Mit dieser Arbeit sollen Zusammenhänge und wirkliche Ursachen aufgedeckt werden, inwieweit der Islam wirklich ein Hemmnis für die Integration darstellt – unter Berücksichtigung der historischen und sozialen Entwicklungen und Gegebenheiten der muslimischen Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland, der empirischen Auseinandersetzung von Vorwürfen und Ängsten der deutschen Kerngesellschaft über Muslime, und einer Ursachenforschung, die gerechtfertigte oder verzerrte Urteile, Entwicklungen und Wahrnehmungen über muslimische Migranten offenlegen soll. Es soll gezeigt werden, dass Gründe für Integrationsprobleme aus einem komplexen wechselseitigen Ursachennetz bestehen, das es zu entflechten gilt und in einen Zusammenhang gestellt werden muss.
Die Hauptfrage, ob der Islam als ein Hemmnis für die Integration von muslimischen Migranten einzuordnen ist, untergliedert sich im Verlauf dieser Arbeit in der systematischen Beantwortung von drei zentralen Fragen: 1. Stellt der Islam im Allgemeinen ein Hemmnis für die Integration dar? – Die Frage nach der empirischen Integrationssituation muslimischer Migranten in Deutschland. 2. Stellt der Islam im speziellen ein Hemmnis für die Integration dar? – Die Frage nach Gründen für besondere Problemfelder, die mit dem Islam verknüpft werden. 3. Was sind die Ursachen von verzerrten und gerechtfertigten Wahrnehmungen über den Islam? – Die Frage nach den wirklichen Wurzeln von Problemen und Wahrnehmungen über muslimischen Migranten.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
1.1. Hintergründe und Fragestellung
1.2. Vorgehensweise
2. Muslimische Einwanderungsgeschichte und ihre empirische Situation in Bezug auf Herkunftsregionen und Konfessionen im Nachkriegsdeutschland
2.1. Muslimische Migrationsgeschichte im Nachkriegsdeutschland
2.2. Herkunftsregionen der muslimischen Migranten in Deutschland
2.3. Muslimische Konfessionen in Deutschland
3. Analyse der Integrationssituation von muslimischen Migranten anhand ausgewählter Indikatoren
3.1. Indikatoren für eine gelungene Integration
3.2. Deutschkenntnisse
3.3. Bildungsbeteiligung
3.4. Mischehen
3.5. Verbundenheit
4. Analyse und Ursachenforschung zu gängigen Problemfeldern, die mit dem Islam verknüpft werden
4.1. Festsetzung der Fallbeispiele und weitere Zielsetzung
4.2. Muslimische Parallelgesellschaften
4.2.1. Der Islam als alleinige Ursache von Parallelgesellschaften
4.2.2. Keine Belege für türkische Parallelgesellschaften
4.2.3. Mögliche Abschottung durch generalisierte Islamkritik und Islamophobie
4.3. Islamismus
4.3.1. Verbreitete fundamentalistische Haltungen bei muslimischen Migranten
4.3.2. Islamismus und Salafismus
4.3.3. Islamistische Vorstellungen im Widerspruch zur islamischen Theologie
4.3.4. Ursachen von Islamismus und Salafismus: Zwischen Modernisierungs- und Identitätskrise
4.4. Flüchtlingskriminalität als Beispiel für verzerrte Wahrnehmungen
5. Fazit
6. Literaturverzeichnis
6.1.Literatur
6.2. Online-Quellen
1. Einleitung
1.1. Hintergründe und Fragestellung
Zunehmend werden Muslime in Deutschland als Bedrohung wahrgenommen. In repräsentativen Befragungen hat der Anteil der Deutschen, die Muslime als bedrohlich empfinden, im Zeitraum 2012 bis 2014 von 53 Prozent auf über 57 Prozent zugenommen (vgl. Bertelsmann-Stiftung 2015, S.9). Und auch wissenschaftliche Untersuchungen, wie von der Universität Bielefeld zeigen:
„im Rahmen des von 2002 bis 2012 dauernden Langzeitprojekt „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit […] eine signifikante Ablehnung von Muslimen in breiten Teilen der nichtmuslimischen Bevölkerung. Fast drei Viertel lehnten die Aussage ab, die islamische Kultur passe in die westliche Welt und ein Viertel war sogar der Ansicht, dass Muslime die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden sollte.“ (Schröter 2016, S. 25)
Eine „Verschiebung vom „Ausländer-“ bzw. Migrantendiskurs zur religiösen Kategorisierung […] (ist) zu beobachten“ (Wagner 2011, S.105), statt der „Ausländer“ wird vermehrt das Etikett „der Muslim“ als Sinnbild für Andersartigkeit verwendet (vgl. Spielhaus 2013 S.175). Oftmals mit dem Verweis auf Kriminalitätsraten, der Bildungsverweigerung, abnehmender Deutschkenntnisse und mangelnder Loyalität auf Seiten der Muslime, welche bei Defiziten als Generalverdacht, vor allem die Integrationsverweigerung vorgeworfen wird (vgl. Grabau 2013, S.198).
Die Beschuldigungen, die nach den Terroranschlägen des 11. September vordergründig zunächst in extremen Winkeln des Internets und rechten Gruppen kursierten, finden hierbei immer mehr Zulauf in die gesellschaftliche Mitte des Landes (vgl. Saunders 2012, S.15) und erlebten ihren ersten großen Höhepunkt in Deutschland mit der Veröffentlichung des Werkes „Deutschland schafft sich ab“ des ehemaligen Berliner Finanzsenator und Sozialdemokraten Thilo Sarrazin, der Muslime pauschal als Integrationsverweigerer in seinem Werk bezeichnete und damit über 1,5 Millionen Exemplare bis Anfang 2012 verkaufte (vgl. Schröter 2016, S. 25-26).
Hinzukommt eine wachsende Angst, die mit der zunehmenden Anzahl an Muslimen in Deutschland neben möglichen Parallelgesellschaften (vgl. Süddeutsche Zeitung 2016), vor allem die größere islamistisch-motivierte Terrorgefahr, die mittlerweile auch mit Anschlägen auf deutschem Boden große Teile der deutschen Gesellschaft aufgeschreckt hat (vgl. Zeit Online 2016a).
