Diese Arbeit widmet sich diesem Segment der Jugendlichen, für welches der Schritt allzu oft ins Leere führt.
Im ersten Kapitel soll diese Nahtstelle zwischen Schule und Beruf etwas näher beleuchtet werden. Zahlen und Fakten zur Problematik der gefährdeten Jugendlichen sind hier aufgeführt, ebenso Hinweise auf Studien, die sich mit dieser Thematik beschäftigen. Tickt hier eine soziale Zeitbombe? Das zweite Kapitel widmet sich der Methodik und den Erfolgsfaktoren, welche ein erfolgreiches Passieren der Nahtstellen in den Beruf begünstigen.
Mit dem Versuch eines Erklärungsmodells wird eine systemische Sichtweise eingebracht. Diese führt weg von Einzelfaktoren, die mehr oder weniger direkt mit einer Wirkung auf die Zielgruppe verknüpft sind hin zu einer umfassenderen Betrachtung. Die Aussagen aus den Interviews sind geordnet nach der im Inhaltsverzeichnis bezeichneten Struktur. Diese lehnt sich an die wichtigsten Felder an, denen positive wie auch negative Wirkfaktoren zugeordnet werden können.
Der Schritt von der Volksschule in die Berufsbildung wird für ein wachsendes Segment von Jugendlichen zum Schritt ins Leere. Schülerinnen und Schüler schaffen es zunehmend weniger, aus der behüteten Situation der Volksschule, wo die Wege vorgezeichnet sind, herauszutreten, selbständig weitreichende Entscheidungen für ihre Zukunft zu treffen und direkt eine Ausbildung zu beginnen, die zu einem Sek II Abschluss führt.
Schwierigkeiten gibt es zuhauf: Die kritische Entscheidung, welchen Berufsweg ein Jugendlicher einschlagen möchte, fällt in eine Phase der pubertären Entwicklung, die dadurch geprägt ist das eigene Leben möglichst schillernd in Facebook zu inszenieren, Grenzen auszuloten und gut gemeinte Ratschläge von Erwachsenen in den Wind zu schlagen.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Die Nahtstelle Schule-Beruf
S. - ein Fallbeispiel
Das Fallbeispiel M.
Ziele
Definitionen
Fakten und Zahlen
Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben TREE
Ausfallrisiko im zeitlichen Verlauf der beruflichen Entwicklung
Attestausbildungen
Fazit
Praxisorientierung
Vorgehen, Methodik
Erfolgsfaktoren
Welche Faktoren sind besonders bedeutsam?
Beziehung
Gute Umgangsformen
Hohes berufliches Anforderungsniveau
Globale Perspektive – Sichtweise gefährdeter Jugendlicher
Der Versuch eines Erklärungsmodells
Vielfältige Einflusssysteme
Jugend – Leben im sozialen Ghetto
Soziale Systeme
Kommunikation auf übergeordnetem Level: Kommunikationsmuster beeinflussen
Schule und Schule-Peers-Sozialsystem
Berufsbezogene soziale Systeme
Aussagen aus den Interviews
Einführung
Orientierung – Codes
Person – Ressourcen
Person – Selbstwert, Selbstwirksamkeitserwartung
Person – betriebskompatible Eigenschaften
Person – Schulleistungen, Leistungsvermögen
Umfeld – Familie
Umfeld
Berufsfachschule – Angebot, Unterstützung
Aussagen zur Volksschule
Ausbildungsbetrieb – Betriebseigenheiten und Passung
Ausbildungsbetrieb – Passung Lernender – Lehrstelle
Ausbildungsbetrieb – Praktika
Ausbildungsbetrieb – vielversprechende Ansätze
Ausbildungsbetrieb – Anforderungen
Ausbildungsbetrieb - Ungenügende Ausbildungsqualität
Beratung
Beratung - Bedürfnis
Beratung – Aufgleisen
Beratung – Vorgehensweise
Beratung – weiterlaufend
Vernetzung - Zusammenarbeit
Berufsstrukturen, Entwicklungen
Berufsstrukturen, Entwicklungen - Attestausbildung
Berufsstrukturen, Entwicklungen – Zukünftiger Arbeitsmarkt
Berufsstrukturen – Entwicklungen Trends
Berufsstrukturen – Entwicklungen Berufslehre – Schulische Ausbildung
Erklärungsmodelle – Erfahrungshorizont, veränderte Gewohnheiten
Erklärungsmodelle - Verhalten
Gespräche
Funktion: Geschäftsleiter rheinspringen
Funktion: Direktor Gewerbliche Berufsschule Chur
Funktion: Ressortleiter Attest / individuelle Betreuung Gewerbliche Berufsschule Chur
Funktion: Lernförderung, Hausaufgabenhilfe, Freikurse Gewerbliche Berufsschule Chur
Funktion: Berufsschullehrperson Attestausbildung Bäcker
Funktion: Sozialberatung KSD am Gewerblichen Berufsschulzentrum in St. Gallen
Funktion: Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung in Chur; Coaching
Funktion: Berufs- und Laufbahnberatung Graubünden, Chur
Funktion: Case Management Graubünden
Funktion: Mediations- und Beratunsstelle, Gewerbliche Berufsschule Chur
Funktion: Leiter Regionaler Sozialdienst Prättigau/Herrschaft/Fünf Dörfer
Funktion: Geschäftsführerin fit4job
Funktion: RAV Leiter
Funktion: Bühler AG, Lernender als Konstrukteur
Funktion: Bühler AG, Leiterin internationales Bildungsmanagement
Funktion: Bühler AG, Leiter Berufsbildung
Funktion: Bühler AG, Leiter Anlagen- und Apparatebau
Funktion: Bühler AG, Leiterin Kaufleute inkl. der überbetrieblichen Kurse
Funktion: Bühler AG, Lernender als Anlage- und Apparatebauer Sportlehre als Judoka
Funktion: Berufsbildungsfachfrau und Leiter Berufsbildung Genossenschaft Migros Ostschweiz (GMOS), Berufsbildung
Funktion: Leiter Haus- und Reinigungsdienst, Hochbauamt, Baudepartement SG
Funktion: Berufsbildner DH, Coop Pronto Shop
Funktion: Bildungsdepartement SG, Amt für Berufsbildung, Abteilung Schulische Bildung, Berufsfachschulberater
Funktion: Forstwartlehrling Gewerbliche Berufsschule Chur
Funktion: Forstwartlehrling Gewerbliche Berufsschule Chur
Funktion: EBA Holzbearbeiter, Zimmermann; Gewerbliche Berufsschule Chur
Funktion: EBA Holzbearbeiter, Zimmermann; Gewerbliche Berufsschule Chur
Funktion: Lernende Attestausbildung Bäcker (2)
Funktion: Lernender Attestausbildung Bäcker
Funktion: Lernender Attestausbildung Bäcker
Funktion: Lernende Attestausbildung Bäcker (2)
Funktion: Lernende Attestausbildung Bäcker (2)
Funktion: Lernende Fachfrau Betreuung Kinder
Fallbeispiele aus einem Brückenangebot (Coaching)
Fall Ardita
Fall Monica
Fall Sebastian
Fall Alina
Fall Alma
Fall Fatim
Fall Lara
Fall Sandro
Fall Sanja
Fall Simona
Fall Valeria
Fall Nadja
Fall Tina
Schlussfolgerungen
Schlussfolgerungen
Anhang
Literaturangaben
Thesenpapier
Vorwort
Der Schritt von der Volksschule in die Berufsbildung wird für ein wachsendes Segment von Jugendlichen zum Schritt ins Leere. Schülerinnen und Schüler schaffen es zunehmend weniger, aus der behüteten Situation der Volksschule, wo die Wege vorgezeichnet sind, herauszutreten, selbständig weitreichende Entscheidungen für ihre Zukunft zu treffen und direkt eine Ausbildung zu beginnen, die zu einem Sek II Abschluss führt.
Schwierigkeiten gibt es zuhauf: Die kritische Entscheidung, welchen Berufsweg ein Jugendlicher einschlagen möchte, fällt in eine Phase der pubertären Entwicklung, die dadurch geprägt ist das eigene Leben möglichst schillernd in Facebook zu inszenieren, Grenzen auszuloten und gutgemeinte Ratschläge von Erwachsenen in den Wind zu schlagen.
Diese Arbeit widmet sich diesem Segment der Jugendlichen, für welches der Schritt allzu oft ins Leere führt.
Im ersten Kapitel soll diese Nahtstelle zwischen Schule und Beruf etwas näher beleuchtet werden. Zahlen und Fakten zur Problematik der gefährdeten Jugendlichen sind hier aufgeführt, ebenso Hinweise auf Studien, die sich mit dieser Thematik beschäftigen. Tickt hier eine soziale Zeitbombe?
Das zweite Kapitel widmet sich der Methodik und den Erfolgsfaktoren, welche ein erfolgreiches Passieren der Nahtstellen in den Beruf begünstigen.
Mit dem Versuch eines Erklärungsmodells wird eine systemische Sichtweise eingebracht. Diese führt weg von Einzelfaktoren, die mehr oder weniger direkt mit einer Wirkung auf die Zielgruppe verknüpft sind hin zu einer umfassenderen Betrachtung.
Die Aussagen aus den Interviews sind geordnet nach der im Inhaltsverzeichnis bezeichneten Struktur. Diese lehnt sich an die wichtigsten Felder an, denen positive wie auch negative Wirkfaktoren zugeordnet werden können.
Unter «Gespräche» sind die Interviews, das eigentliche Herzstück der Arbeit, aufgeführt.
An dieser Stelle möchte ich allen Personen, die sich für die Interviews zur Verfügung gestellt haben, herzlich danken. Ohne sie wäre die vorliegende Arbeit nicht möglich gewesen.
Alfred Cajacob
Die Nahtstelle Schule-Beruf
S. - ein Fallbeispiel
S. kommt aus Mazedonien, sie ist eine eher schüchterne Person. Fast die gesamte Volksschule hat sie in der Schweiz besucht, spricht aber noch immer ein sehr einfaches, stark akzentbehaftetes Deutsch. In der Oberstufe besuchte sie die Realschule, also das Niveau mit grundlegenden Anforderungen. Sich selbst bezeichnet S. als mittelmässige Schülerin, vor allem Mathe würde ihr Probleme bereiten. Ihr Berufswunsch ist eine Arbeit im Verkauf und sie hat parallel zum Brückenangebot Vorlehre im Kanton SG eine Praktikumsstelle gefunden, in einer kleinen Quartierfiliale eines der grossen Lebensmittelverteilers. S. besucht als zusätzliches Unterstützungsangebot das Coaching des Brückenangebots. Im Praktikum läuft es ihr nicht besonders gut. Sie sei zu langsam, mache zu viele Fehler an der Kasse und werde als verschlossen von ihrer Vorgesetzten wahrgenommen. S. würde aber auch gerne als Kosmetikerin und Coiffeuse schnuppern gehen, diese Berufe hätten es ihr ebenfalls angetan.
Fälle wie S. sind ganz typisch für die Klientel eines Brückenangebotes. S. hat keine Lehrstelle gefunden im direkten Anschluss an die Volksschule, aber sie hat konkrete Vorstellungen von ihrem zukünftigen Beruf (Detailhandel) und verfügt gar über Alternativen (Kosmetikerin und Coiffeuse). Wie geeignet ist S. für diese Berufe? – Möglicherweise überschätzt sie ihre Marktchancen als mittelmässige Schülerin und ihre Wunschberufe verlangen nach Offenheit und rascher Kontaktaufnahme, was der Eigenschaft „schüchtern“ diametral entgegensteht. Immerhin hat sie ein Praktikum bekommen, wo sie die Chance auf eine anschliessende Lehrstelle hätte, nur spricht die Einschätzung ihrer Vorgesetzten dagegen.
S. wird ein gutes halbes Jahr später die Lehrstelle bekommen. Sie wird gelernt haben, berechtigte Kritik ihrer Vorgesetzten richtig einzuordnen, ohne dass deswegen ihr Selbstwertgefühl beeinträchtigt wird, sie wird angelieferte Paletten behende in die Gestelle einräumen und dabei ein freundliches Gesicht machen, sie wird ihre Fehlerquote an der Kasse drastisch reduziert haben und es gelingt ihr zunehmend, selbstbewusst ihre Arbeit zu erledigen und Verantwortung zu übernehmen.
Das Fallbeispiel mag einige der Schwierigkeiten an der Nahtstelle Schule-Beruf aufzeigen. Die junge Frau bringt einige günstige Ressourcen mit, und ist dadurch besser als manch andere Schulabgänger gestellt, und trotzdem scheint es anfangs nicht zu reichen für eine Lehrstelle. Erst als es gelingt, bei ihr Veränderungen anzustossen, verbessern sich ihre Karten. Bei ihr, wie beim grössten Teil der Besucher, hat sich ein Brückenangebot als Bindeglied zur Sek II Stufe gelohnt, wenn sie dadurch ihre Arbeitsmarkttauglichkeit verbessern und in der Lehrausbildung Fuss fassen konnte. – Das Beispiel zeigt aber auch, dass es anders hätte ausgehen können, dass die Linie zwischen Erfolg und Misserfolg dünn ist. Anlass zu Sorge gibt zum einen der Umstand, dass der Zulauf zu Brückenangeboten stabil auf hohem Niveau bleibt, während die Situation auf dem Lehrstellenmarkt sich deutlich entspannt hat und zum andern, dass innerhalb der Besucher von Brückenangeboten das Segment anwächst, dem der Schritt in eine Berufslehre nicht gelingt, oder das Brückenangebot abbricht.
Das Fallbeispiel M.
M. ist vor zweieinhalb Jahren zusammen mit seiner Mutter von Portugal in die Schweiz gezogen, wo der Vater schon länger arbeitete. Nach einem Jahr Integrationskurs besucht M das Brückenangebot Vorlehre in St. Gallen in einer Regelklasse. Das heisst, mit vier anderen Fremdsprachigen ist er zusammen in einer Klasse mit Kameraden, welche hierzulande die Volksschule besucht haben. Diese Konstellation ist fordernd und ein Ansporn, das Deutsch auf einen Level zu bringen, welcher den Besuch einer Berufsfachschule ermöglicht. – M. verhält sich unauffällig im Klassengefüge. Die Hausaufgaben fehlen fast immer, von zusätzlichen Angeboten in Deutsch und Mathematik macht er keinen Gebrauch, zu Prüfungen erscheint er unvorbereitet. Im Gespräch wird ihm von seinem Klassenlehrer aufgezeigt, dass er vom Brückenangebot kaum einen Nutzen habe, wenn er nicht bereit sei, aktiv an seinem Deutsch zu arbeiten. Der Kontakt zur Familie wird über seine ältere Schwester hergestellt, welche als Dolmetscherin fungiert. Sie erzählt, dass M. seinem Beziehungsgefüge von Portugal nachtrauere und zuhause oft einen bedrückten Eindruck mache. Die schulischen Leistungen bleiben auch nach weiteren Gesprächen bescheiden, hinzu kommt eine Häufung von Absenzen.
Bei M. hätte Deutsch zu lernen erste Priorität um in den Arbeitsmarkt eintreten zu können, was nicht zu gelingen scheint, weil er, seinem Beziehungsnetzwerk in Portugal entrissen, die Motivation dazu nicht aufzubringen vermag. Er wird den Übergang in eine Sek II Ausbildung im Anschluss ans Brückenjahr nicht schaffen.
Auf die Frage, warum es Jugendlichen nicht gelingt, eine Ausbildungsstelle zu bekommen, ist eine Antwort schnell zur Hand: Mangelnde Sprachkenntnisse, schlechte Zeugnisse, vor allem in der Kombination mit einer tieferwertigen Schulstufe wie Kleinklasse, Verhaltensauffälligkeiten, Mängel in arbeitsmarkttauglichen Tugenden wie Pünktlichkeit oder Zuverlässigkeit, wenig Selbstdisziplin, kaum Unterstützung aus dem Umfeld, etc. Die Liste der Defizite liesse sich noch lange fortsetzen. Die aufgezählten Faktoren entfalten ihre Wirkung im wechselseitigen Zusammenspiel, was erst den lähmenden Gesamteffekt auf den Jugendlichen verständlich macht. – Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird der Ansatz verfolgt, anstelle von Defiziten Stärken oder Ressourcen der Jugendlichen zu betrachten, diese zu erkennen und nach Wegen zu suchen, diese zu fördern.
Ziele
Die Ziele der Arbeit sind:
- Aufmerksamkeit und Verständnis für das Segment der „gefährdeten“ Jugendlichen
- Bewusstsein schärfen für eine sich in Zukunft verschärfende Problematik
- „Originalton“ vermitteln, ungefilterte Aussagen der Befragten einbauen
- Einblicke in die Praxis, wie mit „gefährdeten“ Jugendlichen gearbeitet wird
- Mögliche Lösungsansätze aufzeigen
Aufmerksamkeit und Verständnis für das Segment der „gefährdeten“ Jugendlichen Die Problematik der gefährdeten Jugendlichen äussert sich nicht lauthals. Jugendliche, die nach der Volksschule untertauchen, bleiben in der öffentlichen Wahrnehmung unbeachtet. Delinquenz, exzessiver Alkoholkonsum beispielsweise werden kaum in einen Zusammenhang mit der Nahtstelle Schule-Beruf gesetzt. Das Zusammenwirken von Faktoren, die den Übergang in die Berufswelt erleichtern, bzw. ermöglichen, ist komplex. Hinzu kommt, dass keine Stelle für die Übergänge in der Berufswelt verantwortlich ist. Mit anderen Worten: Der Jugendliche mag gewohnt sein, dass die Übergänge in der Volksschule, auch die eingebauten Selektionshürden, von der Schule selbst geleitet werden. Nun findet er sich unversehens in einem „Niemandsland“, in welchem weder die Volksschule noch die Ausbildungsbetriebe, noch die Berufsfachschule ihn durch den Übergang führt. Der Jugendliche selbst trägt die Verantwortung für den Selektionsprozess, dem er sich unterziehen muss, unterstützt wohl von seinem Umfeld.
Ein weiterer Aspekt ist die Flüchtlingsdebatte, die in den letzten Monaten in den Medien hohe Präsenz genoss. Jugendliche Flüchtlinge, die in den Arbeitsmarkt integriert werden sollen, sind ebenfalls zur Gruppe der gefährdeten Jugendlichen zu zählen. Werden sie aber gesondert wahrgenommen, ist die Gefahr gross, dass die gefährdeten Jugendlichen ohne Sprachprobleme oder mit einem „normalen“ Migrationshintergrund aus der Betrachtung fallen. Auf dem Arbeitsmarkt treffen alle aus dem Segment der gefährdeten Jugendlichen aufeinander in Konkurrenz um die Arbeitsplätze im niederschwelligen Bereich. Daher sei das gesamte Segment in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken.
Bewusstsein schaffen für eine sich in Zukunft verschärfende Problematik Haben wir es bei der Problematik der gefährdeten Jugendlichen mit einer tickenden sozialen Bombe zu tun? – Einiges spricht dafür. Die berufliche Arbeit ist wohl einer der stärksten gesellschaftsformenden Faktoren. Das Selbstwertgefühl des Einzelnen und davon abhängig sein psychisches und physisches Wohlbefinden sind mit der Integration in die Berufswelt eng verknüpft.
Zukunftsforscher und Prognostiker sind übereinstimmend der Ansicht, dass sich die heutige Tendenz im zukünftigen Arbeitsmarkt fortsetzen wird, niederschwellige Jobs auszulagern oder wegzurationalisieren. Nach Aussagen der Statistiker wird die Anzahl der Schulabgänger in den nächsten Jahren steigen, was den Druck auf den Lehrstellenmarkt erhöhen dürfte.
„Originalton“ vermitteln, ungefilterte Aussagen der Befragten einbauen Die Gespräche decken ein breites Spektrum von Personen und Funktionen ab, die mit „gefährdeten“ Jugendlichen zu tun haben. Deren Stimmen soll möglichst unverfälscht widergegeben werden, da sie immer auch eine spezifische Perspektive mit abbilden.
Einblicke in die Praxis, wie mit „gefährdeten“ Jugendlichen gearbeitet wird Wie arbeitet man in der Praxis mit „gefährdeten“ Jugendlichen? – Besuche und Interviews bei Institutionen, Betrieben und unterstützenden Stellen sollen Einblicke ermöglichen. Dabei wird es sich nur um einen engen Ausschnitt handeln können, also keine Gesamtschau der Praxis. Mit einfliessen soll die Arbeit des Verfassers in einem Brückenangebot des Kantons SG.
Mögliche Lösungsansätze aufzeigen Welche Ansätze führen dazu, dass Jugendliche den Schritt in die Berufswelt schliesslich doch schaffen? Gibt es Argumente von Seiten der Interviewpartner, die Hinweise auf Lösungsansätze liefern? In diesem Teilziel sollen Lösungsansätze aufgeführt werden, die auf unterschiedlichen Ebenen greifen, beispielsweise auf der strukturellen Ebene oder auf der persönlichen Ebene eines Lernenden. Mit ein Ziel ist es, Hinweisen nachzugehen, die zu Verbesserungen der Arbeit mit gefährdeten Jugendlichen führen.
Definitionen
Den Schritt in die Berufswelt gleichsetzen mit einem abgeschlossenen Lehrvertrag, würde zu kurz greifen. Während der Lehrausbildung kommt es zu Lehrvertragsauflösungen, die Lehrabschlussprüfung ist ein weiterer Stolperstein und nicht zuletzt ist der Schritt in die Berufswelt gelungen, wenn der Jugendliche nach der Lehre in seinem Beruf Arbeit findet. So macht es Sinn den Erfolg in der Berufsausbildung in Anlehnung an die Studie von Häfeli und Schellenberg "Erfolgsfaktoren in der Berufsbildung bei gefährdeten Jugendlichen - Studien und Berichte 29A". Bern, 2009, zu definieren:
1. Finden eines Ausbildungsplatzes
2. Durchhalten in der Lehre
3. Erfolgreicher Ausbildungsabschluss
4. Erfolgreiche berufliche Integration im Berufsumfeld
Dieselbe Studie arbeitet mit dem Begriff «gefährdete» Jugendliche, den ich hier ebenso verwenden möchte. Dieser Begriff ist angelehnt an die angelsächsische Fachliteratur, wo sich der Begriff «youth at risk» eingebürgert hat. „Risk“ bezieht sich auf Faktoren der Person oder Umwelt, welche die
Entwicklung eines jungen Menschen hin zu einer selbständigen und stabilen Identität gefährden. Häfeli/ (2009, 12)
Fakten und Zahlen
Die Abschlussquote auf der Sekundarstufe II wird als wichtiger Indikator bezeichnet, weil ein Abschluss auf der Sekundarstufe II als minimale Voraussetzung zum Eintritt in die Arbeitswelt betrachtet wird. In der Zeitreihe bewegt sich der Indikator so um 90%, in der letzten Datenreihen von 2012 springt er auf fast 95%, wobei dieser Anstieg ausschliesslich durch die berufliche Grundbildung erzeugt wird.
Tabelle 1; Quelle Bundesamt für Statistik, 2016
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2; Quelle Bundesamt für Statistik
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Tabelle 2 zeigt den Anteil der „Dropouts“, also der Personen, die keinen Sek II Abschluss vorweisen können. Erfreulich dabei: Der Trend zeigt nach unten und erreicht im Jahr 2015 mit knapp 6% den Tiefststand. Die Frage, die sich stellt, ist: Sind die 6% Jugendlichen ohne Berufsabschluss eine akzeptable Grösse, oder soll versucht werden, diesen Wert weiter zu senken? – Keine Aussage lässt diese Tabelle zu, wenn die Frage aufgeworfen wird, wie viele Personen von diesen 6% im Jahr 2015 oder 10% im Jahr 2005 sich in einem geregelten Arbeitsverhältnis befinden. Vor dem Hintergrund einer generellen Zunahme des Qualifikationsniveaus der Bevölkerung der Schweiz liegt die Vermutung nahe, dass dieser Wert immer noch zu hoch ist.
Tabelle 3: Quelle Bundesamt für Statistik
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Grafik zeigt, dass in den nächsten Jahren nach dem Referenzszenario die Verteilung der Schüler auf die Berufliche Grundbildung, Allgemeinbildende Ausbildungen und Übergangsausbildungen (Brückenangebote) ungefähr gleich bleiben werden. Hingegen hat die Berufliche Grundbildung deutlich an Zuspruch verloren, von 60% im Jahre 1990 pendelt sich der Wert nun bei unter 45% ein. Anzumerken ist, dass nebst dem Referenzszenario das BFS auch ein hohes und tiefes Szenario berechnen.
Tabelle 4; Grafik Cajacob, Quelle Zahlen: BFS
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 5: Grafik Cajacob, Quelle Zahlen: BFS
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zu beachten ist, dass beide Grafiken auf Zahlen des Bundesamtes für Statistik beruhen. Bis 2014 entsprechen sie den Beobachtungen, bilden also die effektiven Zahlen ab. Danach entsprechen sie den Voraussagen des Referenzszenarios.
Die regionale Entwicklung in der Ostschweiz weicht von der gesamtschweizerischen ab. Während in der Schweiz von 2008 – 2016 die Zahl der Lernenden im ersten Lehrjahr etwa konstant auf rund 120000 bleibt, steigt sie in den Folgejahren an. In der Ostschweiz ist 2008 ein Höchstwert zu verzeichnen, danach sinkt die Zahl der Lernenden im ersten Lehrjahr bis ins Jahr 2022, erst dann beginnt wieder ein Wachstum.
In absoluten Zahlen: Der Peak im Jahr 2008 in der Ostschweiz beträgt 11800 in der Beruflichen Grundbildung, in den Übergangsausbildungen 2270 im Jahr 2007. Im Jahr 2014 10800 in der Beruflichen Grundbildung, in den Übergangsausbildungen 1600. Gegen Ende des Prognosezeitraumes (2024) 10000 in der Beruflichen Grundbildung, in den Übergangsausbildungen 1500.
Gesamtschweizerisch werden ab 2020 mehr Lehrstellensuchende erwartet, was aber in Beziehung zum Lehrstellenangebot gesetzt werden muss. Allein wegen mehr Lehrstellensuchenden muss der Lehrstellenmarkt nicht angespannter sein. Die Schaffung von Lehrstellen korreliert bekanntlich mit dem erwarteten Wirtschaftswachstum, das sich anders als die Demografie entwickeln kann.
Transitionen von der Erstausbildung ins Erwerbsleben TREE
TREE ist eine Längsschnittuntersuchung, die den Übergang Jugendlicher von der Schule ins Erwachsenenleben untersucht. (Quelle: Bertschy, Kathrin; Böni, Edi; Meyer, Thomas. "An der Zweiten Schwelle: Junge Menschen im Übergang) [=176-Bertschy (2007)=]
Zwischen Ausbildung und Arbeitsmarkt. - Ergebnisübersicht des Jugendlängsschnitts TREE, Update 2007.". 2007.Die TREE-Stichprobe umfasst rund 6000 Jugendliche, die im Jahr 2000 an der PISA-Befragung teilnahmen. Die damals durchschnittlich 16jährigen Jugendlichen wurden in weiteren 7 Wellen befragt, in der letzten waren die Jugendlichen mittlerweile 23 Jahre alt geworden. Der siebenjährige Untersuchungszeitraum macht diese Studie besonders interessant, und es darf davon ausgegangen werden, dass die Resultate auch heute noch weitgehend ihre Gültigkeit behalten haben.
6 Jahre nach dem Schulaustritt sind 10% der Kohorte nicht oder nicht mehr in Ausbildung und ohne zertifizierenden Abschluss. Die Kenngrösse 10% korrespondiert gut mit der Abschlussquote des Bundesamtes für Statistik für das Jahr 2000. Die neuere Entwicklung legt nahe, dass diese Zahl heutzutage wohl tiefer liegen würde. Vergleiche dazu die Tabelle 1 „Abschlussquote“. Viel wichtiger sind aber die Aussagen von TREE als Längsschnittstudie, wenn die Kohorte, die nicht mehr in Ausbildung und ohne zertifiziertem Abschluss ist, in Beziehung zu anderen erfassten Merkmalen gesetzt wird. Sprachkenntnisse zum Beispiel. Als Indikator ist die Lesekompetenz gemäss PISA geprüft worden. Dabei zeigte es sich, dass Jugendliche mit schwachen Lesekompetenzen dreimal häufiger in besagter Kohorte vertreten sind als solche mit guten Lesekompetenzen.
Ebenso ist ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem besuchten Ausbildungstyp der Volksschule und späterer Ausbildungslosigkeit festzustellen. Ehemalige Realschüler (bzw. Schultyp mit Grundanforderungen) sind doppelt so häufig vertreten wie Sekundarschüler.
Stark ins Gewicht fällt die soziale Herkunft. Das Risiko, ausbildungslos zu bleiben, ist beim bestgestellten Drittel der Bevölkerung fast viermal kleiner als beim sozial schwächstgestellten Drittel. Ebenfalls schlägt sich der Migrationshintergrund in den Zahlen durch. Wessen Vater auf dem Balkan, in der Türkei oder in Portugal geboren worden ist, ist dreimal häufiger ausbildungslos, als Jugendliche, deren Vater in der Schweiz geboren ist.
Eines der grössten Risiken, ohne Ausbildung zu bleiben, tragen Jugendliche, die nach der obligatorischen Schulzeit keine Anschlusslösung gefunden haben. Rund die Hälfte von ihnen haben auch sechs Jahre nach Schulaustritt keine Ausbildung. Wer nach der Volksschule keine Lehrstelle hat und ein Brückenangebot besucht, läuft dreimal weniger Gefahr, ausbildungslos zu bleiben als die Jugendlichen der Gruppe ohne Anschlusslösung.
Ein ähnliches Bild – aber mit umgekehrten Vorzeichen – zeigt sich beim Anteil der Jugendlichen, welche im Beobachtungszeitraum eine Ausbildung auf tertiärer Stufe begonnen haben. Die Hälfte der Gruppe, die bei PISA mit den höchsten Lesekompetenzen abgeschnitten hat, bildet sich auf der tertiären Stufe weiter, sechsmal mehr als diejenigen mit der Kompetenzstufe 2. Von den ehemaligen Schülern des Schultyps mit erweiterten Anforderungen (Sekundarschule, Progymnasium), sind es zehnmal mehr als von den Schülern des Schultyps mit Grundanforderungen. Dreimal mehr Jugendliche finden sich auf der tertiären Stufe, deren Vater in der Schweiz geboren worden ist, dies im Gegensatz zu den Abkömmlingen, deren Vater aus dem Balkan, der Türkei oder Portugal stammt.
Über viermal grösser sind die Chancen, wenn die sozioökonomische Herkunft dem obersten Bevölkerungsdrittel entspringt als dem schwächsten Bevölkerungsdrittel.
Nach Sprachregionen gibt es nur geringfügige Unterschiede, was die tertiäre Ausbildung anbelangt. In scharfem Kontrast dazu ist die Ausbildungslosigkeit in der Romandie doppelt so hoch wie in der Deutschschweiz.
Stellt man die Frage nach der Erwerbstätigkeit, dann zeigt sich bei der untersuchten Kohorte sechs Jahre nach der obligatorischen Schulzeit ein deutlicher Unterschied zwischen denen mit einem Ausbildungsabschluss und denen ohne. Die Erwerbstätigenquote beträgt 90% gegenüber 76%. Zur Erläuterung: Die Erwerbstätigenquote sind die Personen der Kohorte, die hauptsächlich erwerbstätig und nicht (mehr) in einer Ausbildung sind dividiert durch die Personen, die nicht (mehr) in einer Ausbildung sind. Damit scheint sich der allgemeine Befund auch hier zu bestätigen, dass Personen mit zunehmendem Bildungsstand leichter in den Arbeitsmarkt zu integrieren sind.
Die Längsschnittstudie TREE zeigt deutlich auf, dass Jugendliche, die nach der obligatorischen Schulzeit nicht einer Sek II Ausbildung nachgehen, auch sechs Jahre später ein hohes Risiko haben, ausbildungslos zu bleiben und eine klar tiefere Erwerbsquote aufweisen. Kognitive Merkmale, hier als Indikator die Lesekompetenz nach PISA, die vorgängig besuchte Schulstufe, der sozioökonomische Status des Elternhauses und ein Migrationshintergrund erhöhen das Risiko, sich in der Gruppe der Ausbildungslosen zu finden. Die Resultate legen nahe, die „Dropouts“ nicht sich selbst zu überlassen, sondern zu begleiten und zu betreuen. Gefährdete Jugendliche würden kaum später eine tertiäre Ausbildung beginnen und sind im Erwerbsleben häufiger dem Risiko prekärer Arbeitsbedingungen wie Unterbeschäftigung, Befristung der Anstellung, Arbeit auf Abruf oder inadäquater Beschäftigung ausgesetzt.
Ausfallrisiko im zeitlichen Verlauf der beruflichen Entwicklung
Der erste Übergang, nämlich von der Volksschule in eine Berufsausbildung (oder schulische Weiterbildung auf Stufe Sek II), findet weit mehr Beachtung als die nachfolgenden Übergänge. Zur Erinnerung: Als Erfolgsfaktoren in der Berufsbildung bezeichnen wir:
1. Finden eines Ausbildungsplatzes
2. Durchhalten in der Lehre
3. Erfolgreicher Ausbildungsabschluss
4. Erfolgreiche berufliche Integration im Berufsumfeld
Nach Schätzungen der Metastudie von Häfeli und Schellenberg Häfeli/ (2009, 117) gehen 3-4% eines Jahrgangs bei der ersten Schwelle „verloren“, 4-5% fallen nach einer Lehrvertragsauslösung aus dem System und 2-3% schaffen die Lehrabschlussprüfung auch in mehreren Anläufen nicht.
Attestausbildungen
Im Berufsbildungsgesetz vom 13. Dezember 2002 sind die zweijährigen beruflichen Grundausbildungen, die Attestausbildungen, geregelt worden. Diese sollten die Anlehren ablösen und ein niederschwelliges Ausbildungsangebot sein, welches aber den Zugang zum Berufsbildungssystem mit all seinen Übergängen und Durchlässigkeiten ermöglicht. Die besondere Rücksicht für gefährdete Jugendliche wird deutlich in der Verordnung vom 9. April 2003, Art. 17 Abs.2: Die zweijährige Grundbildung vermittelt (…) spezifische und einfachere berufliche Qualifikationen. Sie trägt den individuellen Voraussetzungen der Lernenden mit einem besonders differenziertem Lernangebot und angepasster Didaktik Rechnung. – Und weiter: Ist der Bildungserfolg aus individuellen oder sozialen Gründen gefährdet, entscheidet die kantonale Behörde in Absprache mit der betroffenen Person, dem Lehrbetrieb und der Berufsfachschule über eine umfassende fachkundige individuelle Betreuung.
Mit dem Instrument der fachkundigen, individuellen Betreuung schaffte der Gesetzgeber ein Instrument, um gefährdete Jugendliche so zu unterstützen, dass ein erfolgreicher Abschluss für die allermeisten Auszubildenden ein erreichbares Ziel sein sollte.
Das Bundesamt für Statistik hat erstmals am 29.8.2016 Zahlen zu Lehrvertragsauflösungen bei Attestausbildungen veröffentlicht. – Und diese fielen ernüchternd aus!
Beobachtet wurde die Eintrittskohorte von 2012 bis Ende 2014. Bei 24% wurde eine Lehrvertragsauflösung festgestellt!
Listet man diese Zahl nach differenzierenden Faktoren auf, dann fallen vor allem die Unterschiede nach den Berufs- und Ausbildungsfeldern auf.
Tabelle 6: Lehrvertragsauflösungen (LVA) Attestausbildungen; Quelle BFS
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
30 – 40% Lehrvertragsauflösungen sind eindeutig zu hoch! Ziehen diese Branchen die „falschen“ Jugendlichen an, werden Anreize so gesetzt, dass sich auch Jugendlichen mit einer schlechten Passung zum Berufsbild melden? Sind die Anforderungen der Berufsverbände nicht auf „spezifische und einfachere berufliche Qualifikationen“ (gemäss Verordnung zum Berufsbildungsgesetz) geeignet adaptiert worden? Lässt die Ausbildungsqualität in den Betrieben zu wünschen übrig? Sind die Jugendlichen zu wenig betrieblich sozialisiert? – Diesen Fragen wird in späteren Kapiteln dieser Arbeit nachgegangen und auf sie werden auch von Lehrpersonen, Berufsberatern und anderen unterstützenden Personen in den Interviews eingegangen.
Fast die Hälfte der Jugendlichen, die von einer Lehrvertragsauflösung betroffen waren, sind aber auch wieder in eine Attestausbildung eingestiegen. Ein Teil der Jugendlichen löste den Lehrvertrag auf um in eine drei- oder vierjährige EFZ-Ausbildung zu wechseln. Diese nutzten die Durchlässigkeit des Systems und orientierten sich nach der höherschwelligen Ausbildung. Nach Tabelle 7 sind dies gut 20%. Zieht man diese von der globalen 24% Lehrvertragsauflösungsrate ab, sinkt sie auf rund 19%.
Tabelle 7: Lehrvertragsauflösungen (LVA) Attestausbildungen; Quelle BFS
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bei den erhobenen Zahlen zeigen sich deutliche Unterschiede nach Regionen. In der Genferseeregion ist die LVA-Quote doppelt so hoch wie in der Zentralschweiz. Siehe Tabelle 8.
Tabelle 8: Lehrvertragsauflösung nach Kanton; Quelle BFS
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 9: Qualifikationsverfahren Attestausbildung; Quelle BFS
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Tabelle 8 zeigt auf, wie viele Lernende das abschliessende Qualifikationsverfahren bestanden haben. Anzumerken ist, dass die 8.3%, welche noch nicht zum QV angetreten sind, dieses nach dem Beobachtungszeitraum abgeschlossen haben könnten. Somit ist anzunehmen, dass von der beobachteten Kohorte schlussendlich über 80% einen Abschluss vorweisen werden.
Fazit
Die Aufsplittung in Berufliche Grundbildung, Allgemeinbildende Ausbildungen und Übergangsausbildungen dürfte in den kommenden Jahren etwa gleich bleiben. Etwa 45% der Schulabgänger treten direkt in Berufliche Grundausbildungen ein und rund 12% in Übergangsausbildungen. Der Trend zu einer verzögerten Grundausbildung scheint sich fortzusetzen.
Schulabgänger ohne Anschlusslösung tragen ein hohes Risiko, ausbildungslos zu bleiben. Faktoren, welche Ausbildungslosigkeit begünstigen, sind: Kognitive Faktoren, Deutschkenntnisse (Lesefähigkeit); soziokultureller Hintergrund, insbesondere Migrationsverhältnisse und die soziale Herkunft.
Zahlen und Fakten zu Attestausbildungen zeigen ein durchzogenes Bild, ob dieses neu geschaffene Instrument bei der Gruppe der gefährdeten Jugendlichen den Erwartungen genügen kann. Allerdings zeigen diese Zahlen auch grosse Unterschiede nach Berufen und Regionen auf, was einen differenzierenden Blick erfordert.
Trotz erfreulicher Entwicklungen – die Abschlussquote hat sich deutlich nach oben verbessert – ist für das Segment der gefährdeten Jugendlichen keine Entwarnung angesagt. Nach den Prognosen über die demografische Entwicklung dürfte gesamtschweizerisch die Situation auf dem Lehrstellenmarkt angespannter werden, zudem lassen die aktuell hohen Zuströme von Migranten und Flüchtlingen die Anzahl der gefährdeten Jugendlichen wohl ansteigen. Die Herausforderungen in der beruflichen Integration dürften in den nächsten Jahren hoch bleiben.
Praxisorientierung
Der Leitspruch zum methodischen Vorgehen lautet: Von der Praxis für die Praxis. Dazu sollen Stimmen von Jugendlichen und aus deren Umfeld, z.B. Ausbildner, Berufsberater, etc., Gehör finden. Die Wahl der Methode fiel auf strukturierte Interviews und die Darstellung von Fallbeispielen aus der Coaching-Praxis.
Ausgangspunkt der Gespräche ist ein Thesenpapier, in welchem klare, knappe Statements festgehalten sind. Einerseits dient auch dies zur Straffung und Strukturierung der Arbeit, andererseits werden die Interviewten zu den einzelnen Thesen befragt. Die Thesen sind die Kristallisationspunkte im qualitativen Interview, sie können bestätigt oder verworfen werden, wichtiger aber noch, sie sollen mit eigenen Argumenten ergänzt werden. Die Thesen stellen ein Hilfskonstrukt dar, welche ermöglichen, mit dem Gesprächspartner in einen Dialog zu treten und zu pointierten, authentischen Statements zu gelangen. Die Gesprächslänge variiert zwischen zwanzig Minuten und einer Stunde, damit ist angedeutet, dass ein unterschiedlich intensiver Austausch mit den jeweiligen Gesprächspartnern zustande kam. Die Gespräche folgen über das Thesenpapier einer Struktur, sind aber nicht einheitlich standardisiert. Die Thesen sind ganz am Schluss im Anhang aufgeführt. Mit ihnen kann neues Gedankengut eingebracht werden, eine Ausgangsthese kann völlig modifiziert werden. Fülle und Breite an Argumenten, Überzeugungen, Begründungen, Meinungen etc. sind reichhaltig. Dem Verfasser ist es wichtig, möglichst viele dieser Gespräche nahe beim Originalton widerzugeben. Am Schluss der Arbeit sind die von den Gesprächsteilnehmern freigegebenen Transskripte aufgeführt. Der Vorteil bei diesem Verfahren ist, am Puls des Geschehens zu sein, die mannigfaltigen Perspektive der beteiligten Akteure einzubringen mit der Chance, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Der Preis dafür ist die Schwierigkeit, die Vielfalt der Argumente zu ordnen und zu gewichten, vor allem aber der Verlust an repräsentativen Aussagen.
Will man wissenschaftlich fundierte Ergebnisse präsentieren können, kommt man wohl kaum um Erhebungen herum, die auf einer angemessenen Stichprobe beruhen und klar umrissenen Fragestellungen nachgehen. Als Königsweg gelten im Sozialbereich Längssschnittstudien, wenn also dieselbe Stichprobe über Jahre hinweg untersucht wird und so beispielsweise Veränderungen in Bezug auf eingeleitete Massnahmen beobachten lassen.
Im Bereich der Übergänge von der obligatorischen Schulzeit zur Sekundarstufe II, zu den Ausbildungen innerhalb der Sekundarstufe II und zum Übergang ins Berufsleben gibt es zahlreiche Studien. Eine Auswahl davon wird in dieser Arbeit herangezogen um deren Aussagen mit den Erkenntnissen aus der qualitativen Studie – den Gesprächen - abzugleichen.
In einem ersten Schritt möchte ich mich mit der Studie von Häfeli, Schellenberg befassen, nämlich mit den «Erfolgsfaktoren in der Berufsbildung bei gefährdeten Jugendlichen». Die dort beschriebenen Faktoren dienen diesem Papier zur Orientierung und es wird wiederholt darauf Bezug genommen.
Die geführten Gespräche wurden nach solchen Faktoren untersucht. Die entsprechenden Abschnitte oder Argumente werden beim einzelnen Faktor aufgeführt. Ein Beispiel für einen Erfolgsfaktor wäre «gute Umgangsformen, betriebskompatible Eigenschaften». - Wer im Gespräch dazu etwas gesagt hat, wird mit den anderen Beiträgen zu diesem Faktor aufgeführt, damit die Einzelaussagen sich zu einem Bild verdichten können. Angereichert werden die aus den Gesprächen herausgeschnittenen Argumente mit Aussagen aus den Studien. – Wie oben erwähnt werden die Gespräche im Anhang als Ganzes abgebildet. Damit lassen sich Doppelspurigkeiten nicht vermeiden.
Alle Gespräche und Fallbeispiele sind anonymisiert worden. Die Funktion des Interviewpartners soll aber offengelegt werden. Beispielsweise «Verantwortlicher für individuelle Begleitung an der gewerblichen Berufsschule Chur». Der Leser braucht diese Information, um diesen spezifischen Beitrag einordnen zu können. Auf der anderen Seite ist problematisch, dass über die Funktion auf die Person zurückgeschlossen werden kann, da nicht allzu viele Personen an der gewerblichen Berufsschule Chur in ebendieser Funktion tätig sind. Aufgelöst wurde dieses Dilemma, indem jedem Gesprächsteilnehmer zugesagt worden ist, das Gespräch vor Veröffentlichung durchzusehen und freizugeben. Den Gesprächspartnern ist ein erstes Transskript zur Korrektur zugestellt worden und die meisten haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, beispielsweise um ein Projekt korrekt zu bezeichnen und mit dem richtigen Entstehungsjahr zu versehen. Die Gespräche sind alle aufgezeichnet worden, das erste Transskript blieb sehr nahe beim O-Ton. Die Mündlichkeit eines Gesprächs folgt anderen Gesetzen als ein ausformulierter Text. Was mündlich glasklar formuliert worden war, wurde in der schriftlichen Form häufig abgemildert – diesem Umstand ist beim Lesen der Transskripte Rechnung zu tragen.
Einigen Gesprächspartnern kamen beim Lesen des Transskripts Bedenken auf, weil ihre Institutionen ein sehr restriktives Medienkonzept verfolgen und die Äusserungen eines Mitarbeiters möglicherweise sich nicht vollständig mit der offiziellen auf der Webseite geäusserten Haltung der Institution decken würden. In gewissen Stellen wurden die Vorgesetzten der Interviewpartner in das Redigieren des Transskripts mit einbezogen. Wenn aber jemand sein Gespräch nicht mit der Funktionsangabe im Anhang veröffentlicht haben wollte, wurde es gestrichen und es erscheinen lediglich die herausgeschnittenen Argumente bei den einzelnen Wirkfaktoren.
Der Blick über (Kantons)-Grenzen soll Erkenntnisse liefern, wie anderswo mit derselben Problematik umgegangen wird. Welche Ansätze gibt es, um die Hürden für die Zielgruppe zu verkleinern? Welche Ansätze haben sich in der Praxis bewährt? – Bei der Umsetzung finden wir nebst Institutionen und Einrichtungen in St. Gallen solche aus Graubünden. Die beiden Kantone sind zwar Nachbarn, haben aber doch grössere strukturelle Unterschiede, die zu unterschiedlichen Lösungen führten.
Vorgehen, Methodik
Erfolgsfaktoren
Auf der Erkundung nach Studien, welche die Nahtstellen im Übergang von der Volksschule zur Berufsintegration zu ihrem Inhalt machen, kommt man kaum um die Arbeit von Häfeli und Schellenberg herum (Häfeli, Kurt; Schellenberg Claudia. "Erfolgsfaktoren in der Berufsbildung bei gefährdeten Jugendlichen - Studien und Berichte 29A". Bern, 2009.)
Die Studie wurde im Auftrag der Erziehungsdirektorenkonfernz erarbeitet und ist als Metastudie konzipiert, die die Ergebnisse von rund 60 Schweizer Studien berücksichtigte.
Ziel der Studie war es, sogenannte «Erfolgsfaktoren» zu finden. Während in vielen Arbeiten von Risikofaktoren oder im englischsprachigen Raum von youth at risk ausgegangen wird, also von Faktoren, die sich ungünstig auf die Lebensgestaltung und berufliche Entwicklung auswirken, wollten Häfeli, Schellenberg vom umgekehrten Prinzip ausgehen. Die in Studien gut untersuchte Tatsache, dass Jugendliche trotz Risikofaktoren eine günstige Entwicklung (Resilienz) durchlaufen, liess die Frage nach protektiven oder Schutzfaktoren aufkommen. – Eine der bekanntesten Studien zu Resilienz ist die Kauai Studie von Emmi Werner und Ruth Smith, in welcher 700 Personen von Hawai von der Geburt bis zum 40. Lebensjahr beobachtet wurden (Werner, Emmy E.; Smith, Ruth S., $f 1923-. "Journeys from childhood to midlife - risk, resilience and recovery". Ithaca, NY [u.a.]: Cornell Univ. Press, 2001). Die zentrale Erkenntnis daraus: Von dem Drittel, der als Risikogruppe identifiziert wurde, entwickelten sich ein Drittel entgegen der Erwartungen zu normalen jungen Menschen, die keine schweren Lern- oder Verhaltensstörungen aufwiesen, straffällig wurden, psychische Probleme oder Frühschwangerschaften hatten.
Der Begriff «Erfolgsfaktoren» soll den Fokus darauf ausrichten, was zu einer günstigen Entwicklung beitragen kann, ähnlich wie wenn in Bezug auf die Entwicklung von Personen von Ressourcen anstelle von Problemen ausgegangen wird. Oder noch deutlicher ausgedrückt: Was zum Gelingen beiträgt, soll betrachtet werden, nicht das Gegenteil. Erfolgsfaktoren können persönliche Merkmale sein, aber auch Faktoren in der Umwelt eines Jugendlichen.
Bekannt ist, dass nicht von einer geradlinigen Kausalität in der Wirkung von Risiko- wie auch von Erfolgsfaktoren ausgegangen werden kann. Die einzelnen Faktoren stehen zueinander in Wechselwirkung, verstärken sich oder schwächen sich ab. Dazu kommt, dass die Wirkung eines Faktors je nach individueller Veranlagung ganz unterschiedlich ausfallen kann.
Tabelle 10: Erfolgsfaktoren nach Häfeli, Schellenberg
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Erfolgsfaktoren werden den drei Schalen Mikrosystem, Mesosystem und Makrosystem zugeordnet. Das Mikrosystem ist die innerste Schale, Person und Familie, das Mesosystem beinhaltet Schule, Betrieb, Peers und Beratung, während die äusserste Schale gesellschaftliche und wirtschaftliche Faktoren berücksichtigt.
Die Differenzierung in obige Faktoren erfolgte vor dem Hintergrund der untersuchten rund 60 Studien. Mit anderen Worten: Nur Faktoren, deren Wirkung nachgewiesen worden ist, fanden Eingang in die Tabelle. Beispielsweise sind die Begriffe Leistungsmotivation und Lernmotivation kaum als direkte Einflussgrössen in den Studien gefunden worden und kommen daher hier nicht vor. Obschon Leistungs- und Lernmotivation als zentrale Konzepte in der Psychologie betrachtet werden.
Lern- und Leistungsmotivation werden aber in vielen Interventionsprojekten als kritische Grössen bezeichnet, die im Hinblick auf eine Integration in den Ausbildungsmarkt gefördert werden sollen. (Häfeli/ (2009, 43))
Zu manchen Begriffen scheint ein Kommentar angebracht zu sein:
ê Person > Gute Schulleistungen auf Sek I und Sek II (Math, Lesekompetenz), hoher IQ
o Als Indikatoren für Schulleistungen wurde auf die PISA Erhebung abgestützt, daher nimmt der Begriff Lesekompetenz einen überraschend prominenten Platz ein – wo man eher etwas in der Art wie Sprachkompetenz erwartet hätte.
-Hoher Selbstwert, Selbstwirksamkeitserwartung, Durchsetzungsvermögen, positives Bewältigungsverhalten
o Der Begriff Selbstwirksamkeitserwartung fusst auf einem Konzept von Albert Bandura, das er in den 1970er Jahren entwickelt hat. Der Mensch, der daran glaubt, etwas bewirken zu können und diese Wirkung sich selbst und nicht äusseren Faktoren oder Zufall zuschreibt, verfügt über eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung. Die Annahme über die Einflussnahme auf die Umwelt führt zu erhöhter Ausdauer beim Bewältigen von schwierigen Aufgaben und zu einer geringeren Anfälligkeit von Angststörungen oder Depressionen.
-Familie > soziale und symbolische Ressourcen
o Zu den symbolischen Ressourcen werden die klassischen Arbeitstugenden gezählt wie Fleiss, Pünktlichkeit, Pflichtbewusstsein, Ordnung, Sorgfalt und Sauberkeit.
Welche Faktoren sind besonders bedeutsam?
Beziehung
Auffallend in der Tabelle der Erfolgsfaktoren ist das wiederholte Auftauchen des Begriffs «Beziehung». Diesem lassen sich unter «Person» die beiden Faktoren «Kommunikative Kompetenzen, Kontakt- und Teamfähigkeit, soziale Kompetenzen» und «Persönlicher Kontakt zu Lehrmeister/Betrieb» zurechnen, mit Einschränkungen auch noch «Gute Umgangsformen». Unter «Familie» finden wir den Faktor «Gute Beziehung zu Eltern», unter «Schule und Lehrpersonen» den Faktor «Gute Beziehung Lernende–Lehrperson». Weiter finden wir den Begriff bei «Betrieb und Berufsbildende» im Faktor «Gute Beziehung zu Berufsbildenden, Passung Betrieb–Jugendliche» und er taucht bei «Beratungs- und Interventionsangeboten» auf als «Gute Beziehung zwischen Klient/innen und beratenden Personen».
Sechs bis sieben der Erfolgsfaktoren sind demzufolge «Beziehung». Auch bei den Gesprächen wird diesem Faktor eine Schlüsselrolle zugewiesen. Jugendliche würden in Praktikum oder Ausbildung manches akzeptieren, was als zuvor als unannehmbar benannt wurde, wenn die Beziehung zu Mitarbeitern und Vorgesetzten stimmig ist.
Sowohl beim Übertritt in die Berufslehre als auch bei der Begleitung während der Berufsausbildung spielt die Qualität der Beziehung zwischen Klientinnen/Klienten und Beraterinnen/Beratern eine ganz zentrale Rolle. (Häfeli/ (2009, 89))
Ebenso wichtig sind die sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz. So hat sich bei Lehrvertragsauflösungen gezeigt, dass soziale Konflikte mit dem Vorgesetzten oder den Arbeitskollegen ein Hauptgrund für einen Betriebswechsel waren. (Häfeli/ (2009, 89))
Gute Umgangsformen
Der Faktor «Gute Umgangsformen, «betriebskompatible» Eigenschaften» ist inhaltlich nah bei «Beziehungen» angesiedelt. Wer darüber verfügen kann, hat es leichter, in einem Betrieb auf Akzeptanz zu stossen und ein Ausbildner ist eher bereit, einem solchen Jugendlichen eine Chance zu geben. Dieser Faktor scheint eine zirkuläre Ausrichtung zu haben. Gute Umgangsformen öffnen Türen und erhöhen die Chancen und andersherum fällt es Jugendlichen leichter, sich im beruflich-betrieblichen Milieu zu bewegen. Umgangsformen bilden eine gegenseitige Erwartungsstruktur. Weiss ein Jugendlicher sich betriebskonform zu verhalten, gibt ihm dies für weitere, ihm noch unbekannte berufliche Situationen oder Settings die Gewissheit, über ein angemessenes Verhaltensrepertoire zu verfügen. Im umgekehrten Fall spürt ein Jugendlicher anhand der Reaktionen im Umfeld, dass er sich unpassend verhält, was seine Unsicherheit für Folgesituationen erhöht und damit seine Schwellenangst ansteigen lässt. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass solche Jugendliche das als unangenehm empfundene Bewegen im beruflich-betrieblichen Kontext vermeiden wollen.
