen Aufstellungen
2.1.2 Aufstellungen als Nichtanhaftungstraining
2.1.3 Diskussionen um die Systemische Aufstellung
2.2 Das Verständnis von Authentizität in verschiedenen Kontexten
2.2.1 Von einem authentischen Persönlichkeitskern hin zum kernlosen Subjekt
2.2.2 „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“
– Exkurs zum „linguistic turn“
2.2.3 Authentizität als Gegenwärtigkeit verlangt ein Handeln im Kontext
3. Parallelen zwischen dem Strukturalismus bei Deleuze und der Systemischen Aufstellung
3.1 Grundlagen des Strukturalismus in der Linguistik Saussures
3.2 Die Bedeutung des Platzes bei Deleuze und in der Aufstellung
3.2.1 Die Vorrangigkeit des Platzes im Strukturalismus
3.2.2 Der gute Platz in der Aufstellung
3.3 Die Neigung des Strukturalismus für ein gewisses Theater
3.3.1 Paradox des Schauspielers
3.3.2 Der Stellvertreter als Schauspieler im Sinne Deleuzes
3.3.3 Schauspieler seiner Ereignisse werden
3.4 Von der Idee des Amor fati zum Grundsatz Hellingers: Anerkennen, was ist
3.4.1 Nihilismus als zweifache Abwertung des menschlichen Lebens
3.4.2 Die Überwindung des Nihilismus
3.4.3 Amor fati – zum Verhältnis von Schicksal und Freiheit
3.4.4 Parallelen zur Familienaufstellung nach Hellinger
4. Übertragung des Subjektverständnisses im Strukturalismus auf den Bereich der Aufstellung
4.1 Das Subjekt im französischen Strukturalismus
4.1.1 Die Frau als Zeichen bei Lévi-Strauss
4.1.2 Das Verschwinden des Subjekts bei Foucault
4.1.3 Sinn, Un-Sinn und das Differenzdenken
4.1.3.1 Sinn und Un-Sinn
4.1.3.2 Philosophien der Differenz
4.2 Das Subjekt bei Deleuze
4.2.1 Das wahre Subjekt ist die Struktur selbst
4.2.2 Das Subjekt als Nomade
4.2.3 Das Verhältnis von Schauspieler und Nomade
4.3 Abgrenzung des strukturalistischen Subjektverständnisses von der
soziologischen Rollentheorie Goffmans
4.3.1 Einführung in die soziologische Rollentheorie nach Goffman
4.3.2 Unterschiede zwischen dem Selbst bei Goffman und dem
strukturalistischen Subjektverständnis
5. Fazit: Möglichkeiten und Grenzen der Übertragung strukturalistischer Gedanken auf Systemische Aufstellungen
5.1 Strukturalismus und Aufstellungsarbeit bereichern sich gegenseitig
5.1.1 Aufstellungen als Verbildlichung des Sinnverständnisses Deleuzes
5.1.2 Anregung zu einem neuen Subjektverständnis in Aufstellungen
5.2 Kritik am Subjektverständnis des Strukturalismus
6. Literaturverzeichnis
7. Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
Aufstellungsarbeit gewinnt in den letzten Jahren weit über den deutschsprachigen Raum hinaus an immer größerer Beliebtheit. Mit der seit etwa zehn Jahren existierenden Organisationsaufstellung, die den Kontext der Familie sowie einen therapeutischen Rahmen verlässt und im Arbeitsalltag Anwendung findet, hat sich das Spektrum der Aufstellungsarbeit nun zu einer Reihe Systemischer Aufstellungen erweitert. Systemische Aufstellungen können in den unterschiedlichsten Systemen angewendet werden, um hier Strukturen zu verbildlichen.
1.1 Inhaltliches Vorgehen
Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Menschenbild in Systemischen Aufstellungen und begibt sich auf die Suche nach einem Subjektverständnis, das auch für Aufstellungsarbeit weiterführend sein könnte.[1] Angeregt wurde diese Beschäftigung durch Texte von Insa Sparrer und Siegfried Essen, zwei AutorInnen, die selbst Aufstellungen leiten und neue Aufstellungsmethoden entwickeln. In ihren Texten hinterfragen sie auf vorsichtige Art das traditionelle Bild von Subjekt und Authentizität und rufen implizit zur Suche nach einem neuen Subjektverständnis auf. Das zweite Kapitel steht somit unter der These, dass Aufstellungen die Vorstellung von Subjekt und Authentizität hinterfragen und verändern. Wie in Kapitel 2.1. ausgeführt, regt Sparrer dazu an, die in der Aufstellungsarbeit gewonnene Erfahrung des Nichtanhaftens von Gefühlen auch auf den persönlichen Alltag zu übertragen. In Systemischen Aufstellungen nehmen Stellvertreter, sobald sie vom Klienten aufgestellt werden, Gefühle und Körperempfindungen wahr, die ganz grundlegend für die Aufstellungsarbeit sind. Mit dem Entrollen verschwindet die repräsentierende Wahrnehmung und mit ihr die Gefühle. Dies sei eine Erfahrung, die laut Sparrer gewinnbringend auf den Alltag übertragen werden kann und hier zu einem gesunden Abstand gegenüber den eigenen, beengenden Gefühlen wie zum Beispiel Traurigkeit, Wut oder Angst führt. Durch das Nichtanhaftungstraining können Emotionen als etwas betrachtet werden, was in bestimmten Kontexten kommt und uns beschäftigt, danach aber auch wieder gehen darf und nicht Teil unserer Person ist. Indem Sparrer Gefühle und Emotionen als flatternde Vögel betrachtet und diese außerhalb des Menschen verortet, erleichtert sie – therapeutisch betrachtet – das Abstandnehmen von etwas, was uns nur von außen, nicht aber von innen gefangen hält, und macht Veränderung möglich.
Veränderung möglich machen möchte auch Essen mit seinem anderen Konzept von Authentizität. So erlebe man als Stellvertreterin in Aufstellungen die Überraschung, in einem fremden Kontext und ohne genauere Informationen zum Klientensystem dennoch stimmig handeln und sein zu können. Im Aufstellungsprozess werden die Rückmeldungen der Stellvertreter bezüglich ihrer Körperwahrnehmungen als „richtige“, authentische Aussagen gewertet. Authentisches Verhalten scheint sich in Systemischen Aufstellungen nicht aus dem geschichtlichen Wissen über Zusammenhänge zu ergeben, sondern entsteht aus dem Beziehungsgefüge im Kontext. Damit hinterfragt Essen das traditionelle Verständnis von Authentizität, das eine Handlung dann als authentisch bewertet, wenn sie mit früheren Verhaltensweisen in Einklang zu bringen ist. Die vorliegende Arbeit vergleicht in Kapitel 2.2 Essens Gedanken zur Authentizität mit dem wissenschaftlichen Diskurs über Authentizität, der vor allem von Noetzel vorangetrieben wurde. Wie das Selbst und wie Authentizität gedacht werden, ist gerade in der Therapie von Bedeutung. Ein Subjekt- und Authentizitätsverständnis wie das von Sparrer und Essen nimmt Abstand von einem festen Persönlichkeitskern und der Annahme, authentisches Verhalten sei nur durch Kontinuität zu erreichen. Damit schaffen beide Ansätze die Möglichkeit zur Veränderung und binden den Klienten weder an eine all zu stark bewertete Vergangenheit, noch an den scheinbar unhintergehbaren Persönlichkeitskern. Beide Autoren betonen die Vielfalt an Entwicklungsmöglichkeiten.
Der Suche nach einem neuen Subjektverständnis von Seiten der Aufstellungsarbeit wird im dritten Kapitel mit der Philosophie Deleuzes begegnet. Deleuze kann in seinen frühen Schriften[2] „Woran erkennt man den Strukturalismus?“[3] und „Logik des Sinns“[4] als Strukturalist gelten. Strukturalistische Autoren haben sich – inspiriert durch die Linguistik Saussures (Kap. 3.1) – sehr ausführlich mit der Rolle des Subjekts auseinandergesetzt. Aufgezeigt werden in Kapitel 3 Parallelen zwischen dem Strukturalismus bei Deleuze und der Systemischen Aufstellung, welche die Nähe der beiden Richtungen verdeutlichen sollen. Auffälligste Parallele ist die besondere Beachtung des Platzes sowohl in Aufstellungen, als auch im Strukturalismus (Kap. 3.2).
