Diese Arbeit verfolgt hinsichtlich der Problematik des Verhältnisses von Absolutem und Kontingentem
zwei miteinander korrelierende Ziele. Zum einen soll gezeigt werden, daß in Anbetracht
der Logik Hegels die für die Philosophie seit der Antike so grundlegende Frage nach
der Seinsweise und der Art des Zusammenhangs von Absolutem und Kontingentem wesentlich
falsch gestellt ist, weil nach ihrer klassischen Lesart beide als prinzipiell verschieden
voneinander präsupponiert werden. 1 Die Begründung für diese These wird in der Darstellung
eben jener Hegelschen Position in diese Zusammenhang bestehen, ja es wird sich ergeben,
daß, wenn eine stichhaltige Kritik der Frage und ihrer möglichen Lösungsvorschläge überhaupt
noch eine Alternative zuließen, es dann notwendig wäre, der Problematik gegenüber
von vornherein einen völlig anderen Standpunkt einzunehmen – den der dialektischen Vernunft
statt den des (endlichen) Verstandes.2 Der erste Teil der Arbeit wird begriffsanalytisch
verfahren; die Darstellung konkreter historischer Positionen wird vermieden, um deren Detailproblemen
aus dem Wege zu gehen. Statt dessen wird versucht, allein auf Grundlage der
möglichst allgemein gehaltenen und auf ihren Wortsinn (hier: auf notwendige Bedingungen)
reduzierten Begriffe von Absolutem, Kontingentem und dem einer etwaigen Vermittlung beider
prinzipielle und aus bestimmten Gründen notwendige Divergenzen zwischen der beanspruchten
und der wirklichen Bedeutung (zwischen Pragmatik und Semantik oder, wenn man
so will: zwischen Form und Inhalt) dieser Begriffe aufzuzeigen. [...]
1 Besonders deutlich wird dies bei Hegels Betrachtung der „verständigen“ Frage nach der Verendlichung des
Unendlichen. (Hegel, G.W.F.: Wissenschaft der Logik I. Frankfurt/Main 2000, S. 170f. – im folgenden „L“)
2 „Wenn vom Denken die Rede ist, so muß man das endliche, bloß verständige Denken vom unendlichen, vernünftigen
unterscheiden. Die Denkbestimmungen, so wie sie sich unmittelbar, vereinzelt vorfinden, sind endliche
Bestimmu ngen. Das Wahre aber ist das in sich Unendliche, welches durch Endliches sich nicht ausdrücken
und zum Bewusstsein bringen läßt.“ (ders.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I. Frankfurt/Main
1999, S. 94f. – im folgenden „EZ“)
Inhalt
0. Abstract
1. Die Frage nach dem Absoluten und dem Kontingenten und ihre Aporien
1a) Notwendige Bedingungen für Absolutes und Kontingentes
A) Absolutes
B) Kontingentes
1b) Aporien der Ausgangsfrage und die Selbstwidersprüchlichkeit
ihrer Implikationen
1c) Der Primat des Absoluten und seine begrifflichen Widersprüche
am Beispiel der platonischen Lehre von den Ideen
2. Die Frage nach dem Endlichen und Unendlichen bei Hegel
2a) Vorklärungen und Reformulierung der Fragestellung
2b) Die Entwicklung der Kategorie der Endlichkeit – Etwas und Anderes
2c) Überlegungen zur dialektischen Methode – Widerspruch und indirekter Beweis
2d) Die Endlichkeit
2e) „Schlechte Unendlichkeit“
2f) Affirmative Unendlichkeit: Die Wahrheit der „schlechten Unendlichkeit“ als symmetrische Implikation von Endlichkeit und Unendlichkeit
2g) Zwischenergebnis
3) Die absolute Idee
Bibliographie
0. Abstract
Diese Arbeit verfolgt hinsichtlich der Problematik des Verhältnisses von Absolutem und Kontingentem zwei miteinander korrelierende Ziele. Zum einen soll gezeigt werden, daß in Anbetracht der Logik Hegels die für die Philosophie seit der Antike so grundlegende Frage nach der Seinsweise und der Art des Zusammenhangs von Absolutem und Kontingentem wesentlich falsch gestellt ist, weil nach ihrer klassischen Lesart beide als prinzipiell verschieden voneinander präsupponiert werden.[1] Die Begründung für diese These wird in der Darstellung eben jener Hegelschen Position in diese Zusammenhang bestehen, ja es wird sich ergeben, daß, wenn eine stichhaltige Kritik der Frage und ihrer möglichen Lösungsvorschläge überhaupt noch eine Alternative zuließen, es dann notwendig wäre, der Problematik gegenüber von vornherein einen völlig anderen Standpunkt einzunehmen – den der dialektischen Vernunft statt den des (endlichen) Verstandes.[2] Der erste Teil der Arbeit wird begriffsanalytisch verfahren; die Darstellung konkreter historischer Positionen wird vermieden, um deren Detailproblemen aus dem Wege zu gehen. Statt dessen wird versucht, allein auf Grundlage der möglichst allgemein gehaltenen und auf ihren Wortsinn (hier: auf notwendige Bedingungen) reduzierten Begriffe von Absolutem, Kontingentem und dem einer etwaigen Vermittlung beider prinzipielle und aus bestimmten Gründen notwendige Divergenzen zwischen der beanspruchten und der wirklichen Bedeutung (zwischen Pragmatik und Semantik oder, wenn man so will: zwischen Form und Inhalt) dieser Begriffe aufzuzeigen.
Die zweite Aufgabe besteht dann in einer konkreten Erläuterung des Verfahrens jener oben erwähnten dialektischen Vernunft bzw. ihrer Methode, die eine Überwindung der vorgeblich unüberwindlichen Widersprüchlichkeit der in Frage stehenden Kategorien zu leisten in der Lage sein will. Verdeutlicht werden soll dies am in Bezug auf die Ausgangsfrage naheliegenden Beispiel der Kategorien von Endlichkeit und Unendlichkeit im Daseinskapitel der Logik bzw. der Enzyklopädie. Dabei wird sich ergeben, daß letztere als Kandidatin für das Absolute im gewöhnlichen Sinne ausscheidet. Deshalb soll anschließend Hegels Fassung des Absoluten in Form der Darstellung der Funktionsweise und der Verortung der absoluten Idee vorgestellt
werden. Die absolute Idee soll als eine epistemologische wie auch ontologische Instanz, die sich in ihrem Verfahren nicht in den bekannten Aporien verwickelt, ausgewiesen werden, womit die Arbeit beschlossen werden soll.
1. Die Frage nach dem Absoluten und dem Kontingenten und ihre Aporien
1a) Notwendige Bedingungen für Absolutes und Kontingentes
Die Lesarten der Ausdrücke „Absolutes“ und „Kontingentes“ in der Geschichte der Philosophie sind zahlreich.[3] Dennoch dürfte eine tragfähige begriffsanalytische Interpretation beider möglich sein, bei der Spezifika z.B. der jeweiligen Schulposition oder auch gewisse Implikationen in Hinsicht auf deren historische Verfasstheit zwar vernachlässigt, dafür aber die notwendigen, irreduziblen Bedingungen für eine Rede von Absolutem und Kontingentem als Resultat herausgearbeitet werden. Dies soll im folgenden in aller Kürze geschehen.