Manche ungünstigen Startbedingungen können durch Persönlichkeitseigenschaften wie Freundlichkeit, Offenheit und Höflichkeit wieder wettgemacht werden. Die Jugendlichen sollten aus betrieblicher Sicht eine relativ grosse Übereinstimmung mit den betrieblichen Normen und Wertvorstellungen aufweisen. Sonst werden Schwierigkeiten erwartet, und diese versuchen insbesondere KMU-Betriebe zu vermeiden. (Häfeli/ (2009, 44))
Hohes berufliches Anforderungsniveau
Dieser Faktor ist eng mit den kognitiven Fähigkeiten des Jugendlichen verknüpft und dem Besuch des anforderungsreichen Schultypus auf der Sekundarstufe I. Auch hier zeigt sich ein zirkulärer Bezug. Jugendliche, die aufgrund ihrer guten Schulleistungen sich für eine anforderungsreiche Ausbildung qualifizieren und selektioniert werden, sind in der Berufsausbildung gefordert. Indem sie die auftauchenden Schwierigkeiten meistern, entwickeln sie ihre kognitiven Fähigkeiten und ihr Bewältigungsverhalten weiter und werden in ihrem Selbstwert gesteigert. Sie trauen sich dann an die nächsthöheren Schwierigkeitsgrade heran.
Eine abwechslungsreiche, selbständige und herausfordernde Arbeits- und Ausbildungssituation führt zu Erfolgserlebnissen, fördert das berufliche Engagement und damit den Verbleib in der Ausbildung und im Beruf. (Häfeli/ (2009, 99))
Globale Perspektive – Sichtweise gefährdeter Jugendlicher
Die rund 50 Erfolgsfaktoren widerspiegeln eine globale Sichtweise. Dabei wird nicht unterschieden, welche der Faktoren eher struktureller Natur sind und welche verändert werden können. Die Zugehörigkeit zu einer höheren sozialen Schicht der Familie beispielsweise ist, zumindest aus der Perspektive eines in der Berufswahl steckenden Jugendlichen, fix gesetzt. Interessanter sind die dynamischen Faktoren, die – wie auch immer – gefördert werden können und den Jugendlichen die Nahtstelle in den Beruf leichter passieren lässt.
Im Folgenden wird versucht, die aus der Perspektive gefährdeter Jugendlicher strukturellen Faktoren aus der Liste zu streichen. Die meisten Faktoren bei Schule und Lehrpersonen blieben deswegen erhalten, weil diese sich nicht nur auf die Volksschule beziehen – sie gelten gleichermassen auch für Brückenangebote.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die unten aufgeführte Liste mit den dynamischen Erfolgsfaktoren präsentiert sich nun wesentlich schlanker. Auf sie wird im Kommenden wiederholt Bezug genommen, sie soll als Orientierungshilfe dienen, gewissermassen als «Landkarte».
11: Dynamische Erfolgsfaktoren
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Der Versuch eines Erklärungsmodells
Vielfältige Einflusssysteme
Einzelne Faktoren, seien es nun Erfolgsfaktoren oder Risikofaktoren, vermögen das Verhalten von Jugendlichen an den Nahtstellen zum Beruf nur unbefriedigend erklären. Bei rund 50 aufgelisteten Faktoren ist zwar gesichert, dass jeder einzelne einen Einfluss ausübt, wie aber diese Fülle von Faktoren zueinander in Wechselwirkung steht, wie sie sich aufschaukeln oder abschwächen, wie gewisse Faktoren andere, die fehlen, substituieren können, ist wenig bekannt.
Unbestritten ist, dass Verhaltensweisen entlang von Reifungsprozessen ausgeprägt individuell sind. Wie also mit neuen Erfahrungen, mit Schwierigkeiten oder Lernprozessen umgegangen wird, ist im Lichte des Individuums zu betrachten, das auf eine einzigartige Weise, nämlich die seine, Antworten auf äussere Inputs bereitstellt.
Eine erfolgreiche berufliche Entwicklung ist als Produkt vielfältiger Einflusssysteme zu verstehen und lässt sich nicht auf wenige Einflussbedingungen reduzieren. Jedes Individuum ist einzigartig und funktioniert in Risikosituationen anders. Dies bedingt eine breite Abklärung, nicht nur der Risikofaktoren, sondern auch der Schutzfaktoren auf der Ebene der Person, aber auch in ihrem familiären, schulischen, ausserschulischen und betrieblichen Umfeld. (Häfeli 2009,124)
Jugend – Leben im sozialen Ghetto
Um sich einem Erklärungsmodell anzunähern, mag es vorteilhaft sein, sich einige Eckwerte vor Augen zu halten, die typisch für Jugendliche sind.
Gemäss der James Studie von 2014 (Willemse 2014), haben Jugendliche im Durchschnitt 6 Freunde, 3 sind Mädchen, 3 Jungs. Am häufigsten, nämlich mit 94%, lernen Jugendliche ihre Freunde in der Schule kennen. Auf dem zweiten Rang (62%) ist das Kennenlernen über andere Freunde und «über einen Verein/Sportclub» ist mit 54» an dritter Stelle.
Interessant sind die Aussagen zum Freizeitverhalten. In der Studie wird zwischen nonmedialer und medialer Freizeitbeschäftigung unterschieden.
Bei den regelmässigen nonmedialen Freizeitbeschäftigung geben 79% der Befragten an, «Freunde treffen». «Sport treiben» mit 64% oder «Nichtstun» mit 60% liegen in den Nennungen schon deutlich zurück.
Wenig überraschend stellen sich die medialen Freizeitbeschäftigungen dar. Täglich oder mehrmals pro Woche werden genutzt: Das Handy (98%), Internet (96%), Musik hören (96%) und Fernsehen (79%) – Die Prozentangaben beziehen sich auf Jugendliche weiblichen Geschlechts, bei den Jungs sind sie geringfügig tiefer.
Zusammengefasst lässt sich also sagen, der Freundeskreis rekrutiert sich hauptsächlich aus der Schule, die Freizeitaktivitäten der überwältigenden Mehrheit der Jugendlichen besteht aus «Freunde treffen», «Sport treiben» und «Nichtstun», kombiniert mit exzessiver Nutzung digitaler Medien. Zwei Stunden pro Tag sind die Jugendlichen im Internet, in den Ferien gar drei. Videoportale nutzen (YouTube) ist die am häufigsten genannte Tätigkeit (79%), gefolgt von Social Media (65%) und Musik hören.
In unserem Erklärungsmodell wollen wir berücksichtigen, dass die Schule der mit Abstand wichtigste Ort ist um Freunde kennenzulernen und wo man im täglichen Austausch mit ihnen ist. Über Handy und Social Media wird der Freundeskreis «bewirtschaftet», beinahe rund um die Uhr und sieben Tage in der Woche.
Auffallend ist die hohe Geschlossenheit des Freundeskreises mit dem beinahe vollständigen Bezug auf die Schule. Die Nennung «Kennenlernen über Freunde» verstärkt die erwähnte Geschlossenheit noch, weil die Freunde, über die neue Freunde kennengelernt werden, mit der Schule verbunden sind. So können nur wenige Freunde von ausserhalb kommen. Der Begriff Ghettoisierung scheint hier angebracht zu sein. Erst an dritter Stelle kommt das Kennenlernen von Freunden über einen Verein/Sportclub. Damit würde sich die Möglichkeit ergeben, Kontakt zu anderen, von der Schule unabhängigen Kreisen zu knüpfen. Dies geschieht aber nicht, wenn die Mitspieler im Fussballclub aus derselben Schule kommen.
Soziale Systeme
Weswegen ist diese hohe Geschlossenheit des Freundeskreises von Bedeutung?
Der Mensch als soziales Wesen richtet sein Verhalten und seine Kommunikation danach aus, um in den für ihn relevanten Kreisen wahrgenommen zu werden und Wertschätzung zu erfahren. Niklas Luhmann hat in seiner Systemtheorie diesen Gedanken weitergeführt und so auf die Spitze getrieben, dass in seinem Modell soziale Gebilde auf Kommunikationseinheiten reduziert werden, die Anschluss an andere Kommunikationen finden. (Luhmann, 2002)
Aus Luhmanns Modell möchte ich zwei Merkmale herausgreifen. Zum einen die Innen-Aussen-Unterscheidung, zum anderen die Dazugehörigkeit, bzw. Anschlussfähigkeit.
Werden einzelne Kommunikationspakete betrachtet, meint man mit Anschlussfähigkeit, dass eine Kommunikation an die andere anschliesst, ganz ähnlich wie ein fallender Dominostein den nächsten anstösst und so in der Summe des Ganzen ein soziales Gebilde entsteht. Damit dies geschieht, muss ein Kommunikationspaket, das auf die Reise geschickt wird, zu einem gewissen Grad vorwegnehmen, was es beim Empfänger auslöst, damit es anschlussfähig ist und eine weitere Kommunikation auslöst. – Ganz schön lässt sich dies beim Small Talk beobachten, wenn jemand mit einem Weinglas in der Hand auf andere, ihm unbekannte Menschen trifft. Wie wird nun ein Gespräch eröffnet? – Eine Zusammenfassung des letzten gelesenen Buches? -Das Ausbreiten seiner eigenen politischen Überzeugungen? – Nein, man beginnt mit einem unverfänglichen, banalen Thema – das aktuelle Wettergebaren gehört zu den beliebtesten – und achtet auf die Reaktion des Gegenübers. Diese Kommunikationen dienen fast ausschliesslich zum Abtasten des Gesprächspartners. Was mag dies für ein Mensch sein, welche Vorlieben hat er, was gibt es Interessantes zu entdecken? – Stellt sich nach einigen ausgetauschten Kommunikationen heraus, dass beide einen gemeinsamen Bezug, ein gemeinsames Interesse haben, zum Beispiel Bergwandern, dann wird das Gespräch seinen Fortlauf finden. Andernfalls wird man sich davonschleichen und anderswo das Spiel von vorn beginnen.
Ein soziales Gebilde grenzt sich von seiner Umwelt ab. All die sich im Inneren bewegen, haben etwas miteinander gemein. Bei den Mitgliedern einer Volleyballmannschaft ist es die Freude am Volleyballspiel, vielleicht auch der Ehrgeiz, zusammen ein sportliches Ziel zu erreichen. Als Golf- und Nichtvolleyballspieler fühlt man sich nicht nur ausgeschlossen: man ist es. - Der eigene Freundeskreis mag gekennzeichnet sein durch die vertrauensvolle und aufrichtige Art des Kommunizierens untereinander. Was nicht heissen soll, ausserhalb des Freundeskreises werde nicht vertrauensvoll kommuniziert. Die, welche drinnen sind, sind mit der Signatur der Zugehörigkeit versehen. Und diese Signatur, also das, was im Kern die Zugehörigkeit ausmacht, muss dauernd repliziert werden, gewissermassen in Erinnerung gerufen, damit das soziale Gebilde überlebt. Auf den Freundeskreis bezogen, würde dies bedeuten, wenn die Freunde über längere Zeit jeglichen Kontakt zueinander ausschliessen, dann gibt es diesen Freundeskreis nicht mehr. Das soziale System Freundeskreis «stirbt».
Übertragen wir nun dieses Konzept auf die Jugendlichen. Deren Mikrokosmos von gleichaltrigen Freunden ist fast ausschliesslich auf «Schule» beschränkt. Mit anderen Worten: Das relevante soziale System von «Freunden» oder etwas allgemeiner ausgedrückt, Peers, setzt sich aus den Schulbekanntschaften und den Freunden dieser Freunde zusammen. Da nur vereinzelt Alternativen von nicht schulbezogenen sozialen Systemen vorhanden sind, ist die grosse Mehrheit von Jugendlichen auf Gedeih und Verderben angewiesen, Anschluss an ihr relevantes Schule-Peers-Sozialsystem zu finden. Wie das gemacht wird? – Indem die informellen Regeln dieses Systems übernommen werden und der einzelne Jugendliche einen erheblichen Aufwand betreibt, um innerhalb des Systems wahrgenommen zu werden. Die Selbstdarstellung oder Selbstinszenierung nimmt einen hohen Stellenwert ein und Social Media Plattformen dienen als Träger, um das aufwändig inszenierte Bild von sich selbst innerhalb des sozialen Systems zu verbreiten. Die modisch gestylte Haarpracht oder ein neu gestochenes Tattoo sind nichts anderes als Kommunikationen, welche den Anschluss ans soziale System herstellen und gleichzeitig die Pace vorgeben, welche Kommunikationsmuster die Zugehörigkeit zum System signalisieren. Wahrgenommen werden ist fundamental in einem jeden sozialen System, darauf aufbauend der Wunsch nach Wertschätzung.
Kommunikation auf übergeordnetem Level: Kommunikationsmuster beeinflussen
Mit der Systemtheorie lässt sich gut nachvollziehen, dass es in sozialen Systemen hoch attraktiv ist, über die Dazugehörigkeit hinaus die Kommunikation (bzw. die Kommunikationsmuster) der anderen Systemteilnehmer so zu beeinflussen, dass eine Multiplikatorwirkung entsteht und mit den eigenen Beiträgen gewissermassen die Regeln gesetzt werden. Die Kommunikationsmuster steuern zu können in seinem Sinne, so kann systemtheoretisch «Macht» erklärt werden. – Dabei handelt es sich um universelle Mechanismen, die gleichermassen für die Führung eines Unternehmens wie für die informellen Regeln einer Jugend-Gang gelten.
Um Macht auszuüben, beziehungsweise Kommunikationsmuster im Schule-Peers-Sozialsystem zu steuern ist den Teilnehmern mit den Social Media ein kraftvolles Werkzeug in die Hände gelegt worden. Damit können mehrere Peers gleichzeitig erreicht werden, es können Gruppen und Untergruppen gebildet werden, was das Schule-Peers-Sozialsystem ungeheuer dynamisiert. Es ist sozial überlebenswichtig geworden, ein Monitoring des kommunikativen Geschehens zu betreiben, will man nicht abgehängt werden und sich unversehens im Status «nicht dazugehörig» wiederfindet. Die Frage, ob man nicht auch mal Pause von der Dauerkonnektivität seiner Freunde machen kann, müsste umformuliert werden, ob der einzelne Jugendliche es sich leisten könne, seine Dazugehörigkeit aufs Spiel zu setzen.
Eine Form der Machtausübung zielt in die Richtung, mit seinen Kommunikationsmustern die anderen im System so zu beeinflussen, dass die Dazugehörigkeit einzelner Peers in Frage gestellt wird. Gelingt dies, indem jemand diskreditiert wird, und hierzu sind alle Formen des Cybermobbings mitzuzählen, dann ist systemtheoretisch einfach festzustellen, dass diesem (oder dieser Gruppe) gelungen ist, die Kommunikationsmuster im sozialen System zu beeinflussen, so dass eine unmittelbare Wirkung sichtbar wird. - Zur Erinnerung: Kommunikationsmuster zu beeinflussen, zu vervielfältigen, sie gewissermassen dem sozialen System aufzudrücken, davon geht eine ungeheuere Faszination aus. Und dieser Mechanismus ist weder «gut» noch «böse», er ist eine direkte Folge der Prämisse, dass ein soziales System aus den Basic Units Kommunikationen aufgebaut ist, die mittels Strukturen die Wahrscheinlichkeit gelingender Anschlusskommunikationen erhöht, so dass der oben beschriebene Domino-Effekt eintreten kann.
Jugendliche in Brückenangeboten erzählen oft freimütig von Mobbing Erlebnissen ihrer Oberstufenzeit. Erschreckend ist zum einen der hohe Anteil, oft sind weit mehr als die Hälfte der Schüler einer Klasse in solche Fälle involviert gewesen. Zum andern, wie viel Leid den Opfern zugefügt wird, die mangels Alternativen verzweifelt danach strampeln, im Schule-Peers-Sozialsystem akzeptiert zu sein. Wenn Mobbing Fälle aufgedeckt werden können und die Täter nach ihren Beweggründen gefragt werden, sind die Antworten verstörend banal: meistens ein Schulterzucken oder «aus Spass!» - Ein klares Indiz, dass Mobbing-Handlungen von Jugendlichen kaum auf der Basis von internalisierten Werten und Normen befriedigend erklärt werden können.
Man mag als Einwand einwerfen, Jugendliche würden auch von anderen sozialen Systemen beeinflusst, zum Beispiel von ihrem familiären Milieu. – Dieses beeinflusst Jugendliche zweifellos, in der Tabelle der Erfolgsfaktoren sind sieben bei der Familie angegliedert. Nur gilt zu beachten, dass Jugendliche in der Entwicklungsphase der Pubertät sich in einem Ablöseprozess befinden und die etablierten Rollen von Eltern und anderen Autoritäten wie Lehrpersonen in Frage stellen. Dieser entwicklungsbedingte Umstand treibt Jugendliche noch mehr ins Schule-Peers-Sozialsystem, so sehr, dass individuelles Ansprechen und Handeln vor dem Hintergrund der Peers verblassen.
Schule und Schule-Peers-Sozialsystem
Sieht man sich das Schule-Peers-Sozialsystem etwas genauer an, fällt ein Paradoxon auf. Obschon die Schule gewissermassen die Plattform für den Kreis der Peers gibt, sind die Ziele und Intentionen der Schule weitgehend von diesem Sozialsystem abgekoppelt. Mit anderen Worten. Die Schule hat praktisch keinen Einfluss auf die Agenda innerhalb des Schule-Peers-Sozialsystems. Und noch schlimmer: Sie trägt indirekt zur Abkoppelung bei.
Um dies zu verstehen sei daran erinnert, dass Schule in Klassen organisiert wird und dass Grundlagenkenntnisse vermittelt werden. Lesen und Schreiben zu lernen in der Primarschule ist in einer grundsätzlich anderen Kategorie von Lernen angesiedelt als über einen Sachtext in der Oberstufe den Wortschatz zu erweitern. Das erstere ist eine Kulturtechnik, die den Zugang zu einer sonst verschlossenen Welt von Comics, Büchern, Gebrauchsanweisungen und WhatsApp Texten ermöglicht. Systemisch gesprochen erweitert die Technik des Lesens und Schreibens den Wirkradius des Kommunizierens und ist damit unentbehrlich für die Teilnahme an einem sozialen System – mindestens dann, wenn innerhalb des Systems der Einsatz von Social Media und Schriftzeichen akzeptiert ist. – Die Wortschatzerweiterung bringt demgegenüber aus der Sicht des Jugendlichen keinen unmittelbaren Nutzen. Ob besagter Sachtext je einmal für den Jugendlichen von Relevanz sein wird, würde sich erst in Zukunft zeigen. Seine Kommunikationsmuster im Schule-Peers-Sozialsystem sind nicht davon abhängig. Der Gewinn an Wortschatz kommt – wenn überhaupt – erst viel später zu tragen, kurzfristig tritt er nur über den schulischen Mechanismus der Leistungsüberprüfung mittels Tests und Noten in Erscheinung.
Um den Gedanken abzurunden, schauen wir kurz auf die Anreize. Wie sind sie aus der Sicht des Schülers verteilt, der sich den neuen Wortschatz aneignen soll? – Schüler, die einen Sinn darin erkennen, Grundlagenkenntnisse anzuhäufen, die ihnen später zugute kommen werden und die Freude daran haben, vorhandenes Wissen mit neuem zu verbinden, mögen einen positiven Anreiz verspüren. Die zweite Gruppe, die sich mit ersteren decken kann, sind die Schüler, die durch gute Prüfungsleistungen ein positives Feedback der Lehrperson bekommen. Ein Jugendlicher wird eher durch solche Anreize zum Lernen verführt werden, wenn er eine schnelle Auffassungsgabe hat und sein persönlicher Quotient Aufwand zu Ertrag günstig ausfällt. In Klassen sind die Leistungen aber gemäss der Gauss’schen Glockenkurve verteilt. Für all jene, die sich im linken Bereich der Kurve, also bei mässigen bis ungenügenden Leistungen, wiederfinden, fällt der positive Anreiz der Leistungsbeurteilung weg. Erlebt ein Schüler immer wieder, dass seine Position im ungenügenden Bereich ist, macht es für ihn keinen Sinn sich anzustrengen – das Resultat bleibt negativ, egal, ob er sich Mühe gibt. Damit eröffnet sich ein Teufelskreis. Die selbsterfüllende Prophezeiung «Ich kann nicht» oder «Meine Leistung im Fach xx ist schlecht» wird sich bewahrheiten und ihn in seiner Überzeugung bestätigen.
Das Dilemma des «schlechten Schülers» ist nun, dass er trotzdem im Schule-Peers-Sozialsystem eingebunden ist und diesem nicht entfliehen kann ohne adäquate Alternativen. Da er mit den «offiziellen» der Schule zugeschriebenen Werten nicht brillieren kann, trotzdem aber wahrgenommen und wertgeschätzt werden will, bleibt ihm nur der Ausweg, die schulischen Normen und Werte zu unterminieren und durch solche zu ersetzen, die ihm zupass kommen. An Gleichgesinnten wird es ihm nicht mangeln, da ebenso viele Schüler im unteren wie im oberen Bereich der Gauss’schen Kurve platziert sind. Die Kommunikationsmuster werden sich wie oben beschrieben entfalten und eine Eigendynamik entwickeln, aus der dann so typische Werte der Jugendkultur sich entwickeln wie Verhaltensauffälligkeiten, Konsum von Cannabisprodukten oder ausgeprägtes Markenbewusstsein bei Kleidern.
Etwas überspitzt formuliert: Die Schule trägt wesentlich mit dazu bei, dass ein Teil ihrer Schüler das Schule-Peers-Sozialsystem benützt um es zur subversiven Plattform umzubauen und um sich gegen die von der Schule verkörperten Werte und Inhalte aufzulehnen.
Berufsbezogene soziale Systeme
Das Schule-Peers-Sozialsystem ist nicht homogen und zerfällt in viele Teilsysteme; eben in all die Systeme, die von den Jugendlichen durch ihre Kommunikationen gebildet werden. Kommt nun ein Jugendlicher mit dem Thema Berufswahl in Berührung, ist ein entscheidendes Merkmal, ob er sich auch in anderen, in von Erwachsenen geprägten Sozialsystemen bewegen kann. In der Tabelle der Erfolgsfaktoren kommt dies zum Beispiel bei Familie zum Ausdruck, bei der Position «Informelles Beziehungsnetz»; «Soziale und symbolische Ressourcen». Oder bei Freizeit und Peers unter «Aktive Freizeitgestaltung unterstützt durch Peers und Eltern», wie auch unter «Teilnahme in einer strukturierten Gruppe (Verein, Club, Kurs)». Nimmt ein Jugendlicher aktiv an weiteren sozialen Systemen teil, wird er sich an die Anschlussfähigkeit der Kommunikationen entsprechend dem System anpassen müssen oder - mit Blick auf die Person des Jugendlichen – er kommt nicht um die entsprechende Sozialisation herum. Je mehr solche Erfahrungen aufgebaut werden können, umso sicherer und gewandter wird er sich in neuen sozialen Feldern bewegen.
Schulabgänger, die beim Bewerbungsgespräch das Käppi lässig aufgesetzt haben und nervös einen Kaugummi kauen würden in diesem Licht wertneutral als Personen betrachtet, die zu wenig hinsichtlich erwachsene, berufsbezogene Systeme sozialisiert worden sind. Ihre Unsicherheit rührt daher, dass sie sich in einem «Spiel» wiederfinden, dessen Regeln sie als einzige nicht kennen. Gelingt es ihnen nicht, sich die Regeln rasch anzueignen und die Unsicherheit zu überwinden, werden sie sich wieder auf ihr Schule-Peers-System zurückziehen und sich dort einmauern. Wen wundert es, dass sie dann immunisiert sind gegenüber wohlgemeinten Tipps und Ratschlägen aus der Erwachsenenwelt.
Die Kernfrage, die sich stellt, ist, wie es gelingt, Jugendliche aus dem Schule-Peers-System herauszureissen, damit sie sich erwachsenen, berufsbezogenen sozialen Systemen öffnen.
Die einfachere Antwort ist aufzuzeigen, wie es nicht gelingt, nämlich durch «Herausreissen». Wenn soziale Systeme als Gebilde verstanden werden, die durch die Kommunikationen ihrer Teilnehmer erst gebildet werden, so wie es die Systemtheorie macht, dann steht eine direkte, intendierte Einflussnahme ausser Diskussion. Sie wäre nichts anderes als der Versuch, das Sozialsystem des Jugendlichen zu dekonstruieren.
Erfolgsversprechender erscheint der Weg, den Zugang zu anderen sozialen Feldern zu erleichtern, bzw. das Heraustreten aus der Insel des Schule-Peer-Systems zu fördern. Und dabei ist darauf zu achten, wie attraktiv aus der Sicht des Jugendlichen die Anreize gesetzt sind. Beispielsweise ist leicht vorstellbar, dass ein Jugendlicher mit guten Schulleistungen und einem ihn unterstützenden familiären Umfeld, das Wert auf hohe Bildungsaspirationen legt und einen Autonomie fördernden Erziehungsstil pflegt, sich gerne an ein erwachsenes, soziales System koppelt, das ihm in Aussicht stellt, ihn intellektuell zu fördern und zu fordern.
Umgekehrt gibt es ein Segment von Jugendlichen, bei dem positive Anreize, sich ausserhalb des Schule-Peers-Systems zu bewegen, kaum auszumachen sind: Kost und Logis wird vom Hotel Mama gewährleistet, der Zugang zu Handy, Computer, trendigen Klamotten, Ausgang etc. ist quasi unbeschränkt da, der Jugendliche verfügt über unendlich viel freie Zeit, in der er sich mit seinen Freunden trifft oder mit ihnen über Social Media kommuniziert. Warum sollte er dieses Wohlfühl-Package eintauschen gegen eine Berufslehre, die ihn in Strukturen zwängt und seine freie Zeit ungemein beschneidet? - Um später seinen Unterhalt zu bestreiten? - Dieses Argument zieht nicht, wenn die Tätigkeit im Beruf nicht positiv bewertet wird und der in Aussicht gestellte Gewinn (= späterer Lohn) niedrig ist und seine wirtschaftliche Autonomie gegenüber dem aktuellen Zustand nicht deutlich verbessert.
Liest man die Aussagen von Berufsbildnern und Jugendlichen in der Ausbildung, sticht immer wieder das Argument in die Augen, wie wichtig die Beziehung zu den Mitarbeitern und Vorgesetzten im Betrieb ist. Fühlt ein Jugendlicher sich akzeptiert und wertgeschätzt, nimmt er dafür vieles in Kauf und ungeahnte Entwicklungen nehmen ihren Anfang. – Das Aufbauen einer tragfähigen Beziehung scheint ein Schlüssel dafür zu sein, den Schritt in ein berufsbezogenes, soziales System gelingen zu lassen. Die eine Seite des Zugangs hat die Erwachsenenseite zu leisten. Sie muss anstelle des «Problemblicks» mit einem «Chancenblick» an den Jugendlichen herantreten, ihn ernst nehmen, und Schritt für Schritt ins System integrieren im Glauben, dass die nötigen Entwicklungen in Gang gesetzt werden um die in der Ausbildung geforderten Leistungen zu erreichen. Die Erwachsenenseite muss aber ebenso Gelassenheit an den Tag legen, wenn der Jugendliche die Erwartungen nicht zu erfüllen vermag und die Möglichkeit des Scheiterns zulassen.
Die andere Seite ist die des Jugendlichen, von dem gefordert wird, sein Reduit, das Schule-Peers-Systems ein Stück weit zu verlassen um sich erwachsenen Systemen anzunähern. – Die Zeit mag dies unterstützen: Je mehr seiner Freunde den Schritt hinaus geschafft haben, desto mehr wird das Schule-Peers-System ausgedünnt. Über unendliche Freizeit zu verfügen ist nicht so spannend, wenn die Freunde in Ausbildungen eingebunden sind und damit nicht mehr erreichbar sind.
Nicht zu vergessen ist der Umstand, dass in der Schweiz die berufsentscheidenden Weichen sehr früh gestellt werden. Mit 15 kann ein Jugendlicher bereits voll in einen Betrieb eingebunden sein. Wenn auch diese frühe Weichenstellung vielfach kritisiert wird – die wichtige Berufswahl falle in eine Entwicklungsphase, in welcher Entscheidungsfaktoren nicht richtig und in ihrer Tragweite erfasst werden könnten – hier erweist sie sich von Vorteil. Wenn die Wege der Schulabgänger am Ende der obligatorischen Schulzeit auseinandergehen, hat dies grossen Einfluss auf das Schule-Peers-System. Manche Freunde verschwinden von der Bildfläche, andere lernen sich gewandt in berufsbezogenen Systemen zu bewegen, wo sie neue Freunde finden und weswegen sie ihre Kommunikationsstrukturen verändern – und damit eben das gesamte soziale System. Um es anders auszudrücken: das Schule-Peers-System wird aufgebrochen und zeigt Auflösungserscheinungen.
Das sind dann die Momente, wo es scheinbar unversehens «klick» macht und Jugendliche endlich begreifen würden, was zuvor hundertfach an ihnen abgeperlt ist. Zuverlässigkeit wird zu einem akzeptierten Wert und Jugendliche behandeln das ihnen geschenkte Vertrauen als ein kostbares Gut.
Aussagen aus den Interviews
Was sagen die Personen, die in Berufsschule, Motivationssemester, Beratung u.a.m. sich täglich mit der Gruppe der gefährdeten Jugendlichen auseinandersetzen? Was sind deren Argumente zu den Thesen und was sagen die Jugendlichen selber?
Im Folgenden sind die Argumente aus den Interviews herausgeschnitten und nach Themen geordnet. Hier kann man also verschiedene Protagonisten in ihren Aussagen zum selben Thema vergleichen, mit dem Nachteil, dass die Textfragmente aus ihrem Kontext herausgerissen sind, was Aussagen möglicherweise verfälschen kann. Im Anhang sind dann die vollständigen Transskripte angeführt.
Einführung
Über Ressourcen zu sprechen, ist verführerisch. Der Begriff wird als positiv verspürt, Ressourcen können entwickelt werden bis hin zu einem Bündel von Kompetenzen. Es gilt als verpönt, Schwächen und Defizite herauszustreichen, die Pädagogik unterstützt dieses Bestreben, da es effizienter ist, stärkenorientiert zu arbeiten, das Aufarbeiten von Defiziten wird als zähflüssig und lustlos erlebt.
Und doch sei festgestellt, dass der Umgang mit diesen entgegengesetzten Polen recht verkrampft wirkt. Wird gutes schulisches Leistungsvermögen als Ressource betrachtet, dann ist das Fehlen dieses Merkmals ein Mangel. Punkt. Damit soll nicht dem Konzept der ressourcenorientierten Förderung eine Absage erteilt werden, aber die Augen vor offensichtlichen Defiziten zu schliessen, führt nirgendwo hin. Im Folgenden sind unter dem Stichwort Ressourcen auch Argumente über nicht vorhandene Ressourcen, sprich Defizite, aufgeführt.
Die Auflistung zeigt die Heterogenität dessen, was unter Ressourcen verstanden werden kann. Deutschkenntnisse – vorhandene oder fehlende- ebenso, wie betriebskompatible Faktoren und die Fähigkeit, in einem betrieblichen Kontext konfliktbehaftete Situationen anzugehen.
Die meisten der dynamischen Erfolgsfaktoren zu Person werden auch in den Argumenten, mindestens indirekt, angesprochen. Hier zur Erinnerung die genannten Erfolgsfaktoren:
Tabelle Dynamische Erfolgsfaktoren
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Stichwort Ressourcen fasst alles mögliche zusammen, entsprechend ist die Palette breit aufgefächert. In den Aussagen der Interviewten treffen wir auf Begriffe, die in den dynamischen Erfolgsfaktoren fehlen, wie «Reife», «Berufswahlreife» oder «Motivation». Solche Begriffe sind im allgemeinen Sprachgebrauch mehrdeutig und eben nicht scharf abgegrenzt. Es ist zu vermuten, dass sie gerade deswegen so beliebt sind. Man kann damit einen Sachverhalt erklären ohne den leisesten Hinweis, wie zum Beispiel «Reife» gewonnen werden kann und welches Mass erforderlich ist um eine Berufswahlentscheidung gelingen zu lassen.
Das Umfeld – meist die Familie gemeint, wird immer wieder angesprochen, sei es stabilisierend und fördernd, aber auch als negativer Faktor, wenn beispielsweise die Eltern kein Verständnis für die Anforderungen der Berufsausbildung haben oder Berufe, die für ihre Kinder erreichbar wären, im Umfeld einen niedrigen Status inne haben.
In manchen Argumenten kommt gut zum Ausdruck, wie Erfolgsfaktoren miteinander verknüpft werden. Zum Beispiel ein Jugendlicher, der sich über kommunikative Kompetenzen Unterstützung in seinem Umfeld holt und so ein funktionierendes berufliches Beziehungsnetz aufbaut.
Zurück zum Begriff Umfeld. Mit ihm kommt die Ordnung der Tabelle «dynamische Erfolgsfaktoren» durcheinander. Wo dort im Mikro-, Meso- und Makrosystem insgesamt 7 Bereiche aufgeführt sind, hat die nachfolgende Struktur der Aussagen eher den Jugendlichen selbst und seine Berufsbildung im Fokus. So werden dem Begriff Umwelt sowohl Familie wie Peers zugeordnet. Die Inhaltsangabe soll die Orientierung erleichtern und mit ihr lassen sich die Bezüge zu den dynamischen Erfolgsfaktoren leicht herstellen.
Orientierung – Codes
Jedem Argument ist ein Code zugeordnet, das Thema und ein Stichwort, siehe das Beispiel unten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die hinteren vier Ziffern des Codes dienen zur Identifikation des Arguments mit seinem Urheber, also zur Person. Hier 352447 è 2447
Die vorderen beiden Ziffern bezeichnen die Gruppe, aus der der Interviewpartner kommt.
Hier: 352447 è 35
Zur Entschlüsselung dient folgende Tabelle:
Lesebeispiel: 35
Die erste Ziffer ist 3 è Berufsbildung
Die zweite Ziffer ist 5 è Ausbildner
35 bedeutet also, dass der Interviewpartner aus der Berufsbildung kommt und die Funktion eines Ausbildners ausübt.
Person – Ressourcen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Person – Selbstwert, Selbstwirksamkeitserwartung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Person – Schulleistungen, Leistungsvermögen
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Umfeld – Familie
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Umfeld
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Berufsfachschule – Angebot, Unterstützung
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Aussagen zur Volksschule
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Ausbildungsbetrieb – Betriebseigenheiten und Passung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Ausbildungsbetrieb – Praktika
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Ausbildungsbetrieb – vielversprechende Ansätze
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Ausbildungsbetrieb – Anforderungen
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Beratung
Beratung - Bedürfnis
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Beratung – Aufgleisen
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Beratung – Vorgehensweise
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Beratung – weiterlaufend
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Vernetzung - Zusammenarbeit
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Berufsstrukturen, Entwicklungen
Berufsstrukturen, Entwicklungen - Attestausbildung
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Berufsstrukturen, Entwicklungen – Zukünftiger Arbeitsmarkt
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Berufsstrukturen – Entwicklungen Trends
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Erklärungsmodelle – Erfahrungshorizont, veränderte Gewohnheiten
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Gespräche
Transkript des Gesprächs mit
Im Folgenden werden die Gespräche in ihrem vollen Wortlaut widergegeben. Alle Interviewpartner bekamen ein erstes Transkript zugesandt um Korrekturen vornehmen zu können und um die Interviews freizugeben. Einige wenige haben darum zu gebeten, von einer Veröffentlichung abzusehen, was selbstverständlich respektiert worden ist. Im vorherigen Kapitel, wo herausgerissene Gesprächsstücke Themen zugeordnet worden sind, sind auch diese aufgeführt. Zur Orientierung sei hier nochmals die Tabelle mit den Funktions-Codes aufgeführt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Funktion: Geschäftsleiter rheinspringen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Motivationssemester bridges
rheinspringen bridges ist ein Motivationssemester des Kantons St.Gallen. Die Teilnehmenden arbeiten in einer 5-Tage Woche individuell an beruflichen und schulischen Zielen. Sie erhalten die Möglichkeit, ihre Ressourcen und Stärken zu entdecken und diese gezielt einzusetzen, um den Einstieg in die Arbeitswelt zu schaffen. rheinspringen bridges verfolgt das Ziel, dass die Teilnehmenden nach Programmende einen Lehrvertrag unterzeichnet haben und eine Berufsausbildung antreten.
Für Jugendliche direkt nach Schulabschluss ist rheinspringen bridges ein kantonales Brückenangebot des Bildungsdepartementes des Kantons St.Gallen. Zuweisende Stellen sind die Berufs- und Laufbahnberatungen. Für Jugendliche und junge Erwachsene, die länger als ein Jahr aus der Schule sind, ist rheinspringen bridges ein Motivationssemester des Amtes für Arbeit. Zuweisende Stellen sind die regionalen RAV.
Programm
Im Programm rheinspringen bridges werden den Jugendlichen und jungen Erwachsenen Kompetenzen vermittelt, die ihre Chancen auf einen Berufsausbildungsplatz erhöhen. Sie erhalten die Möglichkeit, ihre Ressourcen und Stärken zu entdecken und diese gezielt einzusetzen, um den Einstieg in die Arbeitswelt zu schaffen.
Das Programm besteht aus den Programmteilen Jobcoaching, Schulunterricht, rhein kreativ, Tatort und Interessenserkundung. rheinspringen bridges ist so konzipiert, dass Kopf, Herz und Hand der Jugendlichen angesprochen werden.
- Jobcoaching: Um die fachlichen und methodischen Kompetenzen für einen erfolgreichen Einstieg in die Arbeitswelt zu erwerben, besuchen die Jugendlichen jeweils am Vormittag das Jobcoaching. Im Fokus des Jobcoachings steht die Bewerbungsarbeit.
- Schulunterricht: Die Jugendlichen arbeiten bei rheinspringen bridges während rund 8 Stunden pro Woche an schulischen Themen. Im Vordergrund stehen die Fächer Mathematik, Deutsch, Englisch und Informatik.
- rhein kreativ: Einen Ausgleich zum kopflastigen Jobcoaching und Schulunterricht bieten die Programmteile rhein kreativ, welche an zwei Nachmittagen stattfinden. Sie sind gestalterischer, sportlicher und erlebnispädagogischer Natur und fördern die Sozial- und Selbstkompetenz.
- Tatort: Die Jugendlichen haben die Möglichkeit, an zwei Nachmittagen pro Woche Arbeitseinsätze zu leisten. Die Arbeitseinsätze finden in externen Unternehmen oder Institutionen (Alters- und Pflegeheime, Bauernhof, Asylzentrum, Jugendsekretariat) statt. Die Einteilung der Jugendlichen in die unterschiedlichen Einsätze wird an Hand ihrer Eigenschaften und beruflichen Interessen vorgenommen. Den Jugendlichen werden jeweils Aufgaben zugeteilt, die sie gemäss Anleitung selbständig und kompetent ausführen können.
- Interessenserkundung: An einem Nachmittag pro Woche bekommen die Jugendlichen Zeit, um ihren Hobbies nachzugehen oder Neues entdecken zu können. Die Ergebnisse werden im Anschluss in geeigneter Form präsentiert.
coaching – Zeig was in dir steckt.
rheinspringen bietet Einzel- und Gruppencoachings an:
- Im Einzelcoaching erhalten die Jugendlichen eine individuelle Unterstützung im Bewerbungsprozess sowie während ihrer Ausbildung.
- Im Gruppencoaching erhalten die Jugendlichen eine Tagesstruktur. Sie setzen sich intensiv mit dem Bewerbungsprozess auseinander und schliessen die schulischen Lücken bezüglich ihrer Berufsausbildung.
Rheinspringen talent
rheinspringen talent ist ein Programm, welches individuell bei der Erarbeitung schulischer Ziele unterstützt. Im Vordergrund stehen die Förderung der persönlichen Stärken, das integrative Lernen und die Erarbeitung von schulischen Themen.
Die Lernenden werden durch qualifizierte Lehrpersonen sowie Unterrichtsassistenzen unterstützt, die ihnen bei auftauchenden Schwierigkeiten und beim Strukturieren des Lernens helfen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen der Schule und den Bezugspersonen unterstützt die Lernenden bei der Weiterentwicklung ihrer persönlichen Kompetenzen.
Rheinspringen corporate
- Mit individueller Unterstützung zur Arbeitsstelle.
- rheinspringen corporate besteht aus einem einmonatigen Bildungsteil und einem zweimonatigen Praxisteil. Das Ziel des Programms ist die nachhaltige Integration von stellensuchenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den Arbeitsmarkt.
- Das Programm richtet sich an junge Menschen bis 25 Jahre aus dem ganzen Kanton St. Gallen und den beiden Appenzell. Die Teilnehmenden haben entweder eine Lehre abgeschlossen, abgebrochen oder sind Schulabgängerinnen und Schulabgänger nach Abschluss der Wartetage. Die Teilnehmenden sind auf der Suche nach einer Festanstellung. Zuweisende Stellen sind die RAV.
(Aus: http://www.rheinspringen.ch/index.php?id=2)
Die Programme im Überblick
Das Motivationssemester bridges bietet 50 Plätze für Jugendliche an. Es richtet sich an Schulabgänger, die keine Lehrstelle gefunden haben und bietet Unterstützung bei der Förderung der Ressourcen, bei Bewerbungen für Lehrstellen und soll die Jugendlichen schulisch und in ihrer Persönlichkeit weiterbilden.
Im Programm Coaching gibt es 10 Plätze. Dieses Programm arbeitet eng mit der Jugendanwaltschaft zusammen, welche die Jugendlichen im Sinne einer ambulanten Massnahme zuweist. Manche sind an nur einem Wochentag da, an den andern Tagen in einem Praktikum, bei anderen sieht das Verhältnis Coaching zu Praktikumsarbeit anders aus. Es werden individuelle Lösungen getroffen. Das Programm ist zeitlich limitiert, es kann aber auch, von der Jugendanwaltschaft angewiesen, fortgeführt werden als Begleitung während der Lehre. Bei gewissen Jugendlichen ist schon viel gewonnen, wenn sie wissen, sie können sich auf jemanden im Hintergrund abstützen, falls notwendig.
Das Programm talent richtet sich vor allem an Flüchtlinge, die dort ihren schulischen Rucksack füllen können, damit sie im Hinblick auf eine spätere Ausbildung über das nötige Grundwissen verfügen.
Corporate ist ein Programm für Jugendliche, die eine Lehre abgeschlossen haben und auf der Suche nach einer Festanstellung sind. Anders als beim Motivationssemester kennen diese jungen Menschen die Anforderungen des Arbeitsmarktes. Es zeige sich aber, dass der Übergang von abgeschlossener Grundausbildung zum Beruf sich als nicht ganz einfach zeige. Diese jungen Leute seien zwar in einer besseren Position als ungelernte Arbeiter, bei gewissen Berufen – vor allem auf der Stufe Attestausbildungen – spiele der Arbeitsmarkt zu wenig, sei es, dass der Bedarf geringer ist als die Zahl der Stellensuchenden, oder sei es, weil ein Absolvent einer EBA-Ausbildung weniger vielseitig eingesetzt werden kann als sein EFZ-Konkurrent bei nur geringen Lohnunterschieden.
Schnuppern
Ein Schwerpunkt sei eine realistische Berufswahl zu treffen. „Was will ich für einen Beruf ergreifen?“ – „Was bringe ich mit?“ – „Wie passt das, was ich mitbringe, zu meinen Berufswünschen?“, sind die wohl wichtigsten Fragen, mit denen sich ein Jugendlicher bei bridges auseinandersetzen soll. – Man lege viel Wert darauf, dass die Jugendlichen ihre so konkretisierten Berufswünsche austesten würden, was bedeutet: Schnuppern in diesen Berufen.
Dabei zeige es sich, dass nicht allein der Beruf zähle, sondern grosse Unterschiede darin bestehen, ob dieser in einem Klein- oder Grossbetrieb erlernt werde. Extrem wichtig sei das Team, das der Jugendliche im Schnupperbetrieb antreffe und wie er aufgenommen werde. Wenn er sich auf der Beziehungsebene willkommen fühlt, dann würden andere Faktoren in den Hintergrund treten.
Die Lehr- und Leitungspersonen von bridges stehen unterstützend im Hintergrund rund um die Schnupperlehren der Jugendlichen. Periodisch würden die Lehrpersonen selbst Schnupperlehren absolvieren. „Behandeln Sie mich nicht anders als einen Jugendlichen!“, erklären sie den Ausbildnern im Betrieb. Dieses Training erweise sich als erhellend, denn die Anforderungen an einen Schnupperlehrling seien oft vage formuliert. Ein Teil der Betriebe organisiere das Schnuppern aufwändig und gebe sich viel Mühe um einen Querschnitt über die Berufsanforderungen praktisch aufzuzeigen. Andere wiederum lassen den Schnupperlehrling lediglich mitlaufen. Wenn man dann den ganzen Tag nur zuschauen darf, sei es nicht einfach, trotzdem den interessierten Bewerber zu mimen und aufmerksam Fragen zu stellen. Oder wie soll man sich verhalten, wenn der Betreuer in ein Kundengespräch verwickelt wird? Darf man daneben stehen und zuhören oder soll man sich diskret entfernen? Auch die Pausen seien trickig. Wenn man niemanden kenne und nicht wage, von sich aus mit den Erwachsenen ein Gespräch zu beginnen, sei es naheliegend, das Handy hervorzunehmen, was möglicherweise als unanständig aufgefasst werde.
Die einzelnen Teilschritte nur schon beim Schnuppern seien eben viel grösser als man denkt. Hinter der kaum nachzuvollziehenden Begründung: „Ich habe den Betrieb nicht gefunden!“ steckt oftmals die Angst, sich einer dem Jugendlichen nicht geheuren fremden Welt auszuliefern.
Um diese Teilschritte zu erleichtern gibt es bei bridges eine Zwischenstufe, die Arbeitseinsätze. Mit Alters- und Pflegeheimen, konkret sind dies St. Otmar, das Bürgerspital und Heiligkreuz hätten sie diesbezügliche Vereinbarungen gemacht. 12 Jugendliche plus eine Begleitperson würden dann mit den Betagten Gesellschaftsspiele machen, oder mit ihnen spazieren gehen. Die Jugendlichen sind bei diesen Einsätzen zwar schon in einem externen Betrieb, aber durch die Betreuung vor Ort noch von rheinspringen unterstützt. Man erkenne dabei auch, welche Qualitäten die Jugendlichen dabei ausspielen würden und wo man fördernd ansetzen müsse.
Das selbständige Schnuppern bildet dann die nächste Bewährungsstufe. Die Schnupperzeugnisse, die im Anschluss erstellt werden, sind Basis für ein Gespräch mit den Jugendlichen und es werde von Seiten rheinspringen darauf Kontakt mit dem Betrieb aufgenommen.
M. fasst zusammen, er verstehe die Schwierigkeiten, sich beim Schnuppern zurechtzufinden. Für manche Jugendliche sei es, um ein Beispiel herauszugreifen, ungewohnt, dass eine Anweisung einfach gemacht werde – ohne Diskussionen. Je nach Berufsumfeld würde ein völlig unterschiedlicher Umgangston vorherrschen. Ein Mitarbeiter von rheinspringen komme ursprünglich vom Bau. Seine Überraschung war, wie er sich hier einbringen konnte und wie von ihm erwartet wurde mitzudiskutieren.
Arbeitsmarktrelevante Kompetenzen
Oft fehle es Jugendlichen an sogenannten arbeitsmarktrelevanten Kompetenzen. Pünktlichkeit zum Beispiel. Wer um zwei Minuten nach acht Uhr erscheine, ist zu spät, wenn er um acht im Geschäft sein sollte. Es müsse an der notwendigen Selbstorganisation gearbeitet werden. Das Erscheinungsbild sei ebenfalls ein Thema. Manche Jugendliche wirkten verwahrlost und ungepflegt. Im Fach Kommunikation werde behandelt, wie – je nach Branche – ein professionelles Auftreten aussehen könnte. Dabei geht es auch um die Sprache. Im Job-Coaching werden über Rollenspiele Verhaltensweisen eingeübt. Nicht alle Verhaltensformen, die privat akzeptiert seien, können auch im Geschäft produziert werden. Jugendliche hätten zu lernen, diese Unterscheidung zu machen und sich an die Gepflogenheiten der Berufswelt anzupassen. Bei manchen sei der Schritt so gross, dass eine Lehre noch in weiter Ferne sei. Dann begnüge man sich halt mit kleinen Schritten in diese Richtung hin.
Die Schwierigkeit, einen Lehrbetrieb zu finden
Die Betriebe sind bestrebt, im Selektionsverfahren die „passenden Jugendlichen“ herauszupicken. Entsprechend sei es für die anderen schwierig etwas zu finden. Gewisse Branchen hätten aber auch Mühe, die offenen Lehrstellen zu besetzen. Manche Vertreter dieser unattraktiven Lehrstellen seien dann zu Konzessionen bereit und geben auch schlechter qualifizierten Jugendlichen eine Lehrstelle. Damit sei aber nicht viel gewonnen. Die Anforderungen während der Ausbildungszeit würden bleiben und es sei fraglich, ob diese Jugendlichen ihre Ausbildung durchzuziehen imstande seien.
Ganz schwierig sei es, Jugendlichen einen Ausbildungsplatz zu vermitteln, deren Bewerbungspapiere ungenügend seien. Rheinspringen empfehle dann, sich persönlich vorzustellen oder telefonisch um einen Schnupper- oder Vorstellungstermin zu bitten. Die Frage stelle sich bei dieser Gruppe nicht nur, ob sie eine Lehrstelle bekommen, sondern ob sie danach den Anforderungen der Ausbildung gewachsen seien.
Was kann man noch mehr tun um Jugendliche der hier betrachteten Zielgruppe zu einem Beruf oder Ausbildungsplatz zu führen?
Jugendliche während der Lehre weiter zu betreuen, sei ein zweischneidiges Schwert. Wohl könne es bei einzelnen Sinn machen, wenn sie auf ein Netz zurückgreifen können, man nehme ihnen damit aber auch Selbstverantwortung ab ohne die keine Entwicklung zur Selbständigkeit erfolgen könne. Sicher sei, die Hürde für den Berufseinstieg ist mit dem Wegfall der Anlehren anspruchsvoller geworden. Bei einem Teil der Jugendlichen sei die Attestausbildung zu schwierig, eine Anlehre hätten sie noch schaffen können. Und wer nicht im Arbeitsmarkt Fuss zu fassen vermöge, lande früher oder später beim Sozialamt. Dies betreffe nicht zuletzt auch Flüchtlinge.
Auf der anderen Seite müsse man anerkennen, dass in der Schweiz sehr viel zur Arbeitsmarktintegration getan werde. Was hier diskutiert werde, betreffe nur eine Minderheit.
Was noch ungenügend ausgebaut sei im Kanton St. Gallen, ist das sogenannte Case Management. Gewisse Jugendliche würden einfach mehr Zeit brauchen, bis sie den Anforderungen der Arbeitswelt gewachsen sein würden. Kontinuität wäre wichtig in deren unterstützender Begleitung. Sie sollten dieselbe Ansprechperson über längere Zeit haben. Zurzeit seien die bestehenden Angebote befristet. Nach einer Vorlehre beispielsweise kommt noch fit4job oder rheinspringen bridges in Frage, dann sei Schluss. Bei rheinspringen bridges und fit4job wurde im 2017 ein Case-Management im Umfang von 150 Stellenprozenten geschaffen. Mit dem Case-Management soll die Arbeitsmarktfähigkeit der Jugendlichen erhöht werden können. Ziel ist, dass die Zusammenarbeit der verschiedenen Stellen besser koordiniert wird und der Handlungsbedarf mit Zielen und Massnahmen definiert werden kann. So müssen die Jugendlichen ihre Geschichte an jeder Stelle nicht immer wieder neu erzählen.
Arbeit wird als Kernelement betrachtet um seinen Beitrag in der Gesellschaft zu leisten. Müssten bei Jugendlichen ohne Ausbildung und Arbeit nicht Beschäftigungsprogramme anstelle von rein monetärer Hilfe durchs Sozialamt stehen?
In grösseren Gemeinden wie auch der Stadt St. Gallen werden seit einiger Zeit solche Überlegungen angestellt. Ein Beispiel, das in diese Richtung zielt, ist das Restaurant Leonardo. Wichtig sei aber, so M., dass solche Betriebe an den ersten Arbeitsmarkt angelehnt seien und nicht nur Scheinfirmen seien, damit praxisnah trainiert werden könne. Dabei stelle sich immer die Frage, wie weit solche Einrichtungen private Betriebe konkurrieren würden und dürften.
Das Leonardo ist ein Treffpunkt für kulinarische Genüsse und Kultur.
Wir erbringen sämtliche Dienstleistungen der Gastronomie im Bereich Küche, Service und Back-Office. Mit dem Restaurant werden zugleich begleitete Ausbildungs- und Qualifikationsplätze geschaffen, mit dem Ziel, persönliche wie auch arbeitsmarktrelevante Kompetenzen zu fördern. Die Kombination von praktischen Tätigkeiten und Theorie am Ausbildungsplatz ermöglichen individuelles und praxisbezogenes Lernen.
(Aus: http://www.leonardosg.ch/index.php/ueber-uns)
In den letzten Jahrzehnten seien niederschwellige Jobs weggefallen. Die Stellen sind verschwunden, wo früher eine Hilfskraft in einem Betrieb z.B. einfache Servicearbeiten ausführen konnte.
Mit der Genossenschaft Migros Ostschweiz (GNOS) sei eine interessante Zusammenarbeit entstanden. Vorstellungsgespräche würden bei rheinspringen vor Ort durchgeführt oder direkt bei der Stelle Berufsbildung. Wer diese Selektionshürde besteht, könne in einer Filiale schnuppern. Dort komme es dann stark auf die Persönlichkeit des Filialleiters an, wie viel Gewicht er der praktischen Arbeit zumesse und wie viel den Noten, bzw. Bewerbungsunterlagen. Die Chancen seien intakt, dass ein Jugendlicher deswegen seine Lehrstelle erhält, weil er mit seinem Auftreten und seiner Arbeit während des Schnupperns die Verantwortlichen überzeugt habe.
M. wendet ein, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, sei für alle unterstützenden Massnahmen von Jugendlichen von zentraler Bedeutung. Wenn sie einmal so weit sind, sich Beruf oder Ausbildung zuzuwenden, dann müsste man die Möglichkeit haben, sie sogleich einzubinden – nicht erst nach 3 Monaten Wartezeit. – Umgekehrt nütze es auch wenig, Jugendliche in ein Programm zu stecken, wenn sie die nötigen Reifeschritte noch nicht gemacht haben.
