1. Einleitung: Die ökologische Selbstgefährdung moderner Gesellschaften als Gegenstand der Soziologie
In immer mehr Bereichen zeichnen sich anthropogene Umweltveränderungen ab, die sich zunehmend auch auf die menschlichen
Lebensgrundlagen auswirken. Zurückzuführen ist diese Entwicklung teils auf kumuliertes Alltagshandeln im business as usual, teils auf
Entscheidungen über Entwicklung und Anwendung neuer riskanter
Technologien, teils auf die bewußt intendierte Anpassung der Umwelt an unsere Bedürfnisse und ihre Nutzung.
Ökologische Probleme, die sich auf die außergesellschaftliche Umwelt
beziehen, haben in den letzten Jahrzehnten exponentiell zugenommen.
Einzelne Komponenten aggregieren sich zu multifaktoriellen Einflüssen. Eingriffe in die Umwelt zeitigen unvorhersagbare Konsequenzen und sind in ihrem Wirkungsgrad nicht mehr überschaubar.
In Bezug auf die ökologische Selbstgefährdung moderner Gesellschaften
waren soziologische Theorien durch die Beschränkung auf inner-gesellschaftliche Perspektiven bis vor einigen Jahren blind(1). "Der
ökologische Zusammenhang von Natur und Gesellschaft wurde nicht
thematisiert"(2). Ulrich Beck spricht in Anlehnung an Günther Anders von "Apokalypse-Blindheit", und zwar als apodiktisches Wesensmerkmal von Soziologie als Wissenschaft von den sozialen Tatsachen(3). Ohne eine grundlegende Kurskorrektur ist ein Zugang zur ökologischen Problematik nicht zu erwarten(4).
Natur muß in die Selbstbeschreibung der Gesellschaft aufgenommen
werden, nicht nur deshalb, weil ökologische Veränderungen in den letzten Jahren einen nicht mehr zu übersehenden Platz unter den Themen gesellschaftlicher Kommunikation eingenommen haben, wodurch alle Sozialformen zusätzlich belastet werden(5). Daß die Belastung der Natur verringert werden muß, ist nicht mehr zu bestreiten. Fraglich ist, ob ein allein an gesellschaftlichen Bedürfnissen orientierter rationalerer Gebrauch von Umweltressourcen dieser Entwicklung Einhalt gebieten kann.
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1 Vgl. Luhmann 1986: 11-18.
2 Luhmann 1996b: 47.
3 Vgl. Beck 1988: 128; vgl. Anders 1988: 233-324.
4 Vgl. Beck 1988: 70.
5 Vgl. Luhmann 1992f: 191.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung: Die ökologische Selbstgefährdung moderner Gesellschaften als Gegenstand der Soziologie
- Gesellschaft als sinnverarbeitendes System
- Komplexität und Kontingenz
- Beobachtung als Operationsweise sinnverarbeitender Systeme
- Beobachtung als Einheit von distinction und indication
- Die Paradoxie des re-entry
- Beobachtung zweiter Ordnung als Grundoperation der Moderne
- Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung
- Kommunikation als Element sozialer Systeme
- Medien, Codes und Programme
- Der Ausschluß nicht-kommunikativen Handelns aus der Theorie sozialer Systeme
- Gesellschaft als Einheit der Differenz autopoietischer Funktionssysteme und struktureller Kopplungen
- Funktionale Differenzierung als primäre Differenzierungsform moderner Gesellschaften
- Die evolutionstheoretische Sicht auf die Ausdifferenzierung der Funktionssysteme
- Strukturelle Kopplung und Interpenetration
- Strukturelle Kopplung
- Interpenetration
- Integration versus Autonomie
- Risiko und Gefahr als zentrale Aspekte ökologischer Selbstgefährdung
- Zur Riskanz von Beobachtungen und Leitdifferenzen
- Die Beschränkung des Risikobegriffs auf Kommunikation
- Die Ungewißheit der Zukunft
- Riskante Entscheidungen
- Risiken, Gefahren und ihre Bewertung
- Neue Risiken und die Diffusion von Verantwortung und Betroffenheit
- Natur und Umwelt
- Die systemtheoretische Konzeption von Natur
- Die Ökologie des Nichtwissens
- Die Entstehung ökologischer Gefährdungen in Wissenschaft und Wirtschaft
- Wissenschaft und Technik
- Wissenschaft
- Technik
- Die Kopplung von Wissenschaft und Technik
- Wirtschaft
- Die Rolle der Massenmedien
- Wissenschaft und Technik
- Zur Steuerungsproblematik
- Intervention unter dem Paradigma der Autopoiese
- Politik als steuerndes Subsystem?
- Steuerung durch Recht?
- Protestgruppen und der Ruf nach einer neuen Ethik
- Moral - das tertium non datur der funktionalen Differenzierung
- Protest als Immunreaktion
- Ausblick: Möglichkeiten und Grenzen der Theorie sozialer Systeme
- Die funktional-strukturelle Theorie autopoietischer Systeme als neues Paradigma der Soziologie?
- Die Beschreibung der ökologischen Selbstgefährdung moderner Gesellschaften
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der ökologischen Selbstgefährdung moderner Gesellschaften aus der Perspektive der Systemtheorie Niklas Luhmanns. Ziel ist es, zu untersuchen, inwiefern die Systemtheorie in der Lage ist, die ökologische Problematik zu erfassen und zu analysieren.
- Funktionale Differenzierung und ihre Auswirkungen auf die Umwelt
- Das Konzept der Selbstgefährdung und die Rolle von Risikobereitschaft und Ungewissheit
- Die Interaktion von Gesellschaft und Natur in der Systemtheorie
- Möglichkeiten und Grenzen der Systemtheorie im Umgang mit ökologischen Problemen
- Die Bedeutung von Kommunikation und Steuerung in Bezug auf die ökologische Selbstgefährdung
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung stellt die ökologische Selbstgefährdung moderner Gesellschaften als Gegenstand der Soziologie vor und beleuchtet die Relevanz der systemtheoretischen Perspektive. Kapitel 2 widmet sich dem Konzept der Gesellschaft als sinnverarbeitendes System, inklusive der zentralen Elemente wie Komplexität, Kontingenz und Beobachtung. Kapitel 3 behandelt die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften, die Entstehung und Interaktion von Funktionssystemen sowie die Bedeutung struktureller Kopplungen. Kapitel 4 fokussiert auf die Bedeutung von Risiko und Gefahr im Kontext ökologischer Selbstgefährdung. Kapitel 5 untersucht die systemtheoretische Konzeption von Natur und Umwelt, wobei der Fokus auf der „Ökologie des Nichtwissens“ liegt. Kapitel 6 beleuchtet die Entstehung ökologischer Gefährdungen in Wissenschaft und Wirtschaft.
Schlüsselwörter
Die Arbeit behandelt die Schlüsselthemen ökologische Selbstgefährdung, Systemtheorie, Niklas Luhmann, funktionale Differenzierung, autopoietische Systeme, Beobachtung, Kommunikation, Risiko, Natur, Umwelt, Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Steuerung, Protest.
- Quote paper
- Andrea Priller (Author), 1999, Die Darstellung ökologischer Selbstgefährdung funktional differenzierter Gesellschaften in Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37