Diese Arbeit verbindet Themenfelder aus Politik und Wirtschaft mit literarischem Kolorit. Untersuchen möchte ich, inwieweit die ökonomischen Anforderungen der Arbeitswelt in der neoliberalen Gesellschaft eine freie Persönlichkeitsentfaltung des Individuums und dessen individuelle Freiheit beschränken. In Kapitel 1 setze ich mich mit der Thematik von Kleists "Prinzen von Homburg" auseinander und zeige, dass individuelles Handeln in Organisationen auch dann zu Erfolg führen kann, wenn Regeln derselben missachtet werden. Um besser verstehen zu können, was Organisationen sind, gebe ich in Kapitel 2 einen pointierten Überblick über ihre Regeln und Strukturen. In Kapitel 3 ziehe ich Einblicke aus der Literatur heran, um einen Eindruck über die Wirkungsweise von hierarchischen Strukturen auf den Einzelnen zu erhalten, und um zu zeigen, dass die Forderung nach Individualität gerade in der heutigen Zeit sehr präsent ist.
In Kapitel 4 setze ich mich mit der heutigen Arbeitswelt und den Problemen, die sich für Individuen, insbesondere für Menschen des autistischen Spektrums ergeben, auseinander. Auch zeige ich in Kapitel 5, wie sich die Anforderungen aus der Arbeitswelt bereits in die Schulbildung verschieben. In Kapitel 6 gehe ich der Frage nach, welchen Typus Mensch die heutige Arbeitswelt fordert, und welche Problematiken sich aus diesem angestrebten "Idealbild" für den Einzelnen ergeben.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitende Worte zum systematischen Aufbau dieser Arbeit
1. Der Prinz-von-Homburg-Effekt
1.1 Die Zentralthematik des Prinzen von Homburg
1.2 Forderung nach Individualität in Prinz von Homburg
1.3 Biographischer Hintergrund Kleists und Utopie-Ansatz
1.4 Erfolg und Loyalität in Organisationen
2. Organisationssoziologie
2.1 Das Wesen der Organisationen
2.2 Regeln und Strukturen von Organisationen
3. Der Boston-Legal-Effekt
3.1 Pointierter Überblick über die Anwaltsserie Boston Legal
3.2 Plädoyer für Individualität
3.3 Folgen einer ausbeuterischen Arbeitswelt: Die Verwandlung
4. Arbeitswelt, Ausbildung und Autismus
4.1 Ein pointierter Überblick über das Autismus-Spektrum
4.2 Autismus und Arbeitswelt
4.3 Autismus und Ausbildung, insbesondere die Organisation „Schule“
4.4 Inklusion und historischer Kontext
5. Anforderungsverlagerung in die Schulbildung
5.1 Einblicke in die Kerncurricula
5.2 Eine kritische Betrachtung der Bildungspolitik
6. Der moderne Übermensch
6.1 Grundlagen: Das Unternehmerische Selbst
6.2 Arbeitsanforderungen in der modernen Arbeitswelt
7. Synthese
7.1 Das Magische Viereck der Organisationssoziologie
7.2 Die überforderte Gesellschaft
7.3 Verbum ultimum
Anmerkungen
Literatur- und Quellenangaben
Literatur
Internet
Vorwort
Einleitende Worte zum systematischen Aufbau dieser Arbeit
Diese Arbeit verbindet Themenfelder aus Politik und Wirtschaft mit literarischem Kolorit. Untersuchen möchte ich, inwieweit die ökonomischen Anforderungen der Arbeitswelt in der neoliberalen Gesellschaft eine freie Persönlichkeitsentfaltung des Individuums und dessen individuelle Freiheit beschränken.