Zum Abschluss des Gesprächs weist M. auf das duale Bildungssystem der Schweiz hin. Man müsse dem traditionell hohen Ansehen der Lehrberufe Sorge tragen, damit sie weiterhin attraktiv bleiben würden. Dieses System sei gut tauglich um auch schulisch schwächere Schüler oder Migranten, die einem anderen Kulturraum entstammen, in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Direktor Gewerbliche Berufsschule Chur
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zu Beginn des Gespräches greifen wir das Thema demographische Wandel auf: Wo vor wenigen Jahren noch 3000 Schulabgänger und zurzeit noch 2000 auf den Markt kommen, sind es in drei Jahren noch rund 1500. Der Kanton Graubünden sei gewerblich fein strukturiert, diese Betriebe bieten viele Lehrstellen an, haben aber Schwierigkeiten, sie zu besetzen. Einerseits sei dies eine Frage des Mengenprofils, anderseits gibt es Jugendliche, die einfach nicht in diese Lehrstellen passen. Der Kanton Graubünden ist konservativ geprägt, in einer Landmaschinenmechanikerlehre beispielsweise wird der Einheimische aus dem nächsten Dorf sicherlich bevorzugt, auch wenn ein Bewerber mit Migrationshintergrund über gute Referenzen verfüge.
Die kleinräumigen Strukturen im Kanton führen zu einer hohen Sozialkontrolle. Eltern sind im Berufsbildungsprozess eingebunden. Wenn der Sohn im Lehrbetrieb sich unangemessen aufführt, geht das Telefon sofort zum Vater. Ebenso wird sehr schnell der telefonische Kontakt zur Berufsschule hergestellt, wenn es Schwierigkeiten in der Schule gibt. Eine direkte Folge der kleinräumigen Strukturen ist die im Vergleich zu anderen Kantonen sehr geringe Lehrabbruchrate. Dem gegenüber sind beim 10. Schuljahr (Berufswahlschule), wo die Schüler den Anschluss an die Berufslehre nicht direkt schaffen, die sozialen Herkunftsverhältnisse weniger stabil. Sorgen bereiten in diesem Zusammenhang die immer grösser werdende Zahl der Alleinerziehenden.
Das eigene Brückenangebot (Berufswahlschule) hat das schärfste und klarste Profil von allen Brückenangeboten im Kanton. Der Zulauf ist hoch, der Kanton bewilligt nicht zusätzliche Klassen, und so ist die Berufswahlschule regelmässig ausgebucht. Die Schüler, rund die Hälfte mit originellen Schulbiographien, finden darin klare Strukturen, sie lernen zu arbeiten und die Schule fordert Leistung ein. Bei negativen Vorkommnissen gibt es ein Gespräch am runden Tisch, falls keine Besserung eintritt erfolgt der schriftliche Verweis und danach der Ausschluss. Damit sollen nicht zuletzt auch engagierte Lehrpersonen geschützt werden. Die Jugendlichen scheinen diese klare Sprache zu verstehen, nur 10 – 12% verlassen die Berufswahlschule vorzeitig, dafür haben 95-100% der Absolventen eine Anschlusslösung.
Trotz des Erfolges der Berufswahlschule ist A. über die Entwicklung nicht glücklich, dass immer mehr Jugendliche die Zusatzschlaufe Brückenangebot nutzen. Das Angebot würde die Nachfrage generieren. Bei Kosten von 1750 Franken stellt sich für die wenigsten die wirtschaftliche Frage und anstatt sich ernsthaft der Berufswahl zu stellen, würden viele Jugendlichen – und deren Eltern – ein Warte- und Entwicklungsjahr vorziehen. A. stellt kritisch die Frage, ob es Brückenangebote – ausser die unbestrittenen sprachlich-integrativen – überhaupt brauche. Zu denken gäbe die Entwicklung im Kanton Aargau, wo jährlich 1100 bis 1200 Jugendliche Brückenangebote besuchen. Lehrstellenanbieter würden Jugendlichen ohne Brückenangebot gar nicht mehr Lehrstellen anbieten. Dies wäre dann nichts anderes als die Verlängerung der obligatorischen Schulpflicht auf 10 Jahre.
Im kombinierten Angebot der Berufswahlschule besuchen die Schüler nebst der Schule Praktika, die jeweils 2-3 Monate dauern. Praktika sind eine gute Chance, um Arbeitsstrukturen kennenzulernen und sich über die Arbeit für eine Lehrstelle im Praktikumsbetrieb zu empfehlen. Gerade Schüler mit Migrationshintergrund finden so zu ihrer Lehrstelle. Die Praktikumsplätze werden von den Lehrern und der Schulleitung der Berufswahlschule akquiriert, Migros und Coop bieten viele solche Plätze an, nie seien aber diese Praktika als billige Arbeitskräfte für die Betriebe gedacht.
Die Berufsberatung im Kanton GR funktioniere nicht gut. Die Beratungen seien oberflächlich, unverbindlich und zum Teil im schnell sich wandelnden Berufsumfeld auch zu wenig kompetent. Ein Teil des Problems sei die Dezentralisierung der BIZ auf 5 Standorte. Im Oberengadin gehe die Beratungskompetenz kaum über Hotellerie- und Gastroberufe hinaus. – Jugendliche würden mit einem „Wunschkatalog“ aus der Beratung kommen, Berufen, für die sie die entsprechenden Qualifikationen bei weitem nicht mitbringen oder zum anderen von Beratern in eine Ecke gedrängt, zu Berufen, die sie nicht wollen und denen sie nicht entsprechen.
Ein häufig gehörtes Argument ist, die guten Lehrstellen können nicht mehr adäquat besetzt werden, weil die leistungsstarken Schüler von den gymnasialen Bildungsinstitutionen abgeschöpft werden. – Im Kanton GR scheint es gut zu gelingen, über Infoanlässe den Eltern und Schülern die Chancen des Berufsbildungswegs zu verkaufen. GR ist der Kanton mit der höchsten Berufsmaturitätsquote. Offenbar eine Frage des guten Marketings.
A. streicht einen anderen Aspekt bei der Besetzung von anspruchsvollen Lehrstellen heraus: Lehrmeister und Berufsverbände würden immer noch gemäss dem Bildungsrucksack von gestern selektionieren. Wer wisse denn schon, was morgen gefragt sei? Die Jungen würden aber andere Ressourcen mitbringen, sie könnten flink mit Tablet und Mobile umgehen. Solche Werkzeuge müssten in der Schule konsequent eingebunden werden – nicht deren Gebrauch verboten. Eine Physikaufgabe könne heute mithilfe von Apps gelöst werden ohne Formelwissen oder algebraisches Umformen von Grundformeln. In diesem Punkt gibt es Nachholbedarf. Selektion und Ausbildungsgänge könnten vereinfacht und auf die heutigen Ressourcen der Jugendlichen abgestimmt werden, ohne Qualitätsverlust.
Berufsschullehrpersonen beispielsweise aus der Elektrotechnik monieren, dass 90% des zu vermittelnden Stoffes eigentlich in den Bereich der Tertiärbildung gehörte. Man scheint zu vergessen, dass in einer EFZ Ausbildung berufliche Grundbildung angeboten werden solle. Das Fuder werde von den Berufsverbänden oft überladen, die seien es, die über die Bildungsverordnungen die Ansprüche immer höherschrauben würden. Als Lehrperson oder als gewerbliche Berufsschule stehe man diesem unglückseligen Trend machtlos entgegen. Unverständlich, weil stets lebenslanges Lernen gefordert werde, warum also soll dann alles in die ersten drei Jahre Berufsbildung gestopft werden? - Es gibt Lehrlinge, denen es ob der Fülle des Lernstoffes „ablöscht“ und innerlich aufgeben. – Besser wäre es, man würde diese Leute mit einer auf die praktischen Bedürfnisse des Berufes sich konzentrierenden Ausbildung bei der Stange halten, Zusatzausbildungen könnten später immer noch angehängt werden. Bei den Automobillehren das gleiche Bild: man dürfte erwarten, dass die meisten Lehrlinge in der 3jährigen Ausbildung wären, weniger in der 4jährigen zum Mechatroniker und in der Attestausbildung. Tatsächlich könne knapp eine Klasse gebildet werden bei den Automobil-Mechatronikern, hingegen je zwei auf den beiden tieferen Niveaus. Die anspruchsvollen Ausbildungen sind nicht mehr attraktiv genug. Was die Berufsverbände da anrichten, ist wenig durchdacht – die Jungen, die von der Schule kommen und zu den Berufen geführt werden, das ist unser Kapital, und es ist unsere Verantwortung, dass gegenüber den Jungen faire Bedingungen beim Zugang in die Berufswelt herrschten.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Ressortleiter Attest / individuelle Betreuung Gewerbliche Berufsschule Chur
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Lernförderung und individuelle Begleitung (iB)
An der Gewerblichen Berufsschule Chur werden die Lernenden in kleineren Klassen durch Lehrpersonen unterrichtet, die in Lern- und Förderpädagogik speziell ausgebildet sind.
Zeichnet sich ab, dass der Bildungserfolg gefährdet ist, besteht die Möglichkeit einer individuellen Begleitung (iB). Sie umfasst nicht nur schulische, sondern sämtliche bildungsrelevanten Aspekte im Umfeld der lernenden Person. (Auszug aus dem Internetauftritt der Gewerblichen Berufsschule Chur)
Semestergespräche als Förderinstrument
Im ersten und dritten Semester wird der Schulbetrieb für die Dauer einer Woche geschlossen. Dann finden Semestergespräche statt, bei denen Lehrpersonen, betriebliche Ansprechpersonen und der Lernende am „runden Tisch“ zusammensitzen und den bisherigen Verlauf der Ausbildung bilanzieren. Diese Gespräche haben eine hohe Akzeptanz bei den Lehrbetrieben gefunden, 98 von 100 finden sich zum Gespräch ein. Ein Thema ist die „individuelle Begleitung“ (iB), im Gespräch wird festgelegt, ob eine solche aufgegleist wird und ob der Lernende gewillt und motiviert ist, einen zusätzlichen halben Tag Schulbesuch auf sich zu nehmen. Der Aufwand für diese Gespräche ist hoch, die gegenseitige Kontaktpflege Schule – Betrieb würde sich aber sehr lohnen. „Wenn man ein Gesicht vor sich sieht, ist es viel einfacher, den Kontakt aufzunehmen“, so H.
IB
IB werde für alle EBA Lernende in der Schweiz angeboten, aber jeder Kanton verfolge ein eigenes Konzept. In Graubünden werde iB gezielt denjenigen Lernenden angeboten, bei denen das erfolgreiche Bestehen der Ausbildung mit Abschluss Qualifikationsverfahren gefährdet sei. Von Lehrbeginn im August bis Anfangs-Mitte Februar sei die Zeit ausreichend, um die Lernenden zu beobachten und einzuschätzen. – Wenn nun beispielsweise festgestellt werde, ein Lernender sei sehr unorganisiert, bzw. unstrukturiert, dann wird erst einmal er gefragt, ob er willens sei, iB in Anspruch zu nehmen. Bei einem Ja fragt man den Betrieb, ob dieser bereit sei, den Lernenden einen zusätzlichen halben Tag in die Schule zu schicken. Bisher hätten alle Betriebe unisono zugesagt. Wichtig sei, dass eine Fördermassnahme nicht am regulären Schultag angehängt werde, sondern an einem zusätzlichen Tag stattfindet. Die Lernenden werden in Kleingruppen von höchstens fünf eingeteilt, wobei man bestrebt ist, ähnliche Problematiken zusammenzubringen. Also beispielsweise wer zu wenig strukturiert ist, wird in der Gruppe auf seinesgleichen treffen. In der iB kommen Programme zur Anwendung, die spezifisch auf die Bedürfnisse der Gruppen zugeschnitten sind – iB ist keine Hausaufgabenhilfe. Unterrichtet wird iB vor allem durch eine Lehrperson, die sich in diese Aufgabe eingearbeitet und mit gezielten Weiterbildungen darauf vorbereitet hatte.
IB scheint eine Erfolgsgeschichte zu sein. Lehrpersonen würden rückmelden, sie spüren es (im positiven Sinne), wenn ein Lernender iB in Anspruch nimmt. Es gebe auch nur sehr wenige Lehrlinge, die das abschliessende Qualifikationsverfahren nicht bestehen würden. Und wenn, dann hätten sie nicht wegen der Schule, sondern wegen des im Betrieb vermittelten Stoffes, bzw. Praxis, nicht bestanden.
Während die meisten Betriebe sich enorm Mühe in der Ausbildung geben, gibt es leider auch solche, die ihre Ausbildungspflichten arg vernachlässigen. Das sei dann schon frustrierend für die Lernenden und deren Umfeld. Die Aufsichtsorgane, das Berufsinspektorat, könne sich nur um die ärgsten Fälle kümmern, eine Art Qualitätssicherung für alle Lehrbetriebe gebe es nicht.
Lehrwerkstätten oder betriebliche Ausbildung?
Die bestehenden Lehrwerkstätten werden nicht in Frage gestellt, aber nach H. sind sie kein Zukunftsmodell, das auszubauen wäre. Die bestehenden Strukturen genügen vollauf. Die betriebliche Ausbildung ist näher an der späteren Praxis, was ein Vorteil ist. Zu begrüssen wären aber Modelle, wo der Lernende einen Teil der Lehre im Betrieb A und die übrige Lehrzeit im Betrieb B absolvieren könnte. Die Betriebe würden sich immer mehr spezialisieren. Beispielsweise gibt es Betriebe, die nur Küchen einbauen. Eine zu scharfe Spezialisierung könne für den Lernenden auf dem Arbeitsmarkt aber ein Nachteil sein. Mit diesem Modell hätte der Lernende Gewähr, den Beruf in einer grösseren Vielfalt kennenzulernen.
Lernende treten in die Berufsschule ein und sind ein „unbeschriebenes Blatt“. Von den Vorgängerschulen werden keine Akten weitergegeben. Ein Beispiel: H. habe von einem Schüler erfahren, dass er regelmässig Ritalin einnimmt wegen seines ADHS. So etwas erfahren Lehrpersonen nur direkt von den Schülern. – Für Jugendliche mit einer schwierigen Lerngeschichte oder solchen, die aufgrund von Lernschwächen oder leichten Behinderungen kaum Chancen auf dem freien Lehrstellenmarkt hätten, gibt es die „Lernstatt Känguruh“, „La Capriola“ in Davos und die Casa Depuoz in Trun. Bedingung für die Aufnahme ist eine SVA Abklärung. Diese Institutionen bieten ein begleitetes Lernen an, bzw. auch Wohnen und Lernen. Die Lehrabschlüsse zum Beispiel als Schreiner, Gärtner, Maler oder im Gastrobereich sind ganz normale Abschlüsse, so dass die Absolventen ausserhalb einer geschützten Institution eine Arbeitsstelle bekommen können.
Anlehren und Attestausbildungen
Dass Anlehren besser auf die Bedürfnisse der Jugendlichen und der Betriebe zugeschnitten gewesen sind als Attestausbildungen, kann H. nicht bestätigen. Dieses Argument komme typisch von den Metallbauern – die sie hier an der GBC nicht ausbilden. Umgekehrt wird die Durchlässigkeit EBA > EFZ rege genutzt, so möchten rund 50% der Automobilassistenten die Lehre zum Automobilfachmann machen, was eine sehr hohe Rate ist.
Das Standard-Modell der Durchlässigkeit, nämlich nach der EBA Ausbildung ins zweite EFZ Jahr einzusteigen, sei problematisch. Die Inhalte decken sich nicht immer, das Tempo in der EFZ Ausbildung ist wesentlich höher; so würden sich viele Jugendliche entscheiden, ins erste EFZ-Lehrjahr einzusteigen. Beispielsweise wird bei Sanitär- und Heizungsmonteuren das Fach Zeichnen und gewisse Mathemodule in den zwei EBA Jahren gar nicht abgedeckt. Lernende, die ins zweite EFZ-Jahr wechseln, müssten den Stoff nachholen plus das höhere Tempo verkraften, was für viele eine unüberwindbare Hürde ist. - Was auch noch häufig praktiziert werde, ist nach dem ersten Jahr EBA ins erste EFZ-Lehrjahr zu wechseln, vor allem wenn erkannt werde, dass die Jugendlichen schulisch und beruflich sehr stark seien. Bei diesem Verfahren müsse die EFZ-Lehre dann schon funktionieren, da die Jugendlichen sonst ohne Abschluss dastehen würden.
Zu hohe Anforderungen
H. bestätigt das Argument, dass von Seiten der Verbände die EFZ-Berufslehren oft stofflich überladen werden. Dieser Trend ist auch in den EBA- Ausbildungen sichtbar geworden. Beispielsweise bei den Automobilassistenten. „Ist es denn nötig, dass diese den Widerstand eines Lämpchens berechnen können müssen?“ - Für den Praktiker reicht es doch, wenn er mit der Bezeichnung der Glühbirne die richtige aus dem Lager holt und einsetzt. – Die Lernenden, die auf ihrer Stufe tätig sein wollen, werden mit Ballast geplagt, der nur denjenigen nützt, die eine Ausbildung auf der nächsthöheren Stufe oder im Tertiärbereich anpeilen.
Bei der EBA Ausbildung wird der Spagat gemacht, zwischen denen, die danach die EFZ-Lehre Automobilfachmann erlernen wollen und den praktisch orientierten, die im Beruf tätig sein wollen. Wegen ersteren packt man die Lehrgänge mit (allzu) viel Schulstoff voll, die letztere nicht brauchen. – Immerhin hat man bei den Automobilassistenten das Problem erkannt und den Stoff wieder etwas reduziert.
Bei den Coiffeur-Betrieben finde die EBA-Lehre immer mehr Akzeptanz, was an einem Treffen deutlich zum Ausdruck gekommen ist. Bei diesen Betrieben wird als Problem verspürt, dass manche Lernende Mühe mit der grossen Stofffülle hätten, die in den drei Jahren zu bewältigen ist. Solche Personen könnten, statt die Lehre aufzugeben, in die EBA Ausbildung wechseln und hätten so wenigstens einen Berufsabschluss.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Lernförderung, Hausaufgabenhilfe, Freikurse Gewerbliche Berufsschule Chur
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
LERNFÖRDERUNG / KURSE / HAUSAUFGABENHILFE
Freikurse
Unsere Freikurse richten sich an Lernende, die ihre Kompetenzen zusätzlich zum Berufsschulunterricht erweitern möchten.
Trainingsmodule
Unsere Trainingsmodule richten sich an Lernende, die ihre Leistungen im Berufsschulunterricht steigern möchten.
Spezialklasse "Allgemeine schulische Bildung (ABU) + Deutsch intensiv"
Das Angebot richtet sich an Lernende mit einer 3- oder 4-jährigen Grundbildung EFZ. Für die 2-jährige Grundbildung EBA bestehen andere, angepasste Angebote.
Vorbereitungskurse auf die Aufnahmeprüfung Berufsmaturitätsschule (BM 1)
Unsere Kursangebote richten sich an alle, die sich zielgerichtet auf die Aufnahmeprüfungen für die Berufsmaturitätsschule lehrbegleitend vorbereiten möchten.
Vorbereitungskurse auf den Unterricht der Berufsmaturitätsschule (BM 2)
Unsere Kursangebote richten sich an alle, die sich zielgerichtet auf den Unterricht der Berufsmaturitätsschule Vollzeit nach der Lehre vorbereiten möchten.
Hausaufgabenhilfe
Unsere Hausaufgabenhilfe richtet sich an Lernende, die Unterstützung bei der Erledigung von Hausaufgaben brauchen, die an der Verbesserung von Arbeitstechnik, Lern- und Prüfungsstrategien arbeiten wollen.
(Aus der Homepage der Gewerblichen Berufsschule Chur)
Abgrenzung
Freikurse sind ausserhalb des regulären Unterrichtsstoffs angesiedelt. Darin kann ein Fach vertieft und erweitert werden, oder es sind Angebote, die sich nicht mit den Fächern der Grundbildung decken.
Nicht vergleichbar mit den Freikursen sind die Unterstützungsangebote, namentlich die Hausaufgabenhilfe und die Trainingsmodule.
Zugang zu den Unterstützungsangeboten
Die wichtigste Ansprechperson ist die Lehrperson. Sie sucht das Gespräch mit dem Lernenden, manchmal gibt sie den Anstoss, vielleicht übt sie sanften Druck aus. Aber es sind die Lernenden, die - einmal überzeugt - ja zum Besuch eines Unterstützungsangebots sagen müssen.
Lehrpersonen können mit dem Formular „Meldung über erbrachte Leistungen“ Empfehlungen aufgrund von Leistungen abgeben. Leistungen, die nicht zwingend mit Noten belegt werden müssen. Das Formular ist ein Mittel um rasch zu reagieren, wenn Handlungsbedarf ist. Damit soll unabhängig vom Zeugnis - das Formular geht auch an den Lehrbetrieb - ein Prozess ausgelöst werden, der das Ziel hat, den Lernenden wieder auf Kurs zu bringen. Zusätzlich dient das Papier der Dokumentation und Absicherung.
Dieser formalisierte Weg wird nicht oft gebraucht. Das persönliches Gespräch mit dem Lernenden, wie auch ein Telefon mit Lehrbetrieb, genügen oft.
Nicht immer könne mit einer intrinsischen Motivation des Jugendlichen für ein Unterstützungsangebot gerechnet werden, es braucht häufig einen Anstoss. Im Gespräch aber lassen sich die Jugendlichen überzeugen.
Trainingsmodule
Die Module sind jeweils am Samstag, also ausserhalb der normalen Schulzeiten. Sie sind alle gleich organisiert, egal in welcher Ausrichtung: Die Dauer ist 7 Wochen à 3 Lektionen. Wer zugesagt hat, verpflichtet sich für den vollumfänglichen Besuch. Die Trainingsmodule starten zweimal im Jahr, im Herbst und Frühling. Eine parallele Belegung ist nicht möglich, dies würde wegen Überforderung keinen Sinn machen. Das zweite Modul kann vertiefend sein und somit ans erste anknüpfen, oder ein anderes Thema. Dies wird individuell mit dem Lernendem festgelegt.
Die einzige Ausnahme, wo maximal drei Module möglich sind, ist in der Elektrobranche. Dort wird um Weihnachten ein berufsspezifisches Modul angeboten.
Der Samstag wird von den Lernenden rückblickend geschätzt. Zwar ist damit ein zusätzlicher Aufwand verbunden, indem ein Teil des Wochenendes hergegeben wird, aber es sei ganz ok, weil die Lernenden merken, dass sie am Samstag frisch sind und gut aufnehmen können.
Die Frage, ob der Samstag der beste Tag für die Trainingsmodule sei, wurde innerhalb der Schule aufgeworfen, in der Folge dann aber der Status quo von allen Seiten bestätigt.
Hausaufgabenhilfe
Dieses Unterstützungsangebot findet jeweils am Abend von 17 – 19 Uhr, dreimal pro Woche, statt. Es ist ein niederschwelliges Angebot. Die Lernenden tragen sich zu Beginn ein und bleiben mindestens eine Lektion dort. Es gibt keine Rückmeldung an den Lehrbetrieb, wer von diesem Angebot Gebrauch macht.
Die Nutzung ist Schwankungen unterworfen. Manche Jugendliche werden zugewiesen von der Stiftung „die Chance“. In Phasen mit geringer Belegung habe man sich auch schon gefragt, ob das Angebot noch einem Bedürfnis entspreche. Die drei Lehrpersonen, welche die Hausaufgabenhilfe betreuen, melden nun aber, dass die Belegung massiv angezogen habe (die Statistik belegt dies). - Bis ein Angebot etabliert ist, brauche es einfach Zeit.
Nicht alle Jugendliche in der Hausaufgabenhilfe wenden sich mit Fragen an die Lehrperson. Manche nutzen die Angebotsstruktur, weil sie darin gut selbständig arbeiten können und ihre Hausarbeiten erledigen wollen.
Lernen zu lernen
Wohl hat es Überlegungen gegeben, Lerntechniken als Kursprogramm anzubieten. Man habe ein solches Programm als Freikurs angeboten, es war aber bei den Lernenden auf wenig Resonanz gestossen.
Lernhilfen und Lerntechniken sind aber ein Thema innerhalb der Unterstützungsangebote. Allein schon aus der Konstellation heraus, dass die anwesenden Lehrpersonen von anderen Fachgebieten als die zu unterstützenden Jugendlichen kommen können, bringt es mit sich, dass die Lehrpersonen eher Anleitungen zum Vorgehen geben als konkrete Antworten auf die Fachfragen.
Für die Module werden die Lernenden angehalten, den Lernstoff mitzubringen. Aber auch die Lehrperson, die den Besuch des Unterstützungsangebotes empfohlen hat, bereitet dieses vor. Als Beispiel nennt K., dass er den Lernstoff in Mäppchen seinen Kollegen (die Lehrpersonen des Moduls) kopiert zur Verfügung stellt. Trotzdem: Der Anspruch an die Lehrpersonen des Trainingsmoduls ist gross, weil ganz unterschiedliche Bedürfnisse der Jugendlichen abgedeckt werden sollen.
Innerhalb der Gewerblichen Berufsschule gebe es weiter noch spezifische Unterstützungsangebote, die sich ausschliesslich an EBA-Lernende richten und in diesem Gespräch nicht thematisiert werden.
Unkomplizierte und rasche Kontaktaufnahme
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Anstoss oft durch die Lehrperson kommt. Die Initiative geht dann durch die Lernenden aus, wenn sie in Berufslehren sind, wo ein hohes Mass an Selbständigkeit erwartet wird. Können die Lernenden überzeugt werden, kommen sie auch in die Unterstützungsangebote. Allerdings zeigt sich in den Gesprächen mit ihnen, dass die Lösung nicht immer Trainingsmodule oder Hausaufgabenhilfe heissen muss. Beispielsweise könne es auch ein Plan zum Nacharbeiten sein, mit Unterstützung des Betriebs.
Bei Schwierigkeiten greife man schnell zum Hörer und tauscht sich mit dem Betrieb aus. Die Geschwindigkeit der Kontaktaufnahme ist entscheidend – damit man reagieren könne, bevor die Probleme übergross werden. Von Vorteil ist, dass K. die meisten Ansprechpersonen der Betriebe nach 20 Jahren an der Gewerbeschule persönlich kennen würde, oft seien die Ausbildner selbst hier in die Berufsschule gegangen. – Manchmal genüge schon ein Hinweis, worauf man beim betreffenden Lernenden achten solle, nicht in jedem Fall sei eine unterstützende Massnahme nötig. – Im Gespräch lasse sich vieles einfacher lösen als über einen formalisierten Informationsweg.
Die unkomplizierte und rasche Kontaktaufnahme – meistens von der Berufsschule ausgehend - wird von den Betrieben geschätzt, der durch die Lehrpersonen geleistete Aufwand lohne sich.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Berufsschullehrperson Attestausbildung Bäcker
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Untenstehend ist die ergänzende Kurzzusammenfassung aus dem Unterrichtsbesuch. Die Interviews mit den Lernenden sind separat aufgeführt, sie fanden im Rahmen des Berufskundeunterrichts statt.
Abgrenzung EBA-EFZ
In der EBA-Ausbildung ist das Spektrum der Lernenden sehr weit gefächert. Es reicht von Asylanten bis zu eher schulschwachen Schülern, von verhaltensauffälligen bis gut angepassten Jugendlichen. Altersmässig reicht die Spanne bis zum 40jährigen, der in seiner syrischen Heimat 20 Jahre Berufserfahrung in einer Patisserie aufgebaut hat. In der berufspraktischen Ausbildung im Betrieb unterscheiden sich beide Lehrgänge kaum. Ganz anders hier an der Berufsfachschule. Das Lehrmittel in der Berufskunde ist dasselbe, aber in der EBA-Ausbildung werden nur ausgewählte Kapitel geprüft, während für die EFZ-Ausbildung viel mehr Hintergrundwissen gefordert wird. Ebenso sind die Ansprüche in Rechnen und Deutsch bei der EFZ-Ausbildung wesentlich höher.
Bei der Entscheidung, welcher Lehrgang für einen Jugendlichen der angemessene ist, zeigt sich immer wieder, dass die Sprache Deutsch der Knackpunkt ist.
In der Berufsschule ist das Tempo der Stoffvermittlung bei der EBA-Ausbildung weit weniger hoch als bei der EFZ-Ausbildung. Die Lehrpersonen nehmen sich Zeit um auf individuelle Bedürfnisse einzugehen und den Lernstoff am bestehenden Wissen der Schüler anzuknüpfen. Der Unterricht zeichnet sich dadurch aus, dass immer wieder Bezüge zum Handeln in den Betrieben hergestellt werden: „Wie macht ihr das in eurem Betrieb?“ ist – mit Abwandlungen – eine häufig gestellte Frage. Die Schüler werden so angeregt, die Unterschiede zwischen den einzelnen Betrieben herauszuarbeiten und das eigene Tun zu reflektieren.
Weitergehende Fördermassnahmen
Es gibt im Rahmen des GBS Förderkurse Rechnen, die abends stattfinden.
Bei dieser Ausbildungsgruppe der angehenden Bäcker reizen die Lehrpersonen ihre Rahmenbedingungen aus, indem sie Team-Teaching-Lektionen zur individuellen Förderung ausnutzen. Die Asylanten bekommen noch zusätzliche Förder-Deutsch-Stunden, indem sie alle 14 Tage vom Sportunterricht freigestellt werden.
Zu erwähnen ist, dass das Umfeld vieler Lernenden oft wenig Unterstützung bieten kann. Als Beispiel: Nur drei Elternteile erschienen zum Elternabend.
Marktchancen
Nach abgeschlossener EBA-Ausbildung werden die Lernenden als vollwertige Bäcker in ihren Betrieben eingesetzt. Der Unterschied zu den EFZ-Absolventen zeigt sich vor allem im Lohn, der um 300.- geringer ausfällt.
Günstig ist es, wenn die EBA-Absolventen im selben Betrieb weiter beschäftigt werden können. Bei der Stellensuche auf dem Arbeitsmarkt sind die Marktchancen eher gering – EFZ Absolventen werden klar bevorzugt, was von der praktischen Arbeit her nicht gerechtfertigt scheint.
Qualität der Ausbildungsbetriebe
Hier zeigen sich beträchtliche Unterschiede. Leider gebe es Betriebe, die wohl bekannt sind, EBA Lernende vor allem als vollwertige Arbeitskraft einzusetzen und sich zu wenig Zeit für eine fundierte praktische Ausbildung nehmen würden. Für den Lernenden in einem solchen Betrieb ist die Gefahr gross, dass das Lehrverhältnis gegen Ende der Lehre aufgelöst werde oder er das QV nicht besteht.
Transkript des Gesprächs mit…
Funktion: Sozialberatung KSD am Gewerblichen Berufsschulzentrum in St. Gallen
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Kirchlicher Sozialdienst (KSD) an den Berufsfachschulen
An allen Berufs- und Weiterbildungszentren im Kanton St. Gallen führt der Kanton St.Gallen in Kooperation mit den beiden Landeskirchen ein niederschwelliges Beratungsangebot für Lernende und deren Bezugspersonen. Dieses Angebot nennt sich Sozialberatung oder Sozialdienst KSD
neutral – vertraulich – unkompliziert – kostenlos
- Eine Dienstleistung für Lernende und ihr Umfeld
- bei Fragen, Krisen in der Lehre, Schule oder zu Hause, bei Stresssituationen
- oder einfach, wenn man jemanden zum Reden braucht.
Wir sind da für:
- Lernende des Berufs- und Weiterbildungszentren im Kanton St. Gallen
- Lehrende, Ausbildende und Eltern (Bezugspersonen) von Lernenden
Was wir anbieten:
- Beratung von Lernenden bei Fragen rund um die Lehre
- Beratung und Begleitung bei schulischen, beruflichen und/oder persönlichen Problemen
- Coaching während schwierigen Ausbildungsphasen
- Unterstützung/Begleitung bei der Suche nach spezifischen Hilfsangeboten
Diskretion und Kosten:
- Beratungen sind kostenlos.
- Die Stellen unterstehen der beruflichen Schweigepflicht.
- Das Angebot ist freiwillig.
- Die Stellen sind konfessionell neutral.
Kirchlicher Sozialdienst an Berufs- und Weiterbildungszentren im Kanton St. Gallen
- Berufs- und Weiterbildungszentrum Buchs SG (BZB)
- Berufs- und Weiterbildungszentrum Rapperswil (BWZ)
- Berufs- und Weiterbildungszentrum Rorschach - Rheintal (BZR)
- Berufs- und Weiterbildungszentrum Wil-Uzwil (BZWU)
- Berufs- und Weiterbildungszentrum Toggenburg in Wattwil/Lichtensteig (BWZT)
- Berufs- und Weiterbildungszentrum für Gesundheits- und Sozialberufe St.Gallen (BZGS)
- Berufsschulzentrum Sarganserland (BZSL)
- Gewerbliches Berufs- und Weiterbildungszentrum St.Gallen (GBS)
- Kaufmännisches Berufs- und Weiterbildungszentrum St.Gallen (KBZSt.Gallen)
Trägerschaft
Der Sozialdienst KSD (Kirchlicher Sozialdienst) wird von den beiden Landeskirchen mit je 20 % finanziert sowie vom Kanton St.Gallen mit 60 %.
(Aus: https://www.gbssg.ch/sozialberatung-ksd.html und http://www.ref-sg.ch/ksd/ )
Bedürfnis nach Beratung ist klar ausgewiesen
Die Beratungsstelle KSD ist gut ausgelastet, das Bedürfnis nach Beratung ist in den letzten Jahren stetig gewachsen. Zugenommen hätten insbesondere Fälle, denen eine psychische Problematik zugrunde liegt. Diese sind in der Bearbeitung auch sehr aufwändig. Die Abgrenzung lässt sich oft nicht eindeutig ziehen, wann es sich um eine psychische Krankheit und wann um eine psychische Belastung handle. Der KSD ist in regelmässigem Austausch mit dem KJPD (Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst), auch diese Fachleute würden von einer klaren Zunahme von psychischen Problematiken sprechen, ebenso Lehrpersonen. Wenn vom KSD auch nicht mit Zahlen belegt, so scheint dieser Trend nach Wahrnehmung der involvierten Fachpersonen eindeutig. Die Frage nach den Gründen stellt sich, welche Faktoren einen Einfluss ausüben und vor allem, wie Schule und Ausbildung mit diesen Herausforderungen umgehen. Dass Jugendliche aus ländlichen Gebieten psychisch robuster als die aus urbanen seien, könne so nicht gesagt werden. Möglicherweise äussern sich die Probleme anders, aber ein wesentlicher Unterschied sei aus B’s Sicht nicht feststellbar.
Übergang Schule – Beruf
Die Reife des Jugendlichen ist ein grosses Thema. Dabei sprechen wir von der Reifung der Persönlichkeit, etwas aushalten zu können, von der Selbstregulation und Impulskontrolle, vom Konfliktverhalten, vom Umgang mit schlechten Gefühlen und Belastungen. Manche Jugendliche – es sind fast ausnahmslos männliche Jugendliche – kommen sehr schnell an den Anschlag und wissen nicht, wie angemessen zu reagieren ist.
Die Volksschule mag solche Faktoren begünstigen, die Jugendlichen werden umsorgt und Wege sind vorgespurt. Die Schüler müssen kaum Verantwortung übernehmen und aktiv ihre Zukunft gestalten. Manche Realschulen, so scheint es, seien indifferent gegenüber ihren Schülern, was geht oder eben nicht. – Beim Übergang in die Berufswelt erleben die Schüler eine scharfe Zäsur. Gerade in Dienstleistungs- und Bauberufen sind die Anforderungen hoch, und das vom ersten Tag an. Es gibt keinen sanften Einstieg, nach spätestens zwei Wochen müssten die Lernenden funktionieren, die verlangten Skills abrufen können und das Tempo dabei hoch halten. „Wenn man etwas einmal gesagt hat, muss man sich das merken können!“ – „Jugendliche haben heutzutage eine schlechte Merkfähigkeit!“, sind Sätze, die dann von Ausbildnerseite eingeworfen werden.
Der Typus des Schülers, der auf die Arbeitswelt trifft, bildet ein äusserst störungs- und konfliktanfälliges System.
Braucht es von Seiten der Lehrbetriebe einfach mehr Geduld?
Die Fälle sind so unterschiedlich, wie man sie sich nur vorstellen kann. Zwischen den Anforderungen der einzelnen Ausbildungsbetrieben klaffen Welten. Nicht zu vergessen sind die Betriebe, die darauf angewiesen sind, ihre Lernenden früh produktiv einzusetzen, was die Gefahr, Stress zu erzeugen, verschärft.
Fühlen Jugendliche sich willkommen im Betrieb, werden gut aufgenommen und wertgeschätzt von den Mitarbeitern und Vorgesetzten, dann empfinden sie ihr Berufsumfeld als gut.
„Das ist für das Bestehen einer Lehre absolut matchentscheidend - nebst den Inhalten“, stimmt B. zu. Wenn ein Lehrmeister von seiner inneren Haltung aus bereit ist, den Jugendlichen als Ganzes wahrzunehmen und sieht, wie dieser in seinem Umfeld gefordert ist, welchen Grad an Reife und kognitiver Ausrüstung er erwarten darf, dann ist viel gewonnen.
Die Zeiten einer paternalen Führung der Lernenden sind vorüber, daran könne nicht mehr länger festgehalten werden. Die Jugendlichen seien es gewohnt, mitzudenken, in Frage zu stellen und zu partizipieren. Umgekehrt haben sie aber auch zu lernen, dass eine Anweisung ihres Chefs unwidersprochen auszuführen ist. Die Verhandlungsthemen haben eindeutig zugenommen, damit sind Konflikte vorprogrammiert, wo es früher einfach nichts zu verhandeln gab.
Entwicklungen im dualen Ausbildungssystem
Das Ziel des Bundes ist, dass 95% der Schulabgänger eine EFZ oder EBA Ausbildung abschliessen. Die Anlehren sind verschwunden, nicht aber die Schüler, für die eine Anlehre die geeignete Ausbildungsstufe gewesen ist. B. hält die Abstufung EBA und EFZ für sinnvoll, wenn man dabei die Anlehre für schulschwache Schüler beibehalten hätte.
Leider geht der Trend in die entgegengesetzte Richtung. Es werde nun diskutiert, die EFZ- Ausbildung in einigen Bereichen der Bauberufe auf vier Jahre zu erhöhen. Eine umstrittene Entwicklung. Die Schwierigkeiten seien für viele Jugendliche schon immens, eine dreijährige Lehre zu bestehen, bei einer Erhöhung auf vier Jahre und dem Mehr an Stoff würde der Stress für diese Gruppe von Jugendlichen weiter erhöht. Im zu hohen Druck mag wohl ein Faktor von vielen für die Zunahmen von psychischen Problemen bei Jugendlichen liegen. Zielführender wäre es, wie bisher nach drei Jahren einen Berufsabschluss zu erlangen und gleichzeitig die Lernenden zu motivieren, weiter zu machen. Man solle das Fuder nicht mit zu viel Lernstoff überladen und den praktisch ausgerichteten jungen Menschen ermöglichen, als gute Berufsleute zu wirken. Die Grundausbildung ist deutlich abzugrenzen von den Inhalten, die im tertiären Bereich anzusiedeln sind. Dieser Trend nach immer mehr in die Grundausbildung zu packen kommt von Seite der Berufsverbände, nicht der Berufsschulen. – B. weist zudem auf die mangelnden Deutsch-Fertigkeiten von vielen Jugendlichen hin, und zwar betont sie, von den Jugendlichen, die in der Schweiz aufgewachsen sind. Eine Vertiefungsarbeit zu schreiben sei für manche eine massive Überforderung – wegen ihrer Sprachdefizite. Ohne weitgehende Hilfe aus ihrem Umfeld sei die Aufgabe nicht zu schaffen. Es wäre sinnvoller, Deutsch intensiver zu schulen, damit die mündliche und schriftliche Sprachfähigkeit verbessert werde.
Der Interviewer wirft ein Beispiel eines Hotels ein, das eine junge Frau mit schlechten Deutschkenntnissen nicht als Lernende eingestellt hatte, weil die Ausbildnerin sich ausserstande sah, nebst den praktischen Fertigkeiten ihr auch noch Deutsch zu vermitteln, bzw. die schriftlichen Arbeiten zu korrigieren und redigieren.
„Unglaublich“, schüttelt B. den Kopf, dabei wisse man von vielen Studien, dass in diesem Alter wohl die letzte Möglichkeit sei, an den Deutschkenntnissen zu feilen, danach seien die Jugendlichen auf sich gestellt. Die Sprache sei ein Schlüsselfaktor um den Jugendlichen zu ermächtigen, sein Berufsleben zu gestalten und in die Hand zu nehmen. – Leider seien die Sichtweisen der Praktiker kaum gefragt bei der Schaffung von Strukturen.
Die Unterschiede „gute Lehrbetriebe“ zu „schlechten Lehrbetrieben“ seien immens und es werde zu wenig getan um für ein Mindestmass an Ausbildungsqualität zu sorgen.
B. hat die Erfahrung gemacht, dass es vor allem im Dienstleistungssektor Lehrstellen gibt, die sich auf die Entwicklung der Lernenden schädlich auswirken können. Oft werden als Folge davon das Lehrverhältnis aufgelöst. Solche Jugendliche kommen dann zu B. in die Beratung und seien erst mal einfach froh, weg vom Betrieb zu sein. Es gelte dann, diese jungen Menschen aufzufangen und zu stabilisieren, bevor weitere Perspektiven entwickelt werden können. Diese Jugendlichen seien oft nicht bereit, die Fakten, die zur Auflösung des Vertrags geführt hatten, für das Amt für Berufsbildung aufzuschreiben. Die erlittenen Verletzungen wirken noch nach oder die Loyalität ihrem früheren Lehrmeister gegenüber mögen Gründe dafür sein. - Wie auch immer, ohne Bericht könne das Amt für Berufsbildung nicht aktiv werden. - Ob die Aufsichtsstelle mehr tun könnte? - B. möchte sich nicht anmassen, den schwarzen Peter der einen oder anderen Seite zuzuweisen. – Gerade aber im Gastrobereich mit seinem bekanntermassen autoritären Führungsstil sei B. wiederholt mit unschönen Abgängen und nachhaltigen Verletzungen der Jugendlichen konfrontiert gewesen.
Solche Erfahrungen haben dazu geführt, das Projekt „Begleiteter Lehrstellenwechsel“ zu initiieren.
Lernende aus dem Gastrobereich (Koch, Restaurationsfachmann[1], sowohl EFZ wie EBA), die ihren Lehrvertrag aufgelöst haben, für die gleichwohl eine Stelle in ihrem Lehrberuf wieder in Frage kommt, werden betreut und „fit“ für eine neue Lösung gemacht. Geleitet werden die Kurse von der Stiftung „Förderraum“, welche kantonseigene Cafeterien führt, wo die Jugendlichen in ihrem Lehrberuf arbeiten, überbetriebliche Kurse besuchen und somit am Ball bleiben, bis eine Anschlusslösung aufgegleist ist.
Die Ziele sind:
- Gewährleistung zeitlich beschränkter, agogisch und fachlich betreuter und begleiteter Arbeitsplätze für Lernende
- Abklärung des aktuellen praktischen Leistungsstandes
- Kooperation und Austausch mit den involvierten Stellen und Bezugspersonen
- Finden einer Anschlusslösung
Einzigartig an diesem Projekt ist, dass es gelungen ist, die wichtigsten Ansprechpartner des Jugendlichen rund um eine Ausbildung im Gastrobereich zur Kooperation zu bewegen. Damit scheint eine mögliche Plattform zum gegenseitigen Austausch geschaffen worden zu sein, die Anregungen für zukünftige Entwicklungen in der Gastro-Ausbildung geben könnte. Dieses Projekt hat Modellcharakter und könnte auch in anderen Branchen Nachahmung finden.
Die Kooperationspartner sind:
- Amt für Berufsbildung (ABB)
- Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) und Regionales Arbeitsvermittlungszentum(RAV)
- Berufsfachschulen, Gastronomieberufe
- Gastro St.Gallen (ÜK Kursanbieter)
- Sozialdienst KSD (KSD)
(Kursiv: Ausschnitte aus Kurzbeschrieb Lehrstellenwechsel)
Entwertende Sprachformen gegenüber Jugendlichen
Die raue Sprache auf dem Bau oder in der Gastronomie ist ein Faktor, der sich für die Jugendlichen zur Belastung auswachsen kann. Zwischen Baugewerbe und Gastronomie gilt es eine Unterscheidung zu treffen. Auf dem Bau mag zwar die Sprache ruppig sein, sie ist aber gleichermassen rau gegenüber allen, unabhängig von deren Funktion und Stelllung. Die Lehrlinge haben geregelte Arbeitszeiten, zu ihrem Schutz werde einiges unternommen; die Regulierungen werden eingehalten und geprüft – Anders in der Gastronomie. Wenn man deren Geschichte kennt und weiss, dass die Hilfskräfte in der Küche früher wie Leibeigene gehalten wurden, dann beschleicht einen das Gefühl, etwas davon schwinge in einigen Betrieben noch heute nach. In den schlechten Beispielen ist der Führungsstil rau, die Leute arbeiten auf engstem Raum zusammen. Paradox dabei ist, dass der Betrieb auf jede einzelne Arbeitskraft angewiesen ist, trotzdem den Lernenden auf der untersten Stufe abwertend behandelt. Fehlt einer krankheitsbedingt, bekommt er danach in subtilen Botschaften vermittelt, er habe den Betrieb im Stich gelassen und es wird Druck aufgebaut, dass er es kaum mehr wagen würde zu fehlen, wenn er wieder einmal erkranke. - Natürlich gebe es wie überall geeignete und weniger geeignete Betriebe, der Rest bewege sich in der Mitte. Der entscheidende Unterschied im Kommunikationsverhalten sind die entwertenden Äusserungen wie: „Du bist zu langsam!“ – „Das kannst du nicht!“, denen die Lernenden nichts entgegensetzen können – Jugendliche würden sehr wohl unterscheiden zwischen rauer und entwertender Sprache.
Die Sprache mag ein Faktor sein, die unregelmässigen, langen und mit stressigen Phasen durchzogene Arbeitszeiten in der Küche, der Druck, der auf den Schwächsten in der Kette ausgeübt wird; all dies zusammen schaukelt sich in einem dynamischen Prozess auf, bis es dann nicht mehr geht.
Wie gelangt die Sozialberatung KSD zu den Jugendlichen?
Schlüsselfaktor für die Zuweisung von Ratsuchenden sind die Lehrpersonen. Wichtig ist, dass sie das Angebot gut finden und entsprechend bei Anzeichen ihrer Schüler reagieren, beispielsweise bei Überforderung. Es braucht zumeist einen Anstoss, vielleicht etwas sanften Druck, damit die Jugendlichen kommen würden. Die Sozialberatung KSD ist umgekehrt auf die Kooperation der Lehrpersonen angewiesen, damit die Zuweisung der Klientel erfolgt.
In der Regel kommt der Anstoss, sich beim KSD anzumelden, von einer erwachsenen Vertrauensperson. In einzelnen Fällen hätten Jugendliche sich selbst angemeldet, die Sozialberatung hätten sie an einer Info-Veranstaltung kennengelernt. Manchmal werden Jugendliche von Gleichaltrigen auf die Stelle aufmerksam gemacht, besonders, wenn diese selbst damit gute Erfahrungen gemacht haben. Die Jugendlichen selbst sind dem Beratungsangebot gegenüber erstaunlich offen. Die Zeiten, wo Beratung in Anspruch zu nehmen verbrämt kaschiert wird, weil mit Scham behaftet, scheinen allmählich überwunden zu sein. – Wichtig ist zu wissen, dass die Jugendlichen in ihrer Not darauf angewiesen sind, einen Anstoss von aussen zu bekommen. Es muss jemand merken, dass die betreffende Person in sich gekehrt ist, lustlos und apathisch wirkt, launisch ist oder sonst nicht „sie selbst“ ist. Lehrpersonen fällt eher ein Leistungsabfall auf, häufige Absenzen, das Verweigern im Unterricht.
KSD im Klosterviertel
Die soziale Beratungsstelle ist seit einiger Zeit in der Kugelgasse in St. Gallen untergebracht, ausgelagert von den Schulhäusern des GBS. Die Kontaktpflege mit den Lehrpersonen darf nicht vernachlässigt werden, es gilt Präsenz in den Schulhäusern zu markieren und die Lehrerzimmer während Pausen zu besuchen. Die Lehrpersonen, die früher gut mit dem KSD zusammengearbeitet hätten, als dieser im selben Schulhaus beheimatet war, tun dies auch weiterhin. Die zufälligen Kontakte im Korridor „Gut, dass ich dich antreffe, ich hätte da noch einen Fall…“ fallen nun dahin, was aber kein Verlust ist, da einer solchen Kontaktaufnahme die Ernsthaftigkeit abgeht. Für Lehrpersonen, die den KSD als Teil ihres beruflichen Netzwerkes begreifen und die interdisziplinäres Denken gewohnt sind, spiele es keine Rolle, wo der Sozialdienst beheimatet sei.
Die Jugendlichen selbst würden es schätzen, dass der Sozialdienst nicht im selben Schulhaus ist, wo sie von jedermann beobachtet werden können, wenn sie an die Türe klopfen. Die Hin- und Rückfahrt geben ihnen Raum, um Distanz vom Schulalltag zu schaffen. Ebenso würden es die Eltern schätzen, wenn sie sich nicht an Schülergruppen vorbei drücken müssen auf dem Weg zum Büro, sondern der Termin an einen Ort anberaumt ist, wo die Diskretion eher gewahrt ist.
Der KSD versuche die Termine so anzusetzen, dass die Lernenden während der Pause hinfahren können, oder Rand- und Mittagszeiten genutzt werden können. Ein Schüler komme in der Regel drei bis fünf Mal zu einer Beratung, damit halten sich die Fehlzeiten in der Berufsschule in engen Grenzen – eine Sichtweise, die von engagierten Lehrkräften geteilt werde.
Ein gewichtiger Punkt, der für den neuen Standort spricht, ist, dass beide Beraterinnen ihre Büros Türe an Türe haben, nicht wie vorher in verschiedenen Schulhäusern. So könne der Austausch untereinander leicht erfolgen, was extrem wichtig ist. Zudem sind die Einsatzpläne untereinander so abgestimmt, dass während der üblichen Schulzeiten immer eine Beraterin präsent ist und damit auch Notfälle abdecken kann.
Wirksamkeit und Erfolg in der Beratung
Es macht einfach Freude zu sehen, wie ein Jugendlicher, der sich zuvor wenig zugetraut hat, seine Ressourcen zu entwickeln beginnt und damit Erfolg hat. Entsprechend hoch ist die Bereitschaft sich zu engagieren. Meistens kreisen die Themen um Zutrauen, Entwicklung und Selbstwirksamkeit, wo über Begleitung und Beratung sehr viel erreicht werden könne. Längst nicht immer handle es sich bei den Klienten um psychische Problematiken, bei denen mit ganz anderen Ansätzen gearbeitet werde.
Die Berufsschule – der KSD zählt sich dazugehörig – ist wohl die letzte Möglichkeit, bevor der Jugendliche privat und in der Berufswelt auf sich gestellt ist, und wo über Ausbildner und Lehrpersonen Einfluss ausgeübt werden kann. – Interessant auch, wie Lehrlingsausbildner in den Betrieben, die über den Schwierigkeiten, die ihre Lehrlinge ihnen machen, ermüden und nicht mehr die Kraft aufbringen mögen, mit diesen Personen weiterzumachen, wieder Auftrieb bekommen, wenn sie merken, dass da eine Fachstelle sich um die Probleme bemüht. Beratung hat für sie eine entlastende Funktion. Manche würden gar selbst ein Coaching für sich in Anspruch nehmen, wenn sie merken, dass sie trotz viel guten Willens mit ihrer väterlich-pädagogischen Art anstehen und überfordert sind. Ein Coaching kann solche Ausbildner befähigen, neue Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten zu gewinnen.
Die Erwartungen an Beratung und Begleitung sollen realistisch sein und sind zu Beginn des Prozesses zu klären. Die Erfahrung zeigt zudem, dass die Wirkung von Beratung und Begleitung besser ist, wenn sie frühzeitig initiiert wird und nicht erst interveniert wird, wenn es schon fünf nach zwölf ist.
Selbstwirksamkeit fördern in der Schule?
Selbstwirksamkeit steht nicht per se im Fokus des schulischen Tuns, wenn es auch vereinzelt Ansätze gibt, wie die vom Institut für Wirtschaftspädagogik entwickelten Programme, die an den Brückenangeboten in den Lehrplan integriert sind. Soll diesbezüglich mehr geleistet werden?
„Ja!“ – Wer mit Jugendlichen zu tun hat, solle sich immer wieder fragen, wie es gelingt, nicht defizitorientiert an ihn heranzutreten, nicht defizitorientiert zu denken und beim Jugendlichen selbst eine nicht defizitorientierte Denkweise zu fördern. Jugendliche sollen ihre Ressourcen erkunden und lernen, diese zu entwickeln. Sie sollen aber auch lernen geduldig zu werden, zu warten und mit Frust umzugehen. Und schliesslich sollen sie lernen, sich auf gute Art in eine erwachsene Umgebung einzubringen.
Zu betrachten seien aber auch die äusseren Ressourcen, also die im Umfeld des Jugendlichen behafteten: Wirtschaftlicher Druck auf die Eltern, knappe Finanzen, Krankheit der Eltern und vieles mehr; man müsse schon genau hinschauen um zu verstehen, wie es zum Nichtfunktionieren des Jugendlichen kommen kann. Manche Jugendliche sind Opfer ihres Umfeldes in dem Sinne, dass sie es nicht verändern können und die Widrigkeiten auf passive Weise auszuhalten sich gezwungen sehen. – Verweigerung, Passivität sind mögliche Äusserungen, die aber auch im Zusammenhang mit Reifeprozessen zu sehen sind. Das frühe Einschulen hat zur Folge, dass schon 15jährige eine Lehre beginnen, und man merkt vor allem bei den Jungs, dass viele noch nicht genügend reif für die Berufswelt sind.
Ganz entscheidend ist es, die gelernte Hilflosigkeit nicht zu chronifizieren und den Glauben an die eigene Wirkung aufzubauen. Wenn man Jugendliche vor sich sieht, die sich nicht partizipieren ist es hilfreich, sich immer wieder das Bild vor Augen zu führen, dass unser Gehirn einen Anreiz braucht um zu lernen, dass Lernen immer mit Anstrengung verbunden ist und es auch ein Thema, einen Bezug braucht, auf das sich Lernen ausrichtet.