Insofern ist es nicht verwunderlich, dass in Teilen der deutschen Kerngesellschaft, die Vorstellung herrscht, dass der Islam ein Hemmnis für die Integration darstelle.[1] Inwieweit aber entspricht dieser Vorwurf der empirischen Realität? In welchem Ausmaß darf man überhaupt vom Terminus „der Islam“ ausgehen? Und existieren Integrationsdefizite und ihre Gründe tatsächlich aus der Ursache „Muslim“ zu sein? Das sind Fragen, den weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird, wenn auf einem Weihnachtsmarkt in Berlin unschuldige Menschen, durch einen muslimischen Asylsuchenden getötet werden (vgl. Zeit Online 2017) – der per Definition selbst Schutz vor Gewalt suchen sollte und von der deutschen Gesellschaft Obdach erhielt. Wer kann dann anzweifeln, dass der Islam keine Hemmnis darstelle?
Eine solche pauschal Verurteilung aller Muslime wäre zu einfach und würde trotz allen Schmerzen, Ängsten und Wut, nur eine Spirale weiterer Ängste, Leid und Ungerechtigkeit verursachen und an den wirklichen Gründen vorbei greifen – wie man im Verlauf dieser Arbeit sehen wird.
Oder in den Worten des Soziologen Norbert Heimken verfasst:
„Viele Vorurteile […] laufen auf eine einfache Rechtfertigungslinie hinaus, die Migrantengruppen in der Regel zu den Alleinschuldigen ihrer eigenen Probleme erklärt. […] (eine) Polarisierung von Gut und Böse mit seinen eindeutigen und vereinfachenden Zuweisungsmustern erklärt gesellschaftliche Interaktionsprozesse nicht. Migranten sind wie alle anderen Akteure in dieser Gesellschaft weder ausschließlich als „Täter“ noch als „Opfer“ zu sehen. Eine solche Art mit den Problemen umzugehen führt nur dazu, sie aufzubauschen oder zu vertuschen, auf keinen Fall aber erleichtert sie das Verständnis der wirklichen Zusammenhänge oder eröffnet Wege der Intervention, da wo reale Probleme vorliegen. “ (Heimken 2017, S.10)
Mit dieser Arbeit sollen Zusammenhänge und wirkliche Ursachen aufgedeckt werden, inwieweit der Islam wirklich ein Hemmnis für die Integration darstellt – unter Berücksichtigung der historischen und sozialen Entwicklungen und Gegebenheiten der muslimischen Bevölkerung im Nachkriegsdeutschland, der empirischen Auseinandersetzung von Vorwürfen und Ängsten der deutschen Kerngesellschaft über Muslime, und einer Ursachenforschung, die gerechtfertigte oder verzerrte Urteile, Entwicklungen und Wahrnehmungen über muslimische Migranten offenlegen soll. Es soll gezeigt werden, dass Gründe für Integrationsprobleme aus einem komplexen wechselseitigen Ursachennetz bestehen, das es zu entflechten gilt und in einen Zusammenhang gestellt werden muss.
Die Hauptfrage, ob der Islam als ein Hemmnis für die Integration von muslimischen Migranten einzuordnen ist, untergliedert sich im Verlauf dieser Arbeit in der systematischen Beantwortung von drei zentralen Fragen:
1. Stellt der Islam im allgemeinen ein Hemmnis für die Integration dar? – Die Frage nach der empirischen Integrationssituation muslimischer Migranten in Deutschland.
2. Stellt der Islam im speziellen ein Hemmnis für die Integration dar? – Die Frage nach Gründen für besondere Problemfelder, die mit dem Islam verknüpft werden.
3. Was sind die Ursachen von verzerrten und gerechtfertigten Wahrnehmungen über den Islam? – Die Frage nach den wirklichen Wurzeln von Problemen und Wahrnehmungen über muslimischen Migranten.
1.2. Vorgehensweise
Die Arbeit gliedert sich in fünf Kapitel. Neben dem ersten Kapitel der Einleitung, soll im zweiten Kapitel die Situation der muslimischen Migranten in Deutschland zur Nachkriegszeit hinsichtlich ihrer Einwanderungsbiographien und der ethnischen und konfessionellen Zusammensetzung untersucht werden. Hier soll neben einem näheren Kennenlernen über die historischen, demographischen und religiösen Gegebenheiten der muslimischen Migranten, die zentrale Frage sein, inwieweit es „ den Islam “ in Deutschland gibt und ob die Muslime in Angesicht der dargestellte Untersuchungsfelder nicht heterogener sind, als von der deutschen Kerngesellschaft tatsächlich wahrgenommen.
Die Frage der Arbeit, wieso der Islam als Hemmnis für die Integration der muslimischen Migranten in Deutschland empfunden wird, soll zunächst weiter als Vorwurf im Rahmen des Integrations-Diskurs betrachtet werden. Mit dem dritten Kapitel ist das Bestreben verbunden, herauszufinden, inwieweit empirisch dieser Vorwurf zunächst stimmig ist, in welchem Umfang also die Integration der muslimischen Einwanderer in Deutschland in der Praxis gelungen ist und welche Diskrepanzen zwischen den negativen Wahrnehmungen der deutschen Kerngesellschaft und den empirischen Messungen vorhanden sind – eine Ursachenanalyse soll hier zunächst nur nebenbei stattfinden.
Erforderlich ist ein normativer Rahmen, der zunächst für den Begriff Integration gesucht werden muss . Anschließend soll eine Antwort von ausgewählte Indikatoren über die Integrationssituation der Muslime gesucht werden, ohne dabei starr auf empirische Momentaufnahmen zu verharren, sondern auch den Kontext der historischen Gegebenheiten und der Entwicklungen der muslimischen Migranten in der deutschen Gesellschaft einzubeziehen.
Interessant wird die Frage sein, wie heterogen die Muslime auch bei der Integration abschneiden. Es sollen vor allem Studiendaten herangezogen werden, die sowohl Herkunftsregion als auch Konfession beachten und wenn möglich auch den direkten Vergleich mit nichtmuslimischen Migranten aus der selben Herkunftsregion beinhalten. Dies würde eine direkte Überprüfung der Behauptung ermöglichen, dass wenn der Islam ein Faktor der Hemmnis für die Integration der Muslime in Deutschland darstellt, andersgläubige Migranten aus den selben Herkunftsländer deutlich bessere Integrationsergebnisse erzielen müssten.