Der Titel der Arbeit „Schauspieler seiner Ereignisse werden – zum Subjektbegriff in systemischen Aufstellungen und bei Deleuze“ wird in Kapitel 3.3 exemplifiziert. Mit dem Konzept des Schauspielers ist in Deleuzes Philosophie ein besonderes Verhältnis zum dargestellten Ereignis verbunden. Deleuze versteht den Schauspieler nach stoischem Verständnis als jemanden, der zwischen eigener Person und Rolle zu unterscheiden gelernt hat und seine Rolle qua Profession auf Distanz hält. Der Stellvertreter in einer Aufstellung soll mit diesem Schauspieler Deleuzes verglichen werden. So stellt sich der Repräsentant für die Darstellung eines Erlebnisses zur Verfügung und erfährt an Stelle des Klienten Ängste, Trauer, Wut. Unter Anleitung der Aufstellungsleiterin geht der Repräsentant durch all diese Gefühle hindurch und dient somit der Findung einer guten Lösung. Ähnlich dem Schauspieler kann er durch die Distanz zu dem Dargestellten weiter gehen und trotz Tränen oder Wut den nächsten Schritt probieren. Dem Klienten selbst ist solch ein Verhalten oft nicht möglich, so dass er in den alten Verhaltensmustern hängen bleibt.
Bei der Beschäftigung mit dem Ereignis wird Nietzsches Einfluss auf das Denken Deleuzes deutlich. Kapitel 3.4 erläutert die Idee des Amor fati Nietzsches unter einem deleuzianischen Blickwinkel und vergleicht dieses Konzept des dionysischen Ja-Sagens mit dem Grundsatz Hellingers „Anerkennen, was ist“.
Die vielfältigen in Kapitel 3 aufgezeigten Analogien der beiden Bereiche legitimieren die in Kapitel 4 vorgenommene Übertragung des strukturalistischen Subjektverständnisses Deleuzes auf den Bereich der Aufstellungsarbeit. Kapitel 4.1 wagt mit der Beschäftigung mit Lévi-Strauss und Foucault einen Blick auf zwei Autoren, die als Strukturalisten bezeichnet werden. Ihre Thesen vom Zurücktreten des Subjekts hinter der Struktur, bzw. vom Verschwinden des Subjekts, stehen exemplarisch für grundlegende Thesen des Strukturalismus.
Das Subjektverständnis, das Deleuze in seinen frühen Schriften behandelt, ist explizites Thema des Kapitels 4.2. Deleuze will das Subjekt nicht von „Einheitsstiftern“ geprägt wissen. Er plädiert für ein mannigfaltiges Denken, das sich von dem dialektischen Widerspruchsdenken befreit und stattdessen Vielfalt annehmen[5] kann. Das Subjekt dieses vielfältigen Denkens ist nicht an eine feste Identität gebunden, die einmal entwickelt in jedem Kontext vorherrschend ist. Stattdessen folgt sein Subjektverständnis dem des strukturalistischen Denkens – das Subjekt wird als Element einer Struktur gedacht, welches an jedem neuen Platz des strukturalen Raumes einen neuen Sinn erfährt. Deleuze benennt ein solches Subjekt mit der Metapher des Nomaden – eine Metapher, die Bewegung verbildlichen soll. Beweglichkeit ist in Bezug auf den Nomaden sowohl im räumlichen, als auch im geistigen Sinne zu verstehen, so dass der Nomade auch das mannigfaltige, nicht-dialektische Denken verkörpert.
Deleuzes Rede von Schauspieler und Theater legt den Gedanken an die soziologische Rollentheorie nahe. Kapitel 4.3 erklärt die Grundgedanken der Rollentheorie Goffmans anhand seines Werkes „Wir alle spielen Theater“[6] und nimmt eine Abgrenzung zwischen soziologischem und strukturalistischem Subjektverständnis vor.
Das letzte Kapitel ist einem wertschätzenden, aber auch kritischen Fazit vorbehalten. Es widmet sich der Frage, inwieweit der Strukturalismus dem Ruf Sparrers und Essens nach einem anderen Bild von Selbst und Authentizität gewinnbringend nachkommt und verdeutlicht im Gegenzug die Bereicherung, welche Aufstellungen für eine theoretische Philosophie bedeuten können. Gleichzeitig hinterfragt Kapitel 5.2 den strukturalistischen Subjektentwurf mit Hilfe der Erfahrungen aus Systemischen Aufstellungen.
1.2 Methodisches Vorgehen
Das methodische Vorgehen der vorliegenden Arbeit umfasst die exemplarische Interpretation von ausgewählten Texten aus dem Bereich der Systemischen Aufstellung und des Strukturalismus.
Eine klare Einteilung der philosophischen Autoren in Strukturalisten und Poststrukturalisten fällt teilweise genauso schwer wie die Zuordnung einzelner Werk zu einer der beiden Richtungen. In dieser Arbeit werden die beiden Werke Deleuzes „Woran erkennt man den Strukturalismus“ und „Logik des Sinns“ als der strukturalistischen Phase Deleuzes zugehörig eingestuft. Diese Zuordnung geschieht mit Bezug auf Ott, die „Logik des Sinns“ in Übereinstimmung mit dem Strukturalismus sieht.[7] Das in Zusammenarbeit mit dem französischen Psychoanalytiker Félix Guattari entstandene Werk „Anti-Ödipus“[8] markiere laut Ott die Zäsur zwischen strukturalistischem und poststrukturalistischem Denkentwurf.[9] Ab diesem Zeitpunkt kritisiert Deleuze das strukturalistische Modell als reduktionistisch und lehnt dessen Binarität ab. An die Stelle der Struktur tritt dann Deleuzes dekonstruktives Maschinenmodell und es werden Entstrukturierungsvorgänge beobachtet.[10] Mit der Struktur schwindet auch das Subjekt aus Deleuzes Werk, abgelöst wird es von einem Immanenzfeld, in dem statt dessen etwas vertreten ist, was man Diesheiten, Haecceitäten, nennt. Das Immanenzfeld gewinnt in Deleuzes Philosophie immer mehr an Bedeutung und mündet schließlich in die Konzeption jener vielfältigen Immanenzebenen von „Tausend Plateaus“[11].[12] Diese Entwicklung in der Philosophie Deleuzes soll in der vorliegenden Arbeit nicht nachvollzogen werden. Vielmehr begrenzt sich die Arbeit auf zwei Werke vor der Zäsur durch „Anti-Ödipus“.
Die Literaturlage zu Systemischen Aufstellungen ist mittlerweile umfangreich und vielfältig. Christine Erb hat mit „Die Ordnung des Erfolgs“[13] ein sehr gutes Handbuch zur Einführung in die Organisationsaufstellung geschrieben, das zusammen mit den drei Herausgeberwerken von Gunthard Weber „Praxis der Familienaufstellung“, „Praxis der Organisationsaufstellung“ und „Derselbe Wind lässt viele Drachen steigen“ auch für diese Arbeit eine Hinführung ins Thema Aufstellungsarbeit geleistet hat. Für die Fragestellung zu Selbst- und Subjektverständnis in Aufstellungen waren die Texte von Siegfried Essen[14], Insa Sparrer[15] und Matthias Varga von Kibéd[16] unerlässlich. Hingewiesen werden soll an dieser Stelle auch auf die Zeitschrift „Praxis der Systemaufstellung“, die sich zwei Mal jährlich mit aktuellen Fragen zu Theorie und Praxis beschäftigt. Allerdings konnte ich in keiner der mir vorliegenden Publikationen einen Hinweis auf eine mögliche strukturalistische Lesart von Aufstellungsarbeit finden.
Unter den französischen Strukturalisten gehört Gilles Deleuze in Deutschland zu den weniger bekannten. Ein Blick in das Literaturverzeichnis verrät das erst spät aufkeimende Interesse an diesem etwas sperrigen Philosophen – so sind die meisten seiner Werke erst in den 90er Jahren ins Deutsche übersetzt worden. Michaela Ott, deren Dissertation „Vom Mimen zum Nomaden“ eine für die vorliegende Arbeit unerlässliche Grundlage darstellt, wurde von der Beschäftigung mit Deleuze als Doktorthema abgeraten und statt dessen „Bewährteres“ vorgeschlagen[17] – gut, dass sie sich an diesen Rat nicht gehalten hat.