Als Schüler und Mensch, der dem autistischen Spektrum angehört, stellt dies für mich persönlich einen besonderen Hintergrund dar. Besonders in der Arbeitswelt, aber eben auch schon im schulbildenden Rahmen entstehen schwer überwindbare Barrieren für Menschen mit „Besonderheiten“. Doch auch für „normale“ Arbeitnehmer und Schüler wachsen Druck und Belastung, was ich in meiner Arbeit ebenfalls näher beleuchte.
In Kapitel-1 setze ich mich mit der Thematik Kleists Prinzen von Homburg auseinander und zeige, dass individuelles Handeln in Organisationen auch dann zu Erfolg führen kann, wenn Regeln derselben missachtet werden. Um besser verstehen zu können, was Organisationen sind, gebe ich in Kapitel-2 einen pointierten Überblick über ihre Regeln und Strukturen. In Kapitel-3 ziehe ich Einblicke aus der Literatur heran, um einen Eindruck über die Wirkungsweise von hierarchischen Strukturen auf den Einzelnen erhalten, und um zu zeigen, dass die Forderung nach Individualität gerade in der heutigen Zeit sehr präsent ist.
In Kapitel-4 setze ich mich mit der heutigen Arbeitswelt und den Problemen, die sich für Individuen, insbesondere für Menschen des autistischen Spektrums ergeben, auseinander. Auch zeige ich in Kapitel-5, wie sich die Anforderungen aus der Arbeitswelt bereits in die Schulbildung verschieben. In Kapitel-6 gehe ich der Frage nach, welchen Typus Mensch die heutige Arbeitswelt „fordert“, und welche Problematiken sich aus diesem angestrebten „Idealbild“ für den Einzelnen ergeben.
Die Betrachtung eines solch breiten und diffizilen Themenspektrums ist für mich als Verfasser dieser Arbeit kein leichtes Unterfangen; insbesondere eine Beschränkung auf einen maximalen Umfang meiner Arbeit macht es nahezu unmöglich, wesentliche Aspekte meiner Arbeit tiefgehend auszuführen. Vor diesem Hintergrund kann und soll diese Arbeit lediglich als ein Versuch einer ersten Annäherung an die Relation von Individuum und Gesellschaft verstanden werden und somit als Grundlage einer tiefergehenden analytischen Betrachtung dienen.
1. Der Prinz-von-Homburg-Effekt
1.1 Die Zentralthematik des Prinzen von Homburg
Heinrich von Kleists Prinz von Homburg ist ein junger General in der Armee des preußischen Kurfürsten. Aus Unaufmerksamkeit versäumt er es im Vorfeld eines entscheidenden Kampfes den Schlachtplan zu verinnerlichen. Er missachtet in der Folge seine Anweisungen und greift eigenmächtig in das Schlachtgeschehen ein, welches er trotz Insubordination zu den Gunsten des Kurfürsten entscheiden kann. Homburg wird wegen Missachtung der Anweisung des Kurfürsten durch das Kriegsgericht zum Tode verurteilt. Um ihn zu retten, beschwört Prinzessin Natalie den Fürsten, er möge Homburg begnadigen. Nach langem Zögern entschließt sich dieser, der Bitte Nataliens nachzugeben und begnadigt den Prinzen. Historisch betrachtet ist der Prinz von Homburg in Kleists gleichnamigen Werk an den Landgrafen Friedrich von Hessen-Homburg angelehnt. Dieser griff wie der literarische Homburg eigenmächtig in die Schlacht des Jahres 1675 bei Fehrbellin ein, wurde aufgrund seines Erfolges jedoch vom preußischen Kurfürsten begnadigt, da jener ein „Hauptwerkzeug [seines] Sieges“ [1] war.
1.2 Forderung nach Individualität in Prinz von Homburg
Von zentraler Bedeutung ist die Szene 4.1. Diese schließt sich inhaltlich an das Todesurteil des Prinzen durch das Kriegsgericht an.
Prinzessin Natalie beschwört den Kurfürsten, dass Homburg zu dessen Ruhme eigenmächtig in die Schlacht eingegriffen habe.[2] Schließlich willigt der Fürst ein, er werde den Prinzen begnadigen. Natalie fordert den Fürsten also dazu auf, einen Verbrecher vor dem Gesetz zu begnadigen, da dessen Absichten ehrenhaft und im Sinne des Fürsten waren. Der Kurfürst hat bei seinen Entscheidungen aber nicht nur das Wohl des Einzelnen, sondern des ganzen Staates zu bedenken, da er als Staatsoberhaupt eine Verantwortung gegenüber dem Vaterland innehat. Er wäre ein Tyrann, würde er sich eigenmächtig über das Gerichtsurteil erheben.[3] Er befürchtet einen Autoritätsverlust, sollte er den Prinzen begnadigen, da sein Handeln dazu führen könnte, dass andere Funktionäre innerhalb des Militärs zu Ungehorsam verleitet werden könnten.
Natalie hält diese Bedenken für unbegründet. Sie entgegnet, das Vaterland werde um die Regung dieser Gnade schon nicht untergehen[4] und fordert ihn auf, Homburg zu begnadigen, denn das Kriegsgesetz solle zwar herrschen, jedoch die lieblichen Gefühle auch.[5] Natalie fordert den Fürsten dazu auf, nicht mechanisch, algorithmisch zu handeln, wie es seine Funktion innerhalb des Staatsapparates verlangt, sondern auch auf Gefühle zu achten. Gesetz und Ordnung, aber auch das Subjektive, das Normative und das Humane sollen gleichberechtig koexistieren[6], oder wie Küng es treffend formuliert: „Der Mensch lebt nicht von der Vernunft allein.“[7]
Der Kurfürst verkörpert das Ideal des Preußischen Staatsethos der Standhaftigkeit, der constantia. Er soll in stoischer Art und Weise dem Staat und dem Gesetz dienen. Er nimmt durch die Begnadigung des Prinzen jedoch eine Mittelstellung zwischen den Regeln und Strukturen, die Organisationen kennzeichnen und ihre Mitglieder in ihrem Handeln beschränken, und subjektiven Gefühlen (Emotionen) ein. In Kleists Werk zeigt somit Anspruch, aber auch Zuspruch zugleich: Der Anspruch besteht darin, dass durch das Ermöglichen individueller Freiheit in Organisationen Grenzen, bedingt durch Regeln derselben, übertreten werden müssen; der Zuspruch besteht dagegen darin, dass dies zu Erfolg führen kann.
1.3 Biographischer Hintergrund Kleists und Utopie-Ansatz
Heinrich von Kleist wurde im Jahr 1777 als Sohn des preußischen Majors Joachim Friedrich von Kleist geboren[8] und verstarb im Alter von 33 Jahren. Sein Lebensziel war es, ein aufgeklärter Weltbürger zu werden[9], erzogen im Geiste der Aufklärung.[10] „Im Zentrum seiner Dichtung steht der Konflikt zwischen dem Individuum und dessen Pflicht, sich der Allgemeinheit einzuordnen.“[11] „[Kleist erhebt] den Vorwurf, Staat und Bürokratie würden den Einzelnen würdelos und ohne Recht auf Selbstbestimmung behandeln, allein mit Blick auf das von ihm erwartete Funktionieren im Apparat.“[12] Er kritisiert also die Maxime der Staatsräson, nach der ein Staat immer und ausschließlich zum Wohle seines selbst ohne Rücksicht auf einzelne Bürger agieren soll. Im Alter von gerade einmal 15 Jahren trat Kleist dem preußischen Militär bei, verließ dieses jedoch nach gut sieben Jahren auf eigenen Wunsch: „Kleist erlebte die berühmte Disziplin der preußischen Armee als Produkt menschenunwürdiger Dressur. Zu seinen Dienstpflichten als Offizier gehörte es, Strafen zu exekutieren, die er mit seinen Prinzipien als Mensch nicht in Einklang bringen konnte. […] Gegen die Missbilligung der Familie verteidigte er seinen [Austritt aus dem Militär]: ‚Ein freier denkender Mensch bleibt da nicht stehen, wo der Zufall ihn hinstößt […]. Solange ein Mensch noch nicht im Stande ist, sich selbst einen Lebensplan zu bilden, solange ist und bleibt er unmündig‘.“[13]
Einige Jahre später, im Jahr 1804, beabsichtigte Kleist, sich zum preußischen Staatsbeamten ausbilden zu lassen, schied aus dem Staatsdienst jedoch schon bald wieder aus. Anlass dazu war die ernüchternde Erkenntnis, dass das Bekleiden eines Amtes vergleichbar mit seiner Rolle im Militär war.[14] Insofern kann man folgern, dass Kleist seiner Gesellschaftskritik und Aufforderung zu mehr Selbstständigkeit in seinen Werken Ausdruck verliehen hat, die er selbst wünschte und forderte. Er fordert einen menschlichen Staat, der Individuen Handlungsspielraum bietet, eigene Entscheidungen treffen zu können.
Sein Werk Der Prinz von Homburg stellt ein Plädoyer für einen solchen menschlichen Staat dar. Die Darstellungen etwa der Offiziere sind utopisch, da sie keineswegs den vorherrschenden Idealen des Preußischen Staatsethos und der Stoa entsprechen. Während der Kriegsplanbesprechung in Szene 1.5 ist Homburg geistesabwesend. Keiner der anwesenden Offiziere fordert ihn zur Konzentration auf oder rügt seine geistige Abwesenheit. Die Obrigkeit sanktioniert hier Verfehlungen Einzelner also nicht, sondern zeigt sich nachsichtig. Obrist Kottwitz, ein erfahrener Heerführer reifen Alters, tritt in Szene 2.1 auf einen Hügel und äußert sich lyrisch über die Schönheit des Tages, der nicht dazu gemacht sei, sich zu schlagen.[15] Auch dann, als Homburg in Szene 2.2 entgegen des Befehls des Kurfürsten in die Schlacht ziehen will, ist Kottwitz zwar bestrebt, Homburg zurückzuhalten, lässt sich aber von diesem provozieren. Kottwitz will beweisen, dass er nicht „lahm“ ist und schließt sich Homburg euphorisch an. Es wäre eher zu erwarten gewesen, dass Kottwitz seine Gedanken für sich behält und seine Soldaten zum Kampf motiviert. Er hätte sich keineswegs von Homburg provozieren lassen dürfen, sondern diesem seine dem Kurfürsten untergeordnete Stellung innerhalb des Militärs aufzeigen und einen unerlaubten Eingriff Homburgs ins Schlachtgeschehen vereiteln müssen. Kottwitz stellt also einen neuen Typus Soldat dar, ein Sinnbild der Gneisenau´schen Heeresreform, die sich Kleist erhoffte und die Soldaten Spielraum für spontane Entscheidungen einräumt, damit diese dem Vaterland am besten dienen können.[16] Zu dieser Heeresreform kam es, nachdem das veraltete preußische Heer 1806 von Frankreich vernichtend geschlagen worden ist. Reformer drängten zuvor bereits auf Veränderungen, doch ihre Vorschläge fanden im konservativen Preußen kein Gehör. Im Zuge der Reformen wurden „entwürdigende Praktiken gegen Soldaten, etwa die Prügelstrafe, konsequent [abgeschafft].“[17]
1.4 Erfolg und Loyalität in Organisationen
Homburg missachtet die Anweisung eines Ranghöheren, dem Kurfürst, er missachtet also hierarchische Strukturen des Preußischen Staates, einer Großorganisation, und verhält sich illoyal. Doch sein Verhalten, sein vorzeitiges Eingreifen in das Schlachtgeschehen, führt letztlich zum erhofften und angestrebten Sieg. Insubordination kann also auch zu Erfolg führen, auch wenn sie mit Illoyalität einhergeht. Zwar wird der Prinz für seinen Gesetzesbruch zum Tode verurteilt, doch seine Strafe wird aufgehoben und er darf weitere Schlachten anführen. Es stellt sich daher die Frage, wie Erfolg und Loyalität in Organisationen wechselwirken, sodass ein Individuum in der Organisationshierarchie aufsteigen kann. „Das Befolgen von Befehlen, Regeln, Normen und Vorschriften – kurz: das ‚Handeln nach Vorschrift‘ – hat im wesentlichen (sic!) zwei Funktionen: 1. Es sichert das reibungslose Ineinandergreifen vorgedachter Prozeßabläufe; 2. Es ist für den Vorgesetzten das am einfachsten und sichersten kontrollierbare Kriterium für die Fügsamkeit des Untergebenen.“[18] Das Achten hierarchischer Strukturen stellt also das Funktionieren eines Systems (einer Organisation) sicher.
Doch Vorschriften können Individuen auch einschränken, dergestalt, dass die Effizienz sinkt, das System also weniger produktiv ist: „Der Untergebene wird durch die Vorschriften gehindert, Initiativen zu entfalten und schöpferisch tätig zu sein, was u.U. seine Arbeitsleistung mindert [und] der Untergebene gerät u.U. in Versuchung, nur Handlungen zu begehen, die durch Vorschriften gedeckt sind, was zu Verlusten und Friktionen führen muß, da die Vorschriften nicht das gesamte Spektrum aller möglichen und nötigen Verhaltensweisen erfassen können.“[19] Abweichendes Verhalten kann also zu einer höheren Produktivität und Leistungssteigerung führen, welche das Fortbestehen eines Individuums innerhalb einer Organisation sichern, doch die einhergehende Missachtung der hierarchischen Strukturen durch eben dieses abweichende Verhalten führt zu einer Aufweichung der Herrschaftsordnung in derselben.[20] Dies wird von Bosetzky als „Prinz-von-Homburg-Effekt“ bezeichnet: Erfolg und Loyalität eines Individuums innerhalb einer Organisation führen nahezu garantiert zu dessen hierarchischen Aufstieg. Ein Individuum, welches sich weder loyal verhält noch erfolgreich agiert, ist für eine Organisation untragbar. „Abweichung wird (a) nur dann verziehen, wenn sie ‚erfolgreich‘ war und (b) nur dann belohnt, wenn der erfolgreiche seine bedingungslose Unterwerfung unter das System ganz eindeutig zum Ausdruck gebracht hat. (…) Dieser Effekt ist für die Organisation äußerst sinnvoll: Derjenige, der sich als wertvoller Fachmann […] erwiesen hat, bleibt ihr als loyales, unterworfenes Mitglied erhalten.“[21]
Es lässt sich somit zusammenfassen, dass i) am schnellsten in der Organisationshierarchie aufsteigen wird, wer sich unterordnet und erfolgreich ist; ii) vermutlich langsam absteigen wird, wer zwar Leistung, aber keine Loyalität erbringt; iii) sukzessive, aber sicher, aufsteigen wird, wer zwar wenig Leistung, aber ein hohes Maß an Loyalität aufbringt; iv) am schnellsten aus der Organisation entfernt wird, wer weder erfolgreich ist noch sich unterordnet.[22]
2. Organisationssoziologie
2.1 Das Wesen der Organisationen
Die Organisationssoziologie bemüht sich um „die Aufdeckung von Regelhaftigkeiten im Ablauf organisationaler Prozesse und um ein Raster von Kategorien zur systematischen Erfassung der Struktur von Organisationen.“[23] Organisationen kommt in unserer modernen Gesellschaft eine bedeutende und zentrale Rolle zu, engagieren sich doch allein in Deutschland 28 Mio. Mitglieder in 91.000 Vereinen.[24] Es handelt sich dabei um abstrakte Gebilde, die aus einem „unsichtbaren Netz aufeinander bezogener Handlungen“ bestehen.[26] Dieses Netz ist nicht „strikt“, sondern besteht aus losen Kupplungen[25] ; oder etwas einfacher: Organisationen sind Machtverhältnisbündelungen.
Für Foucault ist Macht kein „Gebiet“, es ist etwas Abstraktes. „Macht entsteht durch einen dynamischen Prozess von polymorphen Kräfteverhältnissen, d.h. durch lokale, heterogene […] Auseinandersetzungen.“[27] Niels Spilker stellt fest: „Macht tritt immer in der Form von Beziehungen auf; sie erscheint als ein strategisches Gefüge und geht auf ungleiche Kräfteverhältnisse zurück.“[28]
Staatliche Organisationen stellen dabei eine Bündelung von Machtverhältnissen dar.[29] Somit ist der Staat keine „Universalie“, sondern etwas Bewegliches […].“[30] Organisationen sind also nicht statisch, sondern dynamisch. Bei den folgenden Darstellungen von Organisationen handelt es sich um Modelle. Modelle beabsichtigen einer Theorie vergleichbar einen Teilbereich der Wirklichkeit zu beschreiben; sie sollten jedoch nicht als überall und zu jeder Zeit geltend, also als universal angesehen werden. Während die untenstehenden Ausführungen ein recht striktes und schier hierarchisch-erdrückendes Bild von Organisationen zeichnen, so gelten diese vielmehr für Großorganisationen, während es in kleineren Organisationen durchaus zu erkennbaren Auflockerungen der dargestellten Regeln und Strukturen kommen kann.
2.2 Regeln und Strukturen von Organisationen
Das obliegende Ziel eines gelungenen Sozialisationsprozesses besteht darin, einen jungen Menschen zur Ausübung von Erwachsenenrollen – besonders die der Berufsrolle – vorzubereiten.[31] Bei der Vielzahl dieser Rollen und Berufe genügen die pädagogisch-didaktischen Fähigkeiten der Eltern bei weitem nicht mehr, sodass „im Zuge der fortschreitenden Arbeitsteilung speziellen Organisationen“ diese Aufgabe zukommt.[32] Zu Organisationen zählen etwa neben Tanz- und Sportvereinen auch Skatclubs, Gewerkschaften und Volkshochschulen.[33] Es ist dabei zu unterscheiden unter einer Zwangsorganisation (z.B. Kliniken, Gefängnisse), utilitaristischen Organisationen (z.B. Unternehmen) und normativen Organisationen (z.B. Kirchen, politische Vereinigungen).[34]
Eine Organisation ist eine besondere Form eines sozialen Gebildes oder eines sozialen Systems. Das unverkennbarste Merkmal einer Organisation ist, dass sie sich organisiert. Doch eine solche Definition ist sehr weit gefasst und für nähere Analysen daher ungeeignet, weil in diesem Sinne nahezu alles eine Organisation sein kann. Vielmehr heben sich Organisationen als solche von anderen Sozialsystemen dadurch ab, dass sie sowohl über Ein- als auch Austritt einzelner Personen wie auch über ihre Ziele und Zwecke entscheiden können.[35] Eine Organisation muss dazu auf hierarchische Strukturen intern zurückgreifen, denn es muss eine kontrollierende und entscheidende Position geben, welche übergeordnet ist, und eine ausführende Position, welche untergeordnet ist. Eine solche hierarchische Struktur ist neben scharf definierten Zielen und Zwecken ein weiteres unverkennbares Merkmal einer Organisation.[36] Je größer eine Organisation ist, desto formaler, unpersönlicher und hierarchieabhängiger wird ihre Struktur.[37] Aus diesem relativen Verhältnis ergibt sich ein Machtverhältnis, welches es zu respektieren gilt. Einer Anweisung eines Vorgesetzten ist also Folge zu leisten; wird sie verweigert, so besteht darin der Grundzug einer Rebellion gegen die Organisationshierarchie.[38]
Der Untergebene erfüllt dann nämlich nicht alle formalen Kriterien, die mit seiner Mitgliedschaft verpflichtend einhergehen, und kann daher durch den Vorgesetzten aus der Organisation ausgeschlossen werden. Dieser ist u.U. zu einer solchen Maßnahme gezwungen, da ansonsten seine Autorität innerhalb der Organisationshierarchie in Frage gestellt werden könnte, dergestalt, dass auch andere Mitglieder Anweisungen missachten könnten, da sie keinen Ausschluss aus der Organisation mehr befürchten.[39] Ein solches Szenario würde die Funktionsweise einer Organisation, nämlich ihre Ziele und Zwecke zu erreichen, gefährden, u.U. diese sogar gänzlich unerreichbar machen; ein Vorgesetzter muss nämlich immer davon ausgehen, dass der Einzelne kein Interesse daran hat, übergeordnete Ziele der Organisation zu erreichen.[40] Vielmehr wägen Einzelne Valenz (Was habe ich davon, wenn ich diese Arbeit erledige?) und Sicherheit der Erwartung (Wie sicher ist eine potentielle Belohnung bei Erfolg?) für sich persönlich ab.[41]
Eine Organisation muss also zu einem hinreichenden Maß ihren Mitgliedern Aufstiegschancen und andere Anreize bieten, um diese zur Leistungserbringung zu motivieren: „Beförderungen sind die wichtigsten Belohnungen in Großorganisationen. Belohnungen führen zur erhöhten Integration in eine Organisation. Hohe Integration in eine der etablierten Großorganisationen bedeutet hohe Integration in die Gesamtgesellschaft.“[42] Motivation ist auch wichtig, da der Einzelne durchschnittlich weniger Leistung erbringt, je größer die Zahl der Mitglieder in einer Organisation ist.[43] So kann man „wohl zu Recht vermuten, dass der Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen heutzutage weniger durch den Auszug aus dem Elternhaus oder die Gründung einer eigenen Familie denn durch die Übernahme von Leitungsrollen in Organisationen markiert wird.“[44]
Eine Organisation wählt ihre „Zweckerreichungswege“ sorgsam aus, was als Zweckrationalität bezeichnet wird.[45] Der Zweck per se ist gesetzt; vielmehr geht es einer Organisation darum, den möglichst effektivsten Weg zu finden, um diesen zu erreichen. Diese Zwecke stellen für die Individuen innerhalb der Organisation „relevante und wichtige Rahmenbedingungen“ dar, weshalb sich Arbeitnehmer nicht selten den wirtschaftlichen Interessen der Organisation unterordnen müssen.[46] „Zweckrational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt […]“, so Max Weber.[47]
Es kann jedoch dazu kommen, dass sich mit der Zeit eine Zweck-Mittel-Verdrehung sukzessive einstellt. Die Mittel, die dazu dienen sollten, die Zwecke zu erreichen, werden zu den „neuen“ Zwecken, da die ursprünglichen Zwecke entweder vergessen oder aber von den Mitteln selbst verdrängt worden sind.[48] In einem schulbildenden Rahmen sind Zensuren nicht mehr „das Mittel, um Schülern eine Kontrolle ihrer Lernfortschritte zu ermöglichen, sondern werden zum eigentlichen Grund für das Lernen“.[49] Dem Aspekt der Bildung in Großorganisationen werde ich mich in Kapitel-5 erneut zuwenden.
Innerhalb einer Organisation hat sich ein Mitglied an bestimmte Regeln zu halten. Tut es dies nicht, so droht ihm ein Ausschluss aus derselben.[50] Die Wahrung der hierarchischen Struktur ist notwendig, sodass eine Organisation funktionieren kann. Eine untergeordnete Ebene ist einer übergeordneten Ebene gegenüber jedoch nicht völlig machtlos.[51] Da etwa nicht notwendigerweise der Zweck an sich sehr komplex ist, aber oftmals die Mittel, um diesen zu erreichen, ein hohes Maß an Spezialisierung abverlangen können, bedarf es in einer Organisation an Spezialisten. Es ist einem Vorgesetzten unmöglich, auf allen Sachebenen so gut unterrichtet zu sein wie seine Untergebenen, was den Effekt hat, dass „hierarchische Autorität und fachliche Autorität [auseinander fallen].“[52] Der Untergebene kann somit Macht über seinen Vorgesetzten innehaben, welche aus einem Bündel andersartiger Beschaffenheit aufgebaut ist. Dies wirft die Frage auf, ob die tatsächliche Hierarchie einer Organisation in Wirklichkeit nicht ganz anders aufgebaut ist. Doch würde die herrschende Ordnung hinterfragt, so führte dies unweigerlich zu einem Autoritätsverlust der Vorgesetzten, was wiederum das Erreichen der Zwecke gefährden kann.
Dies wird durch die Kommunikationslatenz vereitelt. In einem „intimen“ Rahmen können Verfehlungen von Kollegen oder Vorgesetzten angesprochen und diskutiert werden, es darf auch in der Kantine über die „wirklichen Machtverhältnisse“ gesprochen werden, doch niemals dürfen solche Äußerungen in Akten schriftlich vermerkt oder in öffentlichen Stellungnahmen kundgetan werden.[53] Kommt es dennoch zu einem solchen Vorfall, so ist der Vorgesetzte um seines Autoritätswillen in der Pflicht, Sanktionen zu verhängen und mit dem Ausschluss aus der Organisation Einzelner zu drohen.[54]
[...]
1 Wand: 20
2 vgl. Kleist: V.1101ff.
3 V.1112f.
4 V.1122ff.
5 V.1128ff.
6 vgl. Wand: 67
7 Küng: 51
8 vgl. Wand: 4
9 vgl. Loch: 48
10 vgl. Wand: 79
11 Internet: dieterwunderlich (Heinrich Kleist)
12 Loch: 82
13 Wand: 6
14 vgl. Wand: 8
15 vgl. Kleist: V.384ff.
16 vgl. Wand: 61
17 Internet: Bundeswehr (Heeresreform)
18 Bosetzky: 2
19 ebd. S.3
20 vgl. ebd. S.4
21 ebd. S.3
22 vgl. ebd. S.4
23 Preisendörfer: 2
24 Miegel: 51
25 Müller-Jentsch: 15
26 vgl. Luhmann: 9
27 Internet: Jäger: 8
28 Spilker: 27
29 vgl. ebd. 28,53
30 ebd.: 48
31 vgl. Bosetzky et al.: 23
32 ebd.
33 vgl. Kühl: 10
34 vgl. Müller-Jentsch: 29
35 vgl. Kühl: 18, 21
36 vgl. Endruweit: 17f.
37 vgl. Bosetzky et al.: 62f.
38 vgl. Kühl: 33
39 vgl. ebd.
40 vgl. Bosetzky et al.: 63
41 vgl. ebd.: 94
42 ebd.: 202
43 vgl. Dobelli: 137ff.
44 Kühl: 10
45 ebd: 57
46 Abraham et al.: 109
47 Weber: 13
48 vgl. Kühl: 64
49 ebd.
50 vgl. Kühl: 10
51 vgl. Nöllke: 68
52 Kühl: 77
53 vgl. Kühl: 163
54 vgl. ebd
- Quote paper
- Joshua Beck (Author), 2017, Das Individuum zwischen Ideal und Wirklichkeit. Das Problem der Bewahrung der Individualität angesichts der ökonomischen Anforderungen in der neoliberalen Gesellschaft, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/378254
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