A) Absolutes
Das Absolute im erkenntnistheoretischen Sinne ist, formal betrachtet, diejenige Begründungsinstanz, mit der ein infiniter Regress zugunsten einer befriedigenden Letztbegründung vermieden werden kann. Da diese Instanz selbst aber nicht mehr in einem etwaigen weiteren Schritt begründungsbedürftig sein darf und es sich darüber hinaus auch noch um diejenige handeln soll, deren epistemisches Gewicht so groß ist, daß sie in der Lage ist, Letztbegründung für alle denkbaren Rechtfertigungsvorgänge zu leisten, bleibt als Antwort auf die Frage nach ihrer Rechtfertigung nur ein Verweis auf ihre Selbstbegründung als unhintergehbares Prinzip. Das Absolute hat in diesem Sinne also zwei notwendige Bedingungen: erstens darf es weder möglich noch notwendig sein, es unter Rekurs auf etwas außerhalb seiner selbst Liegendes zu begründen, und zweitens muß es selbst als Letztbegründung in jedem Falle fungieren können.[4]
Auch im ontologischen Sinne spielt für den Begriff des Absoluten die Selbstbegründung die wichtigste Rolle. Hier ist diese so zu verstehen, daß das Absolute unvermittelt ist, nicht hervorgebracht wurde und nie Wirkung sein kann, sondern nur Ursache, und zwar für sich selbst und anderes. Sein Begriff widerspricht einer Ein- oder Unterteilung seiner, denn weil es mit sich selbst stets identisch ist, ist es selbst erst die Grundlage für Verschiedenheit, die als solches nur vermittels eines Identischen denkbar ist. Alles ihm logisch Nachgeordnete muß letztlich genetisch auf es angewiesen sein, und zwar sowohl im Sinne seiner konkreten Erzeugung als auch seiner Bedeutung: Wirkungen müssen auf ihre Ursachen zurückführbar sein, Akzidenzien können ohne eine Substanz nicht wirklich sein, der Begriff des Teils ist sinnlos bzw. widerspricht sich selbst ohne den des Ganzen, die wesentliche Ununterschiedenheit von augenscheinlich Verschiedenen ist nur mittels eines Dritten, Allgemeineren festzustellen etc. – Hieraus ergeben sich mehrere Konsequenzen für das Sein des Absoluten: aufgrund seiner Omnipotenz kann es nichts Empirisches und damit nichts Endliches sein, sondern muß, im Gegenteil, außerhalb der Kategorien von Raum und Zeit angesiedelt sein; daraus ergibt sich, daß eine Erkenntnis seiner, so sie denn möglich ist, nur auf geistigem Wege stattfinden kann.
Die bedeutendste Schlussfolgerung allerdings, in der alles eben Angeführte aufgehoben ist, ist die, daß das Absolute notwendig und unendlich ist; sein Begriff ist unverträglich mit jeglicher Zufälligkeit, Begrenztheit und Unvollständigkeit, sowohl in epistemischer als auch in ontologischer Hinsicht, da es nie im Modus einer bloßen Möglichkeit sein kann: „Das Absolute ist nicht notwendig“ bedeutete demnach „Das Absolute könnte auch nicht sein“ und damit „Das Absolute ist (bloß) möglich“. Da es aber nicht hervorgebracht wurde, ist es selbst die Bedingung von Möglichkeit überhaupt, ist unbedingt, weil unvermittelt und kann es in keinerlei Relation zu bloß möglichen anderen Faktoren stehen, die anderenfalls für sein Sein oder Nichtsein verantwortlich sein könnten. Unbedingtheit bedeutet unbedingtes, nicht-relatives Sein ohne Begrenzung oder Beschränkung. Für Sätze der Form „Das Absolute ist begrenzt“ ergäben sich nämlich analoge Konsequenzen wie die oben in Bezug auf die Notwendigkeit festgestellten.
B) Kontingentes
Der Begriff der Kontingenz stellt den absoluten Gegensatz zu dem des Absoluten dar. Kontingentes ist bedingt, vermittelt und relativ. Es steht in Beziehungen zu anderem Kontingenten, ja wird durch diese erst konstituiert: denn so wie Unbedingtheit und Notwendigkeit Bestimmungen des Absoluten sind, so wird das Kontingente durch Relationalität und vor allem Zufälligkeit („reale Möglichkeit“) bestimmt. Es bringt sich nicht selbst hervor, sondern hat (letztlich) das Absolute zu seiner Ursache. Dennoch muß es nicht sein, weil es darauf ankommt, ob sich das Absolute, auf welche Art auch immer, dazu bestimmt, es gerade auf genau diese Art und Weise hervorzubringen. Daher ist es vollkommen vom Absoluten abhängig, weil nur in diesem das „notwendig sein“ bzw. „sein müssen“ festgelegt wird. Sprachlich gesehen sind Absolutes und Kontingentes dadurch unterscheidbar, daß es möglich ist, mit Termini, die Kontingentes beschreiben, als grammatikalischem Subjekt Konditionalsätze zu bilden, während über das Absolute nur kategorische Aussagen getroffen werden können. Kontingentes kann darüber hinaus keine Wirkungen oder Rückwirkungen auf das Absolute haben; was in seiner Sphäre vor sich geht, kann für jenes keine Bedeutung haben, jedoch hat im umgekehrten Falle jede Bestimmung, die sich das Absolute gibt, grundlegende Bedeutung für das Kontingente. – Hieran wird eine weitere Bestimmung seiner gut erkennbar: Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung hat in seiner Sphäre keinen Platz. Allein das Absolute ist, als sich selbst Hervorbringendes bzw. –gebrachtes, frei, während das Kontingente stets ihm äußerlichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen bleibt.