Hierfür sollen vor allem die Forschungsergebnisse des „ Muslimischen Lebens in Deutschland 2008“ (MLD), eine Studie des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration, helfen einen empirischen Einblick in die Situation der muslimischen Migranten zu erhalten. Diese Studie ist insofern sehr geeignet für dieses Vorhaben, da sie die erste große und bedauerlicherweise einzige Studie ist, welche umfassend versucht, die Integrationssituation der muslimischen Migranten in ihrer Vielfalt in Deutschland darzustellen. Dabei beinhaltet die Studie, aufgrund ihres Untersuchungszeitraumes, die derzeitige Flüchtlingskrise nicht mit ein, was sie auf dem ersten Blick veraltet erscheinen lässt, jedoch kann das auch ein Vorteil sein, da man so ungetrübte Einblicke in die Integrationssituation der muslimischen Migranten ohne kurzfristige Verzerrungen durch eine derzeitig volatile Migrationsbewegung erhält. Hierbei gilt aber auch, dass der Islam-Diskurs in Deutschland deutlich länger geführt wird als die Flüchtlingskrise 2015 und jenes Jahr sicherlich eine verstärkende, aber keineswegs existenzielle Ursache des Islam-Diskurs in Deutschland beschreibt.
Der Vorwurf soll hierbei keine Einbahnstraße sein, sondern mit dem vierten Kapitel wird der Fokus auf drei Fallbeispiele gelegt, welche große Befürchtungen der Deutschen über muslimischen Migranten repräsentieren. Was in der empirischen Analyse nebensächlich auffällt – das Ursachen für mögliche Vorwürfe nicht einseitig auf Seiten der muslimischen Migranten bestehen, sondern eine wechselseitige Grundlage besitzen – soll eine größere Vertiefung erhalten und die Rolle der deutschen Kerngesellschaft soll stärker hinterfragt werden. Während im dritten Kapitel mehr die erste zentrale Frage behandelt wird, ist die Integration ein allgemeines Hemmnis, wird im vierten Kapitel die zweite zentrale Frage ihren Schwerpunkt besitzen – in speziellen Problemfeldern in denen besondere Besorgnis über muslimische Migranten herrscht.
Inwieweit rechtfertigt die Wirklichkeit die Wahrnehmungen der deutschen Kerngesellschaft über diese Problemfelder und inwiefern ist die deutsche Gesellschaft selbst eine Ursache in dieser Problemen? Dabei kommt man auch an der dritten Frage nicht herum, welche nach den wirklichen Ursachen hinter den aufgezeigten Phänomenen fragt.
Die Ergebnisse soll im abschließenden Schlusskapitel zusammengetragen werden und eine fundierte und sachliche Wissensgrundlagen bieten, welche die Fragestellung zu beantworten vermag, ob der Islam ein Hemmnis für die Integration der muslimische Migranten darstellt. Auch mit Hinblick auf die Abhängigkeit der gegenseitigen Wechselwirkungen aus der sich dann die Möglichkeit für Lösungsansätze ergeben lassen.
2. Muslimische Einwanderungsgeschichte und ihre empirische Situation in Bezug auf Herkunftsregionen und Konfessionen im Nachkriegsdeutschland
2.1. Muslimische Migrationsgeschichte im Nachkriegsdeutschland
„Die Geschichte des Islams in Deutschland beginnt nicht erst mit der Anwerbung muslimi-scher Arbeitnehmer aus der Türkei und anderen Ländern, sondern reicht weit zurück“ (Lemmen 2001, S.17). Der deutsch-syrische Politikwissenschaftler Bassam Tibi sagt dazu, „Europa und der Islam sind alte Nachbarn, sowohl im Guten wie im Bösen“ (Tibi 2000, S.63). Jedoch waren die Bevölkerungen dieser Nachbarn bei allen Kontakten und Begegnungen zumindest außerhalb ihrer Peripherielinien in ihren Kerngebieten im wesentlichen geographisch getrennt. Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges und dem eintretenden Wirtschaftsboom des Nachkriegsdeutschland fiel auch die geographische Trennung zum Islam in Mitteleuropa, der die ersten großen muslimischen Migrationsbewegungen nach Deutschland anbrechen lies:
„Ab Mitte der 1950er-Jahre wurden zwischen der Bundesrepublik und (den christlichen) Staaten wie Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, (als auch mit teilweise muslimischen Ländern wie) Marokko, Tunesien, Jugoslawien und der Türkei Anwerbeverträge unterzeichnet, da der Bedarf an Arbeitskräften im Inland nicht mehr gedeckt werden konnte. Die Vermittlung ausländischer Arbeitskräfte basierte in der Regel auf einer Anwerbevereinbarung, die zwischen Deutschland und dem betreffenden Land ausgehandelt wurde“ (Toprak, 2017, S. XIII).
Die als sogenannte „Gastarbeiter“ angeworbenen Arbeitskräfte sollten als Gäste durch das Rotationsprinzip nach einigen Jahren der Arbeit die Bundesrepublik verlassen und bei wirtschaftlicher Nachfrage durch neue Gastarbeiter ersetzt werden (vgl. Geißler 2014, S.273). So kamen zwischen 1955 bis zum Anwerbestopp von 1973 bis zu 14 Millionen ausländische Arbeitskräfte nach Deutschland, von denen 11 Millionen in die Herkunftsländer zurückkehrten (ebd.). Eine zweite Submigration entstand ab 1971, in der es möglich war für ausländische Arbeitskräfte, die fünf Jahre bereits in Deutschland arbeiteten, eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten; diese wurde von den überwiegend männlichen Arbeitskräften dazu genutzt, Familienangehörige wie Frauen und Kinder nach Deutschland nachzuholen (vgl. Schröter 2016, S.23).
Die erste große muslimische Migrationsphase in die Bundesrepublik war somit im wesentlichen keine „ muslimische “ Migration, sondern in erster Linie eine Arbeitsmigration, aus der ungewollt eine Einwanderungsdynamik entstand, die zur ersten dauerhaften ausländischen Migration in die junge Bundesrepublik führte. „Ende September 1974 lebten in der Bundesrepublik (einschließlich West-Berlin) etwa 4,1 Millionen Ausländer“ (Akbulut 2003, S.15).
„Ab Mitte der 1970er Jahre erfolgte dann eine verstärkte Einwanderung muslimischer Flüchtlinge aus Krisen- und Kriegsgebieten; später kamen auch Studenten“ (Schröter 2016, S.23). Diese zweite große muslimische Migrationsphase in die Bundesrepublik reicht bis in die Gegenwart.