Die verwendeten Bezeichnungen wie Selbst, Subjekt, Identität verlangen an dieser Stelle eine kurze Begriffsklärung. Es soll hier jedoch weder der wissenschaftliche Diskurs zu diesen äußerst komplexen Begriffen aufgezeichnet werden, noch ist es Ziel, zu einer eindeutigen Definition zu gelangen. Hingewiesen werden kann aber auf die Problematik im Umgang mit diesen Bezeichnungen. So macht das philosophische Lexikon darauf aufmerksam, dass die philosophischen Begriffe Ich und Selbst keinen festen Bedeutungskern besitzen und darüber hinaus teilweise synonym zu Bewusstsein, Person oder Subjekt verwendet werden. Der Große Brockhaus definiert das Selbst als die in ihren Grundzügen als unveränderlich vorgestellte Eigenart einer Person. Danach wird das Selbst erlebt als das Bewusstsein von der eigenen Identität, durch das der Mensch sich als dieselbe Person erfährt. Das Selbst verweist so auf Identität. Der Begriff der Ich-Identität ist vor allem durch den deutschamerikanischen Psychoanalytiker Erikson bekannt geworden. Mit Ich-Identität bezeichnet Erikson „ […] das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart […] .“[18] Somit sind Identität und Selbst – laut Goffman wäre statt Ich-Identität bei Erikson auch der Terminus Selbst-Identität geeignet gewesen[19] – konnotativ mit Kontinuität und eigener Gleichheit verbunden. Ein positiver Bruch oder Wandel in der eigenen Person kann nicht mit diesem Verständnis von Identität oder Selbst in Einklang gebracht werden. Wenn Essen von Selbst spricht, wird in der vorliegenden Arbeit daher ein Selbstbegriff angenommen, der nicht an geschichtliche Kontinuität und Gleichheit gebunden ist. Essens Selbstbegriff scheint stattdessen mit der strukturalistischen Vorstellung des Subjekts verwandt.
Der Begriff des Subjekts, der häufiger in der Philosophie verwendet wird, hat je nach Kontext und historischer Periode verschiedene Bedeutungen. Mit Nietzsche begann die Fragmentierung des Subjekts, so dass das Subjekt nicht mehr als souveräne, frei handelnde Person gesehen wurde, sondern als das vorläufige, sich immer wieder ändernde Resultat einer unaufhörlichen Auseinandersetzung und Wechselwirkung miteinander konkurrierender Kräfte. Das dieser Arbeit zugrunde liegende Subjektverständnis des Strukturalismus – und hier vor allem Deleuzes – wird in Kapitel 4 ausführlich behandelt. Es ist geprägt von der Annahme eines dekonstruierten, uneinheitlichen Subjekts.
Obwohl nach dieser kurzen Begriffserläuterung die Bezeichnungen Subjekt und Selbst nicht äquivalent verwendet werden können, vergleicht die vorliegende Arbeit dennoch die Überlegungen Deleuzes zum Subjekt mit Essens Selbstentwurf. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass sich Essen mit seiner impliziten Definition von Authentizität und Selbst bereits von der Annahme eines kontinuierlichen, gleich bleibenden Selbst verabschiedet hat. Sein Selbstbegriff verweist bereits auf die Dekonstruktion des Subjekts.
Diese Arbeit soll Leser und Leserinnen gleichermaßen ansprechen. Um die Lesefreundlichkeit zu wahren, habe ich auf Formen wie den Leser/die Leserin, bzw. LeserInnen verzichtet und stattdessen die weibliche und männliche Form der Personenbezeichnung unsystematisch abwechselnd verwendet. Da dem Geschlecht der Akteure in dieser Arbeit keine besondere Gewichtung zukommt, bitte ich Leser und Leserinnen, sich gleichermaßen angesprochen zu fühlen.
2 Erfahrungen aus Systemischen Aufstellungen können die Vorstellung von Subjektivität und Authentizität verändern
Wer als Stellvertreterin in Systemischen Aufstellungen steht, hat durch die repräsentierende Wahrnehmung an den Gefühlen und Emotionen anderer Personen teil. Diese Erfahrung, fremde Gefühle und Emotionen wahr zu nehmen, nach dem „Entrollen“ aber auch wieder loslassen zu können, sowie die Erkenntnis, auch in einem unbekannten System stimmig zu handeln, kann – wie im folgenden gezeigt werden soll – die bisherige Vorstellung von Subjekt und Authentizität in Frage stellen und verändern. Das vorherrschende Subjektverständnis wird durch die Ausführungen Insa Sparrers zum Nichtanhaftungstraining (Kap. 2.1.2) und die dabei vorgenommene Abgrenzung zur bisher üblichen Subjektvorstellung deutlich.
Kapitel 2.2 ist verschiedenen Authentizitätskonzepten gewidmet und schlägt mit Siegfried Essens Anmerkungen zum authentischen Handeln den Bogen zum Aufstellungskontext.
2.1 Systemische Aufstellungen – philosophisch betrachtet
Aufstellungen spiegeln Sichtweisen auf Systeme wider. Sie bieten die Möglichkeit, das interne Bild, das eine Klientin von dem betreffenden System hat, zu externalisieren und zu betrachten. Systemische Aufstellungen können über die unterschiedlichsten Systeme Auskunft geben, so zum Beispiel über Familiensysteme, Arbeitsbeziehungen, den Körper oder Entscheidungsstrukturen. „ [‚A] ufgestellt’ heißt hier, dass aus einer Personengruppe Repräsentanten[20] für die einzelnen Systemteile ausgesucht werden, die anschließend im Raum so angeordnet werden, wie es aus der Sicht der Klientin der Beziehungsstruktur der einzelnen Systemteile untereinander entspricht.“[21]
2.1.1. Grundlagen und Phänomene in Systemischen Aufstellungen
Die vor etwa 25 Jahren von Bert Hellinger entwickelte Methode der Familien-Aufstellung ist ein wichtiger Ursprung systemischer Aufstellungsformen. Am Beispiel des in der Therapie angewendeten Familien-Stellens soll daher auf Grundannahmen und Abläufe einer Aufstellung eingegangen werden .
Familienaufstellungen finden in einer Gruppe von zehn und mehr Teilnehmern statt, die sich für einen Tag oder teils auch für ein Wochenende zum „Aufstellen“ treffen. Behandelt wird in einer Aufstellung ein in Form einer Frage formuliertes Thema. Nach einer kurzen Beschreibung der Frage wählt der Klient Stellvertreter für die relevanten Familienmitglieder aus. Relevant sind gerade auch Familienmitglieder, die in der Familie in irgendeiner Form ausgegrenzt oder vergessen wurden. Häufig werden auch für tote Personen Repräsentanten ausgewählt. Nun stellt der Klient die ausgewählten Stellvertreter „ […] aus dem inneren, gesammelten Gefühl heraus in Beziehung zueinander.“[22] Die aufgestellten Stellvertreter werden dann von der Aufstellungsleiterin zu ihren Wahrnehmungen befragt. Diese Wahrnehmungen entsprechen in hoher Übereinstimmung den Empfindungen der realen Personen. Eine Erklärung für ein solches Phänomen ist schwer zu finden. Albrecht Mahr hat dafür den Begriff des wissenden Feldes[23] geprägt; Hellinger spricht von einem Kraftfeld: „Durch die Familienaufstellung entsteht ein Kraftfeld. Wer in dieses Kraftfeld als Stellvertreter eines Familienmitglieds tritt, verhält sich und fühlt wie einer, der zu diesem Kraftfeld gehört. [...] Rupert Sheldrake nennt das ein morphogenetisches Feld[24].“[25]
Laut Matthias Varga von Kibéd wurde die für Aufstellungen spezifische Wahrnehmung in der bisherigen Literatur als „fremdes Gefühl“ bezeichnet. Da mit dem Begriff des Gefühls ein höheres Maß an Irrtumsmöglichkeiten verbunden wird als mit dem der Wahrnehmung, schlagen Varga von Kibéd und Sparrer vor, dieses Phänomen künftig als „repräsentierende Wahrnehmung“ zu bezeichnen.[26] Der Effekt der repräsentierenden Wahrnehmung scheint unabhängig von inhaltlichen Informationen[27] über das dargestellte System einzutreten, „ [...] lediglich syntaktische Informationen im Sinne minimaler Strukturmerkmale und Kategorienzuordnungen sind offenbar wichtig.“[28] Damit wird die so genannte verdeckte Aufstellungsarbeit möglich. In einer verdeckten Aufstellung werden die Repräsentanten ohne weitere Informationen zur eigenen Rolle gestellt; statt für die Chefin stünde die Repräsentantin zum Beispiel für „A“.
Das in dem Anfangsbild einer Aufstellung sichtbar werdende externalisierte Bild der Klientin hat gegenüber dem internalisierten Bild den Vorteil, dass es durch Umstellen der Stellvertreter, durch lösende Sätze oder Rituale so verändert werden kann, dass sich alle Beteiligten, zumindest aber der Stellvertreter des Klienten, wohler fühlen.[29]
Wurde mit Hilfe der Aufstellung zu einem guten Lösungsbild gefunden, beendet die Leiterin die Aufstellung. Die Stellvertreter gehen aus ihren Rollen, sie „entrollen“ sich. Das Entrollen dient dem „ [...] explizite [n] Ablegen einer Rolle und der bewußten Wiederannahme der eigenen Identität.“[30] Meist reicht es, nach einer Aufstellung mit einem bewussten Schritt aus der Rolle heraus zu treten und Arme und Beine auszuschütteln. Falls dennoch Gefühle aus der Aufstellung an einem haften bleiben, hilft es, mit kaltem Wasser Gesicht und Arme zu benetzen oder zu duschen. In jedem Fall sollte der Klient die Stellvertreter aus ihrer Rolle entlassen. In manchen Aufstellungsformen[31] nimmt ein Stellvertreter verschiedene Rollen ein, das Entrollen muss hier bei jedem Rollenwechsel geschehen.