Die Eigenschaften des Kontingenten sind in einem Wort zusammenfassbar: es ist endlich, und zwar in jeder Hinsicht. Hierin dürfte der Gegensatz zum Absoluten am schärfsten ausgesprochen sein.
1b) Aporien der Ausgangsfrage und die Selbstwidersprüchlichkeit ihrer Implikationen
Ohne eine vollständige Charakterisierung sämtlicher Spielarten beider Begriffe zu beanspruchen und ohne auf eine dementsprechende konkrete Variante der Frage: „Wie ist der Zusammenhang von Absolutem und Kontingentem (oder Unendlichem und Endlichem) beschaffen?“ näher eingehen zu müssen, sind schon bereits anhand der obigen Begriffsanalyse bestimmte Implikationen einer derartigen Frage feststellbar. Erstens wird in ihr Sein unterstellt: es gibt so etwas wie Absolutes und Kontingentes - wenn auch auf verschiedene Weise.[5] Zweitens wird eine prinzipielle Unterschiedenheit beider voneinander präsupponiert; ansonsten erübrigte sich die Frage nach einem Zusammenhang bzw. einer Vermittlung, der oder die, drittens, entweder ein selbständiges oder ein von einem von beiden erzeugtes Drittes, Zusätzliches ist. In jedem Fall aber tritt es zur Dualität als äußerliches hinzu, weil es als Vermittelndes nur mit sich selbst und nicht etwa mit einem der beiden zu vermittelnden Glieder identisch sein darf. Anderenfalls, etwa dann, wenn man die Vermittlung als Moment oder Aspekt des Absoluten oder Kontingenten behauptete, wäre die Frage damit einfach zurückgewiesen oder vielmehr bloß verschoben worden: denn selbst ein Moment muß in irgendeiner Weise mit seinem „Träger“ vermittelt sein. Und da es ja um den Begriff der Vermittlung überhaupt geht, wäre somit das Problem nur auf eine andere Ebene verschoben.
Eine vierte Implikation, in Bezug auf Hegel vielleicht die wichtigste, ist die der Statik der Begriffe: besteht ein Zusammenhang bzw. eine Vermittlung zwischen Notwendigem und Zufälligem, dann müssen diese jeweils mit sich identisch sein und bleiben; anderenfalls wäre eine Antwort auf die Frage nur eine je vorläufige und im Grunde genommen falsch. Die Identität der Begriffe (bzw. ihrer Bedeutung) mit sich selbst muß also gewahrt bleiben.
Eine wichtige Klasse der vielfältigen Versuche, eine zufriedenstellende Deutung einer solchen Vermittlung zu leisten, sei hier nur sehr knapp am Beispiel einer grundsätzlichen Struktur dargestellt, die dem Absoluten eine logische Vorrangstellung einräumt.[6] Bei ihrer näheren Betrachtung wird sich ergeben, daß sie sich wegen der unberücksichtigt gebliebenen Implikationen, besonders der vierten, in Aporien verstrickt, die wegen der Statik der Begrifflichkeiten ihres theoretischen Instrumentariums unvermeidlich sind.
1c) Der Primat des Absoluten und seine begrifflichen Widersprüche am Beispiel der platonischen Lehre von den Ideen
An erster Stelle der Interpretationen des in Frage stehenden Verhältnisses steht sowohl historisch als auch quantitativ die klassische philosophisch-theologische Ansicht, allein das Absolute sei wirklich; alles Kontingente sei, da es endlich und vergänglich ist, bloßer Schein, Täuschung, Irrtum etc. – Auffällig in Bezug auf die oben festgestellten Implikationen ist, daß erstens Behauptungen wie „Es gibt Kontingentes“ zumindest sehr stark relativiert werden müssten, wenn nur dem Absoluten wahrhaft Existenz zukommt; zweitens wiese in diesem Falle die Rede von einer Vermittlung oder einem Zusammenhang von Absolutem und Endlichem sehr ambivalente Züge auf – die Frage hiernach scheint konsequenterweise schlicht unsinnig zu sein, wenn Endliches stets das Manko des bloßen Scheins an sich trägt. Selbiges gilt in diesem Falle für die dritte Implikation: sollte es, trotz der genannten Einseitigkeiten, überhaupt noch so etwas wie einer Vermittlung bedürfen, so ist deren Sein per se nicht dem Absoluten zurechenbar, ohne daß seine Form als Absolutes der Kontingenz anheim fiele – und das wäre bereits dort der Fall, wo auch nur ein Moment seiner, also etwa eine ihm angehörige vermittelnde Instanz, in Beziehung überhaupt gesetzt würde. Die gesamte Form würde davon unmittelbar erfaßt, da sie ja keinerlei Relativierung als mit sich selbst identisch Bleibende überstehen könnte. Eine Vermittlung müsste dem Absoluten also äußerlich bleiben und trotzdem unmittelbar mit ihm verbunden sein.