„Nach einer neuen Hochrechnung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz (DIK) lebten am 31. Dezember 2015 in Deutschland zwischen 4,4 und 4,7 Millionen Muslime. Bei einer Einwohnerzahl von insgesamt 82,2 Millionen Personen in Deutschland ergibt sich, dass der Anteil der Muslime zwischen 5,4 % und 5,7 % liegt.“ (Stichs 2016, S.5)
Wie genau die ethnische Zusammensetzung der Muslime in Deutschland aus diesen beiden Migrationsphasen resultierte, soll nun im Anschluss näher betrachtet werden.
2.2. Herkunftsregionen der muslimischen Migranten in Deutschland
In der demographischen Zusammensetzung der muslimischen Migranten stellen türkeistämmige Muslime mit etwa 2,2 bis 2,4 Millionen die größte Herkunftsgruppe der Muslime in Deutschland dar (vgl. Abbildung 1, Stand 21.12.2015). Sie stammen überwiegend aus der Gastarbeiterzeit (vgl. Luft 2014) und leben zum Teil bereits in der vierten Generation in Deutschland. Ab den 80er Jahren suchten vermehrt türkeistämmige Menschen aus politischen Gründen Zuflucht in der Bundesrepublik, vor allem türkische Kurden flüchteten aufgrund der bürgerkriegsähnlichen Zuständen im Südosten der Türkei (vgl. Seifert 2012).
An zweiter Stelle mit 750.000 bis 800.000 kommen Muslime aus dem Nahen Osten (vgl. Abbildung 1, Stand 21.12.2015). Syrische Muslime bilden hierbei mit 450.000-500.000 Personen die größte Gruppe aus der Region, gefolgt von irakischen Muslimen mit etwa 130.000 und libanesischen Muslimen mit 110.000-120.000 Menschen (ebd.). Die Bürgerkriege in Syrien seit 2011 und im Irak 2013 haben die ethnische Struktur der Muslime in Deutschland nachhaltig verändert (vgl. Lehmann 2015, S.1) – die Zahl der arabischen Muslime wuchs (vgl. Abbildung 1).
Während die Daten in der erste Spalte in Abbildung 1 zum Stand Mitte 2011 erkennbar den Anteil der Iraker bei 70.000 und bei den Syrern bei etwas mehr als 25.000 Personen schätzen, haben sich diese Werte beim Stand Ende 2015 innerhalb weniger Jahre bei den Irakern fast verdoppelt und den Syrer sogar verzwanzigfacht (ebd.). Vor allem das Jahr 2015, war in den Medien als das Jahr der „ Flüchtlingskrise “ etikettiert worden, in der es den größten Zuzug von Asylsuchenden in der Geschichte der Bundesrepublik beschrieb (vgl. Zeit Online 2016b). Von den knapp 1,1 Millionen Asylsuchenden[2], die über die deutsche Grenze kamen, waren alleine 420.000 Syrer und 120.000 Iraker (vgl. Bundesministerium des Inneren 2016).
Die dritte große Gruppe stammt aus Südeuropa und umfasst knapp 550.000 Menschen (vgl. Abbildung 1, Stand 21.12.2015). Hier finden sich, neben muslimischen Albanern mit knapp 60.000 Personen, vor allem Muslime aus dem ehemaligen Jugoslawien mit etwa 450.000 Menschen wieder (ebd.). Die meisten flüchteten in den 90er Jahren aus den Bürgerkriegen und Konflikten innerhalb der jugoslawischen Teilrepubliken nach Deutschland, jedoch kamen im Frühjahr 2015 aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen über 500.000 Menschen (vgl. Spiegel 2015), die auch den großen Zuwachs der Muslime aus dieser Herkunftsregion erklären bei einem Vergleich zwischen den Daten aus Mitte 2011 und Ende 2015 (vgl. Abbildung 1).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Anzahl der Muslime mit Migrationshintergrund zum 31.Dezember 2015. (Quelle: Stichs 2016, S.30)[3]
Die nächste große Gruppe von Muslimen kommt aus Süd/Südostasien mit knapp 370.000 Menschen, die einen Migrationshintergrund aus dieser Region haben (vgl. Abbildung 1, Stand 21.12.2015). Hier sticht Afghanistan hervor, aus welchem 2/3 aller Muslime aus dieser Herkunftsregion stammen. Und auch hier konnte in den letzten Jahren im Vergleich zum Stand Mitte 2011 ein sprunghafter Anstieg verzeichnet werden von 80.000 auf 240.000 Menschen für Ende 2015 (vgl. Abbildung 1). Während der Flüchtlingskrise 2015 sind über 150.000 Afghanen über die Grenze gekommen, um Asyl zu suchen (vgl. Bundesministerium des Inneren 2016). Die Gründe liegen in dem langandauernden Afghanistankonflikt, in der die NATO und die Bundeswehr schon mehr als 15 Jahre im Kampf gegen die Taliban involviert sind, welche große Teile des Landes weiterhin in Unruhe halten (vgl. Plitsch 2014, S.4-5).
Eine weitere Gruppe, die besonders im letzten Jahr die Diskussionen über muslimische Migranten in Deutschland geprägt hat, waren Migranten aus Nordafrika. Die Ereignisse in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof, bei der es zur massenhaften Übergriffe an Frauen und Diebstahldelikten kam, hat die Frage hinsichtlich einer höheren Kriminalitätsrate von muslimischen Flüchtlingen in Deutschland befeuert (vgl. Der Stern 2016a). Hier wird eine nähere Betrachtung der Datenlage hinsichtlich einer höherer Flüchtlingskriminalität nötig sein, welche oftmals gleichgesetzt wird mit höherer muslimischer Kriminalität. Nordafrikanische Muslime sind mit etwa 260.000 Personen in Deutschland vertreten, davon sind etwa 150.000 marokkanische Muslime (vgl. Abbildung 1, Stand 21.12 2015).
Die restlichen Herkunftsregionen der Muslime mit Migrationshintergrund sind Zentralasien und die russische Föderation mit etwa 110.000, Afrika südlich der Sahara mit 110.000 und der Iran mit 90.000 (vgl. Abbildung 1, Stand 21.12.2015).