2.1.2 Aufstellungen als Nichtanhaftungstraining
Laut Sparrer birgt die Erfahrung, die beim Entrollen gewonnen werden kann, ein wichtiges Potential:
“Wir können aus den Aufstellungen lernen, dass Empfindungen und Emotionen nicht zu uns als Person gehören. Wenn beim Aufstellungsprozess neue Empfindungen und Emotionen auftreten, diese jedoch nach dem Entrollen genauso schnell wieder verschwinden, so erfahren wir, dass körperliche Empfindungen und Emotionen keine stabilen Eigenschaften von uns sind. Sie besuchen uns wie flatternde Vögel und verlassen uns auch wieder.“[32]
Gefühle und Emotionen werden von den Stellvertretern in der Aufstellung mit großer Aufmerksamkeit wahrgenommen; nach dem Entrollen jedoch dürfen, ja sollen sie wieder verschwinden. Dieses Loslassen bereitet kaum Schwierigkeiten und wird im Aufstellungsablauf als gewollt und unproblematisch empfunden. Hellinger betont die Lernmöglichkeiten, die eine fremde Rolle bietet.
„Manchmal ist es gut, wenn man nach der Aufstellung noch eine Weile in der Stellvertreterrolle bleibt, weil man dadurch erfährt, wie man sich in einer anderen Familie fühlen müsste und wie labil unsere Gefühle sind. Was man bei sich selbst als stabil betrachtet, erfährt man dann auch als nur labil. Man sieht ja, wie schnell sich die Gefühle in den verschiedenen Aufstellungen ändern.“[33]
In Aufstellungen erleben Stellvertreter Gefühle, die zu einem anderen Kontext und einer anderen Person gehören. Dies erlaubt die Beobachtung, wie flüchtig und labil das Wesen der Gefühle ist. Wie die eigenen Emotionen mit der Annahme einer Stellvertreterrolle oft in den Hintergrund treten und bis zum Ende der Aufstellung ruhen, so kurzlebig sind auch die in der Aufstellung wahrgenommenen „fremden Gefühle“. Hellinger plädiert für ein Verlängern dieser Erfahrung über die eigentliche Aufstellung hinaus, um so den eigenen Horizont an Gefühlen zu erweitern.
Varga von Kibéd und Sparrer dagegen weisen vor allem auf das Risiko einer Vermischung der eigenen Rolle mit der Rolle aus einem fremden System hin und rufen zum Entrollen auf.[34] Bei beiden Autoren wird deutlich, dass aus der Erfahrung als Stellvertreterin in Systemischen Aufstellungen ein neuer Blick auf die eigenen Gefühle und Emotionen gewonnen werden kann. Was vorher als stabil, verlässlich und der eigenen Person zugehörig angenommen wurde, zeigt sich nun als beeinflussbar, übertragbar und veränderbar. Gerade diese Instabilität der Gefühle kann als bereichernde Erfahrung gesehen werden:
„Aufstellungen sind ein gewisses Training des Nichtanhaften. Schon während des Aufstellungsprozesses lernen die RepräsentantInnen paradigmatisch, wie sie Emotionen, Empfindungen und Gedanken loslassen können. Sobald wir uns über unsere Empfindungen, Emotionen und Gedanken definieren, werden wir zu Sklaven von ihnen und erschweren jede Veränderung.“[35]
Das Nichtanhaftungstraining aus Aufstellungen soll auch im Alltag von der begrenzenden Vorstellung freimachen, Gefühle, Emotionen und Gedanken würden uns besitzen und uns festschreiben. Wenn Sparrer für ein Loslassen der Gefühle und Emotionen plädiert, so ruft sie damit nicht zu einem Unterdrücken oder Verleugnen der Empfindungen auf. Gefühle – auch schmerzliche – sind für Sparrer nichts Negatives; im Aufstellungsablauf sind sie eine Art Seismograph, da gerade in körperlichen Empfindungen oder Emotionen wichtige Hinweise auf Probleme liegen. Sparrers Augenmerk liegt vielmehr auf unserer Neigung, uns über unsere Gefühle und Empfindungen zu definieren und sie damit als festen Teil unserer selbst zu denken. „Vielleicht können wir lernen, probeweise alle Emotionen wie repräsentierende Wahrnehmungen aufzufassen. Wir verzichten so immer mehr darauf, uns mit ihnen zu verwechseln.“[36] Unser starkes Verhaften an den eigenen Gefühlen sei mit der Gefahr verbunden, diese Gefühle als Teil der eigenen Person zu sehen und sich mit ihnen zu verwechseln. Erfahrungen aus Aufstellungen können die Wahrnehmung schärfen für eine Unterscheidung von Gefühl, Kontext und Person.
Wie das „Selbst“ gedacht wird, ob es als relativ stabile Entität gesehen wird, die Erfahrungen speichert und Persönlichkeitsmerkmale, Erinnerungen usw. mittels interner Schemata organisiert, ist laut Rosenbaum und Dyckman gerade in der Therapie von Bedeutung.
„Konzeptualisiert der Therapeut den Klienten als eine Person mit problematischen Persönlichkeitsmerkmalen, so wird der Klient, wenn er dazu neigt, die Einstellungen und Werte des Therapeuten zu übernehmen, sich bald wegen ‚stabiler Charaktereigenschaften’ sorgen, die ihm vor der Therapie gar nicht bewußt waren. Vielen Familientherapeuten ist inzwischen bewußt, daß die Identifikation und Etikettierung ‚stabiler’ Persönlichkeitsmerkmale unter Umständen gerade die Probleme aufrechterhalten – und zuweilen sogar erst hervorbringen – die sie ‚behandeln’.“[37]
Wird das Selbst als eine Anhäufung all dessen konzipiert, was wir gedacht, gefühlt und getan haben, so bestimmen diese in uns gespeicherten Erfahrungen darüber, wie auch auf Neues reagiert wird. „In einer solchen Perspektive lässt sich kaum erklären, wie wir jemals etwas Diskontinuierliches oder qualitativ Neues tun können, da ja selbst unsere Zukunft, unsere Hoffnungen und Wünsche im Grunde Projektionen dieser Residuen sind.“[38] Die Annahme einer Kernidentität, welche die Grundlage unserer Existenz bildet und uns definiert, beinhaltet die Forderung, sich selbst „treu“ zu bleiben, um ein gutes, wahrhaftes Leben zu führen[39] und erschwert somit Veränderung. Rosenbaum und Dyckman sehen das als Akkumulation von Erfahrungen gedachte Selbst als Gefängnis und plädieren für ein „leeres Selbst“: „Das heißt nicht, daß das Selbst und der Andere ohne Inhalt sind, sondern lediglich, daß sie neben dem, wie sie in Beziehungen erscheinen, keine unabhängige und überdauernde Existenz besitzen.“[40] Identität vollzieht sich in Beziehungen, sie ist fließend und besitzt keinen Wesenskern. Hier deutet sich bereits an, dass das Selbst als sozial konstruiertes Produkt gesehen werden kann. Dieser Gedanke wird in Noetzels Ausführungen zur Authentizität vertieft (siehe Kapitel 2.3). Das Selbst wird nicht als Zuwachs an Erfahrung gesehen, sondern als „ [...] eine fortlaufende, sich ständig verändernde Ausdrucksform der Möglichkeit.“[41]
Die Methode der Aufstellung wird als lösungsorientiertes Arbeiten begriffen. Der Schwerpunkt liegt hier nicht auf den Problemen und Krankheiten des Klienten, sondern in der Einleitung von Wandlungsprozessen und dem Finden von Lösungen.[42] Ähnlich wie Rosenbaum und Dyckman davor warnen, stabile Persönlichkeitsmerkmale zu konzipieren, regt Hellinger dazu an, das Augenmerk nicht auf die Probleme zu legen. Ein klar definiertes und interpretiertes Problem engt ein und lässt keinen Raum für Visionen der Veränderung.