Die Frage wäre in ihrer Berechtigung allerdings dann zu retten, wenn gezeigt werden könnte, daß das Absolute sich, vielleicht sogar notwendigerweise, etwas Kontingentes gegenüberstellt. Dies wird jedoch mit dem oben entwickelten Begriff vom Absoluten nicht möglich sein; das Absolute hat als Unendliches kein „Außen“ aufzuweisen, in dem es sich auf sich selbst reflektieren könnte und folgt außerdem keiner Notwendigkeit, die es sich nicht selbst gesetzt hat. Zweitens führte dieser Gedanke zu der sehr unbefriedigenden Konsequenz, daß dann entweder sein Begriff oder der des Kontingenten so relativiert werden müsste, daß er seinen Sinn dem ursprünglichen Verständnis nach verliert – was nicht sein darf, weil die Bewahrung der Verschiedenheit beider bzw. ihre Identität mit sich selbst (wie auch in den Implikationen unterstellt) notwendig, da vom Absoluten durch seine Selbstbestimmung schon gesetzt, ist, um nicht unter der Hand den Gegenstand des Gedankens zu wechseln.
Es scheint keinen Ausweg zu geben: sobald das Kontingente als Moment des Absoluten postuliert wird oder eine Vermittlung zwischen beiden diesen Status bekommt, werden die Begriffe unwillkürlich dazu untauglich, ihrem in größter Schärfe formulierten ursprünglichen Bedeutungsanspruch gerecht werden zu können. Um nur ein zwar sehr abgekürztes, aber aufgrund seiner ihm zugrundeliegenden streng dualistischen Welteinteilung sehr anschauliches Beispiel anzuführen: die Ideenlehre bei Platon verortet das zum Zwecke des Erkenntnisgewinns zwischen den Welten der Ideen und der Empirie vermittelnde Glied in der Wiedererinnerung (Anamnesis). Die Anamnesis kann folglich nur ein seelisches (und nicht etwa ein körperliches) Vermögen sein, weil sein Gegenstand, die Rückerinnerung an die Schau der Ideen, nicht empirisch ist. Die Gegenstände jedoch, die die Anamnesis überhaupt erst provozieren und in Gang setzen sind empirischer Natur: die Frage nach der Gerechtigkeit von Handlungen zum Beispiel. Nun sind die Seelenvermögen exakt gleichen Ursprungs wie die Ideen, nämlich göttlichen, absoluten Ursprungs. Wie kann aber ein unmittelbarer Bezug zwischen beiden Welten möglich sein, wenn sie zuvor so streng voneinander unterschieden wurden? Ist nicht die Platonische Antwort auf diese Frage: vermittels der Analyse von Begriffen, die eine representatio der jeweiligen Ideen seien – in letzter Konsequenz nicht einfach eine Zurückweisung der Frage, weil weder der Unterschied noch die Art der Vermittlung zwischen Ideen und Begriffen wirklich klar gemacht worden ist? Und warum sollte sich das Absolute in Verschiedenes unterteilen? Verliert es damit nicht seinen Status als Eines, Unendliches?[7]
Eine strenge Zwei-Welten-Lehre kann schon per definitionem ein vermittelndes Glied immer nur einer ihrer beiden Sphären zurechnen. Damit wird der Begriff von Vermittlung allerdings leer und untauglich für die Beantwortung der Frage, für die er ja gerade eingeführt wurde. Übrigens kann in diesem Zusammenhang auch, wie eben erwähnt, von jeder anderen Form von Dualismus bzw. Dualität die Rede sein, ohne daß sich die Fragestellung auch nur im mindesten änderte. Eine im Rahmen einer Erkenntnistheorie aufkommende Frage nach der Vermittlung von Subjektivität und Objektivität zum Beispiel sieht sich mit derselben Problematik konfrontiert. – Auch wird es keine Lösung sein, die Zwei-Welten-Lehre fahren zu lassen und eine dritte Sphäre der Vermittlung zu postulieren: denn auch sie wird, wie gesagt, entweder mit den beiden anderen vermittelt sein (was das Problem nur verschöbe) oder in ihrer Selbständigkeit als dritte Welt wieder zugunsten einer der beiden anderen relativiert werden müssen.[8]
2. Die Frage nach dem Endlichen und Unendlichen bei Hegel
2a) Vorklärungen und Reformulierung der Fragestellung
Wie gezeigt wurde, scheint die Statik der Begriffe in den verschiedenen Ansätzen das größte Problem zu sein. Aber ist sie nicht erforderlich, um in der Rede über sie eine Referenzstabilität aufrecht zu erhalten? Auch für sie gilt doch der Satz der Identität, nach dem jeder Gegenstand, egal ob abstrakt oder konkret, mit sich identisch ist.
Letztere Behauptung – als logisches Axiom seit der Antike anerkannt – wird von Hegel zurückgewiesen, allerdings würde er auch eine gegenteilige Aussage nicht akzeptieren. Vittorio Hösle stellt in seinem Werk „Hegels System“ sehr anschaulich dar, daß Hegel die aus dem Satz der Identität ableitbare Fassung des Widerspruchsprinzips zwar in einer (bestimmten) argumentationslogischen, aber in keiner ontologischer Fassung teilt. Auch Hegel zufolge sind Sätze falsch, die ihren Voraussetzungen, aufgrund derer sie getroffen wurden, unmittelbar in der Form „A&(ØA)“ widersprechen; aber, so Hösle weiter, das Widerspruchsprinzip im argumentationslogischen Sinne schließt eine Interpretation der Kopula „und“ nicht aus, nach der die beiden Teilsätze unverbunden falsch sind und erst durch ihre Verbindung wahr werden, eine Interpretation, die durchaus nicht unberechtigt ist, wie im Folgenden noch gezeigt werden soll.[9] – Was die ontologische Variante des Widerspruchsprinzips betrifft, so ist es Hösle zufolge durchaus zurückzuweisen: Sätze der Form „A&(ØA)“ seien nur dann sinnvoll, wenn sie auf bestimmte Gegenstände, z.B. Theorien, auch anwendbar sind, „d.h. es muß Theorien geben, die falsch sind, weil sie sich widersprechen.“[10]
[...]
[1] Besonders deutlich wird dies bei Hegels Betrachtung der „verständigen“ Frage nach der Verendlichung des Unendlichen. (Hegel, G.W.F.: Wissenschaft der Logik I. Frankfurt/Main 2000, S. 170f. – im folgenden „L“)
[2] „Wenn vom Denken die Rede ist, so muß man das endliche, bloß verständige Denken vom unendlichen, vernünftigen unterscheiden. Die Denkbestimmungen, so wie sie sich unmittelbar, vereinzelt vorfinden, sind endliche Bestimmungen. Das Wahre aber ist das in sich Unendliche, welches durch Endliches sich nicht ausdrücken und zum Bewusstsein bringen läßt.“ (ders.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I. Frankfurt/Main 1999, S. 94f. – im folgenden „EZ“)
[3] Es sei hinsichtlich des Absoluten nur erinnert an den Weg von Platons Idee des Guten über die Gottesvorstellungen in der Scholastik bis hin zu Fichtes Supremat des subjektiven Geistes. – Auf die einzelnen Vorstellungen en detail einzugehen wird dennoch unnötig sein, denn ihre Gemeinsamkeiten sind freilich hinsichtlich der notwendigen Bedingungen für den Begriff vom Absoluten selbst wesentlich stärker ausgeprägt als ihre Differenzen – wäre dies nicht so, so wäre nicht klar, daß es in allen um denselben Begriff geht.
[4] Dies gilt natürlich nur unter der Voraussetzung, daß man von einem Begründungs regreß ausgeht; denkbar wäre auch, die Letztbegründung als „Erstes Wissen“ zu klassifizieren und zu verlangen, daß alle weiteren Propositionen aus diesem heraus deduzierbar sein müssen. Allerdings wäre dann erstens der Rahmen des prinzipiell Wißbaren sehr eingeengt, da es sich hierbei nur um Wissen a priori handeln könnte, und zweitens beginnt ein Begründungsvorgang, in welche Richtung auch immer, natürlich immer in konkreten Situationen, in denen mit einer Begründung die Voraussetzungen bestimmter Sachverhalte geliefert werden sollen. Deshalb scheint das Verständnis von Begründungsvorgang im regressiven Sinne gerechtfertigt.
[5] Selbst wenn der Begriff des Seins hier affirmativer gefasst wird als im alltäglichen Sprachgebrauch und z.B. den endlichen Dingen kein Sein zugesprochen wird, weil sie etwa nur Erscheinungen seien, so kommt doch diesen eben als Erscheinungen oder gar Täuschungen wenigstens irgendeine Art des Bestehens zu. Dies dürfte allein deshalb schon schwer zu bezweifeln sein, da ja für Täuschungen, da sie im Gegensatz zum Absoluten vermittelt, abgeleitet sind, ebenso gute Gründe anführbar sein müssen wie für die Erkenntnis von Wahrheit (das Theodizee-Problem ist eigentlich eine einzige Beschäftigung mit diesem Sachverhalt, wenn man etwa moralisches Fehlverhalten unter Rekurs auf den christlichen Wahrheitsbegriff als Täuschung oder Irrtum versteht). Die Erscheinung als eine solche (und eben nicht als Wahrheit) identifizieren zu können setzt also in jedem Fall zumindest bestimmte Diskriminationsfähigkeit voraus, also die Befähigung, Täuschungen als Vermitteltes erklären zu können.
[6] Das Aufzeigen immanenter Widersprüchlichkeiten hätte genauso gut am Beispiel einer relativistischen Position durchgeführt werden können. In der Tat sind Art und Schwere der Widersprüche bei beiden symmetrisch, obwohl eine relativistische Position, im Vergleich zu einer absoluten, ihr Gegenstück überhaupt nicht als existent postulieren muß: ein Relativist glaubt, ohne die Annahme einer absoluten Instanz auskommen zu können, während absolute Positionen die Empirie in ihrem Sein als solche zwar anerkennt, aber ihre Bedeutung für nichtig erklären. Deshalb schien mir eine Diskussion einer absoluten Position fruchtbarer zu sein, zumal die Selbstwidersprüchlichkeit einer relativistischen Position meines Erachtens viel deutlicher ist.
[7] Beispiel entnommen aus: dtv-Atlas Philosophie, München 1999. - Interessant in diesem Kontext wäre auch eine Diskussion des Schematismus-Kapitels aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“, obwohl es dabei nicht um die Vermittlung von Absolutem und Kontingentem geht: verdeutlicht wird dort einmal mehr, in welche unauflösbaren Schwierigkeiten Positionen geraten, die die immanente Vermittlung ihrer Begriffe mit- und untereinander nicht berücksichtigen und stattdessen jene oben erwähnte „dritte Welt“ der Vermittlung zwischen die Sphären von Subjektivität und Objektivität schalten.
[8] Hegel unternimmt eine ähnliche Diskussion verschiedener Varianten der Vermittlung zwischen Unendlichem und Endlichem. (L, 166ff. – Anmerkung 1)
[9] Hösle, V.: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. Hamburg 1998, S. 156ff. - im folgenden „HS“
[10] HS, S. 160. Man könnte das Widerspruchsprinzip natürlich auch als Ausschlusskriterium für Sätzen der Form “A&(ØA)“ aus rationalen Diskursen betrachten; allerdings ergäbe sich hier derselbe Sachverhalt, denn das Verbot wäre nur dann sinnvoll begründbar, wenn auf vorhandene oder mögliche Theorien und ihre fatalen Ergebnisse verwiesen werden könnte, in denen solche Sätze eine Rolle spielen. Die Behauptung, Widersprüche gäbe es nicht, ist übrigens ohnehin schlichtweg falsch – man betrachte nur die vielen bisher aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit widerlegten Theorien oder, besser noch, Paradoxa. – Die weiteren Bestimmungen des Widerspruchs bei Hegel werden im folgenden noch thematisiert werden.
- Quote paper
- Frank Lachmann (Author), 2003, Die Frage nach dem Absoluten und dem Kontingenten vor dem Hintergrund der Logik Hegels, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37779
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