Der Mensch hat im Laufe seiner Geschichte durch die Wissenschaft und Technik einige hilfreiche Errungenschaften hervorgebracht. Diese sollen uns das Leben angenehmer gestalten und uns in einigen Tätigkeiten Zeit ersparen.
Um von diesen Vorteilen Gebrauch zu machen, erschuf sich Niklas Luhmann seinen Zettelkasten. Bruno Latour spricht die Kontrolle des Berliner Schlüssels an, welcher durch seine einzigartige Konstruktion zu einem besonderen und machtvollen Objekt wird.
In dieser Arbeit möchte ich die verschiedenen Ansichten in Hinblick auf die Machtkonstruktionen und Kommunikationsfähigkeiten von Gegenständen behandeln. Dabei werden mir die Zettelkästen und der Berliner Schlüssel als Beispiele dienen.
Ein Leben mit Zettelkästen und Berliner Schlüsseln
Gegenstände als Hilfsmittel oder Objekte ungleicher Machtverhältnisse?
Smartphone, Portemonnaie, Hausschlüssel – Gegenstände, ohne die Frau und Mann das Haus nicht mehr verlassen wollen. Ohne unser Smartphone können weder wir jemanden erreichen noch kann uns jemand kontaktieren. Ohne unser Portemonnaie können wir uns nicht ausweisen und unsere Identität beweisen. Ohne unseren Hausschlüssel haben wir keinen Zugang zur eigenen Wohnung. Der Mensch hat im Laufe seiner Geschichte durch die Wissenschaft und Technik einige hilfreiche Errungenschaften erbracht. Diese sollen uns das Leben angenehmer gestalten und uns in einigen Tätigkeiten Zeit ersparen. Um von diesen Vorteilen Gebrauch zu machen, erschuf sich Niklas Luhmann seinen Zettelkasten. Bruno Latour spricht die Kontrolle des Berliner Schlüssels an, welcher durch seine einzigartige Konstruktion zu einem besonderen und machtvollen Objekt wird.
Im Folgenden möchte ich die verschiedenen Ansichten in Hinblick auf die Machtkonstruktionen und Kommunikationsfähigkeiten von Gegenständen behandeln. Dabei werden mir die Zettelkästen und der Berliner Schlüssel als Beispiele dienen.
Luhmann berichtet aus seiner eigenen Erfahrung mit seinen Zettelkästen als Kommunikationspartner, welcher ihn durchaus überraschen kann, da er durch sein Verweissystem ein Eigenleben entwickelt. Er erschuf sich ein System aus Notizen und somit eine Art Zweitgedächtnis (S.222). Damit sein Zettelkasten ein kompetenter Partner sein kann, musste Luhmann im Vorfeld akribisch ein gut durchdachtes Karteisystem entwickeln. Er heftete Notizen an Notizen und erzeugte eine innere Verzweigung, wodurch sein Partner auf eine eigene Art und Weise wachsen kann (S.224). Luhmann bemerkte, dass sich an einigen Stellen Klumpen und Regionen an Notizen gebildet haben, mit welchen man häufiger interagiert als mit anderen.
Durch die langjährig angesammelte Menge an Informationen bildete sich ein recht fähiger Kommunikationspartner, wodurch der Zettelkasten selbstständig wächst und dadurch innovativ Kombinationen von verschiedenen Gedankengängen ermöglicht (S.225f.).
Um die soziale Bedeutung von Technik zu betrachten, bringt Latour den Berliner Schlüssel mit ein. Dieser besitzt zwei Schlüsselbärte, dessen Funktion darin besteht, dass nur der Hauswart in der Lage ist, die Haustür tagsüber geöffnet und abends verschlossen zu lassen (S.46). Inwiefern finden wir hier nun eine soziale Situation vor? Latour führt auf, dass sich der Berliner Schlüssel, der Hauswart und das Haustor in einem Kampf um Kontrolle und Zugang befinden. Er deutet damit an, dass eine Vermittlung sozialer Beziehungen zwischen diesen drei Elementen stattfindet (S.48). Zum Schluss stellt Latour die unumgängliche Verknüpfung zwischen Soziologie und Technologie dar (S. 50). Netzwerke entstehen durch Ketten von Mittlern, die kein Ende besitzen (S.51).
Welche Rolle spielen nun diese Gegenstände für Luhmann und Latour? Luhmann erstellt ein positives Bild von seinem Zettelkasten, ja sogar ein Objekt, welches nicht nur einen Kommunikationspartner sondern auch einen Freund wiederspiegelt. Wenn er von seinem Zettelkasten spricht, verwendet er bereits die Wir-Bezeichnung und sieht ihn als wertvollen Compagnon an. Luhmann stellte sich nicht bloß ein Regal hin und befüllte es mit Notizen. Er konzipierte ein systematisches und doch chaotisches Konstrukt, das ihm dazu verhalf seinen Gedanken freien Lauf zu lassen und ein Eigenleben zu verschaffen. Ist Luhmanns Zettelkasten ein unschuldiges Hilfsobjekt oder ein Gegenstand, das mit mehr Macht ausgestattet ist als Luhmann recht ist? Dazu muss man zunächst den Charakter des Zettelkastens analysieren. Der Zettelkasten besitzt wie eine Person ein Gedächtnis. Manchmal gehen Gedanken verloren, andere wiederum bleiben konstant in Erinnerung. Luhmann redet geradezu mit ihm. Sie haben gemeinsame Themengebiete, die sich durch verhäufte Notizen zu Klumpen gebildet haben, wodurch sie öfters über diese kommunizieren.