„Sobald man etwas genau beobachtet oder definiert oder interpretiert, nimmt man ihm die Offenheit und die Möglichkeit der Weiterentwicklung. Deswegen sind Diagnosen in der Psychotherapie manchmal gefährlich. Ich lasse, zum Beispiel, hier niemanden seine Krankheit oder sein Problem ausführlich beschreiben oder erklären. Die Beschreibung und Erklärung des Problems verfestigt es. Man darf das jetzt nicht als Anweisung verstehen, überhaupt keine Diagnosen zu stellen, aber es ist es wert, darüber nachzudenken.“[43]
Das Ziel einer Aufstellung ist die Einleitung eines Wandlungsprozesses. Um diese Weiterentwicklung zu ermöglichen, legt Hellinger seinen Schwerpunkt nicht auf die Problembeschreibung, sondern arbeitet mit Blick auf die gute Lösung.
2.1.3 Diskussionen um die Systemische Aufstellung
Seit einigen Jahren wird in der Öffentlichkeit eine breite Diskussion über das Familien-Stellen, vor allem aber über die Arbeitsweise Hellingers geführt.[44] Kritik wird teilweise auch innerhalb der Aufstellungsszene an Hellinger geübt.[45] Die Person Bert Hellingers und seine Arbeitsmethoden sollen jedoch nicht Thema der vorliegenden Arbeit sein. Inhalt dieses Kapitels ist vielmehr die Diskussion unter Aufstellern, welchem philosophischen Verständnis Systemische Aufstellungen angehören – einem phänomenologischen oder einem konstruktivistischen. Hellinger beschreibt das Familien-Stellen als Ergebnis einer phänomenologischen Haltung.
„Phänomenologie heißt, von der Philosophie her gesehen, dass sich jemand zurücknimmt und dass er ohne Absicht ist, ohne Furcht und ohne Liebe, im Sinne von, dass er jemandem unbedingt helfen will. Das Geschehen selbst bleibt außerhalb des Therapeuten, es geschieht etwas außerhalb von ihm.“[46]
Diese phänomenologische Haltung Hellingers verlangt ein Abstand nehmen von Erwartungen und therapeutischen Absichten. Sie gebietet statt dessen eine Art wache Passivität. Auf diese Art könne eine tiefer liegende Wahrheit zu Tage treten und wahrgenommen werden. Indem Hellinger die „gefundene“ Wirklichkeit entgegen der „erfundenen“ Wirklichkeit[47] betont, setzt er sich klar von einer konstruktivistischen Sicht ab und verpflichtet sich einem phänomenologischen Vorgehen. Dies führte zu der kontroversen Diskussion, ob die Methode des Familien-Stellens den Namen „systemisch“ zu Recht tragen dürfe. „Systemisch“ wird im Rahmen dieser Diskussion zum einen verstanden als vereinbar mit der von Gregory Bateson inspirierten konstruktivistisch-systemischen Sicht, die zum Beispiel der Heidelberger Schule um Helm Stierlin zugrunde liegt. Eine als konstruiert betrachtete Wirklichkeit hat in der Therapie das Potential, durch einen anderen Blickwinkel auf das Geschehen auch eine andere Wirklichkeit zu konstruieren. Gleichzeitig soll mit „systemisch“ ein Blickwinkel bezeichnet werden, der über die einzelne Person hinausgeht und das gesamte Familiensystem in den Blick nimmt. Problematische Verhaltensweisen liegen diesem Verständnis nach nicht allein in der betroffenen Person begründet, sondern werden durch das ganze umgebende System mit hervorgerufen und verstärkt. Den Aspekt der persönlichen Wirklichkeit, die nicht als allgemeine, objektive Wahrheit gesehen wird, betont auch Sparrer in Bezug auf die von ihr und Varga von Kibéd entwickelte Systemische Strukturaufstellung.[48] Konstruktivistische Aspekte der Aufstellungsarbeit zeigen sich laut Sparrer zum Beispiel in dem Problembild,
„ […] denn ein Problem im therapeutischen Kontext liegt ja in der Art und Weise, wie wir mit der Welt in Beziehung treten und nicht in den Tatsachen der Welt. Dies zeigt sich bei den Aufstellungen darin, dass das Anfangsbild immer aus einer Perspektive heraus aufgestellt wird, nämlich aus der Perspektive der Klientin. Stellt ein anderes Familienmitglied die gleiche Familie auf, so gibt es oft Abweichungen, was wiederum darauf hinweist, dass wir es mit einem perspektivenabhängigen Bild zu tun haben und nicht mit einer Abbildung der Familiensituation an sich.“[49]
Problembilder spiegeln die Sicht einer Klientin auf ein System wider. Dieses Anfangsbild kann jedoch nicht als objektiv wahrer Blick auf das System verstanden werden, sondern nur als eine Sichtweise der Dinge. Daher verortet der Therapeut ein Problem zunächst nicht in den Tatsachen der Welt, sondern im Blickwinkel der Klientin auf diese Welt. Hier geht es nicht um die Wahrheit, sondern um die Wahrheit der Klientin. Die Tatsache, dass eine Aufstellung stets auf ein bestimmtes Anliegen, eine bestimmte Frage hin ausgerichtet ist, macht eine weitere Perspektive deutlich und zeige nach Sparrer, dass es keine Wirklichkeit unabhängig von Person und Anliegen gibt.
Die Diskussion um Phänomenologie und Konstruktivismus in der Aufstellungsarbeit, die sich an dem Streit um das Wort „systemisch“ festzumachen scheint, ist noch nicht beendet. Für diese Arbeit soll jedoch festgehalten werden, dass Aufstellungen nicht per se als phänomenologisch oder konstruktivistisch gelten können, entscheidender als vorher getroffene Zuordnungen sind die Haltung der Aufstellerin und die Form der Aufstellung. Die Debatte um eine philosophische Zuordnung der Systemischen Aufstellung erlaubt aber auch einen Blick auf andere philosophischen Strömungen und eine mögliche Neuorientierung. Dies soll im dritten Teil der Arbeit mit Blick auf den Strukturalismus denn auch geschehen.
2.2 Das Verständnis von Authentizität in verschiedenen Kontexten
Essen stellt bezüglich Systemischer Aufstellungen die Frage nach Authentizität. In Aufstellungen wird davon ausgegangen, dass auf die Handlungen und Rückmeldungen der Stellvertreter Verlass ist, dass sie authentisch sind. Laut Essen führt diese Erfahrung zu einem völlig neuen Verständnis von authentischem Verhalten, da es nicht länger mit geschichtlicher Kontinuität gleich gesetzt wird. Dies liefert neue Möglichkeiten, die auch in der Therapie eine Rolle spielen und für das Verständnis des Selbst entscheidend sind.
Rosenbaum und Dyckman greifen in ihrem Text auf Formulierungen zurück wie: „Die meisten [!] individualtherapeutischen Ansätze setzen ein Selbst als relativ stabile Entität voraus.“[50] „In der Regel [!] aber wird das Selbst als Aufbewahrungsort und Integrator persönlicher Erfahrungen konzipiert [...] .“[51] Um zu verstehen, gegen welches Selbstbild und welches Verständnis von Authentizität sich die Autoren hier – an den durch [!] gekennzeichneten Stellen – wenden, sollen im Folgenden verschiedene Authentizitätskonzepte untersucht und ihre Entwicklung deutlich gemacht werden.
2.2.1 Von einem authentischen Persönlichkeitskern hin zum kernlosen Subjekt
„Authentisch“ als relativ junge Wortschöpfung steht im deutschen Sprachraum seit dem 16. Jahrhundert für das Echte, Eigenhändige, Verbürgte.[52] Die Wortverwendung wandelte sich „ [...] von einem allgemeinen Verständnis der Autorisierung von Dingen und Texten[53] zu einer Kennzeichnung für echt gehaltene Repräsentationsverhältnisse [...] “[54], was über den Gebrauch des Wortes „Selbst“ und dessen Zusammensetzungen wie Selbstgefühl, Selbstbewusstsein oder Selbstbestimmung schließlich auch auf Eigenschaften von Personen bezogen wurde.[55] Die Glaubwürdigkeit, die Authentizität impliziert, beruhte nicht mehr nur auf der Autorisierung, sondern auf der angenommenen Übereinstimmung mit der Realität.
„Authentizität korrespondiert [...] mit einem getreuen Abbild der Wirklichkeit. Dieser Spiegelcharakter verleiht dem ‚authentischen’ Zeugnis Glaubwürdigkeit. In diesem Zusammenhang spielt auch das ‚Echte’ eine wichtige Rolle, denn ‚echt’ wird nun nicht mehr nur als Attribut der richtigen oder falschen Autorisierung begriffen, sondern als Ausdruck einer allgemeinen Übereinstimmung mit der Erscheinung eines Phänomens, seiner Wahrheit und Wahrhaftigkeit.“[56]
Die authentische Person wird als die echte, wahrhafte Person verstanden, deren positiv bewertetes Verhalten einem ehrlichen Persönlichkeitskern entspringt und nicht durch äußeren Zwang oder soziale Konventionen hergestellt wird.[57] Mit ihrem Imperativ, aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit herauszugehen, definierte die Aufklärung Authentizität als Verwirklichung des Selbst im Gegensatz zu einer gesellschaftlich-kirchlichen Fremdbestimmung. Daraus entstand ein im damaligen Kontext Menschenbild, das zwischen Eigentlichkeit und fremdbestimmter Rolle unterschied und den Individuen Echtheit und Einmaligkeit auftrug.[58]
„Die Gestaltung der durch die Aufklärung gewonnenen Mündigkeit stellt das Subjekt vor eine weitreichende Konstruktionsaufgabe der Selbstfindung und –darstellung, die eingehender Selbst- und Fremdbeobachtung bedarf. Dabei ist keine Signatur des Individuums selbstverständlich vorgegeben, sondern jede ist Resultat eines sozialen Prozesses, in dem das moderne Individuum seine Unverwechselbarkeit behaupten muß. In diesem Bewußtsein des Selbstentwurfs wird das Subjekt sich selbst zum Problem.“[59]
Mit der Aufklärung erlangt der Mensch nun also nicht nur „negative“ Freiheit – das Freisein von Fremdbestimmung –, sondern auch die „positive“ Freiheit, sich individuell selbst zu verwirklichen und auf sein Innerstes zu hören. Individuation, als die Entwicklung einer eigenen unverwechselbaren Individualität, verlangt Arbeit an sich selbst und macht das Orientieren an anderen unmöglich. Stattdessen birgt dieser Gedanke der Selbstverwirklichung nach Charles Taylor das moralische Ideal der Treue zu sich selbst.[60] Mit Bezug auf Herder formuliert Taylor die Forderung:
„Ich bin dazu aufgefordert, mein Leben in [meiner, A.B.] Weise zu führen, ohne das Leben irgendeiner anderen Person nachzuahmen. Doch damit wird der Treue zu sich selbst neue Wichtigkeit verliehen. Wenn ich mir nicht treu bleibe, verfehle ich den Sinn meines Lebens; mir entgeht, was das Menschsein für mich bedeutet.“[61]
Die Forderung, seinen persönlichen Kern zu finden und mit ihm die eigene Besonderheit zu entwickeln und ihr treu zu bleiben, verweist den Menschen bei seiner Suche nach dem Sinn seines Lebens auf sich selbst. Ein einheitliches Verhaltensmodell verschwindet zugunsten der Treue zum eigenen Sosein.
Mit der Erkenntnis Freuds, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein, scheint diese Treue zu sich selbst immer schwerer. Freud dachte das „Ich“ nicht mehr als einheitliche und geschlossene Instanz und schrieb auch Ich-fremden Trieben Macht über das Handeln zu. Er verabschiedete damit die Vorstellung eines homogenen Persönlichkeitskerns, auf den spontanes, authentisches Handeln zurück zu führen ist. Die Existenz eines authentischen Kerns der Persönlichkeit wird neben Ich-fremden Trieben dennoch angenommen – ihn zu finden ist Aufgabe der Psychoanalyse.[62] Auf die Bedeutung von Authentizität in Psychologie und Psychiatrie macht Noetzel aufmerksam, wenn er auf die Problematik der Beobachtbarkeit und objektiven Bestimmung von Authentizität eingeht.
„An dieser Schnitt-stelle [!] von individueller Freiheit und bestimmten Verhaltensweisen operieren Psychologie und Medizin, in dem sie nach den wahren Absichten und Entscheidungen der Patienten fragen und dadurch unliebsame Verhaltensweisen dieses Personenkreises als inauthentisch ent-werten [!] können.“[63]
Mit einem Verweis auf das Journal of Clinical Ethics aus dem Bereich der Psychiatrie beschreibt Noetzel das herkömmliche Verständnis von inauthentischem Handeln und betont das begrenzende Element dieser Definition: „’Inauthentic choices are choices that are out of character and inconsistent with the past history, values and decision-making style’ wann sind dann Veränderungen und Brüche authentisch?”[64] Wenn inauthentisches Verhalten als ein Verhalten definiert wird, das nicht mit den bisherigen Handlungen, Werten und dem Entscheidungsverhalten übereinstimmt, ist es schwer, Veränderungen und diskontinuierliches Verhalten auf eine positive Art zu erklären. Auf diese Problematik, Veränderungen und qualitativ Neues laut dieser Definition nicht als authentisch beschreiben zu können, haben bereits Rosenbaum und Dyckman hingewiesen (vgl. Kap. 2.2).[65]
Einen entscheidenden Wandel im Blick auf Authentizität brachte der „linguistic turn“: mit ihm wurde die Vorstellung verabschiedet, Authentizität könne entdeckt werden. Stattdessen wurde das „real thing“[66] als ein soziales Produkt gesehen. Die Möglichkeit einer diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit wird auch bei der Frage um Identität denkbar, laut Noetzel bleibt sie jedoch meist ungenutzt.
„Blickt man allerdings auf die schon vorliegenden Arbeiten zur Unterscheidung Authentizität/Inauthentizität, dann fällt auf, daß ein solcher ‚linguistic turn’, eine Analyse der Zeichen, Symbole, Texte und Ikonographien der Unterscheidungsverhältnisse nur am Rand stattgefunden hat. Vielmehr überwiegt die Parteinahme für eine bestimmte substantielle Füllung des Begriffs und damit ein Verharren im Dilemma der Entscheidung für eine Seite in der ontologischen Differenz von Authentizität/Inauthentizität.“[67]
Mit dem „linguistic turn“ wird die Annahme einer substantiellen Füllung eines Begriffs hinterfragbar. Statt einem authentischen Persönlichkeitskern, der die eigene Identität prägen soll, kommen Zeichen, Konventionen (zum Beispiel als Sprachkonventionen) und Texte als wirklichkeitskonstituierende Elemente in den Blick. Es ist nun möglich, auch Authentizität und Identität als soziales Produkt zu begreifen. Laut Noetzel wurde eine solche Interpretation im wissenschaftlichen Kontext bisher jedoch kaum aufgegriffen.
2.2.2 „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ – Exkurs zum „linguistic turn“
Dieser Satz Ludwig Wittgensteins aus dem „Tractatus“ gilt als Startschuss des „linguistic turn“, mit dem sich in der Sprachphilosophie und darüber hinaus ein sogenannter Paradigmenwechsel weg von der klassischen Sprachauffassung hin zur linguistisch-pragmatischen Sprachdeutung vollzog. Der aus „linguistic turn“ und „pragmatic turn“ bestehende Paradigmenwechsel wurde neben Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“ und den „Philosophischen Untersuchungen“ auch von Austins und Searles Konzeptualisierung der Sprachakttheorie hervorgerufen.[68]
Der „linguistic turn“ führte zu einer Fokussierung auf die Sprache, die als Werkzeug wissenschaftlicher Erkenntnis in Frage gestellt und stattdessen selbst zum Untersuchungsgegenstand wurde. Mit Saussures Beschreibung der Sprache als arbiträres Zeichensystem (vgl. Kapitel 3.1) und Wittgensteins Aussage „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“[69] schwindet die Vorstellung einer einheitlichen und allgemeinen Bedeutung der verwendeten Worte. Worte sind – basierend auf Konventionen – willkürlich gewählt, ihre Bedeutung entsteht im Gebrauch, jedes Wort kann immer auch etwas anderes bedeuten, kann immer anders gedeutet und verstanden werden. Gleichzeitig wird die Sprache als wirklichkeitstragend und zugleich wirklichkeitsproduzierend erkannt. Wirklichkeit kann diskursiv konstruiert werden. Die daraus entstehende Notwendigkeit der kritischen Analyse der Sprache und ihres Gebrauchs wird als „linguistic turn“ bezeichnet. Dies bedeutet eine Verschiebung des Schwerpunkts weg vom Sprachsystem hin zum Sprachgebrauch, mit Saussure gesprochen also eine Verschiebung von langue zu parole.[70]
2.2.3 Authentizität als Gegenwärtigkeit verlangt ein Handeln im Kontext
Authentizität im Aufstellungskontext wird vor allem von Siegfried Essen thematisiert. So macht Essen auf die Besonderheit aufmerksam, bei einer Aufstellung „ [...] ohne Rücksicht auf eigene Selbstentwürfe in einem fremden Kontext stimmig zu handeln.“[71] Wenn Stellvertreter selbst in verdeckten Aufstellungen, wo auf inhaltliche Informationen verzichtet wird, „richtig“ handeln, so scheint das als stimmig oder authentisch wahrgenommene Handeln nicht von einem Wissen über die geschichtlichen Zusammenhänge im System beeinflusst zu sein. Für die einzelne Person bedeutet das, systemische Aufstellung kann
„ [...] von der Vorstellung befreien, nur in dieser einen Rolle, ‚Ich-Selbst’ genannt, authentisch handeln, leben und sein zu können. Welch ein Skandal gegenüber unserem Selbstbegriff. Klammheimlich wird seine unaufhaltsame Dekonstruktion eingeleitet und das mit einem verrückt guten Beigeschmack von Kontakt und Freiheit.“[72]
Die bei Noetzel beschriebene Diskrepanz zwischen einem philosophischen Verständnis von Authentizität nach dem linguistic turn – Authentizität nämlich als konstruiertes soziales Produkt – und der Verwendung des Begriffs im Alltag, wird an diesem Zitat deutlich. Essen betrachtet die Dekonstruktion des Subjekts noch immer als „Skandal“, der nur klammheimlich eingeleitet werden darf. Im Vergleich zu anderen Quellen, die davon ausgehen, Handlungen, die mit dem bisherigen Verhalten, den Werten und dem Entscheidungsstil nicht übereinstimmen, seien inauthentisch (vgl. Kap. 2.2.1), kommt mit Essens Sichtweise tatsächlich Neues auf: Essen plädiert nicht für Vergangenheit und kontinuierliches Verhalten, sondern für das momentane Empfinden und den Wandel.
„Statt dessen wäre Authentizität Gegenwärtigkeit. Und Treue wäre dann nicht mehr das Festhalten an vergangenen Entwürfen, sondern das Gewahrsein und stimmige Handeln im gegenwärtigen Kontext. Meine Stellung im System, die Gegenwart in Raum und Zeit, wäre dann entscheidender für mein Denken, Fühlen und Handeln als das Erbe der Vergangenheit, das ich meine Eigen-Schaften [!] nenne.“[73]
Essen macht authentisches Verhalten an dem gegenwärtigen Kontext fest; was hier als stimmig empfunden wird, ist authentisch. Demnach gebührt nicht der Vergangenheit Treue, sondern dem aufmerksamen Hineinspüren in das, was einen gegenwärtig umgibt. Der rote Faden, der bisher angenommen wurde, um das gegenwärtige Handeln mit dem früheren zu verbinden und es somit als authentisch zu legitimieren, scheint unnötig. Die Art und Weise, wie wir über uns selbst berichten, ist dann ein redundanter Versuch, die eigene Geschichte glaubwürdig zu rekonstruieren, um den Glauben an die eigene Kontinuität – und damit Authentizität – nicht aufgeben zu müssen.[74] Auch wenn diese Selbstverbalisation gegenwartsorientiert scheint – Ich bin die Person, die Avocados mag. –, reflektiert sie die Vergangenheit.[75] Authentizität ist nicht als eine Fortführung der Geschichte, als Treue zur Vergangenheit zu denken, sondern vielmehr als ein Handeln aus dem Kontext und der Situation heraus zu verstehen.
Aufgelöst wird hierbei die Vorstellung eines substanzhaften Subjekts, das gekennzeichnet ist von Kontinuität und Beständigkeit.[76] Essen betrachtet Identität als ein Konstrukt, als ein Spiel des Geistes. Authentizität wird nicht mehr auf den einen festen Kern zurückgeführt, sondern auf Gegenwärtigkeit. Ein angemessener Umgang mit dem Konstrukt Identität sei dann gerade das Spiel[77], das in Kapitel 3.3 näher beschrieben wird.
[...]
[1] Ziel dieser Magisterarbeit ist es nicht, Systemische Aufstellungen, ihren Ablauf und ihre Wirkweise zu erklären. Stattdessen werden die Grundannahmen der Systemischen Aufstellung, wie zum Beispiel das Phänomen der repräsentierenden Wahrnehmung, für gegeben genommen und auf philosophische Weise behandelt.
[2] Der Fokus liegt in dieser Arbeit auf den frühen Werken Deleuzes und dem dort zu Tage tretenden Subjektbegriff.
[3] Deleuze, Gilles (1992): Woran erkennt man den Strukturalismus? Berlin. (im Folgenden abgekürzt mit Struk.)
[4] Deleuze, Gilles (1993): Logik des Sinns. Frankfurt am Main. (im Folgenden abgekürzt mit LdS.)
[5] Dieses Annehmen ist im doppelten Sinn des Wortes zu verstehen. Deleuze geht es zum einen um die Akzeptanz des Anderen, um das Annehmen der Vielfalt und des positiven Unterschieds. Darüber hinaus verlangt er aber auch die Fähigkeit, während andere im binären schwarz-weiß Denken verhaftet sind, die Annahme zu wagen, es könne auch noch anders, vielfältiger sein.
[6] Goffman, Erving (1991): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. 7. Aufl. München, Zürich.
[7] Vgl. Ott , Michaela (1998): Vom Mimen zum Nomaden. Lektüren des Literarischen im Werk von Gilles Deleuze. Wien, S.26
[8] Deleuzes, Gilles; Guattari, Félix (1977): Anti-Ödipus, Kapitalismus und Schizophrenie. Frankfurt am Main.
[9] Vgl. Ott 1998, S.39
[10] Vgl. Ott 1998, S.26-27
[11] Deleuze, Gilles; Guattari, Félix (1997): Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie 2. Berlin.
[12] Vgl. Ott 1998, S. 40
[13] Erb, Kristine (2001): Die Ordnung des Erfolgs. Einführung in die Organisationsaufstellung. München.
[14] Leider lag mir der Aufsatz „Leibliches Verstehen. Wirkungen systemischer Inszenierungsarbeit“ von Siegfried Essen, erschienen in dem Herausgeberwerk Baxa, G.L.; Essen, C; Kreszmeier, A.H. (Hrsg.): Verkörperungen. Systemische Aufstellung, Körperarbeit und Ritual. Heidelberg 2002, S. 59 – 83 nicht vor, so dass ich die im Internet veröffentlichte Version zum Zitieren benutzt habe (www.siegfriedessen.com). Die angegebenen Seitenzahlen entsprechen meinem Ausdruck und dienen daher nur einer ungefähren Orientierung.
[15] Sparrer, Insa (2002): Wunder, Lösung und System. Lösungsfokussierte Systemische Strukturaufstellung für Therapie und Organisationsberatung. 2., korrig. u. überarb. Aufl. Heidelberg.
[16] Sparrer, Insa u. Matthias Varga von Kibéd (2000): Ganz im Gegenteil. Tetralemmaarbeit und andere Grundformen Systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker und solche, die es werden wollen. Heidelberg.
[17] Vgl. Ott 1998, S.13
[18] Goffman, Erving (1992): Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. 10. Aufl. Frankfurt am Main, S. 132
[19] Vgl. Goffman 1992, S.132
[20] Stellvertreter können auch als Repräsentanten bezeichnet werden.
[21] Sparrer 2002, S.99
[22] Hellinger, Bert (2001): Die Quelle braucht nicht nach dem Weg zu fragen. Ein Nachlesebuch. Heidelberg, S.210
[23] Mahr, Albrecht (1998): Die Weisheit kommt nicht zu den Faulen. Vom Geführt-Werden und von der Technik in Familienaufstellungen. In: Weber, Gunthard (Hrsg.): Praxis des Familien-Stellens. Beiträge zu systemischen Lösungen nach Bert Hellinger. Heidelberg, S.30-39, S.30
[24] Vgl. Sheldrake, Rupert (1985): Das schöpferische Universum. Die Theorie des morphogenetischen Feldes. 2. Aufl. München.
[25] Hellinger 2001, S. 217
[26] Beide Zitate vgl. Varga von Kibéd, Matthias (2000): Unterschiede und tiefere Gemeinsamkeiten der Aufstellungsarbeit mit Organisationen und der systemischen Familienaufstellungen. In: Weber, Gunthard (Hrsg.): Praxis der Organisationsaufstellung. Grundlagen, Prinzipien, Anwendungsbereiche. Heidelberg, S.11-33, S.16
[27] Die Methode, Stellvertreter ohne genauere inhaltliche Informationen aufzustellen, wurde als erstes von Thea Schönfelder bei psychiatrischen Patienten angewendet und dann von Bert Hellinger in der Familienaufstellung aufgegriffen. Rollenspiele mit detaillierten Informationen erlangten in der Psychotherapie unter anderem durch das Psychodrama von Jakov Levy Moreno oder die Familienskulptur von Virginia Satir Bekanntheit.
[28] Varga von Kibéd 2000, S.18
[29] In dieser Arbeit stehen nicht die praktischen Schritte einer Aufstellung oder die Interventionsformen im Aufstellungsprozess im Vordergrund. Verwiesen werden soll hierzu auf
Sparrer, Insa (2000): Vom Familien-Stellen zur Organisationsaufstellung. Zur Anwendung Systemischer Strukuraufstellungen im Unternehmensbereich. In: Weber, Gunthard (Hrsg.): Praxis der Organisationsaufstellung. Grundlagen, Prinzipien, Anwendungsbereiche. Heidelberg, S. 91-126, S. 99-101
Zum Aufstellungsablauf und den einzelnen Techniken im Organisationsbereich siehe auch die Einführung von Erb 2001, S. 27-40
[30] Sparrer/ Varga von Kibéd 2000, S.73
[31] So können in der Einzeltherapie zum Beispiel Aufstellungen mit Hilfe von Bodenankern durchgeführt werden. Die Klientin legt hierfür Blätter an die Stellen im Raum, die sonst von Stellvertretern eingenommen werden würden. Nun können sich Klientin oder Therapeutin an die verschiedenen Plätze begeben und mit den so gewonnenen Informationen über das System arbeiten. Hier wird besonders deutlich, wie wichtig das Herausgehen aus einer Rolle im Aufstellungsablauf ist. (vgl. Franke, Ursula (2003): Wenn ich die Augen schließe, kann ich dich sehen. Familien-Stellen in der Einzeltherapie und –beratung. Ein Handbuch für die Praxis. 2. überarb. u. korrig. Aufl. Heidelberg, S.35-40)
[32] Sparrer 2002, S.107
[33] Hellinger 2001, S.229
[34] Vgl. Sparrer/Varga von Kibéd 2000, S.73
[35] Sparrer 2002, S.107 (Hervorhebung im Original)
[36] Sparrer/Varga von Kibéd 2000, S.212
[37] Rosenbaum, R.; Dyckman, J (1996): Die Integration von Selbst und System: Eine leere Schnittstelle? Familiendynamik 21, H.4, S. 346-382. S. 349
[38] Rosenbaum/Dyckman 1996, S.354
[39] Vgl. Rosenbaum/Dyckman 1996, S.359
[40] Rosenbaum/Dyckman 1996, S.361
[41] Vgl. Rosenbaum/Dyckman 1996, S.357
[42] Vgl. Erb 2001, S.14
[43] Hellinger 2001, S.231f
[44] Kritische Äußerungen fanden sich zum Beispiel im Spiegel und in der Zeit; vgl. Lakotta, Beate: Wie der Therapie-Guru Bert Hellinger seine Patienten demütigt. In: Der Spiegel (2002), H.7, S.200-202
Buchholz, Martin: Da sitzt das kalte Herz! In: Die Zeit Nr. 35 vom 21.8.2003, S.11-13
[45] Vgl. Nach Würzburg – Zur internen und öffentlichen Kritik an Bert Hellinger. In: Praxis der Systemaufstellung 2003/2. In dieser Rubrik finden sich Beiträge von Reinhard Bauß, Albrecht Mahr und Bert Hellinger, die die kontroverse Diskussion um die Arbeitsweise Hellingers thematisieren.
[46] Hellinger 2001, S.212
[47] Vgl. Madelung, Eva (2001): Ökologie des Geistes und Ordnungen der Liebe: zwei systemische Sichtweisen im Vergleich. In: Weber, Gunthard (Hrsg.): Derselbe Wind lässt viele Drachen steigen. Systemische Lösungen im Einklang. Heidelberg, S.56-67, S.56
[48] Vgl. Sparrer, Insa (2001): Konstruktivistische Aspekte der Phänomenologie und phänomenologische Aspekte des Konstruktivismus. In: Weber, Gunthard (Hrsg.): Derselbe Wind lässt viele Drachen steigen. Systemische Lösungen im Einklang. Heidelberg, S.68 – 97, S.86
[49] Sparrer 2001, S.86
[50] Rosenbaum/Dyckman 1996, S.346
[51] Rosenbaum/Dyckman 1996, S.353
[52] Vgl. Noetzel, Thomas (1999): Authentizität als politisches Problem. Ein Beitrag zur Theoriegeschichte der Legitimation politischer Ordnung. Berlin, S.18
[53] authentisch als das aus eigener Gewalt vollbrachte
[54] Noetzel 1999, S.11
[55] Im Folgenden werden Aussagen zu Authentizität, dem „Selbst“ und dem „Ich-Selbst“ gegenüber gestellt und miteinander verglichen. Die Annahme einer gewissen Vergleichbarkeit und Übereinstimmung dieser Begriffe in den verschiedenen Texten scheint gerade mit dem soeben beschriebenen Wandel des Gebrauchs des Wortes Authentizität gerechtfertigt zu sein.
[56] Noetzel 1999, S.19
[57] Auf die Unterscheidung zwischen authentischem versus sozial erwünschtem Verhalten wird in Kapitel 3.1.3 noch einmal ausführlicher eingegangen. In Goffmans soziologischer Rollentheorie kommt der sozialen Konvention und Etikette, die authentisches Verhalten unmöglich und das Spielen einer Rolle nötig macht, ein besonderes Gewicht zu.
[58] Vgl. Essen 2002, S.5
[59] Noetzel 1999, S. 20
[60] Vgl. Taylor, Charles (1995): Das Unbehagen an der Moderne. 2. Aufl. Frankfurt am Main, S.22
[61] Taylor 1995, S.38 (Hervorhebung im Original)
[62] Vgl. Noetzel 1999, S.20
[63] Noetzel 1999, S.23
[64] Linda Ganzini/Melinda A. Lee, Authenticity, “Autonomy mental disorders”. In: Journal of Clinical Ethics (JCE), 4/1993, S. 58, zit. nach Noetzel 1999, S.23
[65] „ [D] er Begriff ‚Veränderung’ setzt schon das Subjekt voraus, die Seele als Substanz.“ (N Herbst 1885 – Frühjahr 1886 1[43]) Dieses Zitat Nietzsches – der später ausführlicher behandelt wird – soll bereits an dieser Stelle deutlich machen, wie sehr unser Denken und unsere Sprache von der Annahme eines Wesenskerns, einer Substanz, geprägt sind. Würden wir von einem Subjekt ausgehen, das unabhängig von bisherigem Verhalten und Werten authentisch handeln kann, käme einem Wort wie „Veränderung“ in diesem Kontext keine Bedeutung zu.
[66] Vgl. Noetzel 1999, S.32
[67] Noetzel 1999, S.34
[68] Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus, 5.6. zit nach: Braun, Edmund (Hrsg.) (1996): Der Paradigmenwechsel in der Sprachphilosophie. Studien und Texte. Darmstadt, S.3
[69] Wittgenstein Philosophische Untersuchungen 43, zit. nach Hornscheidt, Antje (1997): Der „linguistic turn“ aus der Sicht der Linguistik. In: Henningsen, Bernd; Schröder, Stephan Michael (Hrsg.): Vom Ende der Humboldt-Kosmen. Konturen von Kulturwissenschaften. Baden-Baden, S.175-206, S.178
[70] Vgl. Hornscheidt 1997, 175-192; und Braun 1996, S.3-37
[71] Essen 2002, S.4
[72] Essen 2002, S.4
[73] Essen 2002, S.4
[74] Vgl. Essen 2002, S.4
[75] Vgl. Rosenbaum/Dyckman 1996, S.354
[76] Verwiesen sei an dieser Stelle auf den postmodernen Philosophen Wolfgang Welsch, der sich in seinem Buch „Ästhetisches Denken“ den Arbeiten von Cindy Sherman widmet. Was ein Identitätsverständnis bedeutet kann, das nicht mehr an ein geschlossenes Selbstkonzept einer Person gebunden ist, sondern sich in „multipler Identität“ ( vgl. Essen 2002, S. 5) ausdrückt, wird hier sichtbar.
„Die Arbeiten von Cindy Sherman wagen sich in dieser Problemsphäre eminent weit vor. Sherman führt eine quasi kernlose, eine rein aus der Vielheit von Möglichkeiten bestehende Identität vor Augen. Substanz, das traditionelle Modell von Identität, ist vollständig durch Attribute bzw. durch eine Vielzahl externer Wirklichkeiten und Rollen ersetzt. Zudem läßt sich an Shermans Arbeiten im Extrem verifizieren, wie Identität sozial durch die Übernahme von Rollen konstituiert sein kann. Identität entsteht nicht quasi-biologisch durch Entfaltung eines Personkerns, sondern im wörtlichsten Sinn durch Identifikation.“ (Welsch, Wolfgang (1995): Ästhetisches Denken. 4. Aufl. Stuttgart. S.180f)
[77] Vgl. Essen 2002, S.11
- Arbeit zitieren
- Andrea Berreth (Autor:in), 2004, Schauspieler seiner eigenen Ereignisse werden - Zum Subjektbegriff in systemischen Aufstellungen und bei Deleuze, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/38316
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