Wie man erkennen kann, ist die ethnische Zusammensetzung von Muslimen heterogen, zwar machen etwa die Hälfte aller Muslime Menschen mit Migrationshintergrund aus der Türkei aus. Jedoch hat sich mit dem Zuzug vor allem aus dem Nahen Osten, dem ehemaligen jugoslawischen Regionen und Südostasien eine größere Diversität entwickelt. Dieser Prozess hat sich in den letzten Jahren sogar verstärkt, wenn man die Daten aus Abbildung 1 bei den Ständen von Mitte 2011 und Ende 2015 vergleicht. Im Zuge des fehlenden Bleiberechtes könnte aber vor allem die Zahl bei neu hinzugekommenen Muslimen aus dem Balkanraum abnehmen (vgl. Stichs 2016, S.32) und auf der anderen Seite bei wachsenden politischen Unruhen aus dem Nahen Osten und Südostasien eine weitere Zunahme angenommen werden. Somit bleibt die genaue Zahl der Muslime in Deutschland auch zukünftig ein sehr volatiler Wert.
2.3. Muslimische Konfessionen in Deutschland
Im Gegensatz zur ethnischen Zusammensetzung herrscht bei der Glaubensrichtung der Muslime auf dem ersten Blick eine größere Homogenität in Deutschland. Wie Abbildung 2 zeigt, sind knapp 74% der Muslime Sunniten, 12,7 % Aleviten, 7,1% Schiiten und 1,7% Ahmadis. Die restlichen 4,4 % bilden u.a. Ibaditen (0,3%), Sufis (0,1%) und Sonstige (4%) (vgl. Abbildung 2 ).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Muslimen nach Glaubensrichtung (in Prozent). (Quelle: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009, S.97 )
Dieser Eindruck täuscht aber, wenn man die Gründungs- und vor allem Spaltungsgeschichte der muslimischen Glaubensrichtungen näher betrachtet[4]: die erste Glaubensspaltung im Islam entstand nach dem Tod des Propheten Muhammad, als Folge eine Uneinigkeit über die Nachfolge in der muslimischen Gemeinschaft, in der sich die späteren Sunniten auf die Sunna beriefen, die den treuen Gefolgsmann Muhammads Abu Bakr als neuen Kalifen vorsah (vgl. Lemmen 2001, S.42).
„ Ab Mitte des neunten Jahrhunderts (entwickelten Sunniten) [...] theologische und rechtliche Prinzipien […], die im wesentlichen aus dem Koran und aus der als authentisch befundenen Tradition des Propheten, der Sunna abgeleitet wurden. (Daher auch) der Name Sunnit, von ahl al-bayt, d.h. Leute der Sunna“ (Lemmen 2001, S.42-43).
Aus dessen Interpretationslehre und anschließenden Institutionalisierung setzten sich vier Rechtsschulen durch, die sich nach Region tief verwurzeln und auch die sunnitischen Muslime in Deutschland abhängig ihren Herkunftsregionen deutlich vielfältiger machen (vgl. ebd.).
„Diese Rechtsschulen mit ihren Hauptverbreitungsgebiete sind:
1. Hanafiten (nach Abu Hanifa, 699-767) – Südeuropa, Türkei, Zentralasien und indischer Subkontinent
2. Malikiten (nach Malik ibn Anas, 7 10-795 ) – Nord- und Westafrika
3. Safi´iten (nach Muhammad ibn Idris as- Safi´i, 767-820) – Vorderer Orient, Ost-Afrika und Südostasien
4. Hanbaliten (nach Ahmad ibn Hanbal, 780-855) – Arabische Halbinsel“ (ebd. , S.43)
Die späteren Schiiten wiederum sahen den Cousin und Schwiegersohn von Muhammad, Ali als rechtmäßigen Nachfolger (vgl. ebd, S.42). In der Machtfrage gewann das Lager von Abu Bakr und er wurde zum ersten Kalifen der muslimischen Welt (ebd.) Nach dessen Tod und der von zwei weiterer nachfolgenden Kalifen, wurde schließlich Ali der vierte Kalif der islamischen Gemeinschaft (ebd.). Für die Schiiten ist die Kalifennachfolge durch die Nachkommenschaft des Kalifen Ali unter ihrer Imamatslehre ein zentraler Aspekt ihrer Konfession (vgl. ebd., S.44-45). „Demnach gelten als rechtmäßige Nachfolger Mohammeds (und Alis) bei ihnen statt der Kalifen die Imame[5] “ als Nachfolgeherrscher der islamischen Gemeinschaft (Altenberger 2007, S.7).
Das Schiitentum wird auch als Schia bezeichnet und steht im arab. für „ shiat Ali“, die Partei Alis (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung). Schiiten bilden im Süd-Irak und Iran die Mehrheit und bilden bedeutende Minderheiten in Afghanistan, Libanon und dem arabischen Golfstaaten. (vgl. ebd.)
Auch eine weitere Glaubensrichtung im Islam muss hierbei erwähnt werden, die sich deutlich unterscheidet vom sunnitischen und schiitischen Islam: das Alevitentum. „Insgesamt Leben in Deutschland zwischen 480.00 bis 550.000 Aleviten, die zu über 95% aus der Türkei stammen“ (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009, S.314).
Die Aleviten[6] bilden „eine muslimische Gruppe besonderer Art […] wegen ihrer synkretischen und heterodoxen Glaubensvorstellungen und -praktiken“ (Lemmen 2001, S.48).
Wie der deutsche Ethnologe Martin Sökefeld feststellt, definieren Aleviten ihre Glaubensausrichtung häufig, in dem sie sich zum sunnitischen Islam negieren (vgl. Sökefeld 2008, S.19) :
„Aleviten sehen die meisten der „fünf Säulen“ des Islam nicht als verbindlich für sich an. Sie beten nicht fünfmal am Tag, pilgern nicht nach Mekka und fasten nicht im Ramadan. Aleviten haben eigene Fastenzeiten [...]Anstatt eines mehr oder weniger Gebots, zakat (Almosen) zu geben, sehen sich Aleviten eher generell verpflichtet, Ungerechtigkeit zu verhindern.“ (ebd.)
Im Zentrum des alevitischen Glaubens steht der Mensch, der im Gegensatz zur Auffassung sunnitischer oder schiitischer Muslime, welche den Koran als die höchste Quelle der göttlichen Offenbarung sehen, den Menschen selbst als höchste Quelle für göttliche Einsichten betrachten (ebd., S. 17-18). Aus dieser Position leitet sich der Humanitäts- und Gleichheitsgedanke zwischen allen Geschlechtern, Religionen und Menschen ab (ebd.). So verrichten Männer und Frauen gemeinsam das Gebet in einem Raum und für Frauen gibt es kein Verhüllungsgebot.
Geschichtlich betrachtet, hatten Aleviten schon zur Zeiten der sunnitischen Herrschaft der Osmanen zu leiden, welche eine „ Sunnitisierung “ der Aleviten verfolgten (vgl. Lemmen 2001, S. 48). Und auch „bis heute sind die Aleviten in der Türkei nicht als konfessionelle Minderheit anerkannt“ ( Telepolis 2015), ein Umstand, der auch das Verhältnis der sunnitischen und alevitischen Beziehungen in Deutschland belastet.
Nach einer groben Analyse der verschiedenen muslimischen Glaubensrichtungen in Deutschland zu denen über 90 Prozent der muslimischen Migranten sich bekennen, lautet nun somit eine zentrale Erkenntnis, dass der Islam kein einheitlicher Block darstellt. Eine Erkenntnis, die eher konträr innerhalb der deutschen Kerngesellschaft wahrgenommen wird und bei Debatten als auch bei wissenschaftlichen Studien über den Islam unzureichend berücksichtigt wird[7].
Festzuhalten ist dabei, dass größere Spannungsfelder sowohl von Sunniten und Schiiten als auch Sunniten und Aleviten existieren, die wie aufgezeigt, aufgrund geschichtliche Tatsachen existieren. Eine Antwort kann hier sein, dass die Bemühungen zur Verbesserung für interreligiöse Beziehungen von Muslimen und Andersgläubigen in Deutschland, auch das Feld der interkonfessionellen Beziehungen zwischen den muslimischen Glaubensrichtungen beinhalten sollte.
Zu beachten sind auch zwei weitere Aspekte, die innerhalb der Abbildung 2 nicht tiefergehend betrachtet wurden:
1. Die größeren Flüchtlingsströme der letzten Jahre aus mehrheitlich sunnitischen Ländern könnten das angegebene Verhältnis der Konfessionsstrukturen zugunsten eines höheren sunnitischen Anteil verschoben haben. Bedauerlicherweise sind die aktuellsten Daten, jene der MLD-Studie 2008 des Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge, welche für die Deutsche Islam Konferenz gezielt über 6000 muslimische Haushalte nach ihrer Glaubensausrichtung im Islam befragt hat (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009, S. 11).
2. Eine weitere Gruppe, die im Jahr 2009 noch keine große Beachtung fand und auch bei Abbildung 2 unter Sonstiges fällt, ist die Anzahl der Salafisten. Das Bundeskriminalamt stellt dazu fest:
„ In Deutschland verzeichnet das salafistische Spektrum seit Jahren steigende Anhängerzahlen. Lag die bundesweite Zahl der Salafisten im Jahr 2011 noch schätzungsweise bei 3.800 Personen, beläuft sich das aktuelle salafistische Personenpotenzial auf ca. 7.500 Anhänger (Stand: Juni 2015).“ (Bundeskriminalamt 2015, S.2)
Im direkten Vergleich zur großen muslimischen Allgemeinheit von etwa 4,5 Millionen Muslimen (vgl. Kapitel 2.2.) scheinen selbst bei einer Verdopplung auf 7.500 in wenigen Jahren, die Salafisten von ihrer bloßen Anzahl nur eine Randgruppe innerhalb der muslimischen Konfessionsstruktur in der Bundesrepublik darzustellen. Was diese Gruppe ausmacht und wie diese kleine Gruppe es dennoch schafft eine ernstzunehmende Gefahr für ein friedliches Zusammenleben darstellen und damit auch die Wahrnehmung der deutsche Gesellschaft über Muslime zu bestimmen, wird ein kommender Analysegegenstand dieser Arbeit sein müssen.
3. Analyse der Integrationssituation von muslimischen Migranten anhand ausgewählter Indikatoren
3.1. Indikatoren für eine gelungene Integration
Wenn der Islam als ein Hemmnis für die Integration der muslimischen Migranten in Deutschland empfunden wird, dann ist eines der ersten Argumente, die mangelnde Integrationsbereitschaft auf Seiten der Muslime (vgl. Kapitel 1.1.). Jedoch fallen solche schnellen Urteile oft ohne Kenntnis der empirischen Situation über die muslimischen Migranten. Dieses Kapitel soll dazu dienen, die tatsächliche Integrationssituation der muslimischen Migranten in Deutschland zu überprüfen und den Vorwurf mangelnder Integration im Allgemeinen nachzugehen.
Erforderlich hierfür ist eine Analyse mithilfe von objektiven Kriterien, die als Messstandard für eine gelungene Integration dienen können. Der erste Schritt dazu ist eine klare Definition des Begriffes „Integration“. Maria Böhmer, die amtierende Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration seit 2005, definiert den Begriff der Integration folgendermaßen:
„ Integration umfasst verschiedene Stufen, die strukturelle, die soziale und kulturelle Integration […] Bei der strukturellen Integration werden Zugewanderte als Mitglieder der Gemeinschaft anerkannt und erhalten gleichberechtigte gesellschaftliche Chancen. Kulturelle Integration bedeutet, eine (teilweise) Übernahme und Anerkennung der gesellschaftlichen Werte und Normen durch Menschen mit Migrationshintergrund […] Dabei sind alle Integrationsstufen an Voraussetzungen gebunden. Menschen brauchen z.B. Zugang zu Bildung, zu gesellschaftlichen Positionen, müssen über die Landessprache verfügen und ein persönliches Zugehörigkeitsgefühl entwickeln bzw. sich als Teil der Gesellschaft sehen. Dies bedeutet, dass sich sowohl Anforderungen an die Aufnahmegesellschaft als auch an die Menschen mit Migrationshintergrund stellen.“ ( Die Bundesausländerbeauftragte)
In dieser klaren Begriffserklärung über Integration[8], liefert Böhmer erste Vorschläge wie man Kriterien finden kann, welche als Messdaten betrachtet werden können.
Wenn die strukturelle, soziale und kulturelle Integration an Voraussetzungen wie Kompetenzen in der Landessprache und dem Zugehörigkeitsgefühl an Gesellschaft und Staat gekoppelt ist, können Daten von diesen Bereichen helfen, zumindest als Indikatoren über die tatsächliche Integrationssituation der muslimischen Migranten in Deutschland zu urteilen.
Hinzukommt ein vierter Indikator, der analysiert werden soll: Mischehen zwischen muslimischen Migranten und der einheimischen Bevölkerung. „Zahlreiche Studien belegen, dass mit steigendem Grad der Integration auch die Anzahl der Mischehen zunimmt“ ( Ingenhoven 2003, S.149). Somit können „Partnerschafts- und Heiratsbeziehungen zwischen Migranten und Inländern […] als „harte“ Indikatoren der Integration“ gesehen werden (Statistisches Bundesamt 2006, S. 420), welche auch Hinweise auf die soziale Distanz zwischen diesen Gruppen liefert (vgl. ebd). Diese vier Integrationsfelder korrelieren auch mit dem Bereich der Integrationsforschung, so teilt der Sozialwissenschaftler Ahmet Toprak die Integration in vier Formen ein:
- „Kulturelle Integration (soziale Werte und Sprache)
- Strukturelle Integration (Arbeitsmarktintegration und Bildungsbeteiligung)
- Soziale Integration (soziale Beziehungen)
- Emotionale Integration (Identifikation der Individuen)“ ( Toprak, Weitzel 2017a, S.17)
Das Ziel ist es also in diesem Kapitel den Vorwurf der Integrationshemmnis von muslimischen Migranten nachzugehen durch die Untersuchung von tatsächlichen empirischen Gegebenheiten bei ausgewählten Indikatoren, wie der kulturellen Integration des Spracherwerbs, der strukturellen Integration der Bildungsbeteiligung, der sozialen Integration durch Mischehen und der emotionalen Integration durch Verbundenheit.
Ebenso soll eine nähere Betrachtung der bereits im vorherigen Kapitel beschriebenen großen Diversität der Muslime in Abhängigkeit ihrer unterschiedlichen Einwanderungsbiographien und heterogenen Strukturen bei Ethnie und Konfession, auch auf dem Feld der Integrationsindikatoren ein Urteil über die Heterogenität in der Integration bei muslimischen Migranten erfolgen. Diese wäre ebenfalls ein Beleg dafür, dass der Vorwurf „der Islam“ als Integrationshemmnis nicht haltbar wäre, wenn die Heterogenität der muslimischen Migranten bei Integrationserfolgen diese einfache Verallgemeinerung über Muslime widersprechen würde.
Bevor mit der Analyse des ersten Indikator begonnen wird, muss ein großes Problem bei der Analyse der Indikatoren erwähnt werden:
„(Hier) gilt es zu beachten, dass nur wenige sozialwissenschaftliche Studien existieren, (die) explizit sozioökonomische Situation einzelner Gruppen im Zusammenhang mit ihrer Religionszugehörigkeit bemessen […] statistische Untersuchungen […] liefern dementsprechend keine Daten zu Migranten islamischen Bekenntnisses, sondern beispielsweise lediglich zu türkischen- oder aber iranisch-stämmigen Migranten. “ (Hohaus 2015, S. 90)
So kann es sein, dass es keine direkten Daten oder Studien gibt zwischen muslimischen Gruppen und den zu untersuchten Indikatoren für gelungene Integration. Sollte dies der Fall sein, wird auf indirekten Wegen, durch die Herkunftsregion und ihren Anteil an Muslimen, die gesuchten Werte abgeleitet werden müssen. Bei Herkunftsregionen, die relativ homogen sind beim Anteil der Muslime und der muslimischen Konfessionszugehörigkeit, ergeben sich so kaum Ungenauigkeiten, während die Aussagekraft in Ländern mit einer größeren religiösen Heterogenität und muslimischen Konfessionszugehörigkeit die Messwerte ungenauer werden können. Jedoch besteht auch hier eine gute Gelegenheit, die Frage der muslimischen Integrationshemmnis zu beantworten, da nichtmuslimische Migranten aus den selben Herkunftsregionen eine ideale Vergleichsgruppe repräsentieren.
Die Verwendung von Indikatoren ist hierbei auch mit dem Hintergrund gewählt worden, um mögliche Unschärfe nicht nur im Bezug auf den Begriff von gelungener Integration der Muslime zu entschärfen, sondern auch in Abhängigkeit der unzureichenden Daten- und Studienlage im speziellen für muslimischen Migranten in ihrer Integrationssituation zu berücksichtigen. Sie dienen hier vor allem als Verweis und Richtungsvorgabe von Entwicklungen und Tendenzen bei der muslimischen Bevölkerung in Deutschland und sollen mit der Bezichtigungen verglichen werden, die gegen muslimische Migranten im Feld der Integrationsverweigerung erhoben werden.
3.2. Deutschkenntnisse
„Grundlegend für eine erfolgreiche Integration und Berufslaufbahn sind vor allem gute Sprachkompetenzen“ (Toprak, Weitzel 2017, S.17). Wie es um die Sprachkompetenzen der muslimischen Migranten steht, hat im Zuge einer besseren Beurteilung der muslimischen Integrationssituation in Deutschland, die Deutsche Islam Konferenz 2007 [9] dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) beauftragt, eine große Studie zur Lebens- und Integrationssituation der Muslime in Deutschland unter Berücksichtigung der ethnischen und religiösen Heterogenität der muslimischen Migranten durch zu führen (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009, S.4-5)
Bereits im zweiten Kapitel dieser Arbeit konnte diese angelegte Studie des BAMF „Muslimisches Leben in Deutschland 2008 (MLD 2008)“ nähere Informationen bei der Zusammensetzung der muslimischen Glaubensrichtungen in Deutschland liefern. Und auch zur Sprachkompetenz in Deutsch konnten nähere Daten gewonnen werden.
So wurden anhand einer Befragung von Migranten aus Ländern mit mehrheitlich muslimischer Demographie Eigenbewertungen ihrer Deutschkenntnisse im Bezug auf Sprachformen des Hörverständnis, den Sprechfähigkeiten und der Lese- und Schreibkompetenzen abgegeben (ebd.). In Abbildung 3 zeigt sich, dass in der Selbsteinschätzung der Migranten, bei guten oder sehr guten Kompetenzen bei allen vier Sprachformen hohe Werte ermittelt werden. So lagen die Lesefähigkeiten hier am höchsten mit 78 Prozent, das Hörverständnis bei 74 Prozent, Sprechfähigkeiten bei 69 Prozent und ein etwas schwächeres Schreibvermögen mit 63 Prozent (vgl. Abbildung 3).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Selbst eingeschätzte Deutschkenntnisse der Befragten mit Migrationshintergrund insgesamt (in Prozent). (Quelle: Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge 2009, S.240)
Jedoch ist zunächst festzuhalten, dass die Deutschkenntnisse der Migranten aus überwiegend muslimischen Bevölkerungen nur im geringeren Maße als schlecht oder sehr schlecht wahrgenommen werden, hier liegen alle Werte unter 10 Prozent, außer beim Schreibvermögen, was mit 12 Prozentpunkten etwas erhöht ist (vgl. ebd.).
Auch sind in der MLD Studie einige Untersuchungen vertreten, die eine Unterscheidung zwischen dem muslimischen und nicht-muslimischen Anteilen nach Herkunftsregion ermöglichen. Diese Unterscheidungsmöglichkeit ist insofern hilfreich, da man nun deutlich differenzieren kann, ob es eine Abweichung der sprachlichen Integration zwischen Muslimen und Nichtmuslimen aus einer bestimmt Region gibt. Die Überlegung hierbei ist, wenn der Islam ein Hemmnis für Integration ist, dann müssten muslimische Migranten eine schlechtere Sprachkompetenz aufweisen, als andersgläubige Migranten aus dem selben Herkunftsgebiet.
Abbildung 4: Sprachkompetenz Deutsch der Befragten mit Migrationshintergrund, Index, nach Herkunftsregion und Religion. (Quelle: Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge 2009, S. 244)
In Abbildung 4 werden nun alle vier Sprachformen zusammengerechnet. Erkennbar hierbei ist, dass die muslimischen Herkunftsregionen im Vergleich zueinander recht heterogen sind bei der Sprachkompetenz, wenn man die guten oder sehr guten Werte der muslimischen Migranten aus Nordafrika (78 Prozent) oder aus Zentralasien/GUS (sogar bei 80 Prozent) mit den schlechtesten Werten bei türkeistämmigen Muslimen (59 Prozent) oder sonstiges Afrika (60 Prozent) vergleicht (vgl. Abbildung 4). Dies scheint zunächst widersprüchlich, wenn man bedenkt, dass die türkeistämmigen Muslime als Gastarbeiter, zumindest eine der ältesten Migrationsgruppen in Deutschland darstellen und muslimische Einwanderer aus beispielsweise dem Nahen Osten, wie bereits im Kapitel 1 erwähnt, als Asylsuchende Jahrzehnte später nach Deutschland migrierten und aber deutlich weniger Personen aufweisen, die gar keine bis schlechte Deutschkenntnisse bei sich einschätzen.
[...]
[1].Von nun an wird der Begriff deutsche Kerngesellschaft“ für den Teil des Gesellschaft verwendet, welcher die nichtmuslimische einheimische Bevölkerung ohne Migrationshintergrund repräsentiert (auch deutsche Mehrheitsgesellschaft). Während „muslimische Migranten“, alle Muslime mit Migrationshintergrund bezeichnen - unabhängig davon, ob sie im Ausland oder in Deutschland geboren sind.
[2]. Die Zahl entspricht aller Asylsuchenden unabhängig ihrer Religion. (vgl. Bundesministerium des Inneren 2016)
[3]. Alle Hochrechnungen wurden auf Basis von früherer Studien wie Muslimisches Leben in Deutschland 2008 und des Bevölkerungszensus mit Stichtag 09.05.2011, als auch Daten aus dem Ausländerzentralregister und dem Asylgeschäftsstatistik entwickelt. Zu beachten ist hier jedoch, dass diese Werte nicht die tatsächliche Zahl der Menschen aus diesen Herkunftsländern widerspiegelt, sondern nur jene welche sich als Muslime identifizieren. Alle Werte sind hierbei nur bloße Schätzungen, da neben der Fehlerquote einer deduktiven Hochrechnung, mit auch die Zugehörigkeit zu einer Religion in allen Studien eine subjektive Befragung der Teilnehmer verknüpft ist und Muslime hier nicht verbindlich ihre Zugehörigkeit preisgeben müssen.
[4]. Dies soll nur im groben getan werden, da eine tiefere Betrachtung der islamischen Konfessionsgeschichte für die Zielsetzung dieser Arbeit nicht nötig ist. Entscheidend ist nur aufzuzeigen, wie groß die Unterschiede zum Teil sind zwischen muslimischen Konfessionen.
[5]. Imame sind Vorsteher und geistliche Autoritäten im Islam (vgl. Altenberger 2007, S.7)
[6]. Hierbei muss man zwischen den Aleviten unterschieden werden, welche das Alevitentum als eine eigenständige Religion sehen und jenen, welche das Alevitentum im Rahmen einer muslimischen Konfessionen verstehen. Der Grund: die tatsächliche Zahl der Aleviten kann somit höher Ausfallen, wenn innerhalb von Befragungen wie in Abbildung 2, die Aleviten, die sich nicht als Muslime betrachten, in den Hochrechnungen nicht miteinbezogen werden.
[7]. Wie sonst lässt sich erklären, dass es keine großen Konfessionsstudien über die Muslime in den letzten 10 Jahren gegeben hat, wenn die Diversität innerhalb der muslimischen Gemeinschaft ersichtlich ist?
[8]. Für diese Arbeit ist die Definition von Integration, welche die Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration vorgibt, ausreichend um die Zielgerichtetheit des Vorhabens zu gewähren, das hinzuziehen von weiteren Autoren zur Frage der Definition von Integration wäre in diesem Kontext nur Nebeninformation. Für weitere Vertiefungen in diesem Bereich empfehlen sich Schriften aus dem angelsächsischen Raum wie der Chicagoer Schule und Milton Gordon als auch aus dem deutschsprachigen Raum Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny.
[9]. Die Deutsche Islam Konferenz ist eine jährliche stattfindende Konferenz zwischen muslimischen Verbänden und der deutschen Bundesregierung mit dem Ziel die muslimische Integration in Deutschland zu verbessern.
- Arbeit zitieren
- Christopher Klötter (Autor:in), 2017, Ist der Islam ein Hemmnis für die Integration der muslimischen Migranten in Deutschland?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/377794
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