E-Formen des Lernens mögen ihre Berechtigung haben, aber viele Studien weisen darauf hin, dass bezüglich Lernen und Selbstwirksamkeit Bezugspersonen absolut zentral sind. Es braucht Personen, die genau hinschauen, die auch bereit sind, eine Beziehung zum Lernenden einzugehen! – Dies sollten sich Lehrpersonen und Ausbildner zu Herzen nehmen.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung in Chur; Coaching
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Entwicklung Coaching und Case Management
Das Coaching Angebot der Berufs- Studien- und Laufbahnberatung hatte sich aus dem Auftrag des Bundes entwickelt, Strukturen für ein Case-Management für Jugendliche zu erstellen, wofür der Bund eine Anschubfinanzierung leistete. Unter anderem wegen fehlender Zahlenbasis wurde aus dem Case Management ein Coaching Angebot, C. stieg 2010 gegen Ende der Projektphase ein. 2011 wurde das Coaching Angebot definitiv eingeführt, es richtete sich an Jugendliche der 2. und 3. Oberstufenklasse und dauert längstens bis zum Abschluss der obligatorischen Schulzeit oder bis eine Anschlusslösung gefunden wurde. 2011 wurde das Projekt Case Management nochmals aufgegleist und Ende 2015 definitiv eingeführt. Es richtet sich an Jugendliche, die nach der Volksschule keine Anschlusslösung haben oder eine Berufslehre oder ein Brückenjahr abbrechen, und ist direkt der Amtsleitung des Amts für Berufsbildung Graubünden angegliedert.
Nun zum eigentlichen Coaching Angebot. Die Abdeckung ist für den ganzen Kanton Graubünden gewährleistet, in den drei Sprachen Deutsch, Italienisch und Romanisch. Dafür stehen insgesamt 130 Stellenprozente zur Verfügung, die Ressourcen werden als zu knapp eingeschätzt. Bei C. kommen alle Anfragen zusammen, sie koordiniert die Fälle und teilt sie den mitarbeitenden Coaches zu. In der Regel geht die Initiative für ein Coaching von den Lehrpersonen oder Eltern aus. Als Voraussetzung wird verlangt, dass die Jugendlichen zuerst die Berufsberatung besuchen, welche eine Interessens- und allenfalls auch Leistungsabklärung macht.
Das Coaching Angebot ist freiwillig, es richtet sich an Jugendliche, die wenig Unterstützung vom Elternhaus haben, die sprachliche Schwierigkeiten oder ganz allgemein Bildungsdefizite haben, wie auch an Personen, die Verhaltensauffälligkeiten zeigen.
Coaching Berufsbildung für wen?
Das Coaching Berufsbildung richtet sich an Jugendliche ab der 2. Oberstufe, welche im Berufswahlprozess professionelle Unterstützung brauchen. Dies kann z.B. dann der Fall sein, wenn die Jugendlichen schwache Schulleistungen erbringen, wenig Unterstützung von zu Hause erhalten oder über ungenügende Sprachkenntnisse verfügen.
Wie kann man Jugendliche anmelden und wie werden sie begleitet?
Oberstufen-Lehrpersonen können die Jugendlichen bei der zuständigen Berufsberatung anmelden. Die Berufsberatenden treffen dann die nötigen Abklärungen (inkl. Interessen und Potential) und entscheiden über die Aufnahme ins Coaching Berufsbildung. Die definitive Anmeldung erfolgt über die Berufsberatenden im Einverständnis mit den Jugendlichen und deren Eltern.
Der Coach Berufsbildung unterstützt die Jugendlichen mit gezielten und individuellen Massnahmen, die zu einem Abschluss eines Lehrvertrags oder zur Vermittlung einer anderen Anschlusslösung führen sollen. Insbesondere bei der Schnupperlehr- und Lehrstellensuche sind die Coachs Berufsbildung behilflich.
Eine wichtige Voraussetzung für ein erfolgreiches Coaching ist, dass die Jugendlichen motiviert mitarbeiten, damit sie möglichst rasch lernen, eigenverantwortlich und selbstbestimmt zu handeln.
(Auszug aus dem Flyer „Coaching Berufsbildung – Amt für Berufsbildung GR)
Das Case Management geht proaktiver auf die Jugendlichen zu. Bei Lehrvertragsauflösungen werden die Jugendlichen durch das Berufsinspektorat dem Case Management gemeldet, welche diese dann anschreibt und Unterstützung anbietet. Ende Schuljahr ermittelt das Case Management diejenigen Schülerinnen und Schüler, welche nach der obligatorischen Schulzeit keine Anschlusslösung haben. Brückenjahre melden dem Case Management Jugendliche, welche deren Schuljahr abbrechen.
Steigender Bedarf
Die Zahlen aus dem jährlichen Tätigkeitsbericht haben sich im letzten Jahr markant nach oben entwickelt. So wurden im Beobachtungszeitraum August 2015 bis Juli 2016 137 Jugendliche betreut, während es im Vorjahr noch 112 waren. Schon damals wurde festgehalten, dass die Zahl der zu Betreuenden unabhängig von der demographischen Entwicklung oder dem Lehrstellenangebot sich auf hohem Niveau bewegt. Nach Schulstufe gegliedert besuchte rund 90% der Klientel die untersten Niveaus, die Realschule/Niveau I oder wurden integriert gefördert (IF+).
Von den 90 Jugendlichen, die per Sommer 2016 eine Anschlusslösung aufweisen konnten, fanden etwas mehr als ein Drittel (33) eine Lehrstelle, während rund 45 % (40) ein Brückenangebot wählten.
In den Schlussfolgerungen kommt deutlich zum Ausdruck, dass mit dem grossen Zuwachs an zu Betreuenden das Berufswahl Coaching mit den vorhandenen Ressourcen an Grenzen stösst. Der Anstieg der Zahlen wird zurückgeführt auf das bessere Bekanntwerden des Angebots, auf die fehlenden Sprachkompetenzen der Jugendlichen und auf das eher geringe Angebot von Lehrstellen im Attestbereich. Im August 2014 waren nur 24 Lehrstellen als reine EBA Lehrstellen ausgeschrieben von insgesamt 168 EBA Lehrstellen. Es muss davon ausgegangen werden, dass bei der Differenz von 144 Lehrstellen für den gleichen Ausbildungsplatz auch eine Ausschreibung für eine EFZ Lehrstelle gemacht wurde. Entsprechend sieht das Verhältnis der Jugendlichen, die eine Lehrstelle bekommen haben aus: 29 fanden eine EFZ-Lehrstelle, nur 4 eine EBA-Lehrstelle. Fehlende Berufswahlreife und weniger intensiver Berufswahlunterricht könnten weitere Erklärungen für den Anstieg der im Coaching Berufsbildung betreuten Jugendlichen sein.
Brückenangebot statt Berufslehre
C. beobachtet, dass die Zahl der Jugendlichen aus dem Coaching, welche ein Brückenangebot als Anschlusslösung wählen, in den letzten Jahren markant gestiegen ist. Dies kann dann die richtige Lösung sein, wenn z.B. die Deutschkenntnisse noch nicht ausreichen, um eine Berufslehre zu starten. Besorgt zeigt sich C. über den Umstand, dass die Brückenangebote sehr früh Infoveranstaltungen durchführen und teilweise entsprechend schnell ausgebucht sind. Dies leistet für manche Jugendliche der „bequemen“ Haltung Vorschub, so viel zu früh die Lehrstellensuche aufzugeben.
Verbesserungsmöglichkeiten
Als Vorschläge wird eine Triage-Stelle für Brückenangebote angedacht, wie auch die Vorgabe, dass vor Ende März keine Anmeldung für ein Brückenangebot möglich sein soll. Ein weiterer Vorschlag ist ein zweijähriges Integrations-Brückenangebot um Jugendlichen, die erst kurz vor der Berufswahl immigrieren, die Chance auf Spracherwerb und eine Grundbildung zu bieten.
Begriffserklärung: Das freiwillige 10. Schuljahr ist nicht zu verwechseln mit einem Brückenangebot. – Im Kanton GR ist nach 9 Schuljahren die obligatorische Schulzeit beendet, auch wenn ein Schüler wegen einer Repetition oder einem Einschulungsjahr erst in der 2. Oberstufenklasse ist. Er kann dann ein Gesuch stellen zum Besuch der letzten Oberstufenklasse, seinem 10. Schuljahr. Dessen Bewilligung kann mit Auflagen verknüpft sein, zum Beispiel dem Besuch des Coachings.
Coaching Ablauf – Einblicke in die Arbeitswelt
Der Besuch des Coachings selbst beruht auf Freiwilligkeit, was nicht zu verwechseln ist mit Beliebigkeit. Vereinbarungen und Termine sind einzuhalten, aber die Jugendlichen sind motiviert und oft kann schon das Ansprechen auf seine aktuelle Situation etwas Entscheidendes auslösen, wenn der Jugendliche das Gefühl bekommt, jemand höre ihm einmal ernsthaft zu. Die Begleitung der Jugendlichen ist sehr individuell und auf ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten ausgerichtet. Im Zentrum steht, dass Jugendliche befähigt werden, sich selbst zu helfen und die Anschlusslösung aus eigener Kraft zu finden.
Nebst mangelnden Deutschkenntnissen und Bildungslücken zeigt sich zunehmend die Schwierigkeit, dass die Jugendlichen, geprägt von virtuellen Welten, im Alltag und von zuhause weniger Einblicke in die Berufswelt haben. C. fordert mehr Praxis, es gäbe zwar schon einen Tag im Jahr, wo Jugendliche ihre Eltern in deren Berufsalltag begleiten, aber dies sei viel zu wenig. Beispielsweise sollte es mehr Ferienjobs geben, wo junge Menschen um Taschengeld zu verdienen mit der Berufswelt in Kontakt kommen. Ohne praktische Erfahrungen gehe die sinnliche Vorstellung von Arbeit und Beruf verloren und die Jungen würde sich weniger zutrauen, die Überzeugung ihrer Selbstwirksamkeit bekäme Risse. Auch sei der Zugang zu Schnupperlehren schwieriger geworden. Noch vor wenigen Jahren konnten Schüler für eine Anfrage lediglich bei Betrieben vorbeigehen, heute braucht es oft einen Lebenslauf und ein Motivationsschreiben oder es kann erst geschnuppert werden, wenn es um die Lehrstelle geht.
Die Berufsausstellung „Fiutscher“ sei eine Möglichkeit, Praxisluft zu schnuppern (http://www.fiutscher.ch/). Diese von der Berufsberatung mitorganisierte Ausstellung werde sehr gut besucht und stösst auf reges Interesse. Beispielsweise können Jugendliche dort mit einer Fräsmaschine etwas anfertigen und sehen zum ersten Mal wie mit solch einer Maschine Metall bearbeitet wird.
C. stellt fest, dass es Jugendlichen, die in ihrer Freizeit engagiert sind, zum Beispiel in einem Verein, viel leichter gelingt, die notwendigen Schritte für die Berufswahl zu initiieren und umzusetzen.
Integration in die Berufswelt – Praxisorientierung
Schwierig sei die Situation, wenn Kinder im Alter von 12-13 Jahren in die Schweiz nachgezogen werden, wie dies zurzeit bei grösseren Gruppen von Portugiesen geschieht, vor allem auch im Engadin. Im Alltag würden sie sich oft nur in ihrem portugiesischen Mikrokosmos bewegen. Für diese Jugendlichen fehlten teilweise Gefässe um sich rasch zu integrieren. Ebenso sei zu bedenken, dass gerade bei jugendlichen Flüchtlingen, die beispielsweise aus Afghanistan kommen, nicht nur die Sprache ein Problem ist, sondern auch wenn es sich um clevere junge Leute handelt, ihr Bildungsrucksack oft zu klein ist. Es ist je nach dem nicht realistisch, dass ein solcher junge Mann in absehbarer Zeit z.B. eine Lehre als Automobilassistent erfolgreich absolvieren könnte. Hier fehlen Angebote wie früher die Anlehre, wo sehr praxisorientiert gearbeitet wird und jemand Motivierter schnell in den Arbeitsprozess integriert wird.
Wir haben auch damit zu kämpfen, so C., dass viele Jobs im einfachen Sektor weggefallen sind. Die Wirtschaft müsste mehr Hand bieten, um mit einfach aufgebauten Ausbildungen in einen Beruf einsteigen zu können. Beispielsweise bringen viele Immigranten eine hohe Sozialkompetenz mit, was es auszunützen gilt, man könnte sie so z.B. in der Pflege einsetzen.
Ein fehlendes Instrument ist das zweijährige Integrationsbrückenjahr. Viele der Immigranten sind sehr motivierte Jugendliche und im Normalfall braucht es einfach die Zeit von zwei Jahren, bis die Sprache genügend entwickelt ist und Lücken in anderen Fächern wie Mathematik geschlossen werden. Klar gebe es Ausnahmen, die wesentlich schneller Deutsch lernen würden, die machen ihren Weg auch mit den bestehenden Angeboten.
Coaching wird dann abgeschlossen, wenn die Jugendlichen in eine Lehre oder ein Brückenangebot übertreten. Die Brückenangebote haben Leistungsvereinbarungen mit dem Kanton abgeschlossen und betreuen ihre Schüler umfassend. C. meint, es wäre teilweise günstig, wenn das über mehrere Monate dauernde Coaching auch während der Lehre weiter laufen könnte, aber dies stehe nicht zur Diskussion, nicht zuletzt wegen der mangelnden Ressourcen.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Berufs- und Laufbahnberatung Graubünden, Chur
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Erstkontakt mit den Schülern
Die Kontaktaufnahme der Berufsberaterin mit den Lehrpersonen der 2. Oberstufe erfolgt in der Regel nach den Sommerferien.
In der Regel wird ein Elternabend organisiert, denn ist es wichtig, die Eltern mit im Boot zu haben. Mit den Klassenlehrpersonen wird ein Besuch des BIZ vereinbart, dafür werden die Klassen in zwei Gruppen aufgeteilt. Die Jugendlichen können das BIZ frei erkunden, es wird darauf geachtet, dass der einzelne nicht nur an einem Medium kleben bleibt, sondern über mehrere Kanäle mit Berufen konfrontiert wird. – Meist melden sich die Schülerinnen und Schüler nach diesem Kennenlernen des BIZ für ein erstes Gespräch an. Im Einladungsbrief werden auch die Eltern mit eingeladen, die Jugendlichen sind zudem aufgefordert, Zeugnisse mitzubringen.
Die Beratung
Die Jugendlichen erwarten von der Berufsberaterin eine Unterstützung bei der Berufs- und Schulwahl. Im ersten Gespräch, bei dem oft ein Elternteil dabei ist, erkundige ich mich nach den Berufsinteressen, welche Erfahrungen bereits gemacht wurden. Es geht ja in der Berufsberatung darum, dass die Jugendlichen die Ausbildungsmöglichkeiten und ihre Interessen, Stärken, Wünsche etc. besser kennen lernen, damit sie sich auch für eine Ausbildung entscheiden können. Dabei werden auch Testverfahren eingesetzt.
Das gegenseitige Vertrauen und das Mitwirken von beiden Seiten sind wichtig.
Die Ich-Bildung nimmt anfangs einen zentralen Platz ein. Wie der Berufsfindungsprozess aber gestartet werde, sei nicht so wichtig, es kann auch sein, dass C. mit einer Schülerin gemeinsam Tierberufe durchsieht, wenn das sie als erstes anspricht. Das Thema Selbstwertgefühl, das Bewusstsein, etwas bewirken zu können, kann auch Inhalt des Gespräches sein. Die Orientierung an den Peers ist in dieser Phase überaus stark, daher ist für die Jugendlichen oft anderes als die Berufsfindung wichtig und es gilt, die Auseinandersetzung damit zu starten. – Wenn Jugendliche trotz Abmachung, z.B. nach Schnupperlehren sich nicht für ein zweites Gespräch melden, würde C. nachfragen; Sind die Jugendlichen in der 3. Oberstufe, erkundigt sich C. bei den Lehrpersonen und bietet nochmals Unterstützung an für jene, die noch keine Anschlusslösung haben. Mehr als ein sanfter Anstoss soll nicht geleistet werden. – Es gibt schon „resistente“ Schüler mit Mehrfachfaktoren, die sich ungünstig für die Berufsfindung auswirken. Einige brauchen halt etwas mehr, bis eine ernsthafte Auseinandersetzung beginnt. - Manche Jugendliche werden von ihren Klassenlehrpersonen fürs Coaching angemeldet. Das ist ein wichtiges Angebot der BSLB um Jugendlichen bei der Lehrstellensuche zu unterstützen. Jugendliche, die am Ende der Oberstufe noch keine Anschlusslösung haben, werden vom Case Management angeschrieben und erhalten hier Unterstützung. Ein weiteres Gefäss ist – nebst anderen Angeboten - Funtauna, ein Motivationssemester, wo in einer regelmässigen Struktur gearbeitet wird, eine Lehrstelle gesucht wird und die Jugendlichen noch etwas Taschengeld bekämen.
Oft ist es ganz gut, wenn Jugendliche irgendwo anstehen – dann könne sich der Knoten auch wieder lösen und die Angebote der Berufs- und Laufbahnberatung würden wieder aufgegleist. C. mache gute Erfahrungen mit Rollenspielen. Die Jugendlichen würden sich in der Rolle eines Lehrmeisters wiederfinden, der nachfragt, warum man einen Kandidaten mit den Qualifikationen des Jugendlichen einstellen solle. – Manche Jugendliche seien nach einigen Absagen davon überzeugt, dass man sie nicht wolle und bemühen sich kaum mehr für weitere Bewerbungen. Die brauchen speziell Unterstützung, damit sie sich ihrer Stärken bewusst werden und nach anderen Berufen auch Ausschau halten.
C. erzählt das Beispiel eines jungen Mannes mit Kleinklassenhintergrund, der sich auf eine vierjährige Ausbildung als Carrossier-Lackierer fixierte. Das Anforderungsprofil klaffte von den eigenen Ressourcen und Fähigkeiten weit auseinander. Das Angebot Case Management lehnte der Bursche ab, das Familiengefüge sagte nein dazu. Der Jugendliche fand zwar eine Lehrstelle, scheiterte aber in der Lehre. Erneut suchte er eine Lehrstelle und trotz Unterstützung des Berufsinspektorats wurde auch dieser Lehrvertrag nach dreieinhalb Jahren aufgelöst. Im Nachhinein kommt man zum Schluss, er wäre besser beraten gewesen, eine einfache Ausbildung, die in seinen Möglichkeiten lag, zu absolvieren. Nun ist der Frust umso grösser und es wird nicht einfach sein, den Burschen für einen Neustart zu gewinnen.
Suche nach der richtigen Passung
Wird von der richtigen Passung gesprochen, meint man fast immer das zu einer Person passende Berufsfeld oder Beruf. Was ist aber mit den Weiterbildungs-, bzw. Weiterentwicklungsmöglichkeiten innerhalb eines Berufsfeldes? - Die Jungen schauen nicht so weit nach vorne. Den Berufs-Faltblättern der Berufsberatung ist die letzte Seite diesem Thema gewidmet. Die Rückmeldungen bei einer Evaluation waren von Seiten der Jugendlichen negativ: Man hätte den Platz besser nutzen können, wurde argumentiert.
Das Berufsbild, das in einer Schnupperlehre vermittelt wird, wird massgeblich geprägt, wie die Jugendlichen von den Mitarbeitenden und Lehrmeister aufgenommen werden. Die menschlichen Werte, das Betriebsklima machen sehr viel aus, wie der Beruf wahrgenommen und bewertet wird.
Berufliche Erfahrungsräume fehlen
Die Welt ist abstrakter geworden. Berufsbezogene Rollenbilder fehlen weitgehend. Es ist erstaunlich, wie wenig die Jungen von der Arbeitswelt der Eltern wissen. C. erzählt eine Anekdote, wie der Beruf des Vaters vom Sohn als „Bürojob“ beschrieben wurde, während sich herausstellte, dass der Vater Physiker bei einer Raumfahrtorganisation war.
Bei den beruflichen Erfahrungsräumen gibt es Unterschiede zwischen ländlichen und städtischen Gebieten. In ländlichen Gebieten liegen Berufsort und Wohnort näher zusammen, die Eltern arbeiten am Wohnort, es sind für die Heranwachsenden mehr Einsichten möglich.
Welche Berufe geniessen unter Jugendlichen einen hohen Status?
Allgemein geniessen Büroberufe wie Kauffrau, Informatiker, Zeichnerin einen höheren Status bei vielen Jugendlichen. Logistiker ist auch ein solches Beispiel. Die Namensänderung vom Lagerist zu Logistiker löste einen Riesenboom aus. Bauberufe haben bei vielen Leuten ein schlechtes Image. C. erkärt sich dies durch den Umstand, dass Eltern, die selbst auf dem Bau gearbeitet hatten, vielleicht noch Rückenprobleme haben, ihren Kindern etwas Besseres auf den Weg geben wollen, als sie selbst erlebt hatten.
Beim zugemessenen Status eines Berufes spielt die Erwartungshaltung der Eltern eine grosse Rolle. Bezeichnend dafür ist die Fraktion der Portugiesen. Die Kinder werden öfters spät in die Schweiz nachgeholt, weil deren Berufschancen im Heimatland schlecht sind. In den Augen der Eltern ist dann aber eine Lehre weniger wert als eine weiterführende Schule. In Portugal gibt es kein duales Bildungssystem wie in der Schweiz. Für die Berufs- und Laufbahnberatung ist es ein Anliegen, solche Themen an Elternabenden anzusprechen. Ebenso versucht man über die Berufsschau „Fiutscher“ Eltern und Jugendliche unser Berufsbildungssystem näherzubringen. Dafür setzt man auch Übersetzer ein und bietet Führungen in verschiedenen Sprachen an.
Handlungsfelder
Lohnend ist der Zugang über Vereine, um über das Bildungssystem zu referieren. C. meint, man sollte dabei noch aktiver werden. Auch bei den Brückenangeboten sieht C. Handlungsbedarf. Die Schülerinnen und Schüler würden zwar in der Oberstufe mit der Berufs- und Laufbahnberatung in Kontakt kommen, wenn sie aber im Januar ihren Platz im Brückenangebot gesichert haben, stellen sie aus Bequemlichkeit ihre Berufsfindungsaktivitäten ein. Dabei hätten sie noch ein halbes Jahr, das sie nutzen könnten. Im Brückenangebot selbst sind die Schulen zuständig, um mit den Jugendlichen passende Anschlusslösungen zu erarbeiten.
Auswahl
Die Jugendlichen zeigen generell eine hohe Bereitschaft, für eine Lehrstelle auch mal 30 Minuten zu pendeln. Dies mag damit zusammenhängen, dass die Leute in Arosa oder Lenzerheide seit je her gewohnt sind, der Arbeit ins Tal nachzuziehen. Ein Vorteil der ländlichen Prägung, aber schon in Chur würden sich Unterschiede zeigen.
Die Selektion in den Lehrbetrieben erfolgt oft allzu früh. Es gibt keine verbindliche Sperrfrist, einzig die Lehrverträge werden auf dem Berufsinspektorat nicht vor dem 1. November unterzeichnet. Für Jugendliche ist die frühe Selektion nicht förderlich, weil so wertvolle Zeit für einen individuellen Suchprozess arg beschnitten wird.
Die Schnupperlehre sollte eigentlich eine Orientierungsphase sein, möglichst ohne Druck für den Jugendlichen. Der Trend geht in die entgegengesetzte Richtung. Vor dem Schnuppern wird als Hürde ein Infoanlass eingebaut, zum Schnuppern muss der Kandidat Bewerbungsunterlagen einreichen und das Schnuppern selbst dient der Selektion. – Die Grossverteiler zeigen, dass es auch anders geht. Sie bieten Kurz-Schnuppern an um erste Eindrücke vom Beruf zu gewinnen, z. B. Detailhandel in Consumer Electronics, ohne schon die Besetzung einer Lehrstelle vor Augen zu haben.
Anliegen
Auch nach 20 Jahren Erfahrung als Berufs- und Laufbahnberaterin ist es für C. immer noch ein Anliegen, sich für die Belange der Jugend stark zu machen, auch wenn Jugendliche nur ein Teil ihrer Klientel sind. Die Berufs- und Laufbahnberatung arbeitet mit verschiedenen Gefässen und mit verschiedenen Stellen zusammen.
Im Bereich der Immigranten gibt es noch Lücken im Angebot. C. schwebt eine Art Vorlehre vor, in welcher handlungsorientiert zu praktischer Arbeit hingeführt würde, ergänzt durch ein schulisches Angebot.
Manche Betriebe stellen sich direkt in den Schulen vor. Gut kommt an, wenn Lehrlinge vor der Klasse sprechen, die Informationen also über Personen abgegeben werden, die einige Jahre zuvor in den gleichen Schulbänken sassen.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Case Management Graubünden
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Case Management
Case Management als ein Unterstützungsangebot für Jugendliche mit Schwierigkeiten in einer Berufsausbildung Fuss zu fassen. Wie ist dieses Angebot im Kanton Graubünden positioniert?
Beim Amt für Berufsbildung gibt es für diese Klientel zwei Unterstützungsangebote, ein Coaching Angebot und das Case Management. Das Coaching Angebot ist bei der Berufs- und Laufbahnberatung integriert und richtet sich an Jugendliche, die noch in der Oberstufe sind. – Das Case Management ist bei der Amtsleitung Berufsbildung angegliedert. Es richtet sich an Jugendliche und junge Erwachsene, die nach der obligatorischen Volksschule, nach dem Besuch eines Brückenangebotes keine Anschlusslösung gefunden haben und an solche, die ihre Lehre abgebrochen haben und innerhalb dreier Monate keinen neuen Lehrvertrag abgeschlossen haben.
Das Angebot Case Management ist im Kanton Graubünden seit anfangs 2010 operativ tätig . Mit dem vom Bund im Jahr 2007 initiierten nationalen Projekt sollte erreicht werden, dass 95% der 25-Jährigen in der Schweiz einen Abschluss auf der Sekundarstufe II erreichen können. Eine erste Projekteingabe wurde als Coaching Angebot anerkannt. Die Projekteingabe für das Case Management erfolgte im Jahr 2009. Im Jahr 2015 hat die Regierung des Kantons GR das Case Management nach der Projektphase fest verankert und mit gesamthaft 100 Stellenprozenten bewilligt.
Die in Frage kommenden Jugendlichen werden direkt angesprochen. Zum einen führt S. jeden Juni eine Umfrage bei den Schulen und Brückenangeboten durch um Schüler ohne Anschlusslösung herauszufiltern. Zahlenmässig handle es sich dabei um rund 50 Schüler, die noch vor den Sommerferien kontaktiert werden. Rasches Handeln mache Sinn, da Schüler so noch sich für einen Platz in einem Brückenangebot bewerben könnten. – Manche Schüler finden gar im Sommer noch selbst eine Lehrstelle.
Die andere Gruppe von Jugendlichen, die das Case Management beanspruchen, sind solche, die ihre Lehrausbildung abbrechen. Hier habe sich eine Karenzfrist von 3 Monaten als praktikabel erwiesen, bevor sie ins Case Management aufgenommen werden. Die Anmeldung erfolgt über das Berufsinspektorat, das ja Vertragspartner bei Lehrverhältnissen ist. Die Altersspanne der Jugendlichen im Case Management reicht von 16 -25 Jahren.
Da die Anzahl der Schulabgänger im Kanton Graubünden rückläufig ist, ist die Lage auf dem Lehrstellenmarkt für die Suchenden je nach Berufssparte günstig, so würden Jugendliche immer wieder auch selbst Lösungen finden.
Vorgehen im Case Management
Das Ziel sei es, mit dem Jugendlichen zusammen eine Gesamtschau seiner Situation vorzunehmen. Oft seien die Probleme mit dem Finden einer Lehrstelle nicht gelöst. Zu Beginn der Arbeit würde ein ausführliches Assessment über die gesamten Lebensbereiche erfasst. Dies ist eine wichtige Grundlage um Problembereiche, wie z.B. eine belastende Wohnsituation in Zusammenarbeit mit anderen Stellen, z. B. Sozialdienst, zu entlasten. Eine Gefahr des reichlichen Lehrstellenangebotes bestehe darin, dass manche Jugendliche in eine Lehre einsteigen würden, die bezüglich Ansprüche über ihren Verhältnissen angesiedelt sei. Zum Beispiel dieser Jugendliche, der als Sanitärinstallateur eingestiegen ist, dort masslos überfordert war und deswegen in ein Loch geriet. Nun sei es gelungen, mit Unterstützung der IV in einem ganz anders gelagerten Bereich eine ihm entsprechende Ausbildung zu starten.
Vernetzung
Die Nähe und Vernetzung zum Berufsinspektorat werde aktiv genutzt um gute Lösungen für den betroffenen Jugendlichen zu erzeugen. Beispielsweise bekäme S. Hinweise über Jugendliche mit Mehrfachproblematiken, deren Lehrvertrag noch nicht aufgelöst worden sei. So könne es möglich sein, diese ins Case Management aufzunehmen und die Situation so zu stabilisieren, dass die Berufsausbildung fortgesetzt werden könne. – Ansonsten mache die dreimonatige Frist schon Sinn, bevor ein Jugendlicher sich nach Lehrstellenauflösung anmelden könne. Zum einen möchte man ein klares Signal geben, der Jugendliche solle erst mal selbst aktiv werden um nach Lösungen zu suchen. Zum andern solle diese Hürde verhindern, dass die Stelle von Anfragenden überrannt werde, denen auch anders geholfen werden kann oder die schlicht nicht ins Profil der Klientel passen würden. – Mittlerweile sei die Stelle im Kanton gut bekannt. S. würde auch Anfragen über die Regionalen Sozialdienste (RSD) erhalten. Jugendliche, die möglicherweise über ein Jahr zu Hause „rumgehängt“ sind und sich nun bei ihrem RSD melden.
S. ist als Delegierte in die Mitarbeit der Arbeitsgruppe „Interinstitutionelle Zusammenarbeit (IIZ)“ eingebunden. Dabei handelt es sich um eine Vernetzungs- und Austauschplattform, in welcher u.a. IV, RAV und die Regionalen Sozialdienste vertreten sind. Jeden Herbst gibt es eine Veranstaltung, an der persönliche Kontakte geknüpft werden können, was für die Arbeit im Case Management von Belang ist.
Zwei Personen teilen sich das 100% Arbeitspensum im Case Management auf. Der Arbeitskollege von S. deckt u.a., da italienischsprechend, das Puschlav und Misox ab. Zusammen bewirtschaften sie den ganzen Kanton Graubünden, zumeist von Chur aus. Falls nötig würden sie aber auch in die Region gehen um ihre Dienstleistung zu ihren Klienten zu bringen.
Es stelle sich schon die Frage, wie viel Begleitung nötig sei. Sollen Jugendliche nach der Schulzeit bis zum Ende ihrer Ausbildung begleitend unterstützt werden? – Wohl gebe es gute Gründe, die gegen eine allfällige Überbetreuung sprechen. Der Jugendliche soll verstehen, dass er selbst Initiative ergreifen muss um seine Situation zu verbessern. - Umgekehrt lohne sich aber, im Case Management gründlich vorzugehen und die Lage des Jugendlichen umfassend zu analysieren, auch wenn der Aufwand dafür beträchtlich sei. S. erwähnt einen Fall, der schon drei Lehrabbrüche hinter sich habe. Nun sei es gelungen, die IV einzubinden, was in diesem Fall wohl die Grundlage für eine nachhaltige Lösung bilde. Über die oben erwähnten Kontakte sei es einfacher, die nötigen Abklärungen in nützlicher Frist durchzuführen; S. spüre, wie man ihrer Stelle Vertrauen entgegenbringe, wenn von ihr eine Anfrage käme, dann würde die andere Seite wohl davon ausgehen, dass das Gesuch entsprechend begründet sei.
Ein anderes Feld der Vernetzung sind die Berufsbildner in den Betrieben, wo über persönliche Kontakte schon fruchtbare Lösungen zustande gekommen sind. Manchmal genüge ein Gespräch, in welchem die besonderen Hilfen für den betreffenden Jugendlichen, dem ein ADHS diagnostiziert wurde, angesprochen wurden und zu optimierten Kommunikationsverhalten geführt haben.
Die Nähe zum Berufsinspektorat könne Türen öffnen. Werde z.B. eine Lehrstelle in einer bestimmten Branche gesucht, wo der Berufsbildner bereit sein müsse, einen schwierigen Jugendlichen zu nehmen und zudem die Fähigkeit haben soll, diesen zu unterstützen und zu motivieren, dann habe S. schon konkrete Hinweise bekommen, die zum Ziel führten. Aber auch hier gilt: Das Angebot müsse auf beiden Seiten passen und S. würde es sich verbitten, einen Jugendlichen als zuverlässig darzustellen, der an zwei von drei Terminen zu spät erschienen sei.
Problembereiche
Mancherorts wird festgestellt, dass die Zahl Jugendlicher mit psychischen Problematiken zugenommen habe.
S. differenziert in ihrer Antwort. Bei tiefgreifenden Störungen der Persönlichkeit sind entsprechende Fachleute zuständig, mit denen sie eine gute Zusammenarbeit pflegen würde. Aufgefallen seien Fälle, wo exzessiver Drogenkonsum psychische Störungen nach sich gezogen habe, wie Schizophrenie. Da werde es dann schon sehr schwierig, wieder die Voraussetzungen zu schaffen, die zur Ausübung eines Berufes oder einer Berufsausbildung unabdingbar seien.
Aber längst nicht alles die Psyche betreffendes bedarf einer Psychotherapie. Beispielsweise könne der Umstand, von der Berufs- und Arbeitswelt ausgeschlossen zu sein, Trauer und abwertende Gefühle auslösen. - S. fügt ein, sie habe eine Weiterbildung in Beratung und Coaching mit CAS abgeschlossen. Diese Ausbildung habe ihr sehr viel gebracht, die Gespräche mit Jugendlichen würden nun anders verlaufen und sie gehe von einem Ansatz aus, der die Eigenverantwortung beim Klienten belässt. „Wenn man den Jugendlichen etwas zutraut, dann sind erstaunliche Ergebnisse möglich“, so S.. Ein probates Verfahren im Beratungsprozess sei, den Jugendlichen vor mögliche Wahlmöglichkeiten zu stellen und ihn die Folgen eines jeden Weges durchdenken zu lassen. Die Jugendlichen hätten es so selbst in der Hand zu steuern, und seien überzeugt von der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges. Für S. sei dieses Verfahren entlastend, die Verantwortung bliebe beim Jugendlichen.
Wie wird im Case Management mit unmotivierten, lustlosen Jugendlichen umgegangen?
S. erlebt in ihrer Arbeit kaum Jugendliche, die als unmotiviert und lustlos beschrieben werden können. S. führt das darauf zurück, dass sie sich für das Erstgespräch einen grosszügigen Zeitrahmen von eineinhalb Stunden reserviere, den Jugendlichen frage, was ihn beschäftige, was er für Ziele habe und vor allem aber ihm zuhört. Indem auf wertschätzende Art zugehört werde, könne ein erster Faden zum Jugendlichen gesponnen werden. Die Jugendlichen seien oft irritiert, wenn jemand echtes Interesse an ihnen bekundet und das Gespräch so anders verläuft als sie es von ihrer Vergangenheit her gewohnt waren. Manchmal lohne es sich, sich nicht mit einem Begriff wie „unmotiviert“ zufrieden zu geben, sondern versuchen herauszufinden, was für Gefühle oder Ursachen dahinter stecken könnten. So hätte sich bei einem „unmotivierten“ Jugendlichen herausgestellt, dass ein schwerwiegendes Alkoholproblem in seiner Familie vorkomme, das ihn total absorbiert hatte.
Für die Gespräche innerhalb des Case Managements verzichte S. bewusst darauf, Informationen von allen möglichen Stellen einzuholen. Warum einer aus dem laufenden Brückenangebot ausgestiegen sei, bringe als Information wenig Nutzen, da dadurch der Blick auf das Versagen oder Nichtkönnen des Jugendlichen fokussiert sei. Zielführender sei es, nach vorn zu schauen, sich Ziele vornehmen und sich fragen, wie diese am besten erreicht werden können.
Allerdings müsse angefügt werden, dass nicht alle angeschriebene Jugendliche sich an ihrer Stelle melden würden. Die „Abgelöschten“ würden diesen Schritt wohl nicht alleine wagen. Manche brauchen einfach mehr Zeit, bis die Einsicht in ihnen gewachsen ist, Unterstützung anzunehmen um in den Arbeitsmarkt einsteigen zu können. Solche Jugendliche können später, falls sie zur Zielgruppe des Case Management zählen, z.B. durch die Regionalen Sozialdienste, ins Case Management eingeschleust werden.
Schulsystem des Kantons Graubünden
Im Schulgesetz des Kantons Graubünden ist geregelt, dass die Schulpflicht nach 9 Schuljahren endet. In der Praxis bedeutet dies, dass wenn ein Schüler eine Klasse repetiert hat, er nach der zweiten Oberstufenklasse seine obligatorische Schulzeit beendet. Für den Besuch der 3. Oberstufenklasse müsste er, bzw. seine Eltern, ein Gesuch stellen. – So werde es schulmüden Schülern, die vielleicht noch verhaltensauffällig sind, allzu leicht gemacht, die Schule zu verlassen und es sei ihnen und dem begleitenden Umfeld (Lehrpersonen, Eltern) in dem Moment zu wenig bewusst, dass der fehlende Schulstoff der 3. Oberstufenklasse eine beträchtliche Hypothek sei für den Besuch einer Berufsfachschule.! Um diesem Umstand entgegenzuwirken hat das Amt für Berufsbildung ein Sensibilisierungsschreiben verfasst, das an alle Schulen verschickt worden war.
Ausbildungsqualität der Lehrbetriebe
Das Argument wird häufig vorgebracht, dass nebst den Ausbildnern, die sich engagiert um die Lernenden bemühen und eine hohe Ausbildungsqualität anstreben, es halt auch Betriebe gebe, die wenig für die Ausbildung ihrer Lehrlinge tun.
Fragen zu diesem Thema sollten direkt ans Berufsinspektorat gerichtet werden, so S. – Wenn ihre Klienten sich zur mangelnden Ausbildungsqualität im Lehrbetrieb äussern würden, verweise S. sie ans Berufsinspektorat. Diese Stelle sei mit ein Vertragspartner des Lernenden und könne nur dann etwas unternehmen, wenn sie auch Kenntnis von einem Missstand habe. Nach S.‘ Erfahrung wäre das Berufsinspektorat bereit, bei Problemen in der Lehre einen runden Tisch mit allen Beteiligten zu organisieren, so dass Lösungen generiert werden können. Oft würden die Lernenden aber eine Hemmung haben, sich ans Berufsinspektorat zu wenden, z. B. weil eine solche Meldung im Betrieb in den falschen Hals gelangen könnte und die angespannte Situation sich dadurch weiter verschärfen würde. Daher würde das Berufsinspektorat leider öfters zu spät angegangen, wenn bereits schon alles „verkachelt“ sei.
Blick in die Zukunft
Neue Technologien, fortschreitende Digitalisierung sind Stichworte, die nach Ansicht von Zukunftsforschern den Arbeitsmarkt radikal verändern werden.
Diese Entwicklungen werden von S. mit Sorge betrachtet, da der Druck auf die niederschwelligen Arbeitsplätze wohl weiter zunehmen werde. Als Folge dürften die Sozialkosten weiter zunehmen. Es wäre wichtig, dass auch niederschwellige Arbeitsplätze erhalten bleiben um die Menschen im Arbeitsmarkt einzubinden. Es gibt gute vorbereitende Programme, wie das 'Werknetz' vom Roten Kreuz, welche die Arbeitsmarkttauglichkeit fördert. Problematisch ist es jedoch, wenn der Arbeitsmarkt keine entsprechenden Arbeitsplätze mehr anbietet.
FACHSTELLE FÜR ARBEITSINTEGRATION - WERKNETZ
Im Auftrag des Kantonalen Sozialamtes und der Gemeinden unterstützen wir sozialhilfeberechtigte Personen bei der beruflichen Integration in die Arbeitswelt oder bei der sozialen Integration durch praktische Tätigkeit. Die Anmeldung erfolgt über die Beratungsstellen des Kantonalen Sozialamtes oder die Sozialbehörden der Gemeinden. (Ausgenommen sind Personen, die Anspruch auf Integrationsmassnahmen von Sozialversicherungen haben.)
(Aus: http://www.srk-gr.ch/werknetz.html)
Abschliessende Bemerkungen
Als sehr hilfreich für ihre Aufgaben im Case Management bezeichnet S. ihre Erfahrungen als Schulratspräsidentin und langjährige Gemeinderätin in einer Gemeinde in Mittelbünden. Dies lasse sie vieles verstehen, was den Übergang in die Sekundarstufe II betrifft. Erfreulich sei, dass sie ihr Netzwerk immer weiterentwickeln konnte – dies erleichtere oft mögliche Lösungen.
Transkript des Gesprächs mit…
Funktion: Mediations- und Beratunsstelle, Gewerbliche Berufsschule Chur
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Was sind die häufigsten Fragestellungen rund um die Berufswahl, mit denen die Mediations- und Beratungsstelle konfrontiert wird?
Die Berufswahlreife würde häufig fehlen. Dabei ist nicht nur die Auseinandersetzung mit den Berufen gemeint, die den eigenen Neigungen und Fähigkeiten entgegenkommen, sondern auch das betriebliche Umfeld. Fragen zum Betrieb, Betriebsklima würden sie nicht in ihre Überlegungen miteinbeziehen. Der Unterschied zwischen einem gewerblichen Kleinbetrieb und einem Grossbetrieb ist beträchtlich. Die Abläufe, die Strukturen, das Betriebsklima ist anders – was die Jugendlichen sich vorgängig nicht vorstellen können und genau an solchen Punkten sich reiben.
Geläufiges Arbeitsmodell
B. arbeite häufig mit einem Typologiemodell, das von 4 Differenzierungen ausgeht. Der erste Quadrant steht für Planung, der zweite für Erfahrungslernen, der dritte für Strukturierung, Details und der vierte für Macher, die auf ihrem bestehenden Rüstzeug aufbauen. Mit Hilfe einer Visualisierung dieses Modells können Kommunikationsschwierigkeiten verständlich gemacht werden. Beispielsweise haben Menschen, die ihren Fokus auf Strukturierung und Details haben, Mühe mit dem zuweilen chaotischen Vorgehen von Mitmenschen, die sich nach dem vierten Quadranten orientieren. – Das Modell hilft insbesondere, die anfänglich noch fremde betriebliche Umwelt zu verstehen und einordnen zu können, indem potentielle Konflikte auf der Ebene Missverständnisse in der Kommunikation aufgelöst werden.
Berufswahl, Wege dazu
Die kleinräumigen Strukturen im Kanton GR führten dazu, dass das Finden einer Lehrstelle über elterliche Beziehungen ein gängiger Weg ist. Für den Jugendlichen heisst dies nicht unbedingt, dass die so zugesagte Lehrstelle auch die richtige für ihn ist. Der soziale Druck auf ihn ist erheblich, insbesondere wenn die Eltern sich für „seine“ Lehrstelle stark engagierten. B. fordert, die Berufswahl müsse seriöser angegangen werden - obiger Mechanismus mag mit ein Grund sein, der diesem Ansinnen zuwider läuft.
Die Gefahr in der Berufslehre zu scheitern steigt, wenn die erhaltene Lehrstelle für den Jugendlichen die zweite Wahl darstellt, er also seine erste Wahl nicht realisieren konnte.
Ausbildungsqualität der Betriebe
Bei Schwierigkeiten des Lernenden ist auch die betriebliche Situation zu prüfen. Auf der einen Seite finden wir Betriebe, die einen hohen Einsatz für die Auszubildenden leisten und nötigenfalls unterstützend zur Seite stehen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch die Betriebe, die wenig für das Fortkommen ihrer Lehrlinge tun, wo die Ausbildungsqualität ungenügend ist, wo qualifiziertes Personal für die Ausbildung nicht vorhanden ist und die Lehrlinge als billige Arbeitskräfte betrachtet werden.
Warum wird die Ausbildungsqualität nicht durch die Aufsichtsorgane sichergestellt?
Zuständig ist dafür das Berufsinspektorat. Jeder Inspektor hat aber so viele Betriebe zugewiesen, dass sie von sich aus nicht aktiv werden. Um die Bewilligung zum Ausbilden zu entziehen, braucht es enorm viel. Hier zeigen sich die kleinräumlichen Verhältnisse als Nachteil. Die Betriebe sind mit dem Berufsinspektorat oder deren Vorgesetzten vernetzt, was deren Hemmung erklären mag und es müssen schon wiederholt grobe Mängel ausgewiesen werden, damit das Berufsinspektorat einschreitet.
Ein Vorschlag zur Verbesserung der Situation wäre eine Plattform, wo für die Betriebe ein Ranking gemacht würde. Damit würde sich die Spreu vom Weizen trennen. Die demografische Situation, wo die Betriebe jetzt und in naher Zukunft sich aktiv um die Lernenden bemühen müssen, könnte einem solchen Vorschlag Auftrieb geben. Für die angehenden Lernenden und deren Eltern wäre eine solche Plattform wichtig, wie sonst sollen sie an die Information kommen, ob der zukünftige Lehrbetrieb seinen Ausbildungsauftrag ernst nimmt?
Die Verbesserung der Ausbildungsqualität der Betriebe, zum Beispiel durch eine Ranking-Plattform - birgt die Chance, die Attraktivität des dualen Bildungssystems zu verbessern. Dabei könnten einzelne Branchen profitieren. Zum Beispiel Haustechnik, wo heute kaum ein Lehrling gefunden werden kann, könnte sich über eine seriöse Ausbildung profilieren und auf dem Lehrstellenmarkt punkten.
Sprache in der Arbeitswelt
Umgangsformen und Sprache drücken die Attraktivität einzelner Branchen. Jugendliche sind teilweise schockiert, wenn sie auf dem Bau nur Wörter wie „Tubel“ hören. Sie fühlen sich verletzt, wenn sie mit Fäkalbegriffen beworfen werden, und haben dem nichts entgegenzusetzten, da es für sie auf der untersten Hierarchiestufe nicht angemessen ist, mit gleicher Münze zurückzugeben. Gewissenskonflikte entstehen. Wie sollen die so Beworfenen einen Zugang zu ihrem Arbeitsteam finden? Wie soll Vertrauen in die Arbeitskollegen aufgebaut werden können? – Das Problem darf nicht einfach auf eine mögliche Übersensibilität der Lernenden zurückgeführt werden. Selbst rassistische, die Würde des Menschen verachtende Äusserungen sind auf dem Bau gang und gäbe.
Ökonomische Anreize auf der Anbieterseite steuern das Lehrstellenangebot
B. bestätigt diese These und führt als Beispiel die Coiffeurbranche auf. Viele der dort Ausgebildeten hätten nach der Lehre kaum eine Perspektive im Beruf, da ein Überangebot an Coiffeurgeschäften besteht.
Der Übergang in den Beruf ist ein grosser Bruch im Leben der Lernenden dar.
Bei Schwierigkeiten schiebt man den schwarzen Peter häufig den Jugendlichen zu. Aber man muss sich vergegenwärtigen, dass der Übergang in die Lehre ein grosser Bruch darstellt. Manche müssen von zuhause weg, wohnen in einem Zimmer, verlieren ihr gesamtes Peer-Umfeld, fühlen sich einsam und sollen sich an neue, ungewohnte Strukturen anpassen. Da darf es einen nicht wundern, dass ein gewisser Prozentsatz ausfällt. Dazu kommt, dass viele Schüler nicht gelernt haben zu lernen.
Wer einmal gejobbt hat, kehrt kaum mehr auf die Ausbildungsschiene zurück.
Anstelle einer Berufslehre erst einige Jahre einer ungelernten Arbeit nachgehen um danach – motiviert und gereift – eine Lehre zu beginnen, ist kaum ein begangener Weg. Der Reiz einer ungelernten Arbeit dürfte vor allem im Geld und der damit verbundenen Unabhängigkeit liegen. Der Verdienst macht es aber schwer, wieder zurück in einen Ausbildungsgang zu gehen und mit einem Lehrlingslohn auskommen zu müssen. Vereinzelt habe B. solche Personen in der Beratung gehabt, dies wären aber eher ältere Jugendliche gewesen, die eine klare Vorstellung ihrer Zukunft entwickelt haben.
T9, Die Volksschulbildung entfalte bei der Zielgruppe zu wenig Wirkung, wird abgelehnt, sie pauschalisiere zu sehr.
Praktika dürfen die Lernenden nicht ausnützen.
Die heutige Jugend könnte Generation Praktikum genannt werden – aus Sicht von B. ist dies verwerflich. Es könne nicht sein, dass Personen mit Master-Abschlüssen jahrelang mit 1500 Franken Praktikumslohn abgespiesen werden, nur weil die Hoffnung besteht, im jeweiligen Betrieb eine Stelle zu bekommen. Dasselbe findet auch bei Schulabgängern statt. Eine Lehrstelle als Fachfrau Betreuung Kinder bekommt nur, wer zuvor eine einjährige Praktikumsstelle absolviert hat. Damit werden Praktikanten als billige Arbeitskräfte missbraucht. Wenn Praktikumstellen wegbrechen, habe das auch seine guten Seiten. – Praktika haben zielgerichtet aufgegleist zu sein und sollen für den Lernenden eine Orientierungshilfe sein.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Leiter Regionaler Sozialdienst Prättigau/Herrschaft/Fünf Dörfer
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Aufgabe – Abgrenzung
Die Regionalen Sozialdienste sind für Beratungen und Abklärungen zuständig, sie sind die Anlaufstelle von rat- und unterstützungssuchenden Personen. Im Gegensatz dazu sind die Sozialämter der Gemeinden eher die ausführenden Stellen, wo Beiträge gesprochen und die finanziellen Mittel dafür aufgebracht werden.
Regionale Sozialdienste in der Selbstpräsentation:
Das Kantonale Sozialamt Graubünden führt in allen Regionen des Kantons Sozialdienste, um die Nähe zur Bevölkerung der einzelnen Talschaften sicherzustellen. Menschen mit persönlichen oder familiären Problemen, mit Suchtproblemen oder wirtschaftlichen Problemen werden in ihren Anliegen angehört und beraten. Den Sozialdiensten obliegt zudem die Betreuung von anerkannten Flüchtlingen.
Ziel der Sozialdienste ist es, hilfesuchenden Personen zu persönlicher und wirtschaftlicher Selbständigkeit zu verhelfen. Die Dienstleistungen der Regionalen Sozialdienste sind unentgeltlich.
( https://www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/dvs/soa/dienstleistungen/sozialberatung/Seiten/Regionale%20Sozialdienste.aspx )
Sozialämter der Gemeinden:
Das Sozialamt der Gemeinde ist ausschliesslich für die materielle Sozialhilfe und für die Bevorschussung der Kinderalimente zuständig. (http://www.landquart.ch/verwaltung/abteilungen/soziales/)
Berufsintegration beim RSD Prättigau/Herrschaft/Fünf Dörfer
B. bezeichnet die Aufgaben der Regionalen Sozialdienste (RSD) als breit aufgestellt. Etwa 40% der Klienten beanspruchen Sozialhilfe, während die Mehrheit, nämlich 60%, wegen Beratungen, Abklärungen oder Auskünften den RSD aufsuchen. Von den 12 Angestellten im Regionalen Sozialdienst Prättigau/Herrschaft/Fünf Dörfer sind 7-8 in der Beratung tätig, wobei die einzelnen Personen sich auf Schwerpunkte wie Suchtberatung, gerichtliche Themen, Migration, Jugend und junge Erwachsene spezialisiert haben. Berufsintegration ist ein bei Jugend und junge Erwachsene angegliederter Teil. B. teilt die Beobachtung, dass der Anteil von Jugendlichen, die Schwierigkeiten haben, in der Berufswelt Fuss zu fassen, gestiegen ist. Es gebe kaum einheitliche Gründe für dieses Phänomen, jeder Einzelfall präsentiere sich wieder anders, daher mache es wenig Sinn, auf der politischen Ebene Massnahmen zu fordern.
Bei der Berufsintegration arbeitet der RSD Prättigau/Herrschaft/Fünf Dörfer mit Institutionen und Partnern zusammen:
- Berufs-Coaching von der Berufs- und Laufbahnberatung
- Jugendprogramm Funtauna, das Motivationssemester für stellenlose Jugendliche
- Beschäftigungsprogramm Dock-GruppeSiehe: http://www.dock-gruppe.ch/index.php/homepage/about/stiftung-fuer-arbeit
- Fachstelle für Arbeitsintegration Werknetz Im Auftrag des Kantonalen Sozialamtes und der Gemeinden unterstützen wir sozialhilfeberechtigte Personen bei der beruflichen Integration in die Arbeitswelt oder bei der sozialen Integration durch praktische Tätigkeit. Aus < http://www.srk-gr.ch/werknetz.html >
Individuelle Sichtweise
Die Arbeitsweise der RSD ist von der Sichtweise geprägt, den Klienten als Einzelfall zu betrachten, zu dem die Berater in Kontakt treten um eine tragfähige Arbeitsbeziehung aufzubauen. Wenn die Personen sich beim RSD melden, darf davon ausgegangen werden, dass sie motiviert sind und bereit sind, mit den bereitgestellten Instrumenten zu arbeiten. – Allein die Kontaktaufnahme mit dem RSD ist schon ein bedeutender Schritt, mit dem der Klient seinen Willen unterstreicht, Änderungen an seiner Situation vornehmen zu wollen. Diese Chance soll und kann genutzt werden.
Was aber ist zu tun mit den Personen, die durch alle Maschen fallen, die auch den Schritt zu einem RSD nicht schaffen? Solche Personen mögen auf den ersten Blick unkooperativ erscheinen. Doch sind sie es auch? Oder verbirgt sich hinter dem Nichtkooperieren vielmehr ein Nichtkönnen? - Nicht immer ist es von aussen möglich, einen Blick auf die schwierigen Lebensgeschichten zu erhaschen und zu erahnen, welche Bürde der Betroffene zu tragen hat. Kommt dazu, dass jeder Versuch aus der Misere herauszukommen unweigerlich zum nächsten Misserfolg führt. So auch Bewerbungen, die immer wieder zurückgeschickt werden, sie führen zur subjektiven Gewissheit, dass alle Bemühungen fruchtlos seien.
Anspruch auf Sozialhilfe - Beschäftigung
Wie werden Jugendliche, die den Schritt in die Berufswelt nicht geschafft haben, materiell unterstützt?
Im Kanton GR werden Jugendliche und junge Erwachsene bis 25 Jahre speziell behandelt. Sie haben tiefere Ansätze und es wird ihnen zugemutet, bei den Eltern zu wohnen, ausser wenn gewichtige Gründe wie Gewalt in der Familie dies als unzumutbar erscheinen lassen.
Es gilt die Maxime, einerseits die Hürde für Sozialhilfe hoch zu halten und anderseits Jugendliche und junge Erwachsene nicht besser zu stellen als die Gleichaltrigen, welche sich in Ausbildung oder im Arbeitsprozess befinden. Zudem fordert man eine Gegenleistung für erhaltene Sozialhilfe ein. Jugendliche und junge Erwachsenen haben in individuell als zumutbar erachteten Beschäftigungsprogrammen ihren Beitrag zu leisten. Diese Programme orientieren sich am ersten Arbeitsmarkt um den Wiedereinstieg zu erleichtern, ein Beispiel dafür wäre die oben aufgeführte Dock-Gruppe. Falls die Jugendlichen und junge Erwachsene nicht im erwarteten Mass kooperieren, drohen Kürzungen der Sozialhilfebezüge. – Auf diese Weise werde gegenüber den jungen Leuten ein Druck aufgebaut, der schlussendlich dazu führt, sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Allerdings dürfe nicht verkannt werden, dass Druck nur bei einem Teil der Klientel die gewünschte Wirkung entfalten lässt. Es ist oft schwierig zu erkennen, was sich hinter der scheinbaren Trägheit des Einzelnen verbirgt, aber ohne Berücksichtigung dieser Lasten gebe es auch keine Fortschritte.