Luhmann gab seinem Zettelkasten die Macht von verzweigten Gedanken. Jedoch teile ich nicht seine Meinung von einem eigenständigen Wachstums seines Kommunikationspartners. Sobald Luhmann die Weiterführung seiner Notizen abbricht, kann auch sein Zettelkasten sich nicht erweitern. Luhmann agiert, sein Kasten reagiert. Wir müssen zuerst den Impuls setzen, damit eine Kommunikation stattfinden kann. Der Zettelkasten kann nicht eigenständig neue Gedanken hinzufügen. Für Dritte ist er nur ein interessantes Hilfsobjekt, für Luhmann jedoch ein Konstrukt seiner Gedanken. Für ihn mag er ein unverzichtbarer Genosse sein, ohne welchen er seine Einfälle nicht mehr festhalten und kategorisieren kann. Betrachte man die Macht des Zettelkastens von einem generalisierenden Blickwinkel, so ist zu betonen, dass er für Außenstehende kann notwendiges Objekt darstellt. Der Zettelkasten braucht uns und nicht wir ihn. Der Zettelkasten braucht auch Luhmann und Luhmann ihn. Ihre Wechselbeziehung stellt eine ganz andere Persönlichkeit dar. Dies ist abhängig davon, welchen Wert wir Objekten zuschreiben. Wir entscheiden wie viel Macht einem Gegenstand zugesprochen werden soll.
Eine stärkere Abhängigkeit ist in Hinblick auf den Berliner Schlüssel zu erkennen. Latour zeichnet auf, in welchen sozialen Beziehungen sich der Bewohner, Schlüssel, Hauswart und die Tür befinden. Ein Zettelkasten kann mich nicht von meinen eigenen Gedanken abhalten, der Schlüssel kann mir jedoch den Zutritt in mein Heim verwehren. Hier finden wir ein divergentes Machtgebilde vor. Der Schlüssel hat die Fähigkeit verschiedene Beziehungskonstruktionen zu bilden, indem er mich zum Eintritt autorisiert, mich zum Abschließen nachts verpflichtet und mir es tagsüber zu tun verbietet. Hier finden Wechselverhältnisse von sozialen Beziehungen, Moral und Gesetzen statt. Latour zeigt uns, wie bedeutend der Einfluss eines Gegenstandes sein kann. Jedoch ist wieder zu betonen, dass der Berliner Schlüssel nur diese Wirkung hat, da wir ihm diese zusprechen wollten. Der Hauswart hätte sich für ein normales Tor und einen normalen Schlüssel entscheiden können. Somit kann er dem Berliner Schlüssel die Macht entziehen. Nur der Bewohner selbst scheint machtlos in diesem Gebilde zu sein. Er kann nichts an der Situation verändern, außer er würde einen Umzug in Betracht ziehen.
Der Zettelkasten und Berliner Schlüssel waren zwei unterschiedliche Konstrukte, die für jeden eine andere Bedeutung bildeten. Wenn wir nun weitergehen, lassen sich andere Gegenstände des Alltags erkennen, die größeren Einfluss auf uns und unser Umfeld haben. Ein Beispiel wäre unser Personalausweis. Dieser ist ein amtlicher Lichtbildausweis und bezeugt unsere Identität als Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Sobald Peter Müller seinen Ausweis vorlegt und beispielsweise ein Polizist seinen Namen Peter Müller sieht, dann ist somit Peters Identität nachgewiesen. Inwiefern ist es möglich, dass ein Mensch seinem Gegenüber nicht glaubt, sondern nur aufgrund eines Gegenstandes in der Lage ist ihm Vertrauen zu schenken? Was passiert beim Verlust des Ausweises? Was geschieht, wenn Peters Name aus allen Registern gelöscht wird? Ist er dann noch Peter Müller? Sind wir nur durch unsere Identifikationsobjekte wiedererkennbar? Ohne seinen Zettelkasten ist Niklas Luhmann zwar nur noch ein Niklas Luhmann ohne Zettelkasten, aber keineswegs nicht mehr Niklas Luhmann. Wir erkennen die Macht, die unserem Personalausweis zugesprochen wurde; den Wert, den er durch unseren Staat erhalten hat.
Der Einfluss der Objekte unseres Alltags ist abhängig von seiner zugewiesenen Bedeutung seines Interaktionspartners. Der Zettelkasten hat keine Bedeutung für mich, der Berliner Schlüssel kann mir den Zugang zu meinem Haus nicht verwehren. Jedoch kann ich mich ohne meinen Ausweis nicht identifizieren lassen. Der Personalausweis von Niklas Luhmann würde mir dabei auch nicht helfen. Wir entscheiden selbst, wie mächtig unsere Gegenstände werden dürfen.
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- Arbeit zitieren
- Tugba Gül (Autor:in), 2016, Ein Leben mit Zettelkästen und Berliner Schlüsseln. Gegenstände als Hilfsmittel oder Objekte ungleicher Machtverhältnisse?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/378578