Wenn die Rede von Beschäftigung ist, dann sind zwei Unterscheidungen zu treffen. Auf der einen Seite spricht man von Arbeitsprogrammen, wo es hauptsächlich um das Schaffen von Strukturen geht, um die Gewöhnung oder Beibehaltung eines geregelten Tagesrhythmus, um die Arbeit an sich, die für den Einzelnen aber auch sinnstiftend sein kann. In der Regel sind es eher einfachere Arbeiten, sei es im Forst oder in der Industrie. - Anderseits spricht man von Integrationsprogrammen, wenn die Klienten dadurch befähigt werden, einer Arbeit nachzugehen oder eine Ausbildung zu beginnen. Solche Programme sind gekennzeichnet durch begleitende Strukturen, wie Coaching oder geführte Wohngruppen. Bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen sollen zielgerichtete Prozesse aufgegleist werden, wofür deren Motivation vorausgesetzt wird – schliesslich sind dies recht teure Programme. Ein Beispiel dafür wäre das oben aufgeführte Werknetz.
Arbeitsprogramme werden in den verschiedenen Gemeinden des Einzugsgebietes recht unterschiedlich gehandhabt. Im urban und industriell geprägten Gebiet zwischen Haldenstein und den Fünf Dörfern sind es eher Arbeitsplätze im 2. Arbeitsmarkt, wie beispielsweise Elektrogeräte zu recyceln bei der Dock-Gruppe, hingegen können im ländlich geprägten Raum des Prättigau auch sehr einfache Lösungen möglich sein, von der Gemeinde organisiert: Zum Beispiel, der Klient begleitet den Gemeindearbeiter und hilft ihm.
Ein Umstand, der immer wieder Anlass zum Staunen gibt, ist, dass Jugendliche und junge Erwachsene oft sehr lange ohne sich beim RSD zu melden, ohne Sozialhilfe „überleben“ und sich irgendwie durchmogeln. Sie wohnen bei den Eltern und bekommen von ihnen einen finanziellen Zustupf. Eltern würden mithelfen, das Problem zu chronifizieren, indem sie selbst das System stabilisieren. Mag es Scham sein, mag es die Unvereinbarkeit eines drastischen Schrittes mit dem Selbstverständnis der Elternrolle, im Endeffekt tun die Eltern alles um den Schein des Familienbildes nach aussen zu wahren, während die Jugendlichen nicht aus ihrer Lethargie herausfinden, im familiären Mikrokosmos tüchtig zulangen um ihre Bedürfnisse abzudecken und in diesem System keine Anreize vorfinden, sich Anstrengungen aufzuerlegen um in die Arbeits- oder Berufswelt aufzubrechen. Da beide Seiten das System stabilisieren, könne man von Co-Abhängigkeiten sprechen, jedenfalls braucht es recht viel, bis so ein Familiensystem genügend erschüttert werde und ein Jugendlicher oder seine Eltern sich bei einem RSD melde. – Wenn dieser Schritt aber einmal vollzogen ist, ergibt sich daraus die Chance aufzubrechen und Veränderungen zu initiieren.
Integrationsmassnahmen – Flüchtlinge
Asylbewerbende werden im Kanton GR vom Amt für Migration in kantonalen Zentren betreut. Diese Zentren sind zuständig für die soziale Integration, die berufliche und die sprachliche Integration. Ein Job-Coach klärt im Einzelfall ab, welche Bildungsniveaus die Bewerber mitbringen, und was davon für den hiesigen Arbeits- und Ausbildungsmarkt genutzt werden kann.
Erfolgt die Anerkennung als Flüchtling, wechselt die Zuständigkeit zum Kantonalen Sozialamt.
Eine spezielle Gruppe bilden die unbegleiteten Minderjährigen. Das Kantonale Sozialamt führt diese Jugendliche in einem ersten Schritt eng im Rahmen von Institutionen, es gibt zwei für junge Männer, eine für junge Frauen, in einem nächsten Schritt leben die unbegleiteten Flüchtlinge in WG’s, wo sie mit einer Teilbegleitung unterstützt werden, der letzte Schritt ist der Bezug einer eigenen Wohnung. Begleitung dieser Jugendlichen bleibt bestehen bis sie eine Ausbildung abgeschlossen haben, es gibt dafür keine limitierende Altersgrenze.
Die massive Zunahme an Flüchtlingen stellt die Auffang- und Integrationsstrukturen auf eine harte Probe. Eine zusätzliche Schwierigkeit ergibt sich aus dem beschleunigten Verfahren in den Bundeszentren. Heute ist ein Entscheid über den Flüchtlingsstatus schon nach einigen Monaten gefällt, nicht mehr nach Jahren, was dazu führt, dass eine Zusammenarbeit allein schon wegen der Sprache sich als schwierig gestaltet.
Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus der Änderung der Anerkennungspraxis. Eritreer galten bis vor einem Jahr als anerkannte Flüchtlinge, während sie nun als nicht anerkannte Flüchtlinge den Status der vorläufig Aufgenommenen bekleiden. Die Idee dahinter ist, dass vorläufig Aufgenommene wieder in ihr Heimatland zurückkehren würden, sobald sich die politische Situation dort entspannt habe. Fakt ist aber, dass die Rückführung praktisch nicht möglich ist und vorläufig Aufgenommene auch nach 8 – 10 Jahren noch in der Schweiz seien. – Diese Gruppe müsse aber mit Asylansätzen leben, die wesentlich tiefer sind als Sozialhilfeansätze. Wichtiger noch: Diese Menschen können nicht von den Integrationsmassnahmen profitieren, sie dürfen zwar arbeiten, werden aber nicht darin gefördert, ihre Arbeitsmarkttauglichkeit über Kurse und Ausbildungen zu verbessern. Vorläufig Aufgenommene zieht es in den niederschwelligen Sektor, und finden sich in einem harten Verdrängungskampf um die freie Arbeitsstellen.
Bei Integrationsmassnahmen in den Arbeitsmarkt ist es für die Zukunft entscheidend, die betreuten Personen über Ausbildungen zu qualifizierten Arbeiten hinzuführen, wo der Markt auch einen Bedarf signalisiert. So könne das Ziel nicht Küchengehilfe sein – dafür brauche es kein Massnahmenpaket – sondern beispielsweise eine Arbeit in der Fleischverwertung, wo im Kanton Fachkräfte fehlen.
Allgemein ist es aber schon schwierig, einen Flüchtling so weit zu bringen, dass eine Lehre möglich wird. Vorbehalte gegenüber Fremden spielen dabei selbst im ländlichen Gebiet keine Rolle. Wenn einer sich so weit integriert hat und seinen Bildungsrucksack zu füllen vermag, dass eine Berufslehre in Frage komme, dann gelte er selbst am Stammtisch, wo rassistisch angehauchte Sprüche gang und gäbe sind, als die eine Ausnahme, die zu fördern man gerne bereit ist.
Die Zahlen des Bundes zeigen ernüchternde Fakten auf. Nach 10 Jahren gehen nur rund die Hälfte der Flüchtlinge einer Erwerbsarbeit nach, mit der sie sich den Lebensunterhalt bestreiten können. - Was könne getan werden, um Flüchtlinge besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren?
Das Rezept des Kantons GR mit einer engmaschigen Führung und Begleitung scheine in die richtige Richtung zu zielen. Allerdings seien die Kosten dafür mit rund 4000 – 5000.- pro Monat extrem hoch, vor allem wenn man diesen Kosten die Kopfpauschale von 1500.- des Bundes entgegenstellt. Trotzdem gelte die Auffassung, diese hohen Kosten würden sich rechnen, wenn man davon ausgehen darf, der Flüchtling würde durch die Massnahmen ermächtigt, danach während seiner Lebensspanne wirtschaftlich auf eigenen Beinen zu stehen.
Der Kanton GR stehe in Bezug auf die Integration in den Arbeitsmarkt gut da im Vergleich zu den anderen Kantonen. Ein Indiz sei beispielsweise die Sozialhilfequote, die in der Bündner Herrschaft markant tiefer sei als im angrenzenden zu SG gehörenden Sarganserland.
Zur Illustration sei die Tabelle vom Bundesamt für Statistik eingefügt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Die Herausforderungen sind hoch und werden wohl auch in näherer Zukunft hoch bleiben. Als Beispiel führt B. das Settlement Programm des Bundes auf. Darin werden besonders schutzwürdige Flüchtlinge noch in Auffanglagern im Ausland ausgewählt und als Flüchtlinge anerkannt.
Für solche Menschen kann die Reise in die Schweiz einem veritablen Kulturschock gleichkommen. Möglicherweise noch nie einen Zebrastreifen gesehen, müssen sie sich im Alltag völlig neu orientieren und versuchen sich zurechtzufinden. Man versuche, mittels einer Göttifunktion diese Menschen zu begleiten und den hiesigen Lebensweisen anzunähern. Diese Flüchtlingsgruppe leidet häufig unter Mehrfachproblematiken, zum Beispiel traumatischen Erlebnissen, die angegangen werden müssen, bis überhaupt an berufliche Integration gedacht werden könne.
Der humanitäre Aspekt in der Politik bezüglich des Flüchtlingswesens scheint sich auf die reinen Aufnahmezahlen zu reduzieren. Sind für eine humanitäre Haltung aber nicht die nachgelagerten Aspekte, nämlich wie die Integration vorangetrieben wird, viel wesentlicher?
B. verweist in seiner Antwort auf eine grundsätzliche Schwelle. Ein RSD als Teil der Verwaltung könne und dürfe nicht der Politik sagen, was zu tun sei. Der Bund teilt Asylanten den Kantonen zu, die jeder wiederum nach eigenen Strukturen weiter mit ihnen verfahre. – In jüngerer Zeit seien aber schon Erfahrungen an den Bund zurückgeflossen, zum Beispiel, dass das Kopfgeld von 1500.- pro Flüchtling bei weitem nicht ausreichen würde oder dass der Bund auch in Herkunftsländern von Flüchtlingen aktiv werde und darüber informiert, was sie in der Schweiz erwartet. Manche Flüchtlinge hätten von der Schweiz völlig überrissene Annahmen und seien so über ihre ersten Erfahrungen schockiert gewesen, dass wenn sie gekonnt hätten, sie gerne wieder mit ihrem Flüchtlingscamp getauscht hätten.
Das föderalistische System, wo ein jeder Kanton sein eigenes Züglein fährt, bietet durchaus auch Vorteile. Man könne die Vielfalt der Wege, die im Flüchtlingsbereich begangen werden, nutzen um Erfahrungen auszutauschen und voneinander zu lernen. Wenngleich auch jeder Akteur in seinen Strukturen gefangen sei, und gute Lösungen von anderen zu applizieren ein hürdenvoller Weg ist, so stehen die Kantone untereinander auch in einer Art Wettbewerb und werden ihre eigenen Strukturen bezüglich der Aufgaben zu optimieren suchen.
Transkript des Gesprächs mit…
Funktion: Geschäftsführerin fit4job
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Schwierigkeiten beim Übergang Volksschule – Berufsausbildung
Für ein wachsendes Segment ist diese Hürde fast nicht mehr zu überwinden. Veränderungen im Arbeitsmarkt bedeuten, dass niederschwellige Jobs wegbrechen würden, das Niveau der Attestausbildungen ist für manche zu hoch, sie seien nur teilweise ein Ersatz für die nun entfallenen Anlehren, die Grundausbildungslehrgänge sind mit Stoff überfrachtet, was handwerklich-praktisch orientierte Kandidaten leicht überfordere und die Berufsverbände sind weiter bestrebt, noch mehr Lehrstoff in die Grundausbildung zu packen oder die Lehrzeit zu verlängern, statt in die tertiäre Ausbildungen zu verlagern. – Dies sind häufig genannte Argumente zu dieser Problematik.
D. erwidert, dass die drei Berufsverbände, mit denen fit4job zu tun hat, diese Probleme erkannt hätten und sich um Gegensteuer bemühen würden. Bei der Neuschaffung des EBA-Berufs Küchenpraktiker habe man bei Gastrosuisse zu viel Schulstoff hineingepackt und sei nun daran am Redimensionieren. Dasselbe beim Verband der Schreinermeister. Auch dort sei erkannt worden, dass die schulischen Anforderungen in der Attestausbildung zu hoch seien - nicht die handwerklichen. Die Lernenden brauchen nicht alles Schulwissen der Berufsfachschule, wenn sie im Beruf bestehen möchten, sie könnten gute Handwerker und Praktiker werden, und Schulwissen später dazu erwerben, wenn sie es auch brauchen würden. So würde der Weg durch die Berufsfachschule etwas erleichtert und damit die Aussicht auf einen erfolgreichen Lehrabschluss erhöht.
Die Verbände scheinen realisiert zu haben, dass Handlungsbedarf bestehe und Attestausbildungen überfrachtet sind, dies zeige sich auch bei Swissmechanik, dem dritten Verband. Die Schwierigkeit liege darin, den Spagat zwischen den Bedürfnissen beider Seiten des Spektrums zu machen. Dort bemühen sich die Verbände um attraktive Anschlusslösungen im Tertiären Bereich und richten die Bildungspläne in Einklang zur Bologna Reform aus. – Es ist, wie wenn zwei Ebenen auseinanderdriften würden. Die Akademisierung am oberen Ende laufe dem Bedürfnis des Handwerkers entgegen, der eine solide Ausbildung möchte um primär einmal in seinem Berufsfeld tätig zu sein. „Wie viel schulisches Wissen ist nötig für die Ausübung des Berufs? Was kann an überflüssigem Stoff herausgenommen werden und in die Weiterbildung zum Spezialisten übertragen werden?“ - Letztlich gehe es dabei um Bildungspolitik und Verbände wie Bildungsdepartement müssten in den Schlüsselthemen ihre Positionen klar beziehen und dürfen dabei die Sichtweise der Lernenden in Attestausbildungen nicht aus den Augen verlieren.
Die Grundidee, über eine Attestausbildung einen schulisch schwächeren Jugendlichen anzusprechen und ihm dann über die daran angehängte EFZ Ausbildung mannigfaltige Anschlussmöglichkeiten anzubieten, sei schon richtig. Nur müsste gut überlegt werden, was an Bildungsinhalten zu welcher Stufe gehöre. Ein junger Mensch solle erst mal in den Beruf einsteigen können und von diesem fasziniert sein. Später mag er die Richtung wechseln, sich weiterbilden oder quer einsteigen. Wichtig sei doch, dass wir die Jungen im untersten Bildungsniveau dort abholen können, wo sie stehen, ohne dass sie an zu hohen Anforderungen zerbrechen. Die Abbruchquote von Lehr- und Attestausbildungen ist erschreckend hoch. Die Frage müsse doch sein: Wie können wir diese Abbruchquote verringern und die Ausbildung so gestalten, dass auch schwächere Jugendliche zu einem Berufsabschluss kommen.
Der Arbeitsmarkt von morgen
Wie kann der Arbeitsmarkt beeinflusst werden, auch Schwächeren eine Chance zu geben?
Junge Menschen sind die Grundlage, auf denen die Gesellschaft von morgen aufgebaut sein wird. Wenn wir ihnen die Türe vor der Nase zumachen, verbauen wir die eigene Zukunft. Es braucht jeden, wie in einem Uhrwerk, wo zum Funktionieren kein Teil fehlen darf. Für die Gesellschaft lohne es sich, auch die Schwächeren in die Arbeitswelt zu integrieren. Auch in Zukunft werden wir nicht nur Akademiker brauchen, sondern das Zusammenspiel von allem, in welchem der praktisch orientierte Handwerker eine wichtige Rolle übernehmen wird. Wir tun gut daran, das Ansehen des Handwerks zu fördern und hoch zu halten, damit diese Berufe attraktiv bleiben.
Duales Bildungssystem, Auswahl von Lehrlingen
„Sie sprechen damit den Kern dessen an, was das duale Bildungssystem der Schweiz ausmacht. Ist es zu wenig bekannt bei Personen mit ausländischen Wurzeln, weil sie aus ihrem Herkunftsland ein Duales Berufsbildungssystem nicht kennen?“
Nicht kennen mag ein Grund sein, wobei dies auch Einheimische betreffe. Die vielfältigen Verbindungen und Verästelungen im Berufsbildungssystem böten ausgezeichnete Möglichkeiten, sich beruflich emporzuarbeiten, was noch zu wenig in den Köpfen verankert sei. – Eine andere Erklärung sei, dass viele Eltern der Secondos in die Schweiz gezogen seien und hier Arbeit auf dem Bau oder in der Reinigung gefunden hätten und einmal im Arbeitsprozess einfach weitergearbeitet hätten – ohne Berufsabschluss und Diplome. Die Eltern wünschten sich für ihre Kinder eine bessere Zukunft, daher sollten sie Schulen besuchen oder mindestens eine EFZ-Ausbildung abschliessen. Sie würden aber verkennen, dass heutzutage auch für einen Putzjob ein Abschluss als Fachmann Betriebsunterhalt vorausgesetzt werde. So kommt es zur paradoxen Situation, dass die Grundausbildungen, welche einen idealen Einstieg ins duale Bildungssystem bieten würden, bei Personen mit einem Migrationshintergrund ein schlechtes Image hätten.
Der Arbeitsmarkt habe sich grundlegend gewandelt. Man sei heutzutage viel zu papier- und diplomgläubig. Weiterbildungsgänge boomen, in welchen Praktiker mit langjähriger Berufserfahrung die Zeit absitzen, nur um ein Papier zu erhalten, das belegen soll, was sie schon lange können. HR Abteilungen wirken oft aufgeblasen, wenn sie ihre Stellenbesetzungen auf die Papierform abgestützt vornehmen und nicht einmal den betroffenen Teamleiter in den Selektionsprozess einbinden, nur um damit Richtlinien des Managements zu genügen.
Es gebe aber auch Gegenbeispiele, die sehr erfolgreich operieren, nur seien die viel zu selten. Beispielsweise Bühler AG, die vorab die menschlichen Qualitäten und die Passung eines Kandidaten zu ihrem Unternehmen prüfe – und nicht einen Kandidaten allein wegen seines Zeugnisses ablehne. Man habe schon Jugendliche zu einer Abklärung dorthin schicken können, bei denen klar zurückgespiegelt wurde, woran noch gearbeitet werden müsste, bis sie als Lehrlinge in Frage kommen würden.
Migros (GMOS) sei ebenfalls eine löbliche Ausnahme, die Berufsbildung arbeite mit fit4job Hand in Hand. Wenn Jugendliche von fit4job sich bewerben würden, dann würden sie speziell behandelt. Der Kandidat werde genau angeschaut und bleibe nicht schon in der ersten Selektionshürde hängen – im Wissen, dass die Werte und Haltungen, auf die in fit4job hingearbeitet werde, sich mit denen der GMOS decken würden. Es sei schon gelungen, eigene Jugendliche über die praktische Beurteilung während der Schnupperlehre bei der GMOS zu platzieren. Migros habe erkannt, dass sie ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen möchten und bis zu einem gewissen Mass versuchten, Jugendlichen aus Randgruppen, die schwieriger zu führen sind, die Möglichkeit einer Ausbildung zu geben. Migros bekennt sich dabei zu EBA-Attestausbildungen. Lieber damit einen machbaren Einstieg in den Beruf realisieren, die Lernenden begleiten und darauf aufbauend sie zu einem EFZ- Abschluss führen, als dass sie in der dreijährigen Lehre überfordert sind und aufgeben.
D. räumt ein, dass ein Grossunternehmen mehr Möglichkeiten habe, sich mit „schwierigen“ Jugendlichen auseinanderzusetzen als Kleinbetriebe und KMU’s. Der Mehraufwand sei beträchtlich, vieles ginge anfangs langsamer, aber es lohne sich schon: über die Lehrzeit gerechnet geben die Lernenden die Aufwändungen wieder zurück. Nur seien Kleinbetriebe oft so unter wirtschaftlichem Druck, dass ein Lernender von Beginn weg zu funktionieren habe und sie sich diesen Aufwand nicht leisten könnten.
Dabei braucht es manchmal gar nicht viel. Mal ein Auge zudrücken, wenn der Lehrling wieder zu spät kommt, weil er verschlafen hat im Wissen, dass er mit psychischen Problemen zu kämpfen hat und von seinem Umfeld keine Unterstützung erwarten darf.
Gute und weniger gute Lehrbetriebe
Ein wiederholt genanntes Argument ist, dass ein Teil der Lehrbetriebe nur mangelhaft ausbilden würden und die Aufsichtsorgane kaum in der Lage seien, für eine flächendeckende, gute Ausbildungsqualität zu sorgen.
D. bestätigt dieses Argument aus ihrer Sicht: Wenn eine Lehrabschlussprüfung nicht bestanden werde, dann frage sie schon genau nach im Betrieb, ob dies nicht auf eine ungenügende Ausbildung zurückzuführen sei. Oder noch schlimmer: Wenn ein Lehrvertrag im Februar des dritten Lehrjahres vom Betrieb aufgelöst werde, liegt die Vermutung nahe, etwas stimme nicht - im ersten und zweiten Ausbildungsjahr sei wohl nicht zielführend ausgebildet worden. Habe man den Lehrling nur als billige Arbeitskraft ausgenutzt?
Ähnlich stelle sich die Situation bei den Praktikumsstellen dar. Werde nur 200.- als Praktikumslohn geboten, dann würde D. dem Jugendlichen sagen: „Mache es nicht!“
Es gebe gar Betriebe, die keinen Lohn im Praktikum bezahlen wollen und das vage Versprechen nach einer Lehrstelle nach absolviertem Praktikumsjahr abgeben. – In solchen Fällen könne man davon ausgehen, dass sich aus dem Praktikum keine Lehrstelle ergeben wird. Arbeit ohne Entgelt dürfe nicht sein. Besser sei es, der Kandidat würde weiterzusuchen als sich der trügerischen Hoffnung eines unlauteren Versprechens hinzugeben.
Umgekehrt sollen die positiven Beispiele erwähnt werden. Es würden Betriebe von sich aus bei fit4job anrufen: „Habt ihr einen möglichen Interessenten, der zu unserem Betrieb passen würde?“ – Manche Betriebe würden gar darauf verzichten, die Lehrstelle im Lehrstellenverzeichnis auszuschreiben um erst im Direktkontakt Jugendliche von fit4job anzusprechen. Die systematische Aufbauarbeit und Pflege eines Netzwerkes von Betrieben, die auch nicht einfache Jugendliche ausbilden würden, mache sich bezahlt. Networking sei einer der wichtigsten Faktoren für eine erfolgreiche Vermittlung, entsprechend lohne sich der Aufwand dafür. Das Netzwerk von fit4job erstreckt sich über die ganze Ostschweiz bis nach Zürich; über Telefonkontakte, Lehrlingsforen oder Anlässe von Gemeinden werden Kontakte akquiriert. Betriebe würden auch zum Kennenlernen von fit4job zu ihnen eingeladen, damit sie Einblicke in ihre Arbeit mit Jugendlichen bekommen würden. Wichtig seien auch kleine Betriebe, die nur ein bis zwei Lehrstellen anbieten könnten. Die dortigen familiären Strukturen seien genau das, was manche Jugendliche brauchen würden.
Wird eine Schnupperlehre abgebrochen, weil zum Beispiel der Jugendliche nach einem halben Tag meinte, er hätte genug vom Wischen, würde D. aktiv auf die Betriebe zugehen, nachfragen und vor allem zuhören – nur so könne die Bereitschaft, wieder einem ihrer Jugendlichen eine Chance zu geben, erhalten werden.
Wie kann den Jugendlichen geholfen werden?
Für Jugendliche, die bei fit4job ankommen, ist es heilsam, erst einmal klare Strukturen vorzufinden und sich an geregelte Abläufe zu gewöhnen. 8 Uhr morgens haben sie da zu sein, sonst drohten Konsequenzen, Pünktlichkeit werde verlangt, sich abzumelden, wenn sie nicht kommen könnten und eine Fünf-Tage-Woche durchzuhalten seien Grundlagen, ohne die sie im beruflichen Umfeld nicht bestehen könnten. Die Arbeit in der Produktion würde den Vorteil bieten, Strukturen und Zuverlässigkeit plausibel vermitteln zu können, wenn am Ende der Kette ein Kunde auf rechtzeitige Lieferung angewiesen sei. Geregelte Strukturen werden als Tools betrachtet, über die die Jugendlichen lernen und sich die betrieblichen Grundkompetenzen erarbeiten könnten. Manchmal sei das Ziel bescheiden gesetzt, z.B. vier von fünf Mal pünktlich zu erscheinen, worauf dann aufgebaut werden könne.
Nicht alle Jugendlichen schaffen es, sich innerhalb des vorgegebenen Rahmens zu bewegen, manche müssen weggeschickt werden, weil sie noch nicht so weit seien.
Ein anderer Punkt, der bei fit4job seine Wirkung entfalte, ist der Umstand, dass Jugendliche hier auf andere „Gescheiterte“ treffen würden, was entlastend ist. - Endlich nicht mehr das Gefühl zu haben, der einzige zu sein, der zwei Lehrabbrüche hinter sich habe oder der eine Zurückgebliebene zu sein, der trotz 60 Bewerbungen keine Lehrstelle gefunden habe. Nicht allein zu sein mit dieser Thematik entlaste ungemein, was den Weg für eine Auseinandersetzung mit den eigenen Versagensängsten ebne.
Wichtig sei im Umgang mit den Jugendlichen, sich immer wieder vor Augen zu halten, in der täglichen Arbeit deren Ressourcen zu ergründen und zu stärken. Es soll nicht auf deren Defiziten herumgeritten werden, und wenn die Mängel im Vordergrund sind, dann nur um herauszufinden, was der Einzelne brauche um Verbesserungen zu erzielen. Dabei seien immer auch klare Hilfen zu geben, wie die Schwächen Schritt für Schritt überwunden werden könnten. – Auch bei fit4job gebe es Verweise, wenn die Regeln nicht eingehalten werden, sie sollen den Zweck eines Schusses vor den Bug haben, damit der Betreffende aufwache und reagiere.
Lob sei wirksamer als Kritik, man führe monatlich Einzelgespräche, in welchen das Selbstbild mit dem Fremdbild abgeglichen werde und das Erreichen eines gesetzten Zieles über konkret formulierte Hilfen und Teilziele geplant werde. Mit einem Jugendlicher, der oft verschlief, weil er den Wecker nicht klingeln hörte, wurde vereinbart, einen altmodischen, mechanischen Wecker zu organisieren, der überaus laut rasselt und diesen einen Meter vom Bett entfernt auf ein Blech zu stellen. – Es wirkte.
In manchen Fällen würden die Betreuer Jugendliche bei Bewerbungsgesprächen bis vor die Türe begleiten, um – wenn sie danach in ein Loch fielen, unterstützend für sie da zu sein, damit sie nicht desillusioniert das bisher Erreichte verwerfen würden.
Es kann auch notwendig sein, wenn ein Jugendlicher mit seiner Problematik sich an eine Fachstelle wie die Psychiatrie Süd oder eine Suchtberatungsstelle wenden soll, sich mit ihm zusammen ans Telefon zu setzen um einen Termin zu vereinbaren. Alleine bliebe es bei der guten Absicht und er wäre nicht imstande, den nächsten konkreten Schritt – telefonisch einen Termin vereinbaren – auszuführen.
Im Gespräch signalisiere man klar, dass unrealistisch gesetzte Ziele nicht erreicht werden könnten und die Vorstellungen des Jugendlichen anzupassen seien. Lieber zusammen halbe Schritte festlegen, die aber erreicht werden können, als wegen eines allzu grossen Schrittes achselzuckend das Scheitern in Kauf zu nehmen und sich damit einmal mehr zu bestätigen: „Es geht nicht! Es macht keinen Sinn sich zu bemühen!“ Die Jugendlichen sollen spüren, dass man bereit sei, mit ihnen die Teilschritte gemeinsam anzupacken und dass sie, wenn es klemmen sollte, auf die Betreuungspersonen zurückgreifen dürfen.
Um auf diese Art mit den Jugendlichen zu arbeiten, müsse in jedem einzelnen Fall abgeklärt sein, welches Ausmass an konkreter Unterstützung er brauche – was in der Umsetzung sehr aufwändig ist und viele Zeitressourcen in Anspruch nimmt.
Wie beeinflussen verinnerlichte, mentale Konstrukte die Handlungen der Jugendlichen?
„Ein ganz wichtiger Faktor!“, meint D. Die Sätze „Ich bin nicht imstande…“, „Ich kann nicht….“, „Ich habe keine Chance!“ sind allgegenwärtige, in den Köpfen eingebrannte Grundideen, die es aufzulösen gilt. Jedes Mal, wenn solche Sätze und die damit verbundenen Gefühle der Selbstabwertung hochkommen, ist man gefordert, adäquat zu reagieren. Einem Jugendlichen zu verstehen geben, man wisse, dass er etwas könne und viel drauf habe, sei das Eine. Werde dieser im nächstfolgenden Schnupperbericht erneut mit negativen Beurteilungen konfrontiert, dann weiche man im Gespräch nicht aus, sondern versuche mit Fragen wie: „Was ist geschehen, dass die Ziele, die wir uns gemeinsam vorgenommen hatten, noch nicht erreicht werden konnten?“ die Sachlage so umzudeuten, dass das mögliche Gelingen, das Erreichbare, in den Vordergrund gerückt wird, nicht das Nichtfunktionieren.
In den Gesprächen mit den Jugendlichen werden mittels eines Bildungsberichts Beobachtungen mit ihm reflektiert und mit seiner eigenen Wahrnehmung abgeglichen. Der Bericht beinhaltet knapp 18 Punkte, die in die vier Felder „Selbstkompetenz“, „Sozialkompetenz“, „Methodik/Motivation“ und „Fachkompetenz“ gegliedert sind.
Die Jugendlichen sprechen sich untereinander ab und nehmen sehr wohl Unterschiede wahr, wie die einzelnen behandelt werden. Da helfe nur Transparenz schaffen, soweit dies aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes möglich ist. Was mit wem abgemacht worden sei, müsse an Mitteilung genügen, über die Gründe dürfe man nicht sprechen. - Dieses Vorgehen werde gut akzeptiert. – Es braucht viel Offenheit um entsprechend dem Bedürfnis des einzelnen Jugendlichen unterschiedliche Wege zu beschreiten und individuelle Lösungen für die Jugendlichen zu finden.
Zu knappes Zeitfenster
Das Zeitfenster von einem halben Jahr, das fit4job zur Verfügung steht, werde als Stolperstein im Gesamtkonzept betrachtet. 15 Jahre Lebenserfahrung und 9 Schuljahre lassen sich oft nicht in einem halben Jahr umpolen. Wenn ein Jugendlicher eine Lehrstelle zugesagt bekommen hat, sei der Auftrag von fit4job offiziell beendet. – Die Erfahrung zeige aber, es könnten mehr Fälle erfolgreich zu einem Berufsabschluss gebracht werden, wenn die Jugendlichen, die es nötig hätten, weiterhin in einer Tagesstruktur begleitet werden könnten. Manche seien noch ungenügend stabilisiert, und wenn sie dann in der Lehre (wieder) scheitern, sei der Absturz umso grösser. Ob sie sich dann wieder selbst aufrappeln können, sei äusserst ungewiss. – Gewiss wären die Finanzen ein Problem, wenn Betreuungsstrukturen parallel zur Lehre geschaffen würden, dem müsse aber entgegenhalten werden, was für Kosten ein Sozialhilfeempfänger während seiner Lebensspanne verursachen würde. Leider sehe man bei der Diskussion um eine allfällige Erweiterung des Auftrags nur die Kostenseite, während die bei einer erfolgreichen Integration vermiedenen Sozialkosten kaum im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung stehen würden.
Den Auftrag beziehe fit4job vom SECO, dem Staatssekretariat für Wirtschaft. Die Finanzierung erfolge übers RAV und ende mit dem Beginn einer Lehrausbildung. Dem RAV seien die Hände gebunden, es sei nicht mehr in deren Zuständigkeitsbereich, Gelder zu sprechen für eine lehrbegleitende Tagesstruktur. Wohl könne begleitende Beratung von der Stiftung „Die Chance“ geleistet werden, aber all jene, für die dies nicht genüge, könnten nicht angemessene Unterstützung erhalten. Niemand zeichne sich zuständig für diese Thematik, eine Lösung sei nicht in Sicht.
Arbeit führt zu gesellschaftlicher Anerkennung
Arbeit ist der wohl wichtigste Eckpfeiler, um in der Gesellschaft integriert zu sein. Daher ist der Zugang zum Arbeitsmarkt von elementarer Bedeutung. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass nicht alle Jugendliche nach Ende der Volksschule den Punkt erreicht haben, wo sie befähigt sind, eine Lehrstelle zu finden und ihre Ausbildung durchzustehen. Manche brauchen mehr Zeit für diese Reifungsprozesse, andere müssten erst mal ausscheren und eins auf die Nase bekommen, bis sie sich wieder melden würden, wieder andere seien Wackelkandidaten und müssten noch eine gewisse Zeit gestützt werden. Einzelne würden in ihrem Leben viele parallele Baustellen mitschleppen: Zerrüttetes Elternhaus, Beistand, Jugendanwaltschaft und Sozialamt. – Bei solchen Mehrfachproblematiken sei es nicht möglich, diese innert eines halben Jahres zu lösen.
Die Menge der Jugendlichen mit solchen Mehrfachproblematiken sei in den letzten Jahren eindeutig gestiegen. Während die Kursleiter vor sechs bis sieben Jahren noch ein bis zwei solch schwierige Fälle pro Kurs vorfanden, sind es heute noch zwei, die bald wieder draussen (aus der Tagesstruktur) sind, während 10 als schwierige Fälle gelten.
Der Kanton St. Gallen habe schon einiges getan, mehr als manch anderer Kanton, um Instrumente zu schaffen, Jugendliche in die Arbeitswelt zu integrieren. Die aktuellen Entwicklungen zeigen aber, dass noch mehr zu tun ist.
Case Management
Fit4job habe kürzlich eine Case Management Stelle als Pilotversuch aufgegleist. Gerade bei Mehrfachproblematiken zeige sich die Schwierigkeit, alle relevanten Ansprechpartner und beteiligten Stellen der Jugendlichen an einen Tisch zu bringen um die Zuständigkeiten abzugrenzen, damit nicht gegeneinander gearbeitet werde oder die Jugendlichen die Beteiligten gegenseitig ausspielen würden. D. erinnert sich eines Falles, bei dem 8 Stellen involviert waren. Gelingt es nicht, die Zuständigkeiten klar abzugrenzen, würde beim Jugendlichen vor allem Unsicherheit erzeugt - was gerade das Konträre der erwünschten klaren Strukturen sei. - Die Kontaktaufnahme mit den involvierten Stellen sei enorm zeitaufwändig. Die Case Management Stelle entlaste die Kursleiter davor, so dass sie sich wieder auf ihre eigentlichen Aufgaben konzentrieren könnten. Die Case Management Stelle führt mit den von ihr betreuten Jugendlichen Gespräche, erstellt mit ihnen Zielvereinbarungen und nimmt eine Triage vor. – Das Bedürfnis nach Case Management ist gross. Kaum angefangen ist die Case Management Stelle schon mit Arbeit zugedeckelt! - Dies illustriere das Anwachsen der schwierigen Fälle überaus deutlich.
Zum Abschluss des Gesprächs weist D. auf eine Lücke im Schulsystem hin. In Schulen werde praktisch ausschliesslich über den visuellen und auditiven Kanal gelernt. Schüler, und das sind nicht wenige, die praktische Lerner seien, würden auf ihrem bevorzugten Kanal nicht bedient und würden entsprechend mehr Mühe mit schulischem Lernen haben. Die Gefahr nimmt zu, dass sie schulisches Lernen mit Misserfolgen verinnerlichen würden.
Ein zweiter Punkt betrifft Freiräume für Kinder und Jugendliche, die immer mehr eingeengt werden. Wer eine Generation früher sein Töffli frisierte, kam nicht selten mit einer väterlichen Ermahnung des Gemeindepolizisten davon, während heute viel schneller eine Verzeigung erfolge und der Fall bei der Jugendanwaltschaft lande. Freiräume seien wichtig, um sich auszuleben und Grenzen auszuloten. Jugendliche, die allzu schnell kriminalisiert werden, hätten es schwer, den Weg zurück zu finden um innerhalb der Erwartungen der Erwachsenen- und Berufswelt zu funktionieren.
Transkript des Gesprächs mit…
Funktion: RAV Leiter
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Weitreichende Auswirkung, wenn der erste Schritt nicht gelingt
Ein Argument, das durch Studien gut belegt ist, besagt, dass Jugendliche ohne Anschlusslösung nach der Volksschule mit einer erheblichen Wahrscheinlichkeit auch nach 10 Jahren ohne Ausbildung dastehen.
Wenn einer einmal Arbeit gefunden hat, zum Beispiel auf dem Bau, und eine bestimmte Summe Geld verdient hat, wird es schwer, ihn zu motivieren eine Berufsausbildung zu machen. Aber auch Personen, die nicht arbeiten, sind schwierig auf die Ausbildungsschiene aufzugleisen, obwohl es mehr offene Lehrstellen als Bewerber gibt.
Ablauf bei Jugendlichen im RAV
Wie muss man sich den Ablauf beim RAV vorstellen, wenn ein Jugendlicher ohne Anschlusslösung sich meldet?
Schulabgänger ohne Lehrstelle, wobei die meisten über das 10. Schuljahr kommen, können sich wie andere Stellensuchende beim RAV melden. Sie werden pauschal eingeschätzt, das sie sich ja nicht über ein vorgängiges Einkommen ausweisen können und dem Jugendprogramm Funtauna zugewiesen. Dort werden sie in einer Tagesstruktur betreut, sie werden schulisch unterrichtet, wobei die Inhalte sich nach den Erfordernissen der Grundausbildung ausrichten, und sie erhalten Werkunterricht um herauszufinden, wo ihre handwerklich-manuellen Präferenzen liegen. Dazu kontaktieren die Jugendlichen Lehrbetriebe um eine Lehr- oder Praktikumsstelle zu bekommen. Manche Jugendliche sind zu spät dran, um noch eine Lehrstelle zu finden. Diese können sich ein Lehrstellenpraktikum suchen, wo sie als Praktikanten im Lehrbetrieb arbeiten, bis sie dann dort im kommenden August die Lehre beginnen. Teils suchen die Jugendlichen selbst eine solche Lösung, teils kommen auch die Arbeitgeber auf das Jugendprogramm zu mit der Anfrage, ob nicht noch ein geeigneter Bewerber für eine zu besetzende Lehrstelle empfohlen werden könne. Beispielsweise habe ein grosser Industriebetrieb in der Region auf diesem Weg einen Kandidaten für die Ausbildungsstelle als Anlageführer gefunden. Mit dem Jugendprogramm Funtauna besteht ein Instrument, um Jugendliche möglichst ohne Umwegschlaufe in die Berufswelt, bzw. in eine Grundausbildung, einzugliedern. Dem schulischen Aspekt wird grosse Bedeutung zugemessen. Jugendliche können Lücken schliessen, zum Beispiel in Deutsch, und gewöhnen sich an eine Struktur, die der gewerblichen Berufsschule angeglichen ist.
Anzumerken ist, dass auch Jugendliche, die einen Lehrvertrag auflösen, dem Jugendprogramm Funtauna zugewiesen werden können und dort Unterstützung finden. Grundsätzlich ist das Vorgehen das gleiche wie bei den Schulabgängern. Die meisten lösen den Vertrag bereits nach 2-3 Monaten auf – weil sie sich für den falschen Beruf entschieden haben. Dort, wo die Lehre nach mehr als einem Jahr abgebrochen wird, liegen die Gründe häufig darin, dass der Jugendliche mit dem Betrieb nicht klar gekommen ist, nicht aber am gewählten Beruf. Man versucht dann, für diese Personen wieder einen Lehrbetrieb zu finden, wo sie ihre Ausbildung abschliessen können. Auch hier haben sich Praktika im Lehrbetrieb sehr gut bewährt. Wenn es gelingt, einen Kandidaten so aufzugleisen, werde die Zeit bis zur Lehre gut genutzt, um ihn im Jugendprogramm gezielt zu fördern. Defizite können so aufgearbeitet werden oder er setzt sich mit den Anforderungen in seinem gewählten Beruf auseinander, so dass der Einstieg in die Lehre und Berufsfachschule gelingen kann. Ein Lehrpraktikum könne also auf Wunsch des Jugendlichen oder des Lehrbetriebes initiiert werden, es wäre auch möglich, vom RAV her eine Verfügung zu erlassen. Im letzteren Fall würde der Jugendliche sein Taggeld weiter beziehen, 4 Tage im Praktikum arbeiten und einen Tag in die Schule (Jugendprogramm) gehen. Möglich sei auch, dass der Lehrbetrieb einen Praktikumslohn bezahlt, und der Jugendliche einen Tag die Schule im Jugendprogramm besucht. – Es soll eine Win-win-Situation für alle Beteiligte geschaffen werden.
Zusammenarbeit
Als Plattform, als Scharnierfunktion zwischen den verschiedenen Partnern, ist die „interinstitutionelle Zusammenarbeit“, kurz IIZ aufgebaut worden. Darin finden wir RAV, IV, Suva und das Amt für Berufsbildung.
Ein Jugendlicher, der seine Lehrstelle verloren hat, und bei dem andere Problematiken, zum Beispiel aus seinem familiären Umfeld, mit eine Rolle gespielt haben, der wird sich möglicherweise beim Case Management des Amtes für Berufsbildung melden. Von dort wird der Kontakt zum RAV aufgebaut, besonders, wenn Ansprüche auf Versicherungsleistungen bestehen.
Die Zusammenarbeit spielt gut. Wenn auch der Aufwand im Jugendprogramm hoch sei, der für den einzelnen Fall geleistet werde, so sei dem entgegenzuhalten, dass angesichts der Dauer der Erwerbsspanne es kaum eine Alternative gebe als die Jugendlichen so zu unterstützen, dass sie eine Ausbildung abschliessen können um danach selbst ihren Unterhalt zu bestreiten.
Anders als in einem Brückenangebot (10. Schuljahr) erlernen die Teilnehmer im Jugendprogramm Fertigkeiten, die sie z.B. in handwerklich orientierten Berufen wie auch in andere Berufssparten einsetzen können. Ein wichtiger Aspekt ist aber auch das Training von Eigenschaften um im betrieblichen Umfeld bestehen zu können, wie Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit, Sauberkeit und Pflichtbewusstsein. Die Jugendlichen werden angehalten, Wochenberichte zu verfassen, all dies ist sehr nahe den Anforderungen einer Grundausbildung.
Nachhaltigkeit in der Ausbildung
Beim Systemwechsel von der Anlehre zur Attestausbildung ist zu beobachten, dass Ausbildungslehrgänge entstanden sind, die auf dem Arbeitsmarkt wenig gefragt sind. Beispielsweise gibt es nun im Kaufmännischen Bereich ein Bündel von Ausbildungsmöglichkeiten, vom Profil B bis zum Profil M mit Berufsmatura, dazu gesellt sich die Attestausbildung Büroassistent EBA. – Die Nachfrage nach ausgebildeten KV-Berufsleuten ist nicht sehr gross, entsprechend werden die besten Kandidaten ausgelesen, was die Chancen für die Personen mit einem B-Profil oder einer EBA Ausbildung arg mindere. Es scheint sich ein neues Ungleichgewicht aufzubauen: Lehrgänge, in welchen reichlich Ausbildungsplätze geschaffen werden, ohne dass dann die Ausgebildeten übernommen werden könnten. Damit würden zwar mehr Jugendliche die erste Nahtstelle zum Beruf passieren, nämlich von der Volksschule zu einer Sek I -Ausbildung – das Ziel des Bundesrates von 95% ist beinahe erreicht – aber dafür würden mehr bei der nächsten Hürde, von der Ausbildung in eine Anstellung, hängen bleiben. Wichtig sei es, dass Jugendliche in der Berufswahl auch die spätere Arbeitsmarkttauglichkeit mit berücksichtigen würden.
Auf der anderen Seite gebe es im handwerklichen Bereich viele offene Lehrstellen. Aber entweder seien die schulischen Anforderungen zu hoch oder die Schulabgänger würden einen anderen Weg einschlagen, wie der Besuch eines Gymnasiums. Jugendliche mit weniger guten Schulleistungen würden damit zu grosse Hürden zu handwerklichen Ausbildungen in den Weg gelegt.
Man sollte die Jugendlichen in der Oberstufe besser darauf vorbereiten, nicht nur ihren Wunschberuf zu erlernen, sondern in die Berufswahl auch die Markttauglichkeit einer Ausbildung einfliessen lassen: „Wie sieht es nachher aus? Bekommst du auch eine Stelle?“ – Man sollte zudem mehr bei schulisch schwächeren Schülern investieren, damit sie bessere Chancen auf dem Ausbildungsmarkt hätten, eben beispielsweise um ein Handwerk zu erlernen.
Handwerkliche Berufe haben Mühe, geeignete Lehrlinge zu finden
Technisch-handwerkliche Berufe scheinen bei Jugendlichen keinen hohen Status zu geniessen.
Dieser Aussage kann ich zustimmen. Wenn es um Computertechnik, Handys etc. geht, dann sind die Jugendlichen technisch sehr bewandert. Auf der anderen Seite wären sie sicherlich gut beraten, ihre elektronischen Spielereien öfters mal wegzulegen um beispiesweise ihr Töffli selbst zu reparieren. Das Herumbasteln, das vor einer Generation noch gang und gäbe war, führt zu technischen Kenntnissen und Fertigkeiten, welche die Optionen der Jugendlichen in der Berufswahl erweitern würden. „Wer bastelt heute noch in seiner Freizeit?“
Betriebskompatible Eigenschaften
Jugendliche seien heute auch viel gestresster als frühere Generationen. Ständig sind sie in ihren sozialen Medien präsent und bauen an ihrem medialen Selbstbild. Es ist ihnen ungemein wichtig, wie sie auf andere wirken, um dazu zu gehören. Dabei scheinen angestammte Werte zu leiden. Bei Vorstellungsgesprächen sei auffallend, wie manche Jugendliche sich schwertun, in angemessener Kleidung zu erscheinen. Sich zum betrieblichen Umfeld kompatibel zu benehmen, will einem Teil der Jugendlichen nicht gelingen. - Arbeitgeber hätten wiederholt gegenüber M. argumentiert, sie würden einem Kandidaten, der über Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit und Höflichkeit verfüge, den Vorrang geben. Fachkenntnisse und Fertigkeiten kann man während der Lehre beibringen, aber was nützen gute Leistungen, wenn man sich nicht auf eine Person verlassen kann? – Wenn man auf einen Jugendlichen trifft, der höflich „grüezi“ sagt und einem die Türe aufhält, fällt er bereits positiv auf; dabei wären Anstand und Höflichkeit Voraussetzungen, die man von jedem erwarten dürfte. Das Problem seien oft nicht einmal die Jugendlichen selbst, sondern deren Erzieher, die ihnen solche Grundwerte nicht in genügendem Mass mitgegeben haben.
Zuweilen werde erklärt, dass Jugendliche, die einen Vorstellungstermin sausen lassen, ihre Angst nicht überwinden konnten, sich in einer für sie fremden, erwachsenen Umwelt zu bewegen.
Manche Jugendliche seien einfach überbehütet und es werde ihnen keine Verantwortung übergeben. Es fehle ihnen an Halt und deren Eltern würden es verpassen, ihnen eine klare Richtung vorzugeben. Wohl gebe es löbliche Ausnahmen, aber Jugendliche sind in der Regel einem enormen Anpassungsdruck ihrer Cliquen ausgesetzt. Es brauche viel Stärke um sich Gruppenzwängen entziehen zu können. Dies zeige sich mitunter in kleinen Mosaiksteinen, die insgesamt aber eine bedeutende Rolle spielen würden.
Veränderungen im Arbeitsmarkt
Der Arbeitsmarkt hat sich in den letzten zehn Jahren stark verändert. Arbeiten, in denen Angestellte ohne Berufsausbildung tätig sein können, brechen immer mehr weg. Als Beispiel sei das Unternehmen angefügt, in welchem im Schichtbetrieb produziert werde. Die Anforderungen seien eher gering, da es sich um eine repetitive Tätigkeit handle, für die aber bei immer wieder wechselnden Arbeitszeiten eine hohe Konzentration aufgebracht werden müsse. Bewerber müssten über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen. - Wieso? - Die Begründung dafür war, dass wer einmal eine Lehrausbildung erfolgreich abschliessen konnte, eher über die nötige Widerstandsfähigkeit verfügen würde. Solche Personen haben eine drei- oder vierjährige Ausbildung durchgestanden und mussten dafür etwas leisten, sie mussten etwas liefern. Man gehe dann davon aus, dass eine Person mit dieser Voraussetzung eher den Anforderungen der Schichtarbeit genügen würde, als eine, die noch keine Ausbildung bis zum erfolgreichen Ende durchgezogen habe. – Obschon die Arbeit für manch einen zu Vermittelnden geeignet gewesen wäre, fielen die ohne Berufsausbildung durch den Raster. Beim RAV sieht man dann, wie solche Personen sich von einem Teilzeitjob zum nächsten hangeln.
Man sollte Jugendliche, die mit einer Attestausbildung beginnen, ermuntern, ein Jahr anzuhängen um ihre Grundausbildung mit einem EFZ-Abschluss zu beenden. Während der Lehrjahre könne sehr viel Spannendes geschehen und man dürfe nicht unterschätzen, wie manche an den gestellten Anforderungen wachsen würden.
In der Schweiz werden die Weichen schon sehr früh gestellt. Bereits in der sechsten Klasse fällt der Entscheid, ob ein Schüler im drauffolgenden Jahr die anspruchsvollere Stufe besucht (Sek), was bedeutende Auswirkungen bei der Berufswahl nach sich zieht. Wenn man mit einer Sechstklässlerin über Berufe spricht oder sie anlässlich eines „Schattentages“ bei einem Berufstätigen mitläuft, spüre man, wie sie vieles aus der Berufswelt noch gar nicht einordnen könne. Es gibt wohl nur wenige Länder, wo man mit 15 Jahren bereits voll in einem Unternehmen integriert in der Berufsausbildung steckt. Diese frühen Entscheidungen tragen wohl mit dazu bei, dass 5-6 Jahre nach der Lehre viele Jugendliche nicht mehr in ihrem angestammten Beruf tätig sind. Dafür steigt die Anzahl der Jugendlichen, die nach ihrer Grundausbildung von der Durchlässigkeit des Berufsbildungssystems Gebrauch machen und weitere Ausbildungen im Tertiärbereich anknüpfen.
Schlussbemerkungen
M. äussert den Wunsch, dass in den Schulen die Arbeitslosenversicherung mit dem ganzen Drumherum wie Bewerbungen schreiben, thematisiert würde. Die Jugendlichen sollten wissen, was für Möglichkeiten bestehen, wenn sie keine Lehr- oder Arbeitsstelle finden. Und vor allem: Wenn sie schnell reagieren und sich beim RAV anmelden, können vielleicht unnötige Warteschlaufen vermieden werden. Wenn ein Jugendlicher seine Schulzeit im Juli beendet und keine Lehrstelle hat, die Sommerferien abwartet und sich erst Mitte August -Anfang September meldet, geht viel Zeit verloren. Im RAV treffen immer wieder Anfragen von Unternehmen ein, ihnen sei ein Lehrling abgesprungen, und so ergeben sich durchaus kurzfristige Chancen – die aber nur genutzt werden können, wenn der Jugendliche sich angemeldet hat. Die Kontakte zu Lehrbetrieben, die im RAV aufgebaut worden sind, sind immens wichtig um zu Lösungen zu kommen. Beispielsweise auch für Schnupperlehren, wo nicht selten vorgefasste Meinungen aufgeweicht werden und Jugendliche auch einmal einen Beruf ins Auge fassen, den sie zuvor nicht beachtet hatten.
Transkript des Gesprächs mit…
Funktion: Bühler AG, Lernender als Konstrukteur
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bei der Selektion von Lernenden achte Bühler stark auf die Persönlichkeit? – Wie haben Sie die Aufnahme empfunden?
Er sei ein Schüler mit guten Noten gewesen, meinte I. , aber die Persönlichkeit würde schon stark einfliessen in die Beurteilung. Bei I. war speziell, dass er nach der zweiten Oberstufenklasse in die Kantonsschule gewechselt habe und auch das erste Jahr abgeschlossen habe. Er habe aber schnell gemerkt, dass dies nichts für ihn sei. I. habe sich schon immer für Technik interessiert, für Autos und Maschinen. Sein Bruder sei auch Konstrukteur, dies habe sein Interesse für diesen Beruf verstärkt.
Technische Berufe haben es schwer, auf den Berufsradar von Jugendlichen zu kommen, ein Grund dafür könne sein, dass mehr und mehr Jugendliche kaum Gelegenheit für Einblicke bekommen, zum Beispiel hätten sie keine Werkstatt zuhause.
Dieses Argument möge seine Berechtigung haben, bei I. persönlich hat es nicht zugetroffen.
Bei ihm zuhause habe der Vater handwerklich viel gemacht, hingegen sehe I. bei den Klassenkameraden, dass Berufe wie KV obenauf schwingen. Technische Berufe seien auch weniger als andere im Berufskundeunterricht vorgestellt worden. Mitschüler wüssten nicht, was ein Anlage- und Apparatebauer mache, und wenn man ihnen erklärt, dass man in diesem Beruf Metall schweisst und biegt, dann wüssten sie nicht viel mehr. – Der Werkunterricht in der Schule war ok, sie hätten auch mit Metall gearbeitet. Zusammenfassend meint I., die Identifikation des Berufsfeldes mit seinem familiären Umfeld sei für ihn schon sehr wichtig gewesen.
Eine Berufsberatung habe I. nicht besucht. Zuhause hiess es nach dem Schnuppern: „Hat es dir gefallen? – Wenn ja, dann mache das!“
Was die Kameraden anbelangt, hat I. einen doppelten Wechsel erlebt. Von der Oberstufe zur Kanti und dann zu Bühler. Aber er habe sich schnell eingelebt. Zu Beginn empfand er die Ausbildung zum Konstrukteur als eher theorielastig. Es brauche einfach eine Grundlage an Wissen um anfangen zu können. Beispielsweise wie eine Konstruktionszeichnung aufgebaut ist, Training des Vorstellungsvermögens, Darstellungen von Fertigteilen wie Schrauben und vertiefte Anwenderkenntnisse von ISO-Normen. Im ersten Lehrjahr zeichnen die Lernenden noch ohne CAD.
Als schwierig empfand I. , kreativ in der Lösungsfindung zu sein. Man müsse mitdenken und schon bei der Konstruktion kostengünstige Lösungen weiterverfolgen. Jeder Arbeitsschritt kostet und nicht alles, was auf dem Papier ist, lässt sich gut herstellen. Damit sie die andere Seite selbst erfahren können, nämlich wo mit ihren Plänen Werkstücke hergestellt werden, würden sie innerbetriebliche Praktika bei den Automatikern, Polymechanikern und Anlage-Apparatebauern besuchen. Ein solches Praktikum dauert 7 Wochen und vermittelt gute Einsichten.
Nach möglichen Schwierigkeiten in der Berufslehre gefragt, und wie er damit umgehen könne, meint I.: „Wissen, das nicht vorhanden ist, muss man aufbauen!“ Es sei Sache des Lernenden, man könne bei Bedarf in der Berufsschule nachfragen wie auch im Betrieb.
Mit der Zeit entwickle man ein Gespür, was an Lernstoff nötig ist, und was man weniger braucht. Vor einem halben Jahr habe er zwei neue Ausbildner bekommen, die zuvor in der Müllerei gearbeitet hatten. Er schätze an ihnen, wie sie die Lernenden gut unterstützen, indem sie klar formulieren können, was man in den Abteilungen draussen wirklich braucht. Diese Form der Praxisorientierung kommt bei I. gut an. Es gilt Prioritäten zu setzen, was I. nach der Nützlichkeit für die unmittelbare Arbeit macht. Schulwissen hat geringere Priorität, kann aber bei Bedarf reaktiviert werden.
Im ersten Lehrjahr und im ersten Semester des zweiten sind alle Konstrukteurenlehrlinge zusammen. Ab Dezember sind 4 in Projekten eingeteilt, einer geht für 4 Monate in eine Abteilung. Ende des zweiten Lehrjahres wechseln die Lernenden nach der Teilprüfung in die Abteilungen.
I. würde gerne einen Auslandeinsatz während der Lehre machen. Für ihn und die anderen Lernenden ist die Möglichkeit, für einige Monate während der Lehre ins Ausland zu gehen, ein Ansporn um sich Mühe zu geben um mit guten Leistungen für sich zu werben.
Verantwortung und Eigenständigkeit sind zentrale Werte, auf die auch in diesem Gespräch hingewiesen wurde. Wie aber können diese Werte einem Oberstufenschüler, der unmotiviert in den Seilen hängt, vermittelt werden?
I. meint, dies sei eine schwierige Frage. Er denke aber, indem man diese Menschen ins kalte Wasser wirft und ihnen Verantwortung aufdrückt. – Verantwortung lernt man, indem man sie in der Praxis beweist.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Bühler AG, Leiterin internationales Bildungsmanagement
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Class Unlimited 2.0.
Mit dem multimedialen Klassenzimmer an der Berufsfachschule Uzwil, BZWU sind die Lernenden mit einem Telepräsenzzimmer an den Standorten China, Südafrika und den USA für den Berufsfachschulunterricht verbunden. Das Telepräsenzzimmer besteht im Wesentlichen aus zwei Bildschirmen, einer zeige stets das Bild des Lehrers oder der Schüler am BZWU, der andere zeige den Lerninhalt. Auch Inhalte wie Skizzen oder Präsentationen können so auf dem Bildschirm dargestellt werden.
Im praktischen Ablauf muss man sich das etwa so vorstellen: Polymechaniker oder Konstrukteur-Lernende reisen z.B. für 2- 4 Monate in die USA. Einmal pro Woche haben sie während 4 Stunden Unterricht und werden via Telepräsenz ins multimediale Klassenzimmer in die Schweiz zugeschaltet, alles Übrige müssen sie im Selbststudium bewältigen. Ganz ähnlich sind die Abläufe in China und Südafrika, wo Anlagen- und Apparatebauer, Konstrukteure sowie Polymechaniker hingeschickt werden.
Für Bühler ist es wichtig, dass Lernende schon früh die Möglichkeit haben, Auslanderfahrung zu sammeln um so auf den Geschmack zu kommen für Auslandeinsätze, beispielsweise in der Externmontage direkt beim Kunden. Ein Ziel dabei ist, die Sprachkompetenzen zu verbessern, vor allem in Englisch, Chinesisch und Portugiesisch. Lernende sollen aber auch eigene Erfahrungen mit fremdartigen Kulturen sammeln und die kulturellen Werte von Bühler in die ausländischen Niederlassungen tragen.
Wie werden die Kandidaten ausgewählt?
Die typischen Kandidaten verfügen über gute Leistungen in Betrieb und Schule. Man habe schon erlebt, dass die Anmeldung für einen Austausch ungeahnte Reserven frei legten und die Leistungen förmlich explodierten. Neu wurde eingeführt in diesem Jahr, dass jeder Kandidat sich mittels einer Präsentation für den Auslandeinsatz empfehlen musste. Bezüglich Inhalt und formalen Kriterien sind die Kandidaten völlig frei gewesen, einzig festgelegt wurde: die Präsentation solle 10 Minuten dauern und die Frage beantworten: „Warum soll Bühler ausgerechnet Sie nach Indien, …, schicken?“
Manche Präsentationen erwiesen sich als veritable Kunstwerke. Die darin enthaltenen Themen sind breit gefächert und zeigen Facetten des Lernenden auf, die im Berufsleben nicht bekannt waren, beispielsweise wie einer Verantwortung im Verein übernimmt. Noch ist nicht entschieden, wie mit den Präsentationen weiter verfahren wird. Angedacht ist, sie an den Destinationen zu zeigen, damit die Kandidaten sich bei den neuen Mitarbeitern vorstellen können. Die ausgewählten Lernenden verpflichten sich zum Lernen der Sprache. – Im Februar sind die Kandidaten bestimmt, bis zum Juni, also bis zur Abreise, beginnen sie beispielsweise Chinesisch zu lernen. Nach der Rückkehr vertiefen sie ihre Sprachkenntnisse nochmals, so dass die zusätzliche Sprachschulung insgesamt ein Jahr dauert. Die Chinesischkenntnisse mögen bei der Abreise noch rudimentär sein, aber zumindest vereinfachen sie das Zurechtkommen im fremden Land.
Bühler habe auch schon junge Berufsleute nach ihrem Abschluss als Betreuungsperson mitgeschickt, was sehr gut angekommen ist.
Auslanderfahrung
Die Lernenden erleben es als wertvoll, die etwas andere Firmenkultur im Zweigsitz, den Dialekt in der Firmenkultur, zu erleben. Sie lernen, sich anzupassen und offen auf andere zuzugehen. In China zum Beispiel lässt sich eine Lehre im schweizerischen Sinn nicht aufbauen, zu sehr sind die Denkmuster auf Studiengänge fixiert. – Der persönliche Kontakt, das Gesicht einer Kontaktperson zu kennen, sei zentral im geschäftlichen Umgang in China. Nur über Mail zu kommunizieren reiche nicht. Bei Bühler hält man den Begriff „Trust“ hoch. Gerade weil man im internationalen Umfeld über Kontinente und Meere zusammenarbeiten will, ist es so wichtig, das Gesicht seines Kommunikationspartners zu kennen.
In Asien werden unsere Lernenden teilweise wie Könige behandelt. Man bringt ihnen viel Wertschätzung entgegen, weil sie trotz jugendlichem Alter bereits einiges an Berufserfahrung vorweisen können. Das kennen sie einfach nicht. Eine Herausforderung bei der Rekrutierung von Personal ist, dass die Leute wenig Praxiserfahrung haben. Sie wollen auch keine Lehre machen, weil die nichts gilt und im asiatischen Raum nicht anerkannt ist.
Damit nicht zu vergleichen ist die Unternehmenskultur in den USA. Dort ist es gelungen in Zusammenarbeit mit einem angesehenen Technical College eine Lehre nach Schweizer Muster aufzubauen, die nun schon im dritten Jahr steht. Der Weg dazu war steinig und ist wohl nur gelungen, weil in Minneapolis ein Schweizer Lehrlingsausbildner mit den HR Verantwortlichen dafür gekämpft haben. Wichtig ist, dass die Ausgebildeten auch ohne akademischen Titel ein gutes Ansehen geniessen würden und sie eine weiterführende Perspektive bei Bühler haben.
Bedarfsplanung
Die Vision ist, genau die Leute in den entsprechenden Branchen auszubilden, die Bühler danach auch als Mitarbeiter übernehmen kann. Man ist schon recht nahe bei dieser Vision, aber die Planung über drei – vier Jahre kann nicht alle Entwicklungen vorwegnehmen. So kommt es vor, dass einzelne, vielversprechende junge Leute nach der Ausbildung nicht angestellt werden können.
Wir-Gefühl
B. habe ihre Grundausbildung auf einer Gemeinde gemacht, deren Firmenkultur mit Bühler nicht zu vergleichen ist. Sie habe Bühler bei einer Führung erstmals kennen gelernt, und fühlte sich von der hiesigen Atmosphäre angezogen. Hier würde ein riesiges Wir-Gefühl vorherrschen, als Einzelner werde man von dessen Sog mitgerissen – man könne gar nicht nicht dazugehören.
Ein Aspekt zur Förderung des Wir-Gefühls sind die Lehrlingslager im zweiten Lehrjahr wie auch die innerbetrieblichen Praktika. Ein KV-Lehrling geht als Praktikant in die Werkstatt und lernt so deren Berufe schätzen, was schon zusammenschweisse.
Die Firmenkultur zieht sich als roter Faden durch das ganze Gespräch. Wie kann man einem Jugendlichen, dem die Erfahrung fehlt, vermitteln, dass es sich lohne, sich in eine Gemeinschaft einzugeben und zusammen an etwas Grösserem, Sinnstiftendem zu arbeiten?
B. meint, dies sei schwierig. Am ehesten wohl über einen direkten Kontakt mit einer Firma wie Bühler, wo etwas von diesem Wir-Gefühl spürbar werde. Bühler bietet hierzu einiges an: Inputveranstaltungen, Schnuppern, Infonachmittage mit Klassen.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Bühler AG, Leiter Berufsbildung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Gutes Schulsystem in der Schweiz, gibt allen sozialen Schichten eine Chance
Die Erfahrung von B. zeigt, unser Schulsystem sei so gut, dass auch ein schwacher bis mittelmässiger Schüler die Chancen hat, über einen Beruf einzusteigen und seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Er habe die Möglichkeit, sich zu verwirklichen, wenn er nur will. Der Wille dazu könne aber nicht in der Schulbank erzeugt werden, er brauche Praxisbeispiele. Der Jugendliche müsse in anderen Wirkungsfeldern das Gefühl bekommen, dass er etwas bewegen könne mit seinem Wissen und Können.
B. weist auf die Unterschiede zum amerikanischen Bildungssystem hin, wo ein Schichtsystem vorherrscht. D.h. der Bildungszugang bzw. der Zugang zu einer guten Bildungsqualität hängt von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht des Elternhauses ab. B. komme gerade von einem einmonatigen Aufenthalt in Minneapolis zurück, wo Bühler seit 2012 ein Programm aufgegleist hat um das duale Bildungssystem einzuführen. Wenn man vergleicht, was ein College Absolvent mitbringt und ein Schüler nach der Volksschule in der Schweiz, dann haben wir einen Riesenvorteil. Der Vorsprung ist enorm, und wenn es gelingt den Jungen zu zeigen, was sie bei uns erreichen können, merken viele, es funktioniert wirklich. Bei Bühler könne man dies mit vielen Fallbeispielen belegen.
Ein Jugendlicher, der glaubt, er sei masslos überfordert und könne nichts erreichen, solle einmal mit einem von Bühler Ausgebildeten eine halbe Stunde zusammensitzen und ihn fragen, wie er es geschafft habe, was für Erfolgsfaktoren dazu geführt haben.
Der Durchschnitt der Bühler-Lernenden schliesse die Lehre mit einer 4.9 ab. – Obschon nicht alle gute Schüler waren.
Denn: Wenn einer den richtigen Beruf gewählt habe und Freude an dem hat, was er mache, kommt er automatisch in einen Bereich von einer Fünf, nämlich gut, hinein. Das ist es, was ein guter Berufsmann ausmacht: Den Stolz, seinen Beruf gut zu machen, nicht nur durchschnittlich.
Wertesystem von Bühler – Firmenkultur Werte von Bühler, die im Unternehmen omnipräsent sind, die gelebt werden.
- Umgangsformen
- Begeisterung
- Teamfähigkeit
- Eigeninitiative
- Kommunikationsfähigkeit
- Zuverlässigkeit
- Kreativität
- Vertrauen
- Respekt
- Flexibilität
Bei Bühler werde versucht, jeden Tag aufzuzeigen, was vertrauensbildend ist, nicht über mahnende Worte, sondern am praktischen Beispiel: Da kommen aktuell Lernende von der USA Niederlassung, die Besten ihres Jahrgangs, für eineinhalb Monate nach Uzwil. Diese Leute werden möglicherweise ganz anders an eine Thematik herangehen, da ist in der Zusammenarbeit Respekt vor dem Anderssein und Offenheit gefordert. Offenheit ist ein Teil des Respekts; bei Bühler werde diese Leitwerte tagtäglich praktiziert. – Und wenn Jugendliche, die vielleicht noch nicht so überzeugt sind, von dem was auf sie zukommt, erkennen, dass 90% der Bühler Mitarbeiter diese Werte verkörpern, dann zieht es sie automatisch mit rein, gewissermassen über das Herdenverhalten. – Wenn sie das nicht wollen oder können, wenn sie die Leidenschaft und Passion nicht an den Tag legen, dann gehören sie nicht dazu und schliessen sich automatisch von dieser Gemeinschaft aus, nicht wegen der Noten.
Bsp: Der Vorgesetzte von B. würde ihn nicht wegen exzellenter Rechenfertigkeiten oder Sprachkompetenzen loben, sondern ihn immer ganzheitlich beurteilen: „Wo setze ich die Prioritäten, zur rechten Zeit, am rechten Ort?, wie gehe ich mit Unvorgesehenem um, mit nicht Planbarem, wie begegne ich Konträrem, z. B. Menschen, die nicht meiner Meinung sind?“ - Die Fachkompetenz werde vorausgesetzt, aber entscheidend sei das Gesamtpaket, wie es täglich zur Anwendung komme.
Sozialkompetenz vor Fachkompetenz
Die Sozialkompetenzen sind der entscheidende Faktor. Wie geht ein Mitarbeiter auf einen anderen zu ohne verletzend zu wirken oder ihn zu überfahren? Hört man zu, wenn einer versucht sich zu erklären? – Wenn jemand dies begreife und die Interessen von Bühler und Kunden oben anstellt, dann könne er es hier sehr weit bringen; in der Kombination von Sozial-, Selbst- und Fachkompetenz.
Als Beispiel wird eine Service-Angestellte aufgeführt, die auf fachlicher Ebene sehr wohl wisse, was zu einem guten Service gehört. Entscheidend sei vielmehr, wie sie sich auf der sozialen – menschlichen Ebene verhält. Erbringt sie ihre Dienstleistung mürrisch oder mit einem Lächeln? – Der Gast wird diesen Unterschied feststellen. Zu einem guten Essen gehöre eben nicht nur die Qualität der Speisen, sondern auch das Ambiente, in denen diese präsentiert und eingenommen werden. – Unsere Lernenden sollen verstehen, dass das Fortkommen im Beruf sich auf der menschlichen Ebene entscheidet und dem Willen. Der Wille dazu ist aber nur ausserhalb der Schulstube erkennbar, wo der Jugendliche sich in Praxisfeldern präsentieren kann.
Daher kann jeder schnuppern kommen zu Bühler, unabhängig von seinen Zeugnissen, er müsse nur telefonieren und sich anmelden.
Wie gelingt es Bühler als international operierender Konzern diese Werte als Bestandteil seiner Firmenkultur überall zu implementieren und zu leben?
B.: Vor allem durch Vorbilder. Jede Abteilung verkörpere die aufgeführten Werte selbst und übersetze sie auf ihre Arbeit. Für B. sei deren Visualisierung wichtig. Die Werte, der Spirit von Bühler, seien mit den Lernenden thematisiert worden, darauf hätten sie fünf olympische Ringe aus Metall gefertigt, in denen diese Werte eingeprägt sind und diese an einer Wand beim Pausenbereich aufgehängt, wo die Lernenden mehrmals am Tag vorbeigehen.
Für B. sei „Anerkennung“ wichtig, und zwar in beiden Ausrichtungen. Es gehöre zu seinem Job junge Menschen zu führen diese ebenso zu tadeln, wie für gute Leistungen Lob auszusprechen. B. habe dazu alle 294 Zeugnisse der Lernenden durchgeschaut. Komme irgendwo eine unentschuldigte Absenz vor, dann wird der betreffende Jugendliche zu einem Gespräch zitiert, mit seinem Vorgesetzter wird gesprochen, wie auch mit den Eltern, wenn der Jugendliche noch nicht 18jährig ist. Eine Verwarnung erfolgt und es soll unmissverständlich klar gemacht werden, dass unentschuldigte Absenzen überhaupt nicht zum Wertegebäude von Bühler passen. Auf der anderen Seite habe B. die 46 Zeugnisse herausgefiltert, in denen Notenschnitte von 5.5. und höher verzeichnet sind. Interessant ist, dass diese sehr guten Schulleistungen unabhängig von den Berufsfeldern erbracht werden. Auch in Berufen, die als niederschwellig gelten, werden Top-Leistungen erbracht, wie das folgende Beispiel zeigt: Eine lernende Industrielackiererin habe im Zeugnis eine glatte 6 gehabt und Ende des zweiten Lehrjahres an einer Berufsmeisterschaft gewonnen.
Diese 46 Lernenden bekommen ein von B. und dem Lehrmeister unterschriebenes Schreiben zugestellt, in welchem ihre Leistung gewürdigt wird, verbunden mit einem kleinen Geschenk, zum Beispiel einem Einkaufsgutschein.
Das gleiche Verhalten ziehe sich durch die ganze Firma. Der Vorgesetzte von B. würde die Grundwerte auf seine Weise interpretieren und entsprechend einen etwas anderen Weg finden um seine Wertschätzung und Anerkennung auszudrücken.
Auch die Konzernleitung lebe diese Werte vor. Kürzlich wurden alle 3000 Mitarbeitende mit einem 100.- Gutschein von Coop überrascht. Damit drückte die Konzernleitung ihre Wertschätzung über den enormen Rücklauf des Programms „My workshop“ aus. Mit diesem Programm sollten Verbesserungs- und Innovationsvorschläge der Mitarbeiter aufgenommen werden, Vorschläge, die in deren Freizeit ausgearbeitet wurden.
Indem das Wertegebäude über alle Stufen gelebt werde, ist es in den Köpfen der Mitarbeitenden verankert. Man könne sagen, Bühler habe selbst mit knapp 12`000 Mitarbeitern weltweit eine familiäre Struktur. Wie in jeder Familie mag es mal ein schwarzes Schaf leiden, was aber in keinem Fall drin liegt, ist Vertrauensmissbrauch. Wer die Familie betrügt, hat in ihr nichts mehr verloren.
B. erwähnt als Beispiel zwei Polymechaniker-Schnupperlehrlinge, die sich über einen geistig und körperlich behinderten Mitarbeiter lustig gemacht hätten. – Sie wurden weggeschickt und werden auch keine zweite Chance bei Bühler bekommen. Die Rückmeldungen darauf waren überwältigend und unisono positiv. Dies zeige deutlich, wie mit dem Wegschicken auch eine Botschaft nach innen ausgesandt wird: „Wir bekennen uns zu unseren Werten und fordern sie von den Dazugehörigen auch ein.“
Eigenständigkeit
Ein weiteres Indiz dazu: 800 (im ganzen Konzern sind es rund 1000) von den 3000 Mitarbeitern bei Bühler Uzwil haben ihre Berufsausbildung hier gemacht. Die Lernenden werden geprägt von der Bühler Firmenkultur und geben sie als Berufsleute weiter.
Für die Firma ist Eigenständigkeit wichtig. Dazu gehöre auch, die offenen Stellen in Berufen, die Bühler selbst ausbilden könne, durch den eigenen Nachwuchs zu besetzen. Allein durch Pension werden jährlich 50 – 60 Stellen frei. Die Konzernleitung mache die Vorgabe, 2/3 der Lehrabgänger anstellen zu können. – In den letzten 10 Jahren wurde diese Vorgabe mit 73% deutlich übertroffen.
Die Familienstruktur von Bühler könne auch gewöhnungsbedürftig sein. Eigenmächtige Entscheidungen, nicht die richtigen Mitarbeiter zu involvieren, bisherige Leistungen nicht zu würdigen, würden in Sackgassen führen. Wenn man etwas erreichen wolle, dann gelinge dies nur über persönliche Kontakte – und es sind nicht immer die Personen die „richtigen“, die im Organigramm aufgeführt sind. Als Externer brauche man Jahre um das System Bühler zu verstehen.
Einzigartigkeit und Eigenständigkeit seien Schlüsselfaktoren, die zum Erfolg von Bühler beitragen. Die Konzernleitung betrachte nicht Gewinnmaximierung, sondern Nachhaltigkeit und das längerfristige Gedeihen der „Familie“ als Leitlinien. So sei der derzeitige CEO, Stefan Scheiber, mit 25 Jahren Bühler-Erfahrung ein langfristiges Familienmitglied und über Jahre von seinem Vorgänger auf seine Tätigkeit vorbereitet worden.
Die Einzigartigkeit der Bühler-Struktur fusse auf dem Grundsatz, alle Investitionen selbst zu finanzieren, so könne die Unabhängigkeit bewahrt werden. Erstaunlich auch, wie die Mitarbeiter sich mit Bühler solidarisch zeigen. Nach dem Währungsschock vom Januar 2015 waren sie bereit, 5 zusätzliche Stunden/Woche ohne Bezahlung zu arbeiten um sich so ihren Arbeitsplatz zu sichern. Die Firmenleitung umgekehrt versprach, die Produkte für die Kunden nicht zu verteuern und gab den Gewinn dieser Massnahme vollumfänglich weiter um die Absatzchancen nicht zu schmälern.
Wenn ein Projekt sich als Misserfolg erweist und damit beträchtliche Summen in den Sand gesetzt werden, wird nicht – wie in vielen Unternehmen üblich - das Köpferollen der Verantwortlichen gefordert. Fehler werden gemacht und sind ein akzeptierter Bestandteil der Handlungen im Unternehmen. Solange die Strukturen und Abläufe der „Familie“ beachtet werden, wird ein Mitglied wegen eines Fehlschlags nicht ausgeschlossen, vielleicht versetzt oder mit anderen Aufgaben betraut, aber es bleibt ein Familienmitglied. – Innerhalb dieser Struktur eröffnen sich erstaunliche Möglichkeiten. Beispielsweise das Projekt „Virtuelles Klassenzimmer“: Einmal überzeugt, wurden erhebliche Gelder bewilligt für eine wegweisende, neue Technologie, bei der zu Beginn alles andere als klar war, ob sie wie geplant funktionieren würde.
Unterbruch, währenddessen Gespräche mit Mitarbeitern geführt wurden.
Verantwortung und Selbständigkeit
Verantwortung und Selbständigkeit: diese beiden Stichworte ziehen sich durch alle Gespräche durch und werden immer wieder aufgeführt. B. stimmt zu und doppelt nach, wie wichtig es ist, die Verantwortung für sein eigenes Handeln zu übernehmen. Dabei können sie im Einzelfall schon einmal übertreiben und die Lernenden überfordern. Als Beispiel führt er die bisher 120 Lernenden an, die im Auslandeinsatz waren. Bei fast allen hat sich das Vertrauen in deren Fähigkeit, sich in einem neuen, fremden Umfeld zurechtzufinden gelohnt Nur in drei, vier Fällen waren Lernende der Situation nicht gewachsen und mussten zurückgenommen werden. Wenn das Konzept, den Lernenden (und Mitarbeitern) viel Verantwortung zu übergeben, einmal nicht klappt, dürfe das Ganze nicht in Frage gestellt werden – Dahinter steckt viel Überzeugung.
Um es noch einmal festzuhalten. Die Auslandeinsätze der Lernenden sind nicht Sprachaufenthalte. Vielmehr sollen sie das eigene Können unter Beweis stellen, und das in einem völlig fremden kulturellen Umfeld, wo sie nicht nach vorgefertigten Schemata arbeiten können, sondern immer wieder gefordert sind, ihr Wissen und Können an die Umstände zu adaptieren. Solche Einsätze sind ein Wagnis, aber wenn Lernende nach Lehrabschluss und zwei Jahren Arbeit in der Schweiz für Auslandeinsätze angefragt werden, dann höre er oft, dass die Zusage leichter falle oder gar nur deshalb erfolgt sei, weil ihnen als Lehrlinge dieser Schritt schon einmal zugetraut worden sei und sie die Erfahrungen machen konnten, mit auftauchenden Schwierigkeiten fertig zu werden.
Duales Bildungssystem - Auslandniederlassungen
In den Auslandniederlassungen frage er sich immer zuerst, wie deren Bildungssystem aufgebaut sei. In China zum Beispiel ist es sehr schwer ein duales System einzuführen. Aber man könne deswegen trotzdem dual denken und bei den Hochschulabgängern Praxis einfliessen lassen. Bühler investiere viel Zeit in diese Personen – umgekehrt müsse man auch bedenken, dass in Lehrlinge ebenfalls viel Zeit investiert werde. Es werde versucht, auf dem lokalen Ausbildungssystem aufzubauen und zusätzlich etwas anzubieten, das die Bedürfnisse von Bühler abdecken würde. Wichtig sei, dass die Absolventen mit ihrer Ausbildung auch vor Ort eingesetzt werden können.
Das duale Bildungssystem der Schweiz andernorts eins zu eins zu kopieren, sei der falsche Weg, auch wenn dafür unbegreiflicherweise Fördergelder gesprochen würden. In Indien habe man dies versucht, es scheiterte. Man könne eben nicht Beruffachschullehrer in einem Schnellkurs für ihre Aufgabe vorzubereiten, wenn die Passion und eine entsprechende Tradition für eine praxisorientierte Berufslehre fehle.
In den USA (Minneapolis) sei ein vielversprechender Ansatz am Laufen. Die Lernenden gehen nach der High School in ein Technical College, das eng mit Bühler zusammenarbeitet. 6 Lernende besuchen eine eigene Klasse, die von Bühler mit 50‘000 $ pro Jahr bezahlt wird. Dafür konnten die Lerninhalte bestimmt und an die Bühler Bedürfnisse angepasst werden. Die Studenten bekommen ihre Credits wie andernorts, für ein allfällig anschliessendes Studium müssten sie aber noch anderweitig Punkte sammeln.
Was tun mit Jugendlichen am unteren Ende des Spektrums? – Blick in die Zukunft
In der Schweiz sei das Berufsbildungssystem auf das obere Spektrum ausgerichtet, für welches phantastische Durchlässigkeit und vielfältige Bildungswege geschaffen wurden. Was aber soll mit den Leuten auf der anderen Seite des Spektrums geschehen, die sehr wenig mitbringen?
B. hat zu dieser Frage eine klare Meinung: Man müsse sich fragen, was die Wirtschaft in Zukunft brauche und was durch die Digitalisierung ersetzt werde. – Daraus folgt, dass nicht alle Attestberufe Sinn machen würden. Beispielsweise würde die Attestausbildung Büroassistent kaum eine Chance in Zukunft haben, da dieser Beruf wegrationalisiert wird oder der Konkurrenz von EFZ-Kaufleuten nicht standhalten kann. Man dürfte diese Ausbildung gar nicht mehr anbieten. Eine ähnliche Entwicklung beobachtet B. im Detailhandel. Was für eine Perspektive habe die Attestausbildung dort, wenn jetzt schon die Kunden ihre Waren selbst einscannen würden?
In den USA würde die Entwicklung in eine andere Richtung gehen. Im Detailhandel stehen die Personen hinter der Kasse, sie sind immer nett drauf, präsentieren sich als hilfsbereit und packen den Kunden die Ware ein. – Kommunikation, auf Kunden eingehen können, Freude zeigen und eine Kundenbeziehung aufbauen; dies seien Eigenschaften, in welchen Menschen Robotern überlegen sind und wohl auch in Zukunft gefragt sein werden.
Völlig anders schätzt B. die Situation in Berufen ein, wo handwerkliches Geschick erforderlich ist. Ein gutes Beispiel dafür ist der Industrielackierer, wo auch der Attestausgebildete sich behaupten kann. Abdecken, Grundieren und andere Schritte erfordern viel Handarbeit. Ähnlich sei die Situation für Dachdecker, Zimmerleute, Förster und in Bauberufen. Hier lohne es sich, Berufsleute über Attestausbildungen heranzuziehen, da sie sich in ihrem Berufsfeld weiterentwickeln können.
Bei Bühler wollen sie keine Leute, die nur knapp sich für eine Attestausbildung qualifizieren können. Generell würden keinen Attest-Lehrstellen ausgeschrieben. Aber es komme immer wieder vor, dass man mit der Attestausbildung beginne, mit dem Ziel, die Lernenden zu einem EFZ Abschluss weiterzuführen. Es lohne sich, möglichst viel mitzugeben – auch wenn die Ausbildung ein Jahr länger dauert – es kommt dann auch mehr wieder zurück.
Eine Integrationslehre werde Bühler nicht anbieten, eine solche mache aber in Bauberufen Sinn, wo der Markt Chancen auch in Zukunft bieten wird und im Heimatland anwenden lasse. Niederschwellige Berufe werden auch in Zukunft gefragt sein, sofern sie auf Handarbeit gründen, die nicht repetitiv ist und von Maschinen leicht ersetzt werden kann.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Bühler AG, Leiter Anlagen- und Apparatebau
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Firmenkultur
In den bisherigen Gesprächen ist die besondere Firmenkultur bei Bühler herausgestrichen worden, die man am besten als grosse Familie bezeichnen könne. - H. bestätigt dies ebenfalls: „Wenn die Persönlichkeit eines Lernenden und seine Motivation stimmen, bekommen wir ihn fachlich schon hin!“
Was tun bei Schwierigkeiten von Lernenden?
Ein einziger Lehrling, der Schwierigkeiten mache, könne viel mehr Aufwand als alle übrigen verursachen. Die Ausbildner bleiben aber dran und arbeiten mit ihm bis zum Schluss, zum Teil sehr intensiv.
Es gebe schon Lehrlinge, die mit Problemen kommen, die von deren sozialem Umfeld stammen. Meistens seien diese Probleme dann so gewichtig, dass man nicht einfach sagen könne, uns vom Betrieb gehen sie nichts an. Zurzeit sei ein Fall eines Lernenden aktuell, in dessen Umfeld die Strukturen ungeordnet seien. Man sei so vorgegangen, dass er zuerst dem Sozialarbeiter P.N. zugewiesen worden sei. Bühler nutze in solchen Fällen die Dienste einer externen Firma um eine erste Anlaufstelle anzubieten. Für den Lernenden sei die Hemmschwelle geringer, wenn es sich um eine aussenstehende Person handle, die Diskretion und Verschwiegenheit garantiere. Das Gespräch mit dem Sozialarbeiter sei freiwillig für den Lernenden, es wäre aber möglich, vom Betrieb die Auflage zu einem solchen Gespräch zu machen. – Wenn sich dadurch die Situation nicht zum Besseren wende, seien die Möglichkeiten bald einmal erschöpft. Ein nächster Schritt wäre das Amt für Berufsbildung mit einem Schreiben zu informieren, Fristen zu setzen und Zielsetzungen und Massnahmen zu besprechen. Würde das alles nichts nützen, bliebe als letztes Mittel die Vertragsauflösung.
Im ersten und zweiten Lehrjahr sind die Lernenden in den Lehrwerkstätten, die noch einen geschützten Rahmen bilden. Danach werden sie in die Abteilungen versetzt, wo der Druck auf sie zunimmt. Die Ansprüche an sie steigen, die Abteilungen bezahlen sie, sie müssen einfach funktionieren, kränkeln liegt da nicht drin.
Jugendliche kennen den Beruf Anlage- und Apparatebau nicht
Der Beruf Anlage- und Apparatebau ist für die Jugendlichen schwer vorstellbar, sie wissen nicht, was alles dahinter steckt. Erst wenn sie in einem Praktikum oder beim Schnuppern eine Innensicht des Berufs gewinnen können, stellt sich der „Aha“-Effekt ein. Der Beruf umfasst enorme Möglichkeiten, in ihm steckt noch viel Handarbeit, aber auch der Einsatz von High-Tech Geräten. Im Anlage- und Apparatebau gibt es 18 Tätigkeitsgebiete. Die Lernenden stellen im 3. Lehrjahr die Weichen dazu. Die Firma Bühler bietet folgende 5 Gebiete an: Montagetechnik; Konstruktionsschlosser; Blech- und Profilbearbeitung; Konstruktion (Anlagenplanung); Prozesstechnologie (Müllerei). – Alle Teilgebiete können bei Bühler erlernt werden. Das letzte Gebiet – Prozesstechnologie – gibt es nur bei Bühler. Darin enthalten ist die ganze Technik des Müllers – abgestimmt auf die betriebseigenen Produkte.
Wie ist das Zusammenspiel zwischen Berufsschule und Betrieb?
Bei schulischen Problemen ist in erster Linie die Berufsschule zuständig. Sie kommuniziert Schwierigkeiten mit einem Begleitschreiben und Zeugnissen, worauf Massnahmen vorgeschlagen werden. Diese können ein Stützkurs am Samstagmorgen sein oder Lern- und Hausaufgabenhilfe in der Schule am Montag oder Dienstag und Donnerstag oder Freitag Abend. Das Unterstützungspaket kann mit betrieblichen Massnahmen ergänzt werden.
Bei auffälligen Lernenden greifen die Berufsschullehrer schnell einmal zum Hörer und rufen an. Der Austausch mit der Berufsschule ist problemlos. Man kennt einander und trifft sich auch ein bis zweimal im Jahr zum Gedankenaustausch. H. schätzt den zeitnahen und unkomplizierten Informationsaustausch, der beidseitig funktioniert. Schnell ausgetauschte Informationen seien wichtig, damit Zeit für Massnahmen und Reaktionen des Lernenden bleibt. Die Berufsschule lade, wenn es nötig sei, Lernender und dessen Eltern zu einem Gespräch ein. Der Betrieb verfahre ebenso, wenn sich bei der Arbeit im Betrieb Probleme zeigten.
Technisch-handwerkliche Berufe stehen nicht in der Gunst von Schulabgängern
Technisch-handwerkliche Berufe werden bei Jugendlichen zu wenig für die Berufswahl in Betracht gezogen – weil der Erfahrungshintergrund fehlt? – H. bestätigt dieses Argument. In der Werkstatt im Betrieb ist es gut spürbar, dass Jugendliche noch kaum mit Werkzeugen hantiert haben. Vor noch nicht allzu langer Zeit gehörte das „Klüttern“ am Töffli zu den handwerklichen Grunderfahrungen eines Heranwachsenden, was nun fehle. Der Werkunterricht in der Schule vermag dies kaum zu kompensieren, auch scheinen die verschiedenen Initiativen, technische Berufe den Schülern schmackhaft zu machen, wenig Effekt zu haben. Bühler bietet den Schulen an, in die Klassen zu kommen, wie auch, dass Klassen zum Werken zu ihnen kommen dürfen (MINT-Initiative). Während eines halben Tages wird eine Stahlrose hergestellt, wofür die Techniken treiben, schweissen, Gewinde schneiden, wärmen und biegen zur Anwendung kommen. Das Programm kommt gut an bei den Jugendlichen.
H. erwähnt, dass er in einem Haus aufgewachsen ist, wo der Vater in seiner Werkstatt Modellflugzeuge baute. Der Gebrauch von Schraubstock, Bohrmaschine und Stichsäge gehörte einfach dazu – eine Erfahrung, die für viele heute fremd sei.
Konkurrenz Mittelschule – Berufslehre?
Dass gute Sekundarschüler von den Mittelschulen abgeschöpft werden, sei schon ein Thema. Bühler versuche dem zu entgegnen, indem sie in die Schulen gehen und zu überzeugen versuchen, dass der Weg über eine Berufslehre lohnend sei. – Einmal habe er erlebt, wie ein guter Schüler sich bei Bühler für eine Lehrstelle beworben habe und sein Lehrer besorgt fragte, ob dies bei einem solchen Notenbild eine gute Wahl sei. - Offenbar ist es selbst für manche Lehrpersonen selbstverständlich, dass ein guter Schüler die Mittelschule zu besuchen habe und der Berufsweg mit seinen vielen Aus- prägungen auf der tertiären Stufe wird zu wenig beachtet.
Bei der Rekrutierung von Lehrlingen würden die meisten eine Realschule besuchen, die guten Sekschüler, die sich bei Bühler melden, werden gegenüber früheren Jahren weniger. – H. bedauert diese Entwicklung, vor allem wenn man bedenkt, wie gut das Berufsbildungssystem heutzutage ausgebaut ist. Er erinnert sich an einen Fall, der nach absolvierter Lehre und BMS über die Passerelle nun ein ETH Studium anstrebt. Ein solcher Student bringe nebst einer Berufsausbildung eine gute Portion Praxis für sein Studienfach mit – eine viel bessere Ausgangslage als wenn einer über die Matura an die ETH geht.
Wie beurteilt H. die Zukunftsaussichten für technisch-handwerkliche Berufe?
Das Handwerk werde es auch in Zukunft geben, davon ist H. überzeugt. Im Anlage- und Apparatebau lassen sich viele Vorgänge nur schwer automatisieren. – Hingegen wird der Standort Schweiz wohl unter Druck kommen. In Zukunft wird hierzulande weniger gemacht, dafür aber auf einem höheren Niveau. Will heissen: Einfachere Arbeiten und grössere Serien werden ins Ausland verlagert, anspruchsvolle Arbeiten, Kleinserien und Prototypen bleiben in der Schweiz.
Gibt es Programme bei Bühler, Personen zu integrieren, die noch ungenügend Deutsch können?
Es gibt kein solches Programm. Ohne Deutsch könne man keiner Ausbildung folgen. Selbst in Mathe braucht es Sprachkenntnisse um die Aufgaben zu verstehen, beispielsweise bei Textaufgaben.
Ausnahmen gibt es aber gelegentlich. In der Werkstatt hatten sie einen konkreten Fall eines Jugendlichen von Peru, der einige Monate beim Biegen arbeitete, ehe er seine Ausbildung starten konnte. Ein anderes Beispiel ist ein junger Südkoreaner, der zuerst seine Deutschkenntnisse auf das Niveau B2 bringen musste, bis er mit der Lehre beginnen konnte.
Transkript des Gesprächs mit…
Funktion: Bühler AG, Leiterin Kaufleute inkl. der überbetrieblichen Kurse
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
KV-Lehrlinge
F. betreut die 8 neuen KV Lehrlinge, die jedes Jahr aufgenommen werden. Dazu kommt die Organisation von überbetrieblichen Kursen. Bühler ist eines der ÜK- Zentren im Kanton. Zwei Klassen mit je bis zu 20 Lernenden werden dabei unterrichtet, die meisten Lernenden sind externe.
Das Interesse an einer KV-Lehre bei Bühler ist grossen Schwankungen unterworfen. Für den Lehrbeginn 2016 haben sich 90 Bewerber für die 8 Lehrstellen gemeldet, im Jahr darauf waren es nicht einmal die Hälfte. – Ein Industriebetrieb wie Bühler ist möglicherweise für einen Lehrstellensuchenden nicht erste Wahl, in erster Linie schreiben Lehrstellensuchende Banken und Versicherungen an, ein Industriebetrieb ist einfach speziell.
Für die Lernenden ist Bühler attraktiv, zum einen wegen der Grösse. Die Ausbildung bietet Abwechslung, der Lernende kommt in verschiedene Abteilungen. Zum Zweiten weil Bühler ein internationales Unternehmen ist. Die Lehrlinge kommunizieren nebst Deutsch in Englisch und Französisch und haben die Chance auf einen Auslandeinsatz. Zum Dritten schätzen sie, Teil einer grösseren Gruppe von KV-Lernenden zu sein, mit denen sie sich austauschen können.
Herausragend bei Bühler ist, dass ein physisch vorhandenes Produkt über die ganze Kette von Herstellung, Marketing und Verkauf verfolgt werden kann und über die verschiedenen Stationen der Produktion angeschaut, ja berührt werden kann. Dazu kommt, dass die Produkte etwas Wichtiges und Sinnhaftes in der Nahrungskette abdecken. – Die Arbeit wird zu einer mitreissenden Herausforderung, wo der Einzelne gut erkennen vermag, was sein Anteil am Ganzen bewirkt.
Mit welchen Schwierigkeiten sind die angehenden Kaufleute konfrontiert?
Verantwortung und Selbständigkeit seien die wichtigsten Stichworte dazu. Beispielsweise wenn eine Lernende anfangs einen Brief verfasst, und sie sich mit einem wenig überzeugenden Ergebnis zufrieden gibt. „Lies es nochmals durch und frage dich, was das Schreiben beim Empfänger auslöst!“, ist eine typische Frage, die an die Verantwortung gegenüber dem Adressaten und dem eigenen Unternehmen erinnern soll.
Die Lernenden bringen zu wenig ganzheitliches und vernetztes Denken mit. Sie würden zu wenig in ihr Handeln einbeziehen, was für Aufwände zum Beispiel ein fehlerhaftes Exportdokument verursachen könne.
Wenn etwas unklar ist, folgen die Lernenden dem ersten Impuls, den Vorgesetzten zu fragen – ein Verhalten, das sie von der Schule gewohnt sein mögen. Hier wird aber verlangt, erst einmal selbständig nachzudenken, wo man die fehlende Information nachlesen könne und versuchen, selbst eine Lösung zu erarbeiten.
Gefragt sind im Unternehmen, wie die obigen Beispiele zeigen, viel mehr persönliche, menschliche Qualitäten. Für die fachliche Ebene sind die Ausbildner da. Natürlich ist die Fachebene auch wichtig, es ist aber viel einfacher, dort etwas zu kompensieren als auf der menschlichen Ebene.
Bereits bei der Selektion der Lehrlinge wird diesem Gedanken Rechnung getragen. Beim ersten Schnuppern interessiert nur die Person, was sie für Eindrücke hinterlässt und ob sie zum Betrieb passt. Erst dann, mit der Bewerbung, werden auch Noten sichtbar. Mit einer 4 im Zeugnis könne es schon zäh werden, man sei aber bereit, dies zu akzeptieren, wenn die menschlichen Qualitäten voll überzeugt haben.
Die Lernenden werden nach 3 Wochen auf die Abteilungen im Betrieb verteilt. Dort bleiben sie ein Jahr und bekommen vertiefte Einblicke in die Arbeit, werden in die Prozesse eingebunden und können früh Verantwortung übernehmen. Die Ansprechperson in den Abteilungen sind sogenannte Praxisausbildner, die im idealen Fall einen abgeschlossenen Berufsbildnerkurs vorweisen können. F. betreue ihre Lernenden gewissermassen ferngesteuert. In einer jährlichen Zusammenkunft mit den Praxisausbildnern wird Grundsätzliches geklärt, beispielsweise das Bewertungssystem vereinheitlicht.
F. stellt fest, dass manche Lernende nach dem ersten halben Jahr einen Hänger haben. Den Gründen dafür wird sie nachgehen, noch gibt es keine befriedigende Erklärungen dafür.
Dieses Ausbildungskonzept bedarf eines erheblichen Koordinationsaufwandes, es wird als anspruchsvoll erlebt, aber auch als spannend, weil die Lernenden auf den Aussenstationen von Anfang an nutzbringende Arbeiten ausführen und in die Verantwortung eines Mitarbeiters gegenüber dem Unternehmen eingeführt werden.
Ein Instrument, um im Kontakt mit den Lernenden zu bleiben, sind die halbjährlichen Zeugnisbesprechungen. Im Gespräch findet ein Austausch statt, eine Standortbestimmung wird durchgeführt und bei Bedarf Abmachungen getroffen oder Massnahmen eingeleitet.
Ein Auslandeinsatz bei Bühler steht für viele KV Lernende oben auf der Wunschliste, schon beim Schnuppern kann dies ein Thema sein. Ein Auslandeinsatz ist etwas anders organisiert als bei den Polymechanikern und Konstrukteuren. Er dauert 8 Wochen und ist um die Sommerferien gelegt, so dass nur 3 Wochen Berufsschule verpasst werden. Das virtuelle Klassenzimmer kommt nicht zum Einsatz. Die KV-Lernenden werden angeleitet, wie sie auf ihre Lehrpersonen zugehen sollen und sie nach dem aufzuarbeitenden Stoff fragen. Ein Schulkamerad soll beauftragt werden, Lösungen und Dokumente per Mail nachzusenden. – Dies klappe ganz gut. Auch hier wird Verantwortung dem Lernenden zugewiesen, er müsse den Austausch mit Lehrpersonen und Klassenkamerad selbst organisieren und so seine Selbständigkeit beweisen.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Bühler AG, Lernender als Anlage- und Apparatebauer Sportlehre als Judoka
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Anforderungen an den Sportler
Ein professionelles Verhalten und ein ausgeprägter Leistungswille sind die Voraussetzung für eine erfolgreiche Kombination von Leistungssport und Berufsausbildung.
Um von einer leistungssportfreundlichen Lehrstelle profitieren zu können, muss der Sportler Folgendes erfüllen:
- Besitz einer Swiss Olympic Talent Card Regional/National oder einer Swiss Olympic Card Elite, Bronze, Silber oder Gold
- mindestens zehn Stunden sportartspezifisches Training pro Woche, von einem ausgebildeten Trainer geleitet
- selbstständiges, zielorientiertes und diszipliniertes Arbeiten
- frühzeitige Information an den Arbeitgeber bezüglich der sportlichen Planung
- Bekenntnis zu den «cool and clean»-Commitments (http://www.swissolympic.ch/Portaldata/41/Resources/05_ausbildung_schule/lehrbetriebe/broschueren/Broschuere_Berufliche_Grundbildung_DE_2016_RZ_GZA.pdf)
Vor der Lehre habe S. die Sportschule in Wil besucht und ist im Judo auf 8 Trainingseinheiten gekommen. Die Aussicht, wegen der Lehre die sportlichen Ambitionen zu schmälern, habe S. bewogen, sich nach einer Sportlehre zu erkundigen. Beim Schnuppern bei Bühler habe er sein Anliegen bei „Bemerkungen“ angefügt, worauf das Ganze ins Rollen kam. Damit eine Sportlehre in Betracht kommt, müssen schon einige Punkte erfüllt sein (siehe auch die obige Aufzählung von Swissolympic), vor allem die Swiss Olympic Talent Card sei entscheidend. Um sie zu bekommen, musste S. sich einem Test unterziehen, man bekundet mit der Karte, dass man nach den olympischen Richtlinien trainiert.
Die Firma Bühler habe in seinem Fall ja zur Sportlehre gesagt. Für S. bedeute dies im Alltag, dass er eine ganz normale Lehre als Anlage- und Apparatebauer absolviert, abends würde er ins Training gehen und am Donnerstagmorgen könne er eine weitere Trainingseinheit einbauen. Er bekomme dafür ein Zeitkonto, das zusammen mit der Sportverantwortlichen des Betriebs festgelegt worden sei. Der Einsatz des Zeitkontos erfolgt auf Vertrauensbasis, er sei dafür verantwortlich, wie er die Zeitgutschrift einteilt, zum Beispiel verteilt unter der Woche oder kumuliert für ein Trainingslager. Wenn sich vom Training her Änderungen ergeben und das Zeitkonto nicht ausreichen würde, lässt sich das im Gespräch mit der Verantwortlichen anpassen.
Der Nutzen für die Firma liege vor allem darin, dass sie mit ihm werben könne, falls er einmal sportliche Erfolge aufweisen könne, wie auch, dass sie als Ausbildungsbetrieb attraktiv sei, wenn sie junge Talente unterstützt.
Als Lernender und Sportler habe er einen durchstrukturierten und vollen Tagesablauf. Es braucht Disziplin um diesen Rhythmus aufrecht zu halten. S. denkt aber auch, dass diese Erfahrung ihm im Berufsalltag hilft, besser mit Druck umgehen zu können.
Die Umstellung von der Schule in die Lehre sei nicht allzu schwer gefallen. Einzig im Fach Englisch hatte S. etwas Mühe. Im Kanton TG wurde Englisch erst ab der ersten Oberstufe unterrichtet, so war der Anschluss in diesem Fach beim Wechsel an die Sportschule nicht gewährleistet und Englisch wird von S. immer noch als offene Baustelle bezeichnet. Im zweiten Lehrjahr wird das Fach an der Berufsschule nicht mehr unterrichtet, S. habe es aber als Freifach gewählt um die Lücken zu kompensieren. Englisch sei im Betrieb hier wichtig, meint S, beispielsweise im direkten Kontakt mit Kunden oder für Auslandeinsätze.
Technische Berufe haben einen eher schweren Stand bei den Oberstufenschülern. Der Beruf Anlage- und Apparatebau wird von den meisten Schülern nicht gekannt.
Er selbst habe diesen Beruf erst im Laufe der Schnupperlehren kennengelernt. Als erstes schnupperte S. im Dorf, wo er wohnt, bei einem Spengler. Die Arbeit mit Blech, das Löten habe ihm echt Spass gemacht. Sein Plan war aber, trotzdem auch andere Berufe kennenzulernen. So stand als nächstes der Beruf Zimmermann auf seiner Agenda, gefolgt vom Beruf Schreiner. – Zu letzterem ist es wegen einer Verletzung nicht gekommen, beim Zimmermann sei ihm bewusst geworden, dass ihm die Arbeit mit Blech sehr viel mehr zusagen würde. Seine Mutter wollte ihn unbedingt dazu bringen, bei Bühler eine Ausbildung zu machen. Polymechaniker wollte S. nicht werden, was sollte er bei Bühler lernen? Den Beruf Anlage- und Apparatebauer kannte S. zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Im BIZ informierte er sich und erkannte, dass in diesem Beruf die Blechbearbeitung im Vordergrund ist. So meldete er sich zum Schnuppern bei Bühler an.
Handwerkliche Berufe sind zu wenig bekannt den Schülern und werden bei der Berufswahl vernachlässigt, so S.. Selbst unter den Mit-Lernenden gibt es solche, denen der Berufsstolz des Handwerkers fremd ist und die mit dem Hammer einfach auf das Blech eindreschen und zu wenig auf die Feinheiten achten. - Er versuche, sich von Anfang an die richtige Technik anzueignen, auch wenn er dadurch in der Ausführung am Anfang etwas langsamer sei. In der Anwendung der richtigen Technik äussere sich sein Berufsstolz. - Gut möglich, dass ihm in diesem Punkt seine Sportart zugute kommt. Die richtige Technik sei im Judo entscheidend, und er müsse bewusst auf seine Körperbewegungen achten. Ein Fuss etwas falsch gesetzt und schon verliert man einen Kampf.
Kann Werkunterricht Jugendliche auf eine Berufswahl im technisch-handwerklichen Bereich sensibilisieren?
S. führt dazu seinen eigenen Werdegang aus. Er habe nur in der ersten Sek. Werken gehabt, danach in der Sportschule nicht mehr. Aber für ihn sei seit je her klar gewesen, dass er beruflich etwas mit den Händen machen wolle. So habe er auch in der Projektarbeit etwas Handwerkliches abgeliefert, nämlich ein Wildbienenhotel.
Zur These, Beratungs- und Unterstützungsangebote würden nicht genügend zu den Jugendlichen finden, merkt S. kritisch an, sich selbst zu informieren im BIZ führe dazu, dass man die Schattenseiten der Berufe zu wenig kennt. Die Berufe würden sehr positiv dargestellt, für eine Wahl sei aber wichtig, welche Schattenseiten man zu akzeptieren bereit sei. Beispielsweise werde zu wenig informiert über die Unfallgefahren als Zimmermann.
Was kann getan werden, damit Jugendliche sich nicht nur auf einen Wunschberuf fixieren?
S. meint, Jugendliche vor der Berufswahl sollten unbedingt viel schnuppern gehen, und zwar nicht nur im Wunschberuf. Es sollen auch solche Berufe erkundet werden, die nicht auf der Hitliste stehen. Einerseits, weil man so unbekannte Aspekte erkennen kann und der Beruf attraktive Seiten offenbart, die man ihm nicht zugemessen hätte, anderseits, um einen Beruf bewusst abzuwählen. Wenn man klar zur Einsicht kommt, dass er nicht das Richtige für einen ist, müsse man auch nicht in dieser Richtung weitersuchen.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Berufsbildungsfachfrau und Leiter Berufsbildung Genossenschaft Migros Ostschweiz (GMOS), Berufsbildung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zentrales Aufnahmeverfahren
Kandidaten für eine M-Lehrstelle mussten sich bisher zentral bewerben bei der GMOS Betriebszentrale in Gossau. Nun scheint sich parallel dazu ein Verfahren zu entwickeln, bei welchem die Kandidaten sich über einen Praktikumsplatz bei einer Filiale bewerben. Bahnt sich hier eine Änderung der bisherigen Doktrin an?
Nein, das Verfahren mit den Praktikumsplätzen ist in der Zusammenarbeit mit der GBS/Vorlehre entstanden. Auch wer sich in einem Praktikum vorstellen darf, durchläuft denselben Prozess. Seine Bewerbung wird auf die gleiche Weise geprüft, die Anforderungen sind dieselben,
Der Vorwurf wird immer wieder erhoben, es gebe zu wenige EBA Lehrstellen auf dem Lehrstellenangebot. Die schwächeren Schüler hätten so deutlich weniger Chancen zu einer Lehrstelle zu kommen.
Lehrstellen werden als EBA und EFZ doppelt ausgeschrieben
Die GMOS schreibt seit zwei Jahren die Lehrstellen doppelt aus, also sowohl als EFZ, wie auch als EBA Lehrstellen. Man ist offen, wie eine Lehrstelle besetzt werde, ob als EBA oder als EFZ. Viel entscheidender sei, dass sie mit den Fähigkeiten des Lernenden übereinstimmt. „Wir wollen schlussendlich die besten Kandidaten!“, so B. Die menschlichen Qualitäten seien wichtig und damit verbunden die Leistung in der Filiale, sowie die Schul- und Verhaltensleistungen . Mit der doppelten Ausschreibung könne ein Lernender in der für ihn geeignetsten Stufe in die Lehre einsteigen. Man sei zur Einsicht gekommen, dass ein schulisch eher schwächerer Kandidat, der sich selbst als EBA-Lernender sieht, sich nicht auf eine EFZ-Stelle bewirbt. Mit der doppelten Ausschreibung werde er eher angesprochen. – Ein Fünftel der Lehrstellen sind bei Migros bereits EBA-Stellen, was die Wichtigkeit, die Migros der EBA Ausbildung zumisst, unterstreicht.
Jährlich schreibt die GMOS rund 250 Lehrstellen aus. Diesen stehen 3500 eingehende Bewerbungen gegenüber – trotzdem können nicht alle Lehrstellen besetzt werden. Man geht von einem Besetzungsgrad von rund 90% aus. Die Qualität einer Stellenbesetzung gehe vor. Eher bleibt eine Stelle unbesetzt, als dass allzu grosse Zugeständnisse bei der Passung gemacht werden. Dazu kommt noch, dass die Bewerbungen sich sehr ungleich auf die ausgeschriebenen Stellen verteilen. Für eine Lehrstelle als Polydesigner3D können schon mal 50 – 60 Bewerbungen eingehen, während man bei einer Lehrstelle in der Fleischwirtschaft wenige bis gar keine Bewerbungen eingehen.
Das Segment von Schulabgängern, das schulisch sehr schwach ist, aber für eine IV-Abklärung und eine geschützte Lehrstelle zu stark ist, wächst an. Wo sollen sie unterkommen?
Auf der Abnehmerseite wird ebenfalls bemerkt, dass dieses Segment wächst und man macht sich Sorgen deswegen. Mit dem grossen Anteil an EBA-Lernenden biete man auch für schwächere Schüler Lehrmöglichkeiten, aber an den Stellenprofilen wolle und könne Migros keine Abstriche machen.
Beruf und Sozialprestige
Gute Schülerinnen rümpfen die Nase über die Lehre als Detailhandelsfachfrau, obschon dieser Beruf gute Karrierechancen ermöglicht.
Jugendliche wollen einfach einmal eine Lehrstelle haben, sie überblicken einen Zeitraum von mehr als drei Jahren nur bedingt. B. und E. besuchen selbst Klassen, wo sie die GMOS als Lehrstellenanbieterin vorstellen. Dabei versuchen sie die Karrieremöglichkeiten aufzuzeigen. B. wendet ein, dass bei Jugendlichen das langfristige Denken noch nicht genügend ausgeprägt sei. Aus deren Sicht ist es schon wichtig, was im Zeitraum der Lehre von zwei bis drei Jahren geschehe.
Eine ähnliche Beobachtung wird bei den Recyclisten und im Detailhandel in der Branche Fleischwirtschaft gemacht. Beim Beruf Recyclist darf man von guten Zukunftsperspektiven ausgehen. Dieser Berufszweig dürfte längerfristig viele Möglichkeiten und Differenzierungen bieten, da der Bedarf eindeutig zunimmt. Viele Jugendliche lassen sich kaum auf diese Betrachtungsweise ein, sie würden nur konstatieren, dass ihr gepflegtes Outfit nicht zu diesem „Übergwändli-Job“ passen würde. Die Arbeit muss cool sein. Jetzt und nicht erst morgen.
In Vorstellungsgesprächen würden Fragen nach Weiterbildungen absolute Exoten sein. Und wenn mal eine kommt, dann wirke sie teilweise wie einstudiert. Gelegentlich sagt einer: „Ich möchte mal Chef werden!“ – Wie der Weg dazu aussieht und wo die Weichen richtig gestellt werden müssen, das interessiere aber nicht wirklich.
Die Peers würden einen grossen Einfluss auf die Berufswahl ausüben, indem manche Berufe als cool gelten, andere in der Meinung der Peers durchfallen. Als Beispiel wird eine junge Frau genannt. Als Oberstufenschülerin schnupperte sie im Mai/Juni in einer Migros Filiale. Sie hat ihre Arbeit gut gemacht, war vom Beruf Detailhandelsfachfrau sehr angetan und hatte die Absicht, ihre Bewerbungsunterlagen einzureichen. Dann hörte man ein halbes Jahr nichts mehr von ihr. Als sie sich tatsächlich doch noch bewarb, erklärte sie, ihre Kolleginnen in der Schule hätten sie völlig verunsichert. Sie monierten, im Detailhandel müsse man bloss Büchsen stapeln und an der Kasse sitzen. Die Peers vermittelten ein völlig verstaubtes Image vom Beruf, das bei besagter junger Frau ihre Wirkung nicht verfehlte und sie so ein halbes Jahr zögern liess, sich zu bewerben.
Nachwuchsförderung
Die GMOS möchte seine Kaderleute aus den eigenen Reihen rekrutieren. Dies gelingt mit einer Rate von 80 – 90% überaus erfolgreich. Ein Thema bei der Selektion von Lernenden ist dies jedoch nicht. Zu gross und unvorhersehbar sind die Entwicklungen, die während der Lehrzeit durchlaufen werden – erst durch die Arbeit empfehlen sich die Lernenden und für höhere Aufgaben.
Regionale Disparitäten
Gibt es Unterschiede, ob die Lernenden aus urbanen Gebieten oder dem ländlichen Raum kommen?
Unterscheidungsmerkmale nach der Herkunft, Stadt – Land, werden kaum wahrgenommen . Wohl sind Unterschiede in den Vorstellungsgesprächen spürbar, und man ist der Ansicht, dass die geografische Herkunft einen Einfluss ausüben kann, aber immer wiederkehrende Faktoren, die markant in Erscheinung treten, sind bisher nicht beobachtet worden.
Es gibt aber eine andere geografische Unterscheidung zu treffen, die auffällt, nämlich das Ost-West-Gefälle im Einzugsgebiet der GMOS. Gegen Winterthur hin ist die Rekrutierung von Lernenden herausfordernd, Richtung Osten, je nach Region, eher einfach. Schulnoten, der soziokulturelle Hintergrund der Jugendlichen sowie Verhaltensauffälligkeiten sind Punkte, die es schwierig machen, einen Jugendlichen in die Lehre aufzunehmen. Das Ost-West-Gefälle wird unter anderem begründet durch die Konzentration der Einwanderung in den Grossraum Zürich – Migrationsströme folgen, der ökonomischen Logik gemäss, in die Wirtschaftsmetropolen.
Selektionsverfahren
Zur Leistungsbeurteilung stützt man sich auf die Oberstufenzeugnisse sowie den Stellwerktest (in Ausnahmen auch den Multicheck) . Seit drei Jahren gilt der Stellwerkstest als ebenbürtig. Dass dieser den Multicheck nicht ersetzt hat, liegt daran, dass das Stellwerk nicht in allen Kantonen von den Oberstufenschülern im 8. und 9. Schuljahr gemacht wird.
Wichtiger aber als Testpunkte ist das Verhalten der Kandidaten, zuallererst das Verhalten, das in Zeugnissen sichtbar wird. Knicke in der Schulkarriere, Häufungen von Absenzen sind Beispiele dafür. Im Vorstellungsgespräch versuchen die Verantwortlichen herauszufinden, wie das Umfeld zuhause aussieht, beispielsweise durch Fragen wie: „Was haben Sie zuhause schon für Herausforderungen erlebt?“ oder: „Wenn Sie eine Situation erlebt haben, wie offener Streit, wie sind Sie damit umgegangen? – Wie gehen Sie nächstes Mal anders vor?“ – Jugendliche sind in den Gesprächen sehr offen und erzählen vertrauensvoll über familiäre Ereignisse. So merkt man dann schnell, ob die Verhältnisse in ihrem Umfeld stabil sind oder nicht. – Dies soll nun aber nicht heissen, jemand habe keine Chance, wenn es in seinem Umfeld nicht optimal aussieht. Wenn aber die Bürde, die der Jugendliche mittragen muss, zu gross ist, dann werde er seine Probleme erfahrungsgemäss mit in die Lehre nehmen.
Ein intaktes Umfeld zuhause hat sich als klarer Erfolgsfaktor für die Lehre herausgeschält. Dies habe die GMOS veranlasst, die Eltern zu einem Elternabend einzuladen. An diesen drei Veranstaltungen pro Jahr in der Betriebszentrale Gossau melden jeweils durchschnittlich 250 – 300 Elternteile an, was als grosser Erfolg zu werten ist.
Wunsch nach Beziehung und Zugehörigkeit
Ein immer wiederkehrendes Argument von Jugendlichen ist, dass die Beziehung zum Arbeitsteam und wie sie vom Betrieb aufgenommen werden, die wichtigsten Faktoren in der Berufswahl seien.
„Absolut“, bestätigt B. dieses Argument und legt nach: „Es gibt zwei grosse Werte, die bei Jugendlichen bezüglich Lehrstelle zählen, nämlich das Team und die Nähe des Arbeitsplatzes vom Wohnort.“
Die Zugehörigkeit zu einem Unternehmen, zu einer Filiale, sich als Teil des Ganzen zu sehen, der seiner Funktion angemessen Verantwortung übernimmt und etwas bewirken kann, sind mindestens ebenbürtige Faktoren für die Berufswahl wie welcher Beruf es schlussendlich sein wird. Daher sind die Schnuppererfahrungen wegleitend für die Entscheidungen. Wenn der Schnupperlernende sich im Betrieb wohl fühlt und das Betriebsklima für ihn stimmig ist, wird er sich ziemlich sicher bewerben. Über diesen Mechanismus sind die Betriebe, bzw. Filialen in einer Schlüsselposition im Rekrutierungsverfahren.
Die Nähe des Arbeitsplatzes vom Wohnort als wichtiges Auswahlkriterium mag auf den ersten Blick etwas erstaunen, dürfte man doch annehmen, dass Jugendliche mobil seien. B. und E. führen aus, dass diese Beobachtung vor allem im Detailhandel zutrifft, wo die nächste Filiale gleich um die Ecke ist. Da wäre es aus Sicht des Jugendlichen stossend, einen längeren Arbeitsweg in Kauf zu nehmen und dabei an einigen M-Filialen vorbeizufahren. – Ganz anders ist das Bild bei Berufen wie Polydesigner 3D. Entscheidet sich ein Jugendlicher für solch einen anspruchsvollen Beruf, für den nur wenige Lehrstellen angeboten werden, nimmt er auch eine grosse Pendlerdistanz in Kauf. Für diesen Beruf seien gar Bewerbungen von der anderen Seite des Rickens eingegangen!
Unterstützung während der Lehre
Die GMOS bietet reichlich Seminare vor dem Qualifikationsverfahren an. . Innerbetrieblich bereitet man auf den Abschluss vor. – Generell liegt die Verantwortung aber schon beim Lernenden. Man erwartet, dass dieser bei allfälligen schulischen Schwierigkeiten mit der Berufsfachschule Massnahmen aufgleist wie zum Beispiel der Besuch von Stützkursen.
Bei persönlichen Problemen oder solchen im Umfeld bietet die GMOS eine Mitarbeitenden-Beratung an. Nicht zu vergessen ist das Care Management, das bei Auffälligkeiten bezüglich Krankheit zum Zuge kommt. Lernende würden sich auch immer wieder an die Abteilung Berufsbildung wenden, in erster Linie aber seien die Mitarbeitenden und Vorgesetzten am Arbeitsplatz /in den Filialen die Ansprechpartner.
Psychische Belastungen
In den letzten 5 - 7 Jahren habe man zunehmend Jugendliche mit psychischen Vorbelastungen angetroffen, Jugendliche, die unter Druck stehen, sich in einem schwierigen Umfeld nicht zurechtfinden oder sich nicht einordnen können. Die Fälle, wo Lernende sich in psychische Behandlung begeben, sei es stationär oder ambulant, mehren sich. Oft sei es von aussen kaum ersichtlich und es ist tragisch, wie viele junge Menschen sich Drucksituationen ausgesetzt sehen und so in ein Loch fallen.
Als Unternehmen könne die GMOS solche Lernenden ein Stück weit unterstützen, allerdings sind die Möglichkeiten des Unternehmens an einem gewissen Punkt erschöpft.
Duales Bildungssystem - Verbesserungsmöglichkeiten
Nebst dem Lob, das dem dualen Bildungssystem wegen seiner Praxisnähe und den vielfältigen Weiterbildungsmöglichkeiten zugemessen wird, bleibt als Kritikpunkt die unterschiedliche Ausbildungsqualität in Betrieben. Wenn auch die meisten Ausbildungsbetriebe viel Engagement zeigen würden, so würden die „faulen Eier“ kaum aussortiert werden.
Grössere Unternehmen und insbesondere auch Migros stehen im Rampenlicht der Öffentlichkeit, was ein Ansporn ist, um den Lernenden eine optimale Ausbildungsqualität anbieten zu können. Aus dieser Perspektive tut es schon weh zu sehen, dass von Betrieben derselben Branche „wenig“ gemacht wird.
Bei der Menge von Lehrverträgen in den einzelnen Kantonen sind sie Kontrollorgane ausserstande eine intensivere Kontrolle aufzuziehen.
Man müsste aber bei einer Revision das ganze Modell „Berufsbildung“ angehen. Fünf Tage Berufsbildnerkurs alleine reichen noch nicht um nachhaltig im Sinne eines guten Ausbildungsniveaus zu wirken.
Grundsätzlich wären ja alle Ausbildungsbetriebe verpflichtet, ein Qualitätsmanagement aufzuziehen, die Realität sehe aber anders aus. – Für die Migros als Grossbetrieb wäre es wünschenswert, anderen Ausbildungsbetrieben würde dieselbe Aufmerksamkeit geschenkt. Wohl bieten sich den M-Unternehmen mehr Möglichkeiten an, was aber nicht gegen Kleinbetriebe als Lehrbetriebe spricht. – Es könne aber nicht sein, dass Betriebe „aus falschen Gründen“ Lernende ausbilden.
Zukunft in einer digitalisierten Welt
Die Prognosen und Annahmen, was die nächsten Digitalisierungswellen betrifft, seien mit Vorsicht zu geniessen. Falls die Annahmen gemäss zahlreicher Studien eintreffen sollten, würde es für gewisse Berufsgruppen sehr schwierig werden, sich zu behaupten.
Die entscheidendere Frage sei aber vielmehr, was das Unternehmen aus der Digitalisierung mache. Nur weil der allgemeine Trend dorthin geht, bedeute dies nicht, dass alles entsprechend den Prognostikern umgesetzt werde.
Die GMOS profiliere sich über gute Leute und eine gute, freundliche Bedienung. Die Menschen im Unternehmen sind dafür zentral. Es würde daher alles dafür sprechen, dass die GMOS auch in der näheren Zukunft Lernende in ähnlicher Anzahl wie heute ausbilden wird, auch im niederschwelligen Segment.
Was tun mit den Personen, für die der Schritt in die Berufswelt ein allzu grosser ist?
Ganz aktuell habe Migros ein Programm lanciert, in welchem sie Leute mit einem Handicap ausbilden wollen. Im August 2017 werde man mit der Rekrutierung beginnen. In diesem Programm werde mit externen Institutionen zusammengearbeitet, das Ziel sei aber, dass die Lernenden ermächtigt werden, ein „normales“ Qualifikationsverfahren zu bestehen, damit sie danach im ersten Arbeitsmarkt Fuss fassen können. Die Programmverantwortlichen sind der Ansicht, dass nur dann eine reelle Chance kreiert werde, wenn die Teilnehmer damit aus geschützten Arbeitsplätzen herausgeführt werden.
Was möchten Sie zum abschliessend den Jugendlichen in der Berufswahl auf den Weg geben?
B. und E. meinen übereinstimmend, das wichtigste sei, dass die Lernenden „ihren“ Beruf auch wirklich lernen möchten. Will heissen, sie sollen gut abklären, worauf sie sich einlassen und sich mit ihrem zukünftigen Lehrberuf auseinandersetzen. Am besten über Schnupperlehren, dadurch bekommen sie eine reale Vorstellung von ihrem Beruf.
Wenn die Jugendlichen sich dann noch ihrer Ressourcen bewusst sind und die Homepage der GMOS besucht haben, sind sie schon gut für das Vorstellungsgespräch gerüstet.
Man erlebe immer wieder, dass nur mangelhaft umgeschriebene Bewerbungen bei der GMOS eintreffen. Sorgfältiges Gegenlesen einer Bewerbung wird leider nicht überall praktiziert.
Viele Jugendliche wissen gar nicht um ihre Stärken, möglicherweise fehlen ihnen Erfahrungsräume wie zum Beispiel Ferienjobs. Dafür würden die jungen Menschen, die gekonnt ihre Fähigkeiten und Qualitäten in ein angemessenes Licht rücken können, sich umso mehr profilieren.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Leiter Haus- und Reinigungsdienst, Hochbauamt, Baudepartement SG
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Zurzeit sind fünf Lehrlinge in Ausbildung. B. bemüht sich, das Berufsbild Betriebspraktiker und Fachmann Betriebsunterhalt aktiv nach aussen zu tragen. So hat B. den Beruf Betriebspraktiker im Integrationskurs vorgestellt mit der Absicht, dass der eine oder andere sich zum Schnuppern melden werde.
Selektion der Lehrlinge - Zutrauen
Bei der Auswahl seiner Lehrlinge interessiert sich B. vor allem darauf, mit was für einem Menschen, mit was für einem Charakter er es zu tun habe. Die Noten sind sekundär, die lassen sich innert der zweijährigen Attestausbildung nach oben entwickeln. B. gebe den Jungen gerne eine Chance. Dazu führt er ein Beispiel an von einem Jugendlichen, der von der Jugendanwaltschaft zum Verbüssen einer Arbeitsmassnahme zu ihm geschickt worden sei. Dieser junge Mann wurde von B. angeleitet, einfache, monotone Arbeiten zu verrichten. Nach einer Woche fragte er B. entgegen aller Erwartungen, ob er den Beruf erlernen dürfe. - Wenn ein junger Mensch sich akzeptiert fühlt, wächst dessen Bereitschaft, sich in den Betrieb einzugeben, und dieser junge Mann habe sich nicht einmal von unattraktiver Arbeit abschrecken lassen. Man bekomme aber einen deutlichen Hinweis auf dessen Umfeld, wenn man weiss, dass seine Mutter B. anrief und während des ganzen Telefonats nur sagte, was ihr Sohn alles nicht könne. – Er habe diesen Jugendlichen dann tatsächlich in die Lehre aufgenommen, und er habe sich darin so gut entwickelt, dass er die Lehre als zweitbester abgeschlossen habe.
Bei der Arbeit mit Lehrlingen ist Zutrauen elementar. Zutrauen im doppelten Sinne: Dass sie sich selbst etwas zutrauen, wie auch, dass man ihnen etwas zutraut. Dieses zu gewinnen, kommt aber nicht von ungefähr. – Ein Beispiel: Hier im Baudepartement duzen sich alle, vom Lehrling bis zum Regierungsrat. Dies ist für die Lernenden, die vorher jede Lehrperson mit „Sie“ anreden mussten, ungewohnt und sie sollen merken, dass sie vom ersten Tag an dazugehören und ein Teil des Ganzen sind. Ein anderes Beispiel: Jeden Montag gibt es eine Sitzung mit den Hauswarten, in der besprochen wird, was im Betrieb gut läuft und wo Anpassungen vorgenommen werden sollten. B. wolle, dass die Lehrlinge auch an diesen Sitzungen dabei sind. An sich wäre das ja nicht nötig. Es ist B. aber wichtig, den Lernenden zu zeigen, dass sie eingebunden sind. Um dies noch zu unterstützen lasse er sie bewusst über Lösungsansätze und technische Details referieren, indem er vorgibt, als Generalist nicht über alles Detailwissen zu verfügen.
Lernstrukturen
Die Lernenden sollen ihre Lehre gut abschliessen, konkret bedeutet dies, keine Lehrabschlussnote unter 4.5 und ebenso soll keine Prüfung an der Berufsschule unter 4.5 sein. Um dies zu erreichen, sitzen die Lehrlingsausbildner während 2-3 Stunden pro Woche mit den Lernenden zusammen um das Berufswissen zu vermitteln und gezielt mit ihnen zu üben. Zusätzlich dürfen die Lernenden jeden Arbeitstag von 16:00 bis 16:30, also während ihrer Arbeitszeit, ins Büro gehen um individuell zu lernen. So kommen noch einmal 2 Stunden zusammen, insgesamt also rund 4 Stunden pro Woche. Auf diese Weise werden die Lernenden an feste Lernstrukturen gewöhnt, Strukturen, die sich in ihrem Umfeld möglicherweise nicht oder nur mit grosser Mühe aufspannen lassen. Die Oberlehrlinge, die schon ein Lehrjahr weiter sind, würden mit Rat und Tat zur Seite stehen – ein Angebot, das gerne angenommen wird, da die Hemmschwelle gering ist und die älteren Lehrlinge noch vor kurzer Zeit an den gleichen Schwierigkeiten zu beissen hatten.
Im Betrieb gibt es immer zwei Lernende auf der gleichen Stufe. Der Vorteil daran ist, dass beide ihr Berufswissen und -praxis parallel aufbauen. Wenn einer einmal einen Hänger hat – und das hat jeder während seiner Lehre – dann bleibe dies nicht unbemerkt und man könne mit dem Betreffenden zusammensitzen und Massnahmen besprechen um aus dem Loch herauszukommen.
Trotz all dieser Möglichkeiten, die den Lernenden vom Betrieb aus angeboten werden, werden auch die Unterstützungsangebote der Berufsschule gerne genutzt. Beispielsweise Deutsch Stützkurse. In den letzten Jahren ist die Häufung von Legasthenie unter den Lernenden aufgefallen. Fortschritte darin könne nur durch gezielte Förderung erreicht werden, was durch innerbetriebliche Massnahmen nicht möglich sei.
Um Unterstützungsangebote aufzugleisen braucht es in den meisten Fällen einen kleinen Anstoss, welcher zumeist von B. oder den Lehrlingsausbildnern aus komme. Dabei sei der Start in die Lehre, die ersten zwei bis drei Monate, sehr wichtig. Es müsse rasch erkannt werden, dass der Lernende Unterstützung brauche, sonst wachse der Überhang von nicht aufgeschafftem Lernstoff rasch an. Meistens kommen die Lehrpersonen nicht von sich aus auf den Betrieb zu, was idealer wäre als der umgekehrte Weg vom Betrieb zu den Lehrpersonen. Aber mittlerweile verfüge B. über genügend Erfahrung um gut einschätzen zu können, wann die Kontaktaufnahme mit der Berufsschule angezeigt ist.
EFZ- und EBA-Ausbildung
Wie ist der Ausbildungslehrgang zum Fachmann Betriebsunterhalt konzipiert? Ist die Tendenz von Fachverbänden, immer mehr Stoff in die Grundbildung zu packen, hier ebenfalls spürbar?
Der Lehrgang Fachmann Betriebsunterhalt EFZ ist ursprünglich für schwache Schüler geschaffen worden. In der Zwischenzeit muss ein Schüler des unteren Leistungsspektrums während der Lehre den Knopf aufmachen und schulisch sehr zulegen um den Abschluss schaffen zu können. Wenn ein Lernender als Fachmann Betriebsunterhalt EFZ anfängt und es reicht dann nicht, gibt es zwar die Möglichkeit, in die EBA Ausbildung Unterhaltspraktiker zu wechseln. Aber wenn der Frust über das Ungenügen im zuerst angefangenen Ausbildungsgang zu hoch ist, wird es schwierig, die Ausbildung fortzusetzen. B. erinnert sich an einen solchen Fall, bei dem dann das Lehrverhältnis aufgelöst wurde. B. versuche den umgekehrten Weg zu gehen. Besser, ein Kandidat beginne als Unterhaltspraktiker, schliesse diese Ausbildung ab und hänge nochmals zwei Jahre für den Fachmann Betriebsunterhalt EFZ an.
Berufsbild Fachmann Betriebsunterhalt und Unterhaltspraktiker
Der Berufsverband möchte das Ansehen dieses Berufes heben, was mit der Gefahr verbunden ist, immer mehr in den Lehrgang einzubauen. „Dies ist eine gefährliche Entwicklung“, meint B. - Man müsse allerdings eine Unterscheidung treffen: In der Technik, gemeint ist die Instandhaltung und der Betrieb der hauseigenen Anlagen, geht die Ausbildung Fachmann Betriebsunterhalt viel weniger weit als die betrieblichen Anforderungen hier im Haus. Die Lernenden werden in Klimatechnik, Heiz- und Sanitärtechnik ausgebildet und gehen dabei recht in die Tiefe – damit man sie nachher als Hauswarte einsetzen kann. Anders der Schwerpunkt im Ausbildungslehrgang zum Fachmann Betriebsunterhalt. Dort steht vor allem das Reinigen im Vordergrund. – Eine Vertiefung und Anreicherung der Ausbildung würde schon Sinn machen, aber im Bereich der Technik und nicht der Berufsschule. B. zieht das Fazit, dass es schon Handlungsbedarf auf der Stufe Verbände gebe um die Berufsausbildung attraktiv zu halten und die Chancen der Ausgebildeten auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen.
Förderung von Ressourcen
In der Ausbildung von Jugendlichen sei die Kunst, deren Ressourcen zu erkennen und während der Lehre zu entwickeln. B. treffe viele Jugendliche an, die „verschupft“ sind, sich zu wenig zutrauen und den Satz „Das kann ich nicht!“ verinnerlicht haben. Es braucht angemessene Zeit, um die vielversprechenden Jugendlichen herauszufiltern, die vier bis fünf Tage Schnupperzeit seien dafür knapp bemessen. Trotz des Aufwandes versucht B. jedes Jahr 20 Schnupperlehrlinge in den Betrieb einzuschleusen, um die Jugendlichen bei der Arbeit anschauen und beurteilen zu können, vor allem aber um möglichst vielen gerecht zu werden, indem sie ihre Chance, sich zeigen zu können, bekommen.
Anfangs sei jeder Lehrling schüchtern, allein das Gebäude (des Baudepartementes) ist schon beeindruckend! Bezeichnend für das Vorgehen mit den Jugendlichen ist das Beispiel eines Lehrlingsausbildners von B. Dieser hiess seinen Schnupperlehrling in einer Herrentoilette, die ausser Betrieb war, ein Pissoir abmontieren. – Der Bursche schluckte leer: „Wie geht denn das?“ – Der Ausbildner führte ihn an die Aufgabe heran, dann entfernte er sich. Hinter einer Ecke beobachtete er den Jugendlichen, wie er sich an die Arbeit machte. Studiert er, welche Handlungsschritte in welcher Abfolge zielführend sein würden? Geht er mit eigenen Ideen an die Aufgabe heran? Bemüht er sich um Lösungen? – Oder steckt er aber nach dem Verschwinden seines Vorgesetzten die Hände in die Hosentaschen? Oder nimmt er gar sein Handy hervor und benachrichtigt seinen Kollegen, mit was für einer unzumutbaren Aufgabe er konfrontiert worden sei? – So merke man schnell, ob ein Jugendlicher gewillt ist, sich in den Betrieb einzugeben, zuzupacken und dazuzulernen.
Die schriftliche Bewerbung mit den beigelegten Zeugniskopien ist nicht zentral im Bewerbungsverfahren. Wichtig dabei sei vielmehr, dass die Jugendlichen sich selber damit auseinandersetzen und eigene Formulierungen finden. So gebe die Anrede „Sehr geehrter Herr Hochbauamt“ Anlass zum Schmunzeln, sie zeige aber auch, dass der Verfasser sich eigenständig um das Bewerbungsschreiben bemüht habe. B. frage vor dem Unterschreiben des Lehrvertrags den Jugendlichen, ob er ihn während der Lehre auch mal ans Bein treten dürfe, wenn es nötig sei. Denn zur Förderung von Jugendlichen gehöre auch das konsequente Aufzeigen von Grenzen.
Als Beispiel erzählt B. von einem Lehrling, der in einer Hänger-Phase mehrere Noten unter einer 4.5 schrieb. Er trug ihm auf, sich um 16:30 Uhr bei ihm im Büro zu melden. Dort gab er ihm den Auftrag, mit einer Teppichreinigungsmaschine und Wasser die Schmutzschleuse im Eingang zu reinigen, bis keine Trübung mehr im Schmutzwasser sichtbar sein würde. Wenn er fertig sei, solle er ihn anrufen. – Wohl wissend, dass besagte Schmutzschleuse auch um 20 Uhr noch nicht rein sein würde, ging er um 19 Uhr vorbei und fragte, ob sie schon sauber sei. – Der Lehrling, erschöpft vom erfolglosen Bemühen, durfte dann sein Gerät versorgen und Feierabend machen.
Solch ein Exempel brauche nur einmal während der Lehre statuiert zu werden. Falls der Lehrling sich danach nach Beschwerdemöglichkeiten erkundigen sollte, nannte B. freimütig die Stellen, an die er sich wenden könne und wohl auch Recht bekäme. Es wäre auch möglich, die Reinigung der Schmutzschleuse als Arbeitszeit aufzuschreiben, doch er würde davon abraten und ihm zu bedenken geben, was ihm von seinem Betrieb alles geboten werde, welche Freiheiten er geniessen dürfe und welche Unterstützung ihm zukomme. Dem sei aber auch die untadelige Pflichterfüllung des Lernenden entgegenzuhalten, der er offensichtlich nicht nachgekommen sei. – Keiner habe je Beschwerde eingelegt.
Ansehen des Berufs
Handwerklich ausgerichtete Berufe tun sich schwer, Lernende zu finden. Die meisten wollen sich die Hände nicht schmutzig machen, bzw. konzentrieren sich auf einige wenige Berufe, die voll im Trend sind, wie Logistiker.
B. könne aus eigener Erfahrung nicht bestätigen, dass handwerkliche Berufe weniger gefragt seien. Hingegen sei „putzen“ ein absolutes No-Go. Er meint, der rege Zulauf in seinem Betrieb könne damit zusammenhängen, dass im Beruf Fachmann Betriebsunterhalt bei ihnen nur 5% der Arbeitszeit aus Reinigung bestehe, während sonst 90% üblich seien. Möglicherweise hätten sie damit bei Jugendlichen einen guten Ruf geschaffen. Untereinander erzählen Jugendliche nie, wenn sie über ihre Lehrausbildung sprechen, sie würden reinigen, sondern führen all die technischen Unterhaltsarbeiten auf. Das Ansehen, das die Arbeit unter den Jugendlichen geniesse, sei enorm wichtig. Bei den Schnupperstiften spüre er, wie ihnen ein Stein vom Herzen falle, wenn diese realisieren, hier müssten sie nur wenig putzen.
Sich wohl fühlen im Betrieb
Immer wieder werde das Argument genannt, wenn die Jugendlichen gut vom Betrieb aufgenommen werden und sich wohl fühlen im Arbeitsteam, dann seien sie bereit, selbst unannehmbare Angebote zu akzeptieren.
„Das ist so“, bestätigt B. und verweist auf die RAV-Leute, die seinem Betrieb zur Beschäftigung zugewiesen werden. Obschon es dadurch zu vielen Wechseln im Team kommt und diese Personen nur wenige Monate mitarbeiten, wolle er klar signalisieren, dass sie dazu gehören. Sie werden eingekleidet wie alle anderen Mitarbeiter, es soll kein Unterschied sichtbar sein und er fordere von seinen Mitarbeitern Offenheit, und dass sie gut aufgenommen und integriert werden, schliesslich seien sie auch einmal froh gewesen, als man sie willkommen geheissen habe. Jedem Mitarbeiter ist es klar, dass man zusammen als Team funktionieren müsse. - Ein wichtiger Grundstein werde bei der Auswahl gelegt. Wenn einer sozial nicht so weit ist, dass er dies begreife und wenn er nicht verstehe, was ein Dienstleister ist, dann werde er nicht gewählt. Hauswart ist nichts anderes als ein Dienstleister, dies sei bei ihnen, die im Baudepartement, im Finanzamt und der Polizei tätig sind, sehr wichtig und dies sei eines seiner gewichtigsten Argumente gegen die allfällige Auslagerung der Hauswartdienste.
Zukunftsaussichten
Heute ist die Entwicklung gut sichtbar, dass sich immer mehr Jugendliche um die Stellen im niederschwelligen Sektor drängeln, wohingegen die Prognosen der Zukunftsforscher, man denke an die nächsten Digitalisierungswellen, voraussagen, diese Stellen werden eindeutig weniger.
B. stimmt zu, dass grosse Umwälzungen auf uns zukommen, sie würden aber alle Arbeitnehmer betreffen, nicht speziell Jugendliche. Jeder Arbeitsplatz sei ersetzbar, Roboter, verbunden mit künstlicher Intelligenz, könnten die Aufgaben übernehmen. Die Frage sei vielmehr, ob sich dies auch rechnen würde. Er glaube nicht, dass unqualifizierte Jobs besonders gefährdet seien, aber es werde ein unerbittlicher Preiskampf ausgetragen, der wohl zu Ungunsten der Arbeitskräfte in diesen Jobs ausfallen werde. – Vorboten seien jetzt schon spürbar. Die Reinigung in den Kantonsgebäuden sei jetzt schon günstig, bei einer WTO-Ausschreibung könnten die Kosten sicherlich nochmals um 20 – 25% gedrückt werden. Eine solch massive Preissenkung würde auf dem Buckel der Schwächsten im Arbeitsgefüge ausgetragen und zur Folge haben, dass die Stundenansätze für Reinigungskräfte gesenkt würden. Wo wegen Gesamtarbeitsverträgen eine nicht zu unterschreitende Schranke eingebaut ist, würde man dem Reinigungspersonal drei Stunden Arbeitszeit gutschreiben, während es faktisch vier Stunden präsent zu sein habe. Kann man dannzumal von einem solchen Job noch seinen Lebensunterhalt bestreiten?
Bei all den Sparrunden, die der Kanton SG in den letzten Jahren durchgeführt hat, ist der Hausdienst immer wieder in den Fokus des Interesses gerückt um den Rotstift anzusetzen.
B. habe den Erhalt des eigenen Hausdienstes damit begründet, dass eine mögliche Kosteneinsparung in keinem Verhältnis zum Schaden stehe, der durch den Verlust des gesamten Wissens über die Technik und Anlagen entstehen würde. – Es brauche vertiefte Kenntnisse und Erfahrung, die über viele Jahre erworben worden sei, um die Anlagen in Betrieb zu halten. Längst nicht immer könnten sie nach den theoretischen Vorgaben und Schablonen betrieben werden, Leitungen seien anders als in den Plänen ausgewiesen verlegt und verbunden und man müsse bei einzelnen Anlagen über Beobachtung und Ausprobieren arbeiten. So habe der Hausdienst Anlagen zum Laufen gebracht, vor denen externe Techniker kapitulierten. – Wie viele Hauswarte, ergänzt von Putzrobotern, es in Zukunft noch brauchen werde, sei eine andere Frage, aber ein Kernteam von auf die Betreuung der technischen Anlagen spezialisierten Hauswarten werde wohl bleiben.
Zur Frage, ob in Zukunft nicht auch ein Recht auf Beschäftigung einzuführen sei, äussert sich B., dies wäre wünschenswert, eben anders als bei einem bedingungslosen Grundeinkommen würde eine Aufgabe, ein Dienst an der Gesellschaft in den Vordergrund gerückt. Um aufzublühen und sich verwirklichen zu können, brauche der Mensch eine Aufgabe, er müsse gebraucht werden. Daher mache es wohl kaum Sinn handwerkliche Berufe vollumfänglich durch Automaten wegzurationalisieren. „Sollen denn alle dereinst im Sozialbereich arbeiten?“
Ausbildungsqualität von Lehrbetrieben
Es gibt grosse Unterschiede in der Ausbildungsqualität der Lehrbetriebe. Könnten Bewertungsplattformen, ähnlich wie bei Hotels, ein Mittel sein um die Spreu vom Weizen zu trennen?
B. wendet sich entschieden gegen diese Idee. Gut bewertete Betriebe könnten sich des Ansturms kaum wehren, was keine Verbesserung für die Kandidaten mit sich bringen würde. - Handkehrum sollten die Aufsichtsorgane Ausbildungsbetrieben, die immer wieder Mühe hätten, ihre Lernenden zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, stärker auf die Finger schauen. Zeigen sie den Lernenden, worauf es ankommt, haben sie wirklich Interesse, sie zu fördern und beruflich weiterzubringen? – Falls nein, sollte man diesen Betrieben die Ausbildungsberechtigung entziehen. Leider geschehe dies viel zu selten.
B. habe auch schon Lernende von einem anderen Betrieb übernehmen müssen. Er erinnert sich eines Beispiels, wo er einem Lehrling den Inhalt von drei Lehrjahren in einem vermitteln musste, was für alle Beteiligten mühsam gewesen sei. Der Lernende hatte sich im ehemaligen Lehrbetrieb die Gewohnheit zugelegt, sich der Arbeit zu entziehen, indem er sich „verschlaufte“. Das gleiche Verhalten probierte er auch bei B. aus, nur klappte dies weniger gut. – Ein Lernender werde vom ersten Tag an geformt und passe sich dann gut in die bestehenden Strukturen ein. Dieser Jugendliche aber meinte sich gegenüber den Lehrlingen im ersten Jahr als Oberstift aufzuspielen und brachte einiges an Unruhe in den Betrieb. Es ist ihm zwar gelungen, seine Lehre mit einer guten Note abzuschliessen, aber alle atmeten auf, als er den Betrieb danach verliess.
Eine Möglichkeit, die Ausbildungsqualität zu erhöhen, sieht B. in der vermehrten Zusammenarbeit der Betriebe. So seien die angehenden Betriebspraktiker vom Brüggli Romanshorn für ein bis zwei Monate in seinem Betrieb am Arbeiten. Hier bekommen sie Einblicke in den Unterhalt der technischen Anlagen, während sie in Romanshorn diese Möglichkeiten weit weniger haben und daher fast ausschliesslich mit Reinigungsarbeiten beschäftigt werden.
Integration von Asylanten und Migranten
Asylanten in den Ausbildungsprozess einzubauen, erweise sich als schwierig. Zum einen ist die Sprachbarriere ein gewichtiges Hindernis – es brauche einfach Zeit, bis genügend Deutschkenntnisse aufgebaut seien, in der Regel mindestens zwei Jahre. Dann sollten die Asylanten eigentlich in die Berufswelt einsteigen können, ein Schritt, der sich als schwierig gestalte. Oft liegen die Schwierigkeiten nicht beim Jugendlichen selbst, sondern in seinem Umfeld. Zum Beispiel bei der jungen Frau, die ein Flair dafür hatte, alles richtig in die Hand zu nehmen und einen sehr guten Job machte. Leider wurden ihre Bemühungen von den Eltern abgeblockt, es ist schade, wenn hoffnungsvolle, junge Leute so eingebremst werden. – Etwas nachdenklich meint B., es gebe keine schnelle Integration, wenn die Betroffenen in ihren Strukturen verhaftet bleiben. Nicht das Kopftuch sei das Problem, ein solches hätten unsere Grossmütter auch getragen. Schwierig werde es, wenn die Trennung zwischen Privatem und Beruf/Geschäft nicht erfolgt und vom Betrieb geforderte Verhaltensweisen oder Vorgaben nicht erfüllt werden wollen oder können. – Auch ein Banker füge sich der informellen Vorgabe nach uniformer Kleidung und trägt seinen anthrazitfarbenen Anzug. - Zu 90% seien es die Eltern, die den Jugendlichen ihre kulturellen Verhaltensmuster vorschreiben und sie blockieren würden. Dazu gehören auch unterschiedliche Auffassungen zum Status einer bestimmten Arbeit oder eines Berufes. Vor allem Putzarbeiten hätten bei den Eltern ein schlechtes Image, was sich auch im gestelzten sprachlichen Umgang zeige, statt von Reinigung spreche man von Facility Management. In scharfem Kontrast dazu steht der Umstand, dass man nirgends so schnell beruflich vorwärts kommen würde wie über Reinigung. Ein Beispiel dazu: Eine junge Frau sei über eine Reinigungsfirma zu B. gekommen und durch ihre fleissige, serviceorientierte Art aufgefallen. Er habe ihr den Ausbildungsweg aufgezeigt und Schritt für Schritt habe sie sich dem Ziel „abgeschlossenen Berufslehre“ genähert.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Berufsbildner DH, Coop Pronto Shop
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Nach Stärken suchen
Es stimmt schon nachdenklich, wenn man eine Gruppe von Flüchtlingen sieht, die viel zu viel Zeit hat und nicht weiss, was damit anfangen. Die Leute brauchen doch eine Beschäftigung.
Der erste Gedanke bei einem Schnuppertermin oder Vorstellungsgespräch ist immer: Was hat diese Person für Stärken. Wenn in der Schule keine sichtbar geworden sind, liegen sie oft im Praktischen. Die Erfahrung von K. zeigt, dass schulschwache Jugendliche anfangs schwierig zu führen sind. Wenn sie aber erst einmal ihre Stärken ausspielen können und Selbstvertrauen gewinnen, entwickeln sie sich zu starken Berufsleuten. Ein Problem sei, dass oft angenommen werde, wenn die Schulnoten tief seien, dann würden diese Jugendlichen auch in der praktischen Arbeit wenig leisten. Das stimmt nicht.
Seine Lehrtochter Y., die kurz vor dem EFZ Abschluss steht, sei ein gutes Beispiel. Wenn es für sie „stimmt“, wenn sie sich wohl fühlt am Arbeitsplatz, dann hat sie sehr gute Umgangsformen mit den Kunden. Dies stellt sie täglich unter Beweis. – Anders beim schulischen Lernen. Jetzt aktuell sollte sie den Berufsschulstoff repetieren und sich auf die Lehrabschlussprüfung vorbereiten. Sie braucht dazu immer noch Anstösse von aussen. Das familiäre Umfeld von Y. ist schwierig, ihre Mutter begreife nicht, dass Y. zuhause für die LAP lernen müsse. Schularbeit gelte dort nichts. Zuhause wird sie sofort in häusliche Aufgaben eingebunden. K. könne der Mutter nicht erklären, wie wichtig es für Y. sei, dass sie sich in Ruhe vorbereiten könne. Die Mutter versteht kein Wort Deutsch und hat keine Ahnung von einer Berufslehre.
Wenn die jungen Menschen praktische Verantwortung übernehmen und dies als Stärke erleben, dann beginnen sie sich etwas zuzutrauen und darauf lässt sich aufbauen. Das Selbstbewusstsein wird gestärkt und die Lehrlinge schaffen es auch, gute Noten in der Berufsschule zu bekommen. Y. hatte in der Volksschule notenmässig immer aufs Dach bekommen, wen wundert’s, dass sie schulisch aufgegeben hatte! – K. versuche im Alltag auch unbedeutend erscheinende Arbeiten zu würdigen: „Dieses Gestell hast du schön eingerichtet“. Es lohne sich unbedingt, die Stärken der Jugendlichen herauszuarbeiten, mindestens eine, so die Überzeugung von K, liesse sich immer finden. Die Arbeit, die man anfangs in die Jungen steckt, sei eine Investition, die sich auszahlt.
Mehrmals kommt K. im Gespräch darauf zurück, wie wichtig es sei, dem Jugendlichen Zutrauen zu schenken und seine Ressourcen, welche oft in praktischen Tätigkeiten erst ihren Ausdruck finden, zu fördern. Den Aufwand, den man als Lehrmeister dafür betreibt, ist eine Investition in die Zukunft. Als Beispiel wird ein Lehrling aufgeführt, der nach einem Praktikum die Lehre, dann den EFZ-Abschluss machte und nun bei einem Grossverteiler im Detailhandel eine Stelle gefunden hat. Der junge Mann habe eine derartige Entwicklung durchgemacht, dass K. überzeugt ist, er werde in wenigen Jahren eine Filiale leiten.
Zu hohes Schulniveau
Das schulische Niveau in den Grundausbildungen sei viel zu hoch. Braucht es das überhaupt in der täglichen Praxis? Für Weiterbildungen (HF, FH, etc.) mag das gerechtfertigt sein, aber für das Arbeiten im zukünftigen Beruf ist das Fuder überladen. – Manchmal sei es fragwürdig, warum die Lernenden ihre gewohnten Hilfsmittel wie Rechner oder Handy nicht konsequent einsetzen dürfen.
Führung von Lehrlingen
K. folgt den Führungsgrundsätzen „mit kleinen Schritten vorgehen“ und „auf die Stärken der Lernenden aufbauen“. Wichtig sei aber auch, Klarheit zu vermitteln und den Jungen Grenzen aufzuzeigen. K. bezeichnet seinen Führungsstil als autoritär. Die Lernenden sollen sich im Betrieb gut aufgehoben fühlen. Sie werden ernst genommen. Seiner Erfahrung nach funktioniert auf diese Weise das Miteinander gut.
Bewerbung von Jugendlichen
Sein erster Gedanke ist: „Passt der Bewerber zu meinem Team?“ – Die Leistung kommt erst an zweiter Stelle. K. unterstützt seine Lehrlinge, beim Schreiben von Bewerbungen. „Die Entscheidung, ob ein Kandidat geeignet ist, wird innerhalb der ersten 5 Sekunden gefällt“, meint er.
Unterstützung
Zurzeit erwäge K. eine Praktikantin von einem anderen Tankstellenshop in die Lehre zu übernehmen, dessen Pächter die Stelle gewechselt habe. Diese junge Frau sei aufgestellt, freundlich und bringe eine gute Portion Selbstbewusstsein mit. Noch habe er diese Praktikantin nicht genauer prüfen können, sie solle schwache Leistungen in der Schule haben Er denke aber, dass sich schon eine Lösung finden lasse. Zurzeit sind bei K. gleich zwei Lehrlinge vor den Abschlussprüfungen. Dies beanspruche ihn stark, da er sie in ihrem Lernen unterstütze.
Eine Lehrtochter habe Mühe mit Satzaufgaben im Fach Rechnen. K. habe festgestellt, dass die Schwierigkeit darin liege, dass die junge Frau den Text nur überflöge und nicht verstehe. Das Problem lag also in der Sprache, nicht im Rechnen. Oder ein anderes Beispiel, wo alle Teilschritte richtig gelöst waren, aber der letzte Schritt fehlte, nämlich die Antwort auf die gestellte Frage. Damit würden an einer Prüfung entscheidende Punkte verschenkt.
Wichtige Lerninhalte im DH werden in überbetrieblichen Kursen vermittelt. Er verlange von den Lehrlingen, dass sie zuhause sich vorbereiten, dann gehe K. während der Arbeitszeit mit ihnen die Kursinhalte durch. So kämen die Lernenden immer mit Noten von 4.5 oder besser zurück, während unvorbereitet – dies habe er auch schon erlebt – nur eine 3.5 herausschaue. Beispielsweise habe die Vorbereitung für den ÜK „Wein“ so ausgesehen, dass er der Lernenden den Auftrag gab, drei Weinflaschen aus dem Regal zu holen und einmal alle Infos abzuschreiben, die sie auf den Etiketten vorfanden. Darauf forderte K. sie auf, nachzuschauen, wo denn die Weinregionen wie Burgund und Wallis seien, die sie notiert hatten. Mit einfachen, praktischen Schritten führe er die Lernenden an die Lerninhalte heran und zeige ihnen, dass ein grosser Teil des geforderten Wissens in ihrem Arbeitsumfeld (Weinetikette) vorliege und nur bewusst herausgehoben werden müsse.
Zusammenarbeit mit Coop
Es gibt keine Zusammenarbeit im Lehrlingswesen mit Coop. Die Coop Pronto Shops sind Betriebe mit selbständigen Unternehmern. Es gab auch berechtigte Kritik, wie manche Shop-Betreiber Praktikanten als billige Arbeitskräfte ausnützten.
Ohne Praktika gäbe es für Jugendliche, wie seine Lernende, keine Chance auf eine Lehrstelle.
Abschluss
K. betont nochmals die Wichtigkeit für Jugendliche, ein Praktikum in einem Betrieb machen zu können. Die Herkunft der Lernenden sei ihm egal, es zähle nur der Mensch.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Bildungsdepartement SG, Amt für Berufsbildung,Abteilung Schulische Bildung, Berufsfachschulberater
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Fördermassnahmen berufliche Grundbildung SG
Die Fördermassnahmen berufliche Grundbildung des Kantons St.Gallen sind als ein Gesamtsystem mit einzelnen Bausteinen zu verstehen. Diese bauen auf den vielfältigen Unterstützungs- und Begleitmassnahmen auf, die bereits vor der Lancierung des CM BB durch den Bund im Kanton St.Gallen in breitem Mass aufgebaut und eingeführt wurden.
Ziel ist es, Jugendliche und junge Erwachsene mit Schwierigkeiten vor und während der beruflichen Grundbildung systematisch zu erfassen und mit geeigneten Massnahmen zu unterstützen mit der Absicht, den Anteil der erfolgreichen Abschlüsse am Ende der Sekundarstufe II weiterhin hoch zu halten bzw. weiter zu steigern.
Die Bemühungen zielten seit jeher darauf ab, einen Handlungsschwerpunkt vor allem im Bereich der Prophylaxe zu setzen. Konkret bedeutet dies, auf der Oberstufe gefährdete Jugendliche mit systematischer Erfassung zu erkennen und dank klar definierter Zuständigkeiten, Prozessen und Massnahmen notwendige Weichenstellungen zu ermöglichen.
Auch die vielfältigen Angebote innerhalb der Berufsfachschulen im Bereich schulischer Massnahmen oder psychosozialer Fragestellungen, aber auch die Coachingangebote und die Perspektivengespräche der Lehraufsicht des Amtes für Berufsbildung, zielen allesamt darauf ab, ausbildungsgefährdete Lernende zu begleiten und zu unterstützen, damit sie im Bildungssystem verbleiben und die Ausbildung erfolgreich abschliessen. Zusammen mit den beiden Landeskirchen wurde eine Schulsozialarbeit an Kantonalen Berufs- und Weiterbildungszentren (KSD) und ein eigener Schulpsychologischer Dienst (SPD) aufgebaut. Zusätzlich wurden Coachingangebote in den Brückenangeboten ausgebaut und die Früherfassung sämtlicher Lernender im ersten Ausbildungsjahr konzeptionell verankert.
Ein besonderes Augenmerk zur Erreichung der Zielsetzung gilt den Schnittstellen zwischen der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II sowie den Dropouts aus den Berufsfachschulen. An diesen Schnittstellen laufen Jugendliche und junge Erwachsene besonders Gefahr, aufgrund der Schwierigkeiten aus dem Regelsystem zu fallen und, wenn alleine auf sich gestellt, den möglichen Unterstützungs- und Begleitmöglichkeiten zur Integration in die Berufsbildung zu entgehen. Dank systematischer Erfassung und Betreuung aller, die am Ende der Volksschule bzw. der Brückenangebote keine geregelte Anschlusslösung aufweisen, kann sichergestellt werden, dass alle, die eine Grundmotivation aufweisen, auf entsprechende Begleitung zählen können.
(Aus http://www.sg.ch/home/bildung/Berufsbildung/foerdermassnahmen-berufliche-grundbildung-im-kanton-st-gallen.html)
Fördermassnahmen
Vor Jahren ist als Fördermassnahme von gefährdeten Jugendlichen der sogenannte Plan B eingeführt worden. Was ist aus diesem Instrument geworden?
Plan B ist nie richtig zur Anwendung gekommen, er hat viele negative Statements ausgelöst. Dazu ist der Begriff unterschiedlich verwendet worden. Einerseits für den Übergabebogen betreffend gefährdeter Jugendlicher, anderseits für das Gesamtsystem von Fördermassnahmen in der beruflichen Grundbildung. – Der Begriff „Plan B“ wird nur noch für den Übergabebogen verwendet, sonst spricht man ausschliesslich von Fördermassnahmen in der beruflichen Grundbildung. (Deren Aufbau ist aus obigem Ausschnitt aus der Website des Amtes für Berufsbildung ersichtlich)
Die Fördermassnahmen sind im Kanton SG etwas anders ausgestaltet worden als gemäss eidg. Berufsbildungsgesetz vorgesehen, beispielsweise baute man zu Beginn kein Case Management auf. Der Spezialfall St. Gallen ist dadurch begründet, dass hier schon viele Instrumente eingeführt waren, die es in anderen Kantonen so nicht gab, z.B. der Sozialdienst KSD in den Berufsfachschulen oder ein Schulpsychologischer Dienst auf Berufsschulstufe. Statt eines nominellen Case Managements sind die Berufs- und Laufbahnberatung bzw. die Klassenlehrperson der Oberstufe Ansprechpartner für Jugendliche in der Oberstufe und Schulabgänger. Sobald sie in einer beruflichen Grundausbildung stehen, sind der KSD, die Klassenlehrperson der Berufsfachschule und die Lehraufsicht zuständig.
Nun sei man aber dran, in der Berufs- und Laufbahnberatung ein eigentliches Case Management aufzubauen, wofür 360 Stellenprozente bewilligt worden sind. Diese Strukturen sind ausschliesslich für das Case Management vorgesehen, damit können alle Standorte der BLB abgedeckt werden. Aber auch zukünftig wechselt die Zuständigkeit vom BLB zu den Berufsfachschulen, sobald ein Jugendlicher eine Lehrstelle hat. Um die Schnittstelle zu entschärfen, meldet die BLB Jugendliche mit voraussichtlichen Schwierigkeiten, z. B. Mehrfachproblematiken, - die sogenannten „roten Fälle“ an den KSD. – Case Management wie KSD bauen auf der freiwilligen Mitarbeit des Jugendlichen auf. Die BLB würde als Erinnerungsanstoss drei Mal auf einen Jugendlichen zugehen, wenn dann aber keine Reaktion komme, würde nichts Weiteres mehr unternommen und der Begleitungsprozess wäre zu Ende.
Es gibt Studien, die fordern, vom Prinzip Freiwilligkeit sei abzukehren und alle als gefährdet betrachteten Jugendliche sollen in ein Unterstützungsprogramm aufgenommen werden.
Dazu fehlen die rechtlichen Grundlagen. Man könne die Jugendlichen nicht einfach einsammeln und im Case Management abliefern. Dazu ist fraglich, ob eine solche Pflicht-Massnahme sinnvoll sei, da eine Mindestmotivation eines Lernenden für einen erfolgreichen Prozess vorausgesetzt werden muss.
Hilft nicht der Zeitfaktor mit, dass Jugendliche möglicherweise Jahre nach der Volksschule die Einsicht gewinnen, eine berufliche Grundausbildung machen zu wollen?
Dann verschwinden sie vom Radar des Amtes für Berufsbildung. Bei Brückenangeboten gibt es eine Altersobergrenze von 21, ähnlich sieht es beim Case Management aus, solange diese jungen Erwachsenen nicht einen Lehrvertrag abschliessen. Junge Erwachsene ohne Lehrverhältnis fallen in die Zuständigkeit des Amtes für Wirtschaft und Arbeit.
Um die Angebote nochmals klar zu unterscheiden: Wir sprechen einerseits vom Case Management des Amtes für Berufsbildung, das operationell von der Berufs- und Laufbahnberatung geführt wird. Anderseits führt das Amt für Wirtschaft und Arbeit, finanziert durch das RAV, zwei Case Management Angebote (sogenannte Motivationssemester), das eine durch fit4job geführt, das andere durch rheinspringen. Bis ein Jahr nach der Volksschule ist demzufolge die BLB für einen Jugendlichen zuständig für die Zuweisung in ein Case Management oder ein Motivationssemester, danach das AWA, die Folgen für den Jugendlichen sind dieselben. Bei einem Lehrabbruch ebenso. Direkt danach geht die BLB auf den Jugendlichen zu. Wünscht er diese Unterstützung nicht, wird er voraussichtlich irgendwann zu einem Fall für das AWA.
Attestausbildungen
Attestausbildungen sind schweizweit eingeführt worden, um dem Segment der schwächeren Jugendlichen den Einstieg in eine Berufsausbildung zu erleichtern. Die neuesten Zahlen zu Lehrvertragsauflösungen zeichnen aber ein ernüchterndes Bild, rund ein Viertel der Lehrverträge werden aufgelöst.
Im Kanton St. Gallen ist die Situation sehr viel besser als die gesamtschweizerische. Lehrvertragsauflösungen werden hier in geringerem Masse vorgenommen, hingegen scheinen Verbesserungen bei der Einstufung EBA zu EFZ angebracht. Allzu viele Jugendliche probieren im Zweifelsfall lieber die anspruchsvollere EFZ-Ausbildung, merken dann, dass sie den Anforderungen nicht gewachsen sind und wechseln in den EBA-Ausbildungsgang. Möglicherweise haben EBA-Ausbildungen bei Jugendlichen oder Betrieben eine schlechte Reputation, da ist Aufklärungsarbeit nötig.
Mit dem Schulpsychologischen Dienst an Berufsschulen ist man im Kanton gut aufgestellt um Potentialabklärungen zu machen. Ebenso kann der KSD Aufträge zu Abklärungen erteilen, allerdings sind diese selbst freiwillig – man kann Jugendliche nicht gegen ihren Willen oder den Willen der Eltern (je nach Alter der Jugendlichen) abklären.
Es wird argumentiert, dass nach manchen EBA Ausbildungen nur geringe Chancen für den Berufseinstieg bestehen würden.
Dies ist je nach Branche definitiv ein Problem. Grundsätzlich werden weniger Stellen für EBA-Absolventen als EFZ-Absolventen ausgeschrieben und wenn nur wenig Arbeitsstellen zu vergeben sind, wird wohl eher ein Jugendlicher mit EFZ-Abschluss gewählt. Das positive Beispiel sind Gesundheitsberufe,; dort sind auch Absolventen der Attestausbildung Assistent Gesundheit und Soziales gesucht.
Sind EBA-Ausbildungen für manche Jugendliche immer noch zu anspruchsvoll?
Die Attest Lehrgänge sind sicherlich anspruchsvoller als die früheren Anlehren. Dies ist auch an einer Tagung auf Bundesebene festgestellt worden. Im Kanton St. Gallen investieren wir auch viel in die Attestausbildungen. Für fachkundige individuelle Begleitung (FiB) werden die Schulen für jede Lernende/ jeden Lernenden mit 720 Franken unterstützt gegenüber 120.- bei EFZ-Lernenden. Wie diese Mittel eingesetzt werden, entscheiden die Berufsfachschulen selbst. Beispielsweise könnten dies auch Kurse sein um den Übergang EBA zu EFZ besser meistern zu können.
Wie vorher erwähnt, sind EBA Ausbildungen in der Gesundheitsbranche attraktiv und es kann durchaus sein, dass hier in Zukunft noch mehr Lehrstellen angeboten werden. In der praktischen Arbeit sei oft kein Unterschied feststellbar, ob jemand über eine EFZ- oder über eine EBA-Ausbildung in den Beruf eingestiegen ist; dies hätten nun verschiedene Betriebe entdeckt. Dass aber jede Lehrstelle doppelt ausgeschrieben werde, als EBA und EFZ, wie bei der Genossenschaft Migros Ostschweiz, sei wohl noch die Ausnahme. – Je knapper das Angebot auf dem Arbeitsmarkt ist, desto schwieriger sei der Einstieg über EBA.
Praktika
Praktika dienen der Orientierung und dem gegenseitigen Kennenlernen. Für manche Jugendliche sind sie die einzige Chance, um zu einer Lehrstelle zu kommen. Trotzdem ist es stossend, dass gerade in Gesundheitsberufen oft ein Jahrespraktikum die Voraussetzung für eine Lehrstelle ist.
Es gibt kaum eine Eingriffsmöglichkeit von Seiten des Amtes für Berufsbildung. Praktikumsverträge werden bisher ohne Zustimmung des ABB abgeschlossen. Einige Betriebe nehmen Lernende auch ohne Praktikum auf, andere, vor allem eher kleinere Betriebe, setzen ein Praktikum voraus. Wenn auch Betriebe Arbeitsstellen mit billigen Praktikanten besetzen, so machen sie damit nichts Verbotenes. – Im Grossen und Ganzen sind Praktika für den Berufseinstieg hilfreich, auch wenn sie im Einzelfall eine zusätzlich zu durchlaufende Schlaufe für einen Lehrberuf darstellen können. Es ist eine Gratwanderung, ob man wegen gewissen unerwünschten Entwicklungen eingreifen solle und damit möglicherweise Anbieter von Lehrstellen verlieren würde.
Ausbildungsqualität
Oft werde moniert, die Qualität von manchen Ausbildungsbetrieben sei ungenügend und die Lehrstellenaufsicht würde nicht eingreifen, während letztere argumentiert, sie bekomme erst Kenntnis von einem Missstand, wenn es schon zu spät sei.
L. habe selbst nichts mit der Lehrstellenaufsicht zu tun, aber aus seiner früheren Berufserfahrung im Kanton GR habe er Kenntnis von Lernenden, die faktisch unbegleitet während ihrer Ausbildungszeit waren. Es würde sehr viel brauchen, bis eine Ausbildungsbewilligung entzogen würde, denn man wolle alles vermeiden, damit eine Lehrstelle verloren ginge.
Jugendliche mit nicht so optimalen Voraussetzungen auf dem Lehrstellenmarkt dürften eher in schlecht betreuten Ausbildungsstellen sein, weil dies auch die weniger attraktiven Lehrstellen seien. Umgekehrt gibt es auch Betriebe, deren Lehrstellen sehr gesucht sind.
Der Kanton St. Gallen steht statistisch sehr gut da, was die Grundausbildung betreffe, obschon andere Kantone klarere Strukturen zur begleitenden Unterstützung aufgebaut hätten und gefährdete Jugendliche enger begleiten würden.
Mit ein Grund mag sein, dass im Kanton St. Gallen der Berufsbildung ein hoher Stellenwert beigemessen werde und das Lehrstellenangebot gut sei. Die vom Bund geforderte Quote von 95% der Schulabgänger in eine Sek II Ausbildung zu bringen, werde mühelos erreicht.
Zukunftsperspektiven
Die Zukunftsperspektiven für das Segment der gefährdeten Jugendlichen sieht aber nicht allzu rosig aus, ein Stichwort dazu wäre die nächste auf uns zurollende Digitalisierungswelle.
Wir können nicht viel mehr tun als Jugendliche vermehrt in den Bereichen auszubilden, die in Zukunft gefragt sein werden und mehr Leute zu höherwertigen Ausbildungen führen als heute, seien dies anspruchsvollere Lehren oder tertiäre Ausbildungen – auch dann, wenn dazu mehr Unterstützung als heute erforderlich sein wird.
Aber: Wir werden auch mit ausgebauten Unterstützungsangeboten nicht jede Person durch eine höherwertige Ausbildung bringen können. – Im Flüchtlingsbereich gehen die Bestrebungen dahin, Flüchtlingen möglichst schnell eine Ausbildung zu geben, und sie in gefestigte Strukturen zu führen. Dazu sind aber Anstrengungen auf verschiedenen Ebenen erforderlich, zum Beispiel auf der rechtlichen Ebene, wenn es um die Erteilung von Arbeitsbewilligungen geht oder auf der Ebene der Verbände um einen niederschwelligen Einstieg in den Beruf zu ermöglichen, nicht zuletzt aber auch auf der Ebene der Gemeinden, die ihr Angebot ausbauen müssen, damit die Integration von Flüchtlingen erleichtert wird.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Forstwartlehrling Gewerbliche Berufsschule Chur
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Gespräch erfolgte mit C. und K gemeinsam, hier wird es aber in getrennter Darstellung aufgeführt.
C. hat eine Lehrstelle als Forstwart in Chur gefunden, er kommt aus dem weit entfernten Samnaun. Eine passende Lehrstelle so weit weg von zuhause und dem eigenen Umfeld zu finden, bezeichnet er als Risiko. „Es kann gelingen oder nicht“, sagt er. „Damit es gut geht, ist es umso wichtiger, dass er im Arbeitsteam gut aufgenommen wird und mit den Arbeitskollegen gut auskommt.“ Die Vorgesetzten und Mitarbeiter im Betrieb werden zu den wichtigsten Bezugspersonen, um in der Fremde Fuss zu fassen. Wegen der Berufsausbildung erfolgt ein frühes Abnabeln vom Elternhaus – der junge Mann wählt dafür bewusst das Wort „Risiko“. C. wohnt im Lehrlingsheim Chur.
Eine Lehrstelle zu finden sei laut C. eher schwierig gewesen: „Ich hatte das Glück, dass meine Eltern mich bei der Lehrstellensuche sehr unterstützt haben!“
Die Umstellung Schule – Lehre war anfangs recht hart. Die körperliche Arbeit und den ganzen Tag draussen zu sein, bewirkte, dass er anfangs „durch“ war. „Heute habe ich mich aber so daran gewöhnt, dass ich nach Feierabend noch frisch genug bin um etwas zu machen, fast wie wenn einer im Büro arbeitet.“
Die Doppelbelastung Arbeit – Berufsschule empfindet C. nicht als belastend. „Ich musste in der Schule eigentlich nie etwas lernen, ich habe den Stoff in der Schule aufnehmen können. Hier an der Berufsschule geht es gleich, das Tempo ist nicht allzu hoch, die Anforderungen angemessen, ich komme gut mit.“
C. weiss von einem Kollegen, dass die Berufsaussichten nach der Lehre nicht rosig sind. Dies beunruhigt ihn nicht, er könne beim Lehrmeister nach Beendigung der Lehre bis zum Militär bleiben. Sein Fernziel ist, nach einigen Jahren Berufserfahrung in die Polizeischule einzutreten um Polizist zu werden.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Forstwartlehrling Gewerbliche Berufsschule Chur
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
K. hat eine Lehrstelle als Forstwart in Maienfeld gefunden. Die Berufswahl und das Finden einer Lehrstelle empfindet K. als bedeutenden, nicht einfachen Schritt: „Ich finde es wichtig, dass das Erkunden und Schnuppern von Berufen schnell erfolgt. Mit schnell meine ich, dass die entsprechenden Schritte zügig aufeinander folgen, man hat ja nicht so viel Zeit für die Berufswahl und bleibt so motiviert dran.“
„Die körperlichen Anforderungen bei der Arbeit als Forstwart waren anfangs schon recht hart. Am Abend war man einfach müde. Es war eine deutliche Umstellung von der Schule. „Heute habe ich mich aber daran gewöhnt, und bin nach Feierabend noch genügend frisch um etwas zu unternehmen. Fitnesstraining brauche ich keines mehr, das habe ich am Arbeitsplatz.“
Die Doppelbelastung Arbeit – Berufsschule empfindet K. nicht als belastend. „So viel Theorie gibt es in unserem Beruf nicht, da kommt man gut in der Schule mit und muss nicht nach Feierabend noch lernen.“
Die Berufsaussichten sind nicht allzu gut: „Es werden nicht viele Stellen ausgeschrieben.“ Dies beunruhigt K. nicht, er habe mit der Ausbildung zum Forstwart einen guten Basisberuf, wo er auch etwas Anderes arbeiten könne oder sich weiterbilden würde.
Auf die Frage nach Verbesserungsvorschlägen, um den Schritt in den Beruf einfacher bewältigen zu können, meint K: Die Berufswahl in der Schule müsste viel früher anfangen. Die Lehrer hätten nicht allzu viel zur Berufswahl beigetragen, die Eltern seien da viel wichtiger gewesen.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: EBA Holzbearbeiter, Zimmermann; Gewerbliche Berufsschule Chur
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Gespräch wird zusammen mit P. geführt.
Im grossen Schulzimmer sitzen fast verloren nur zwei Schüler. Die Klasse sei wegen der Grippe geschrumpft, von drei auf zwei Schüler. Man habe die drei nicht vernünftig woanders anhängen können, so wird diese Klasse trotz der geringen Schülerzahl weitergeführt.
Auf die Frage nach den grössten Umstellungen von der Schule in die Berufslehre meint D: „Die vielen Pausen in der Schule fallen weg. Dort gab es alle 40 Minuten einen Unterbruch. Im Gegensatz zum vorwiegenden Sitzen in der Schule bin ich nun abends kaputt. Die Arbeit ist viel härter, vor allem machen einem die tiefen Temperaturen zu schaffen, auch wenn man gut angezogen ist. Am Morgen muss ich um 06:30 Uhr aufstehen, um 07:00 Uhr am Arbeitsplatz zu sein.“
Berufswahl und das Finden einer Lehrstelle schildert D. nicht als besondere Hürde: „Ich mache die Lehre im Betrieb meines Vaters.“ – Diese Konstellation scheint von ihm gut akzeptiert zu sein. „Im Betrieb bin ich hauptsächlich mit einem anderen Lehrling und den drei Arbeitern zusammen. Diese führen mich in die Arbeitsabläufe ein und sind im Alltag für mich verantwortlich. Meinen Vater sehe ich kaum, er sitzt die meiste Zeit im Büro.“ - Zum Betrieb gehören noch andere Handwerker, so ein Schreiner, der die Werkstatträume benützen darf.
Ein grosser Unterschied zur Schule sei die Verantwortung, die man im Betrieb habe. Nach dem Einführungskurs dürfe man an die Maschinen, wo man schon aufpassen müsse. D. habe einen Unfall eines Arbeiters miterlebt, die eine schwere Kopfverletzung zur Folge hatte. Da sei es ihm schon bewusst geworden, dass das Herumturnen auf dem Dach riskant sei und die Arbeiter wie er selbst konzentrierten sich besser auf die Sicherheitsvorschriften und kontrollierten sich gegenseitig. „Das hat mich schon einsichtig gemacht, dass man für sich und die anderen eine grosse Verantwortung hat!“
In der Berufsschule sei er gut gestartet. D. geniesse die kleine Gruppe. Die Lehrperson würde einen dort abholen, wo man sei und würden helfend unterstützen, wenn man nicht weiterkomme. Zu Beginn habe man an den Stoff der Schule anknüpfen können und repetiert, so habe er Sicherheit gewonnen für das Neue, das auf ihn zukommt und sei gewiss, es schaffen zu können.
Transkript des Gesprächs mit…
Funktion: EBA Holzbearbeiter, Zimmermann; Gewerbliche Berufsschule Chur
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Gespräch wird zusammen mit D. geführt.
Im grossen Schulzimmer sitzen fast verloren nur zwei Schüler. Die Klasse sei wegen der Grippe geschrumpft, von drei auf zwei Schüler. Man habe die drei nicht vernünftig woanders anhängen können, so wird diese Klasse trotz der geringen Schülerzahl weitergeführt.
Auf die Frage nach dem Übergang von der Schule in die Berufslehre meint P: „Man ist an einem fremden Lehrort!“ Für umso wichtiger hält P, dass man mit vielen und längeren Schnupperlehren für sich den richtigen Lehrort findet.
Wie sein Mitschüler beschreibt er die körperliche Umstellung als recht hart. Die Kälte und frische Luft zollt ihren Tribut. Am Abend ist man zu Beginn einfach kaputt und mag nicht mehr. Dazu kommen die im Sommer langen Arbeitszeiten von 06:30 bis 18:00 Uhr. Im Winter nun gingen die Arbeitstage rasch vorüber. Sie dauern von 07:30 bis 17:00 Uhr.
Ein grosser Unterschied zur Schule sei die Verantwortung, die man im Betrieb habe. Bald nach Lehrbeginn dürfe man an die Maschinen und klettere auf die Dächer. P. spricht die Verantwortung an, die man für sich und die anderen Arbeiter habe. Das würde man schon ernst nehmen, er sei sich der Gefahren am Arbeitsplatz bewusst.
Die Umstellung auf die Berufsschule fiel ihm leicht. Geholfen hat P. die kleine Gruppe, wo individuell auf ihn und die anderen Mitschüler eingegangen werde. Man habe Unterrichtsstoff der Volksschule wiederholt, was einen guten Anschluss ermöglichte. Dies gebe einem Selbstvertrauen, zu wissen, dass schulisch eine gesicherte Basis geschaffen werde, auf der das Neue dann aufbauen würde. P. ist zuversichtlich, den Anforderungen der Berufsschule zu genügen. Die Lehrperson würde einen dort abholen, wo man sei und würden helfend unterstützen, wenn man nicht weiterkomme.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Lernende Attestausbildung Bäcker (2)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Interview findet im Rahmen des Berufskundeunterrichts statt – zu zweit. Zur Unterscheidung sind die Antworten des einen Jugendlichen in schwarz, die des andern farbig gehalten.
Wenn ihr euch die Situation vor einem Jahr vorstellt und mit der jetzigen vergleicht: Wie habt ihr den Übergang in die Lehre erlebt?
Eigentlich ganz locker. Ich war im Heim, mein Lehrer dort hat mir Respekt vor der Berufsschule eingeflösst: Im Heim waren wir nur zu Acht in einer Klasse und der Lehrer konnte sich jedem ausgiebig widmen. Er wies mit Nachdruck darauf hin, in der Berufsschule sei das Fortkommen in Klassen von 25 Personen um einiges schwieriger, weil man mehr auf sich gestellt ist. So habe ich mich für die schulisch weniger anspruchsvolle EBA, und nicht für die EFZ Ausbildung entschieden. Damit dürfte das Bestehen der Schule kein Problem sein.
Ich war nicht die Beste in der Schule und so habe ich mir etwas Einfacheres gesucht, das zu schaffen ist. Nun sehe ich, dass es nicht so schwierig ist und es ganz rund läuft in der Berufsschule.
Mein Chef hat mir die Entscheidung überlassen, ob EFZ oder EBA. Ich sagte mir, ich wolle erst einmal diesen Abschluss schaffen, und dann sehen wir weiter.
Das heisst, direkt eine EFZ Ausbildung anhängen, oder sind solche Betrachtungen verfrüht?
Ja, schon. Nach der Bäckerausbildung werde ich zuerst den Militärdienst leisten, dann sehen wir weiter. Vielleicht EFZ oder eine andere Ausbildung.
Möglich ist es bei mir, aber ich möchte auch erst einmal diese Ausbildung mit dem Qualifizierungsverfahren abschliessen.
Viele haben gesagt, die EFZ-Ausbildung sei sehr anspruchsvoll, und da habe ich mich für das Leichtere entschieden, besser diese Ausbildung durchziehen und dann vielleicht weitermachen.
Wie seid ihr auf den Lehrberuf gekommen?
Ich wollte etwas lernen, wo ich in Kontakt mit anderen Personen bin. Detailhandel war mein Favorit. Da meinte eine Kollegin, die eben als Bäckerin schnuppern war, ihr gefiele dieser Beruf sehr gut, er wäre möglicherweise auch etwas für mich. So folgte ich ihrem Rat und schnupperte in einem Bäckereibetrieb, wo alles passte und ich gleich beim ersten Versuch zum Lehrvertrag kam.
Bei mir war es eine sehr, sehr lange Geschichte. Sie begann im Herbst 2014, worauf 16 Schnupperlehren folgten, teils auch als Strassentransportfachmann. In Zürich war ich in jeder Bäckerei, nie bekam ich einen Lehrvertrag angeboten. Meine letzte Hoffnung war eine Bäckerei in Oberriet, dort wurde ich ohne Vorurteile empfangen und bekam meine Lehrstelle. Ich wohne jetzt in Altstätten, so ist der Arbeitsweg machbar.
Auf dieser Odyssee bekam ich immer wieder zu spüren, dass man nicht ein Heimkind aufnehmen wolle. Vermutlich setzten sie dies mit „dumm“ gleich. In einem Schnupperbericht lobte man, wie ich mich auf die Arbeit gut konzentrieren könne, fand dafür andere Kritikpunkte, während in einem anderen Bericht genau das Gegenteil formuliert war, nämlich ich hätte Mühe mich zu konzentrieren.
Wie seid ihr vom Betrieb aufgenommen worden?
Anfangs empfand ich es als anstrengend, weil ich noch nicht so viel machen konnte. Später lernte ich verschiedenen Teigsorten und Füllungen herzustellen, dann lief alles einfacher ab. Als Mensch wurde ich von Anfang an gut akzeptiert, auch von meinem Chef. Das Einzige, was er kritisierte, war, dass ich anfangs zu wenig schnell war.
Ich wurde auch gut akzeptiert. In der Schnupperlehre bekam ich eine Art Crashkurs vermittelt, so dass mir die wichtigsten Arbeiten bekannt waren zu Beginn der Lehre. – Diese Arbeiten haben sich seither kaum verändert, ich mache fast immer das Gleiche. Daraus ergibt sich das Problem, dass ich kaum etwas dazulerne. Da ich ein eher tollpatschiger Mensch bin, passieren mir bei den sich wiederholenden Routinen „dumme“ Sachen. Letzthin habe ich aus Versehen die Kühlschranktüre ausgehängt. Ich muss, als mir fast etwas aus der Hand glitt, an den Mechanismus gekommen sein, der die Türe automatisch schliesst. Danach blieb sie in der offenen Position stehen, ich untersuchte das Scharnier und wollte ein vorstehendes Teil zurechtrücken, als ich schon die Türe in der Hand hielt. Genau in dem Augenblick betrat mein Chef die Szene und meinte erzürnt: „So etwas könne nicht einfach so passieren!“
Wenn ihr in der Ausbildung irgendwo ansteht, habt ihr jemanden, den ihr um Rat fragen könnt?
Bei mir ist es die Lehrtochter im zweiten Ausbildungsjahr. Mein Chef hat keine Zeit für meine Fragen, aber sie kann es mir gut erklären. – Wir sind ein kleiner Betrieb, es fehlen ein bis zwei Bäcker. Deren Aufgaben müssen wir beiden Lehrlinge übernehmen. Obschon wir nur drei bis vier Arbeitende sind, liefert unser Betrieb Brot für 3 Verkaufsgeschäfte, dazu kommen noch Bestellungen, ein Partysandwich hier, eine belegte Brezel dort. Um 11 Uhr sollte man mit allem fertig sein, da kommt man immer wieder in Stress.
Ich kann den Chef gut fragen, aber auch die anderen im Betrieb. Wir sind am Morgen drei bis vier Personen, eine wechselt von der Backstube ins Verkaufsgeschäft. Es ist mir wichtig zu wissen, dass ich meine Anliegen vorbringen kann.
Transkript des Gesprächs mit…
Funktion: Lernender Attestausbildung Bäcker
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Interview findet im Rahmen des Berufskundeunterrichts statt .
Wie war dein Weg zu dieser Lehrstelle?
Das ist eine lange Geschichte. Ich bin von Chur nach St. Gallen gezogen. Nach der Schule habe ich verschiedene Praktika gemacht, eines auch als Koch. Eine Kollegin meinte, Bäcker wäre ähnlich, ich solle diesen Beruf kennen lernen. Das tat ich auch und schnupperte als Bäcker. Das Schnuppern war gut gewesen, der Chef war bereit mich zu nehmen. Wegen der Schulnoten ging es noch um die Frage EFZ oder EBA. Besser sei es, so meinte er, ich würde mit der EBA beginnen und könnte immer noch auf EFZ wechseln, wenn es gut in der Schule laufen würde. – Leider kam es anders. 5 Monate vor Ende der Ausbildung wurde der Lehrvertrag aufgelöst. Ich stand vor einem Scherbenhaufen und fragte mich, ob ich nochmals einen Anlauf als Bäcker nehmen solle. Wenn ja, dann nur in einem Betrieb, wo der Chef Zeit für mich hat und muss auch mit einem zusammenarbeiten.
Dann bin ich erneut schnuppern gegangen. Fündig wurde ich bei einem jungen Lehrmeister, der geduldig ist und mir die Sachen ruhig erklären kann – ich komme weniger gut klar mit Leuten, die gleich in Stress geraten. Gestartet bin ich mit der EFZ-Lehre und es ist soweit alles gut gegangen, ausser in Mathe. Daraus ergaben sich zwei Optionen: Die erste wäre gewesen weiterzumachen, die zweite zu wechseln in die EBA Ausbildung. – Bei ersterer bestand das Risiko, nach dem ersten Jahr nochmals anfangen zu müssen. In der Schule geht alles schnell-schnell, die Lehrpersonen haben nicht die Zeit alles nochmals langsam zu erklären. Bei der EBA Ausbildung ist der Schulstoff nicht so gedrängt. Man kann immer fragen und die Lehrpersonen nehmen sich die Zeit einem alles genau zu erklären. Dies kommt mir bei diesem Ausbildungsgang entgegen, so wechselte ich zur EBA Lehre. In der Schule ist es schwierig für mich, wach und konzentriert zu sein. Man arbeitet ja als Bäcker während der Nacht und die Berufsschule ist am Tag, es macht mir Mühe, einen beständigen Schlafrhythmus zu finden.
Bei Mathe ist es nicht so, dass ich es nicht begreifen würde. Ich brauche vielleicht etwas länger und ich habe Mühe, wenn die Aufgabe schriftlich formuliert ist. Mein Lehrmeister hat mit mir gerechnet, indem er Beispiele aus der Backstube fand, wie viele Plätzchen im Ofen Platz haben, wenn auf jedem Blech soundso viele Stück drauf sind. Jeder Mensch lernt anders, ich brauche den praktischen Bezug zum Rechnen.
Die Person des Lehrmeisters scheint ein Schlüsselfaktor zum Gelingen einer Lehre zu sein? Wenn man menschlich gut aufgenommen wird, dann wird (fast) alles möglich.
Genau! Wenn einer mich als Mensch akzeptieren kann, versucht er die Dinge so zu erklären, bis sie mir verständlich werden. Zum Beispiel die Technik, wie man den Teig schön in die Kugelform bringt. Das ist gar nicht so simpel, man muss mit den Händen gut koordinieren. Wenn ein Lehrmeister diese Vorgänge so vereinfachen kann, dass ein Lernender sie versteht, wird es einfach. Andernfalls bekommt er auch nach drei Lehrjahren den Teig nicht in das Rund. – Es braucht einfach einen geduldigen Lehrmeister, der einen über die Schwierigkeiten hinweghelfen kann und einen als Mensch akzeptiert.
Unterschied EFZ- EBA?
Im Betrieb haben wir EFZ-Absolventen, die nicht anders als die EBA-Bäcker arbeiten. Mit der Routine greifen die Automatismen und die Arbeit geht leicht von der Hand. Der Unterschied ist nur im Lohn ersichtlich – und das alles, wegen ein bisschen Mathe. Bei der Prüfung gibt es Unterschiede. Für den Lehrabschluss müssen die EFZ Lernenden fast alles aus dem Fachkundebuch können, wir nur die wichtigeren Abschnitte. Aber in der praktischen Arbeit ist es dasselbe.
Mein Lehrmeister hat mir weisgemacht, dass Schnelligkeit etwas vom Wichtigsten in diesem Beruf ist. Morgens um fünf müssen gewisse Produkte schon lieferbereit sein. Bist du zu spät, dann pflanzt sich die Verspätung durch die ganze Lieferkette. Bei mir hat dieses Argument klick gemacht, ich habe mir gesagt, ok, das ist nun mal so, wie beim Eisenbahnfahren. Wenn du fünf Minuten zu spät bist, ist der Zug abgefahren. – Einmal verstanden, was Schnelligkeit in der Arbeit bedeutet, versuche ich daran zu arbeiten, diese immer weiter zu verbessern und es gibt deswegen nie Diskussionen.
Transkript des Gesprächs mit…
Funktion: Lernender Attestausbildung Bäcker
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Interview findet im Rahmen des Berufskundeunterrichts statt – zu zweit. Zur Unterscheidung sind die Antworten des einen Jugendlichen in schwarz, die des andern farbig gehalten.
Wie war euer Weg zu dieser Lehrstelle?
Wir waren beide 6 Monate in Wattwil im Praktikum. Ich habe in Marbach einen Betrieb gefunden, wo ich die Lehre machen kann.
Nach 6 Monaten im Praktikum hat mein Chef gesagt: „Du musst die Lehre machen!“ – Ich hatte eine Woche Bedenkzeit und mich dafür entschieden. Ich war mir nicht sicher, weil Deutsch für mich noch schwierig ist, er wollte mich unbedingt als Lernenden in seinem Betrieb haben.
Die Arbeit in der Konditorei, das ist mein Beruf, den ich in Syrien 20 Jahre ausübte. Mein Vater hatte eine Patisserie, nach der Grundschule begann ich dort zu arbeiten. Aber ich habe keine Papiere, kein Diplom, und so lerne ich hier Bäcker und kenne dann beide Berufe: Bäcker und Confiseur.
Ich komme aus Nigeria und bin dort Student gewesen. Diese Ausbildung zum Bäcker ist schon eine ziemlich grosse Umstellung.
Wie findet ihr Unterstützung für die Lehre?
Jeden Donnerstag gehe ich nach der Arbeit zu rheinspringen, wo ich an meinem Deutsch weiter lerne und Hilfe bei den Hausaufgaben bekomme. – Das ist gut so!
Bei mir ist es ähnlich. Jede zweite Woche bekomme ich Unterstützung in Deutsch, Mathe und Themenunterricht.
Im Betrieb kann ich mich gut verständigen. Mein Chef versteht schnell, was ich meine. Schwieriger ist es, mit Büchern und Texten zu arbeiten, diesbezüglich kann ich fast nur in der Schule dazulernen.
Wie lange sprechen Sie schon Deutsch?
Zwei Jahre und 11 Monate, eine kurze Zeit!
Ich beschäftige mich seit gut drei Jahren mit Deutsch. Ich kann verstehen, ich kann lesen, aber die Grammatik ist noch sehr schwierig. Manchmal fehlen die Wörter, Schweizerdeutsch ist sehr schwer zu verstehen.
Bevor ich da in die Schule ging, habe ich viel TV geschaut und ein Blatt auf den Tisch gelegt. Immer, wenn ich etwas nicht verstanden hatte, schrieb ich es auf. Dasselbe nun im Betrieb, wo eine Zeitung aufliegt. Ich nehme die Zeitung und versuche zu lesen. Begriffe, die ich nicht kenne, notiere ich und schlage sie dann abends mit dem Handy mit einem Arabisch-Deutsch-Diktionär nach. So erweitere ich meinen Wortschatz.
Transkript des Gesprächs mit
Funktion: Lernende Attestausbildung Bäcker (2)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Das Interview findet im Rahmen des Berufskundeunterrichts statt – zu zweit. Zur Unterscheidung sind die Antworten des einen Jugendlichen in schwarz, die des andern farbig gehalten.
Welche Schwierigkeiten waren zu überwinden auf dem Weg zu einer Lehrstelle?
Ich habe meine Lehrstelle über das Praktikum gefunden. Letztes Jahr arbeitete ich in dieser Bäckerei als Praktikantin.
Mein Stiefvater geht regelmässig in diese Bäckerei einkaufen – er gab mir den Tipp, mich dort zu bewerben. Darauf habe ich angerufen und durfte eine Schnupperlehre machen. Es hatte gegenseitig gut gepasst, im Anschluss ans Schnuppern wurde mir die Lehrstelle zugesagt. Dann habe ich dort das Praktikum begonnen.
Bei mir ist es ähnlich verlaufen. Ich habe ein Jahr lang ein Praktikum in einer Bäckerei gemacht und bekam dann die Lehrstelle angeboten.
In der Unterrichtssequenz vorhin sind anspruchsvolle Begriffe vorgekommen. Wie kommt ihr mit dem Deutsch zurecht?
Eigentlich ganz gut. In den Büchern verstehe ich nicht immer alles. Deutsch dazulernen im Betrieb? – Eher nein. Dort spricht man Schweizerdeutsch. Ich verstehe es schon, gebe aber auf Hochdeutsch Antwort. Mit den Kolleginnen ebenso.
Ich bin von Basel nach St. Gallen gezogen. Die St. Galler benutzen in ihrem Dialekt Begriffe, die ich nicht verstehe. Ich musste oft nachfragen: „Was haben Sie gesagt?“ und hoffen, die Antwort käme auf Hochdeutsch. Der St. Galler Dialekt ist schwierig.
Mir geht es genau umgekehrt. Den St. Galler Dialekt verstehe ich ganz gut. Wenn aber ein Appenzeller oder Thurgauer in das Geschäft kommt, muss ich oft nachfragen oder die Person bitten, auf Hochdeutsch zu antworten.
Wie kommt ihr mit den körperlichen Anstrengungen zurecht?
Ganz gut. Es sind schon lange Arbeitstage und man ist immer auf den Beinen. Das frühe Aufstehen ist gewöhnungsbedürftig. Aber ich schaffe es noch, am Abend ins Fitness zu gehen.
Eines der meistgenannten Argumente ist: Wenn im Betrieb ein freundliches Klima vorherrscht und man als Lernender sich wohl fühlt, dann ist man als Jugendlichen auch bereit, viel zu leisten und schwer Annehmbares zu akzeptieren.
In Basel hatte ich einen Job im Verkauf und hatte sehr Probleme mit dem Arbeitsteam. Ich redete mir dann ein, Kopfschmerzen zu haben, so dass ich nicht zur Arbeit gehen musste. – Hier in St. Gallen passt alles sehr gut. Kopfschmerzen? – Die habe ich noch gelegentlich, vor allem abends nach einem strengen Arbeitstag oder vom frühen Aufstehen, aber ich stecke sie weg und gehe trotzdem gerne zur Arbeit. Wenn die anderen am Arbeitsplatz schlecht drauf oder sauer sind, dann werde ich es auch. Aber auch das Umgekehrte gilt: Die Freundlichkeit der Mitarbeiter steckt mich an.
Bei uns sind sie oft sauer am Morgen oder haben üble Laune. Es ist nicht wegen der morgendlichen Frühe, kommen diese Mitarbeiter wegen einer Bestellung zu mir, dann sind sie zumeist sehr laut. Ich verstehe nicht, warum sie immer schreien müssen. Gut, sie können mal nervös sein oder sind sonst nicht gut drauf, dann kann ich das Schreien nachvollziehen, aber im Geschäft sollte man wissen wie sich zu benehmen. Nur weil ich einen schlechten Tag habe, muss ich deswegen nicht die anderen anfahren. – Man kommt gut gelaunt in den Betrieb, und wenn dann wieder die einen beginnen herumzuschreien, dann weiss man, der Tag ist gelaufen. Das ist unangenehm.
Wie gehen Sie mit solch einer Situation um?
Meine beste Kollegin arbeitet im selben Betrieb. Ich kann mit ihr einige Worte wechseln, wir verstehen uns sehr gut, und dann geht es.
In meinem Betrieb habe ich auch einen guten Kollegen, der gut mit dem Anschreien umgehen kann. Ich gehe dann zu ihm und er sagt, dies sei nicht persönlich gemeint, diese Person hätte halt wohl einen schlechten Tag erwischt. – Mich nerven solche Umgangstöne, der Kollege kann mich aber gut auf den Boden bringen, so dass ich es wegstecken kann. Es hilft ungemein, einen guten Kollegen im Betrieb zu wissen, leider wird dieser in drei Monaten den Betrieb verlassen.
Gibt es im Betrieb Unterstützung, wenn etwas nicht so gut läuft, zum Beispiel in der Berufsschule?
Ich kann schon zu meinem Vorgesetzten gehen, aber es fällt mir nicht leicht. Wenn ich mich von einer Mitarbeiterin unfair behandelt fühle, dann gehe ich deswegen nicht gleich zu meinem Chef, da ich denke, es würde die Situation untereinander eher verschlimmern.
Bevor ich meinen Chef anspreche, rede ich mit meiner Mutter. Sie hat ein eigenes Geschäft und kann mir Auskunft geben, ob mein Chef mir den gewünschten Ferientermin ablehnen darf. Oft weiss ich nicht, was zum Beruf gehört und was nicht, z.B. Sonntagsarbeit. Fühle ich mich unfair behandelt gehe ich zuerst zum direkten Vorgesetzten, bevor ich mit meinem Chef rede. Wobei die „Lösungen“ meistens so aussehen, dass ich die Anordnung trotzdem befolgen muss. Mein Chef argumentiert zumeist so: „Entweder du kommst oder du gehst!“ – Und dann weiss ich, woran ich bin.
Transkript des Gesprächs mit…
Funktion: Lernende Attestausbildung Bäcker (2)
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Das Interview findet im Rahmen des Berufskundeunterrichts statt – zu zweit. Zur Unterscheidung sind die Antworten des einen Jugendlichen in schwarz, die des andern farbig gehalten.
Wie haben Sie Ihre Lehrstelle gefunden?
Mein Klassenlehrer in der Oberstufe organisierte für jeweils donnerstags Praktikums-, bzw. Schnupperstellen für die ganze Klasse. Im ersten Quartal schnupperte ich als Koch, was mir mässig gut gefallen hat.
Im zweiten Quartal arbeitete ich in der Bäckerei X, wo ich mich von Beginn weg wohl gefühlt habe. Nette Leute dort, der Lehrmeister war nett, es gefiel mir gut. Ich habe dann die Lehrstelle bekommen und arbeitete auch im dritten und vierten Quartal weiter in dieser Bäckerei, jeweils am Donnerstag.
S. bestätigt auf Nachfrage, wie wichtig es für ihn sei, am Arbeitsplatz gut aufgenommen zu werden.
Bei mir lief es in der Schule nicht so gut, ich hatte schlechte Noten. Irgendwann habe ich mich entschieden, ins Berufsinformationszentrum BIZ zu gehen um Berufe kennen zu lernen, die wir in der Schule nicht angeschaut hatten und um festzustellen, welche Richtung zu mir passen würde. Es stellte sich heraus, dass der Bereich Nahrung gut zu mir passen würde, worauf ich in Bäckereien schnupperte und mich bewarb. Schliesslich hatte ich vier Angebote, wo ich die Lehre hätte machen können und musste mich entscheiden.
Gleich vier Angebote? Sie müssen einen hervorragenden Eindruck beim Schnuppern gemacht haben?
Ich erinnere mich, dass mir die Arbeit wie Ferien vorgekommen ist. Alles lief leicht von der Hand. Ich habe gemerkt, dass ich so genügend Zeit habe um auch für die Schule zu lernen – da habe ich einiges nachzuholen – und im ersten Semester an der Berufsfachschule ist es nun auch sehr gut herausgekommen!
Ich habe meine Lehrausbildung direkt nach der Oberstufe beginnen können. Nun sind zwar mehr Aufgaben dazu gekommen und ich muss nun auch früh beginnen, aber der Eindruck bleibt, dass mir die Arbeit leicht fällt. – Körperlich ist die Arbeit schon streng, 4 Tage arbeiten und einen Tag Schule. Anfangs waren die Beine vom langen Stehen abends sehr müde, aber man gewöhnt sich daran.
Bei mir war es auch so. Abends nur noch duschen und dann aufs Bett liegen, so müde war ich!
Wie findet ihr Unterstützung, wenn es mal nicht so gut läuft im Betrieb?
Ich kann meinen ehemaligen Klassenlehrer fragen, der mich weiterhin unterstützt. Bei mir ist nun im Betrieb eine Situation eingetreten, wo ich mit dem Chef zusammengesessen bin, dabei habe ich auch meinen Vater beigezogen. Ich habe den Eindruck, ich werde nicht genügend gut ausgebildet. Wenn ich Fragen stelle, werde ich abgewiesen. Der zuständige Lehrmeister, der nicht der Chef meines Betriebes ist, redet nicht gerne mit mir und so bekomme ich zu wenig praktisches Wissen mit.
Das braucht Mut, seinen Vorgesetzten auf den Lehrmeister anzusprechen!
Ich habe mich zuerst mit meinem Klassenlehrer und meinem Vater besprochen, die mir dieses Vorgehen empfohlen hatten. Das Problem sei wichtig, meinten sie, wenn ich nichts machen würde, dann würde ich mich immer weniger wohl fühlen und es könnte sich auf die Gesundheit schlagen. So habe ich dann meinen Mut zusammengenommen und den Chef um ein Gespräch gebeten. Im Nachhinein war es gar nicht so schlimm. Die Situation hat sich darauf gebessert.
Dieses Vorgehen könnte ein Modell sein für andere schwierige Situationen?
Ja, ich denke schon.
Ich habe im Betrieb noch keine Probleme gehabt. Ja, es gibt eine Ausnahme, die nicht so nett ist wie die anderen. Dabei handelt es sich um einen Lernenden, der in einem halben Jahr seine Lehre beendet und weggehen muss. Er hat keine Anstellung im Betrieb bekommen – so wird sich dieses Problem von selbst lösen.
Zukunftspläne?
Nach der Lehre möchte ich noch einige Monate arbeiten können und dann den Militärdienst leisten. Was danach kommt, ist noch offen. Weiter als Bäcker arbeiten, eventuell nach Deutschland ziehen um dort zu leben und Arbeit zu finden.
Bei mir ist auch das Militär im Vordergrund. Danach würde ich gerne einige Jahr im Beruf arbeiten und versuchen, etwas Geld auf die Seite zu bringen. Vielleicht mache ich dann noch eine Lehre, mich würde etwas in Richtung Mechaniker interessieren.
Die Einsicht ist gewachsen, dass man etwas lernen muss und eine Ausbildung braucht, wenn man im Beruf vorwärtskommen möchte. Früher hatte ich schlechte Noten in der Schule und merke jetzt, dass ich in der Berufsschule bestehen kann, wenn ich mir die Zeit nehme um zu lernen. Das gibt Auftrieb um weiterzumachen.
Um nochmals nachzuhaken: In welchem Schulmodell fand dieser eine Praktikumstag pro Woche statt?
In der Oberstufe von St. Margrethen, Kanton SG. Es war aber nicht so, dass dieses Modell in der ganzen Schule praktiziert wurde, nur mein Klassenlehrer machte es so. Am nächsten Tag war jeweils wieder ein normaler Schultag, deswegen musste ich erst um 5 Uhr, nicht wie jetzt um 3 Uhr, in der Backstube anfangen.
Transkript des Gesprächs mit…
Funktion: Lernende Fachfrau Betreuung Kinder
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1. Was sind für mich die grössten Schwierigkeiten, die in der Lehre zu überwinden sind?
Das Berufliche und Schulische, sowie das Private unter einen Hut zu bringen, da ich viele Aufgaben in der Kita habe aber auch viele Prüfungen in der Schule. Da leidet meine Freizeit öfters darunter. Daher finde ich es sehr anspruchsvoll, diese 3 Sachen unter einen Hut zu bringen, ohne dass ich die Freundinnen und Familie nicht vernachlässige.
2. Nenne die wichtigsten Faktoren (Gründe), die mir helfen, die Lehre zu bestehen.
Die Kinder in der Kita. Denn egal wie es mir geht oder was für ein Stress ich habe, zaubern sie mir immer ein Lächeln ins Gesicht und muntern mich auf, wenn ich mit ihnen was mache oder sie um mich herum sind.
Die Aussichten in der Zukunft sind mir ein Ansporn, immer wieder weiter zu machen und zu kämpfen und zu lernen. Denn ich halte mir vor Augen, dass die Ausbildungszeit nur noch ein Jahr dauert, und dann kannst du arbeiten ohne Schule. Und das unterstützt mich schon sehr fest und motiviert mich auch weiter zu machen.
Fallbeispiele aus einem Brückenangebot (Coaching)
Die folgenden Fallbeispiele sind anonymisiert, die Namen also frei erfunden.
Fall Ardita
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Ardita, 20, ist vor eineinhalb Jahren von Mazedonien in die Schweiz gezogen. In dieser kurzen Zeit erwarb sie sich beachtliche Deutschkenntnisse. Es gelingt ihr eine Praktikumsstelle zu bekommen, in der Hauswirtschaft eines Pflegeheims. Ardita möchte Dentalassistentin werden. In ihrem Heimatland besuchte sie während drei Jahren eine Schule mit medizinischer Ausrichtung – Arditas Überlegung ist, darauf aufzubauen um das bisher Gelernte dereinst anwenden zu können.
Zu diesem Zeitpunkt waren im Lehrstellennachweis 18 offene DA-Stellen im ganzen Kanton SG verzeichnet, nicht eben viel, wenn man bedenkt, dass die Nachfrage nach dieser Ausbildung sehr hoch ist.
Trotzdem bleibt Ardita an ihrem Wunschberuf kleben, Alternativen ernsthaft zu prüfen ist sie nicht bereit. Belege für die begonnene Ausbildung in Mazedonien bringt Ardita nicht bei, sie nimmt auch keinen Dokumente mit, als sie in den Herbstferien dort zu Besuch weilt.
Eine Absage nach der anderen trifft ein und Mitte November wird eine Standortbestimmung durchgeführt. Welche Ressourcen, Fähigkeiten und Kenntnisse kann Ardita in die Waagschale werfen und in welchen Branchen/Stellen hätte sie eine Chance dem Anforderungsprofil zu genügen? Eine Erkenntnis daraus: Ardita könnte sich auch einen pflegerischen Beruf vorstellen, hat aber noch nie geschnuppert. Am einfachsten könnte Ardita dies in ihrem Praktikumsbetrieb aufgleisen, so eine Folgeüberlegung. Tatsächlich spricht Ardita ihre Vorgesetzte darauf an und organisiert eine Schnupperlehre in der Pflege. Sie erfährt, dass sogar noch eine Lehrstelle offen ist und darf sich abstützend auf die Erfahrung, die der Betrieb mit ihr als Praktikantin gemacht hat, durchaus Chancen ausrechnen.
Nach dem Schnuppern schwärmt sie begeistert vom Beruf Fachfrau Betreuung Senioren, bzw. von der zweijährigen Attestausbildung Assistentin Gesundheit und Soziales. Es gelang ihr offensichtlich einen guten Kontakt zu den Senioren herzustellen und bekam gute Rückmeldungen.
Bei der letzten noch offenen Bewerbung für Dentalassistentin traf ebenfalls eine Absage ein. Darauf verlor Ardita mehr und mehr ihre Motivation um eine Ausbildungsstelle zu finden. Sie versteifte sich wieder auf ihren ursprünglichen Berufswunsch und schien nicht wahrnehmen zu wollen, dass ihre diesbezüglichen Bewerbungen lediglich zu einem Vorstellungsgespräch und lauter Absagen geführt hatten und nun keine offenen Stellen mehr ausgeschrieben waren. Auch eine Ausbildung in einem Pflegeberuf schien nunmehr keine Option zu sein, Ardita verfolgte diese Schiene nicht mehr weiter.
Die Erkenntnisse der Standortbestimmung wurden von ihr widerrufen, sie vermochte keinen Weg zu erkennen, der aus der Sackgasse führen würde. Das Gespräch mit ihr zielte darauf ab, den Einstiegsschritt in die Berufswelt so zu gestalten, dass die erste Stufe realistisch gewählt und machbar sein würde.
In der Anschlusssitzung präsentierte sie als Berufsalternative den Beruf Fachfrau Betreuung Kinder. Just den Beruf, wo ohne Jahrespraktikum keine Lehrstellen vergeben werden! Es schien fast, als ob Ardita „beweisen“ wollte, dass es für sie unmöglich sei, ins Berufssystem einzusteigen.
Fall Monica
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Monica ist eine aufgestellte, vielleicht schon hyperaktive junge Frau. Ihr Äusseres immer aufgetakelt ist sie der kommunikative Brennpunkt in der Klasse. Sie nimmt unterstützendes Coaching gerne in Anspruch, und wenn sie um einen Termin bittet, dann gibt sie diesem die oberste Dringlichkeitsstufe, hat aber selbst ihre Unterlagen nicht dabei. – Femme fatale.
In beruflicher Hinsicht weiss sie nicht, was sie will. Mal ist ein pflegerischer Beruf der absolute Hit, zwei Wochen später will sie davon nichts mehr wissen.
Bewerbungen werden verfasst für eine Lehrstelle in einem Altersheim für die dreijährige Ausbildung Fachfrau Betreuung. Die zweijährige Attestausbildung, die eher ihren Schulleistungen entsprechen würde, komme nicht in Frage, meinte sie. Monica bekommt Gelegenheit zum Schnuppern. Sie macht einen guten Eindruck, wie sie mit den Senioren umgeht und praktisch zulangen kann, wird aber wegen ihres Leistungsausweises abgelehnt.
Gemeinsam wird ein Vorgehensplan festgelegt, der auch Berufsalternativen beinhaltet. Doch bei der Umsetzung klemmt es. Sie hält Abmachungen nicht ein, „vergisst“ ihre Unterlagen abzuspeichern, lässt Wochen verstreichen, bis sie möglichen Betrieben telefoniert.
Damit konfrontiert, beginnt Monica über ihre Familie zu sprechen. Sie lebt nach der Trennung der Eltern beim Vater, ihr Bruder, mit dem sie ein inniges Verhältnis hatte, bei der Mutter. Der Vater sei beruflich sehr stark unter Druck und erwäge nun, mit seiner Freundin eine gemeinsame Wohnung zu beziehen. Monica hat ständig Streit mit ihm und sie fände keine Gelegenheit, wo er ihr mal in Ruhe zuhören würde.
Die Erfahrungen beim Schnuppern und Bewerben führten bei Monica zur Einsicht, sich nun eine geeignete Attestausbildung zu suchen.
Zuhause eskaliert die Situation. Es kommt zu einem Gewaltausbruch zwischen ihr und ihrem Vater, sie will nicht mehr dorthin zurück und die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde ist im Fall involviert. In der Folge wird eine Suchtpräventionsstelle beigezogen, da Monica nach ihrer Aussage ihr Kiffen nicht mehr im Griff habe.
An dieser Stelle schliesst die Schilderung von Monica. Sie brach den Besuch des Brückenangebotes ab.
Fall Sebastian
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Sebastian ist ein grossgewachsener junger Mann, der etwas zögerlich spricht und sich die Worte erst im Mund zurechtlegen muss. Er besuchte die Sekundarschule, konnte sich aber bis zum Schluss der Volksschule nicht für einen Beruf entscheiden und besucht nun ein Brückenangebot.
Sebastian ist handwerklich geschickt, in der Freizeit „chlüttert“ er gerne in der Werkstatt seines Vaters. In den letzten Sommerferien ist in ihm der Wunsch gereift, Polymechaniker oder Konstrukteur zu werden. Eine Bewerbung hat Sebastian noch nie geschrieben.
In der nächsten Sitzung bringt er einen Entwurf für ein Bewerbungsschreiben mit. Dieses ist gespickt mit komplizierten, verschachtelten Sätzen. – Es ist wie eine Metapher für Sebastians Schritt in die Berufswelt. Seine Leistungen, sein schulischer Ausweis sind auf einem guten Niveau, wenn es aber darum geht, sich zu präsentieren und ein Gegenüber von sich zu überzeugen, dann verstrickt sich Sebastian in unüberblickbaren Windungen.
Entsprechend wird Sebastian im Unterstützungsangebot Coaching auf Gesprächssituationen mit Vorgesetzten und seine Selbstdarstellung trainiert – was er bereitwillig mitmacht.
Von da an geht es Schlag auf Schlag. Er bekommt einige Schnuppertermine von interessanten Betrieben, er darf sich vorstellen und hat sich am Ende drei mögliche Lehrstellen erarbeitet.
Fall Alina
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Alina spricht Portugiesisch als Muttersprache und ist vor 10 Jahren in die Schweiz gekommen. Sie möchte einen pflegerischen Beruf ergreifen und mit Beginn des Schuljahres eine Praktikumsstelle in einem Seniorenzentrum. Drei Monate Probezeit, wenn es gut läuft, winkt am Ende des Praktikums eine Lehrstelle.
Auf Versprechungen möchte sich Alina nicht verlassen und beginnt ihre Bewerbungsunterlagen aufzubessern um sich auch anderswo zu bewerben. Alina möchte direkt den EFZ-Beruf Fachfrau Gesundheit erlernen, was vom schulischen Leistungsausweis her etwas hoch gegriffen zu sein scheint. Am Ende der Sitzung vereinbaren wir, sie solle einen Multicheck-Test absolvieren, damit sie im besten Fall sich über ein genügendes Leistungsniveau für die dreijährige Grundausbildung ausweisen könne. Gleichzeitig soll sie aber auch im Praktikumsbetrieb die Option Lehrstelle nicht aus den Augen verlieren.
Was nun folgte, war ein unsäglicher Marathon von Hinhaltungen und Verzögerungen. Die auswärtigen Bewerbungen führten zu einer möglichen Lehrstelle, allerdings verknüpft mit einem weiteren Praxisjahr. Im eigenen Betrieb hatte sie während 6 Monaten ausschliesslich Hauswirtschaftsdienste geleistet, endlich teilte ihre Vorgesetzte sie in die Pflege ein um auch gleich ihre Leistung in der Pflegepraxis zu beurteilen. Es vergingen noch weitere zwei Monate, dann durfte Alina strahlend von der erhaltenen Lehrstelle berichten.
Faktoren, die aus der Sicht von Alina ausschlaggebend waren: Zum einen die vermittelte Haltung des Dranbleibens und Nichtaufgebens, die Alina Mut machten ihren Weg weiter zu verfolgen. Zum andern fühlte sie sich gut unterstützt, was ihrem Selbstwertgefühl gut tat und ihr – nebst spezifischen Übungen – half, ihre Schüchternheit zu überwinden. Zuletzt erwähnte sie, dass sie an den stets neuen Schwierigkeiten, die sich ihr in den Weg stellten, wachsen konnte. – Dies zeigte sich als sie die Führung des Hauses bat, ihre Lehre in einem anderen Stockwerk bei einem anderen Stationsleiter (als der ihres Praktikums) beginnen zu dürfen, da ihr Vertrauen in ihn durch den langatmigen Bewerbungsprozess gelitten habe.
Fall Alma
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Alma ist eine Kurdin, die in der Schweiz aufgewachsen ist und hierzulande die Schulen besucht hat.
Sie ist eine schnelldenkende, fröhliche Jugendliche, sie hat eine Praktikumsstelle gefunden in einem Geschäft mit Modeschmuck, wo sie im Verkauf wie auch für Backoffice-Arbeiten eingesetzt wird.
Ihr Wunschberuf ist Kauffrau B, ist sich aber nicht sicher, ob sie mit ihren Schulleistungen den Anforderungen genügen kann. Die Berufsberaterin meinte, die Schulnoten würden nicht reichen, Alma hat aber im Stellwerks-Test Deutsch einen hohen Punktewert erreicht. Sie deutete zudem an, zur Schule ein etwas gespanntes Verhältnis zu haben: „Mein Verhalten war davon abhängig, was für ein Verhältnis ich zur Lehrperson hatte!“ – Sie sollte ausprobieren können, wie ihre Chancen auf dem Lehrstellenmarkt wären. Daher wurde ein Stufenplan vereinbart. In den kommenden Wochen bis nach den Herbstferien soll Alma sich auf den Beruf Kauffrau B fokussieren. Ihre Bewerbungen wurden auf ein gutes Niveau gebracht und damit war sie bereit.
Alma ging mit Eifer und viel Durchhaltevermögen ans Werk und graste alle in Frage kommenden KV-Stellen ab. Sie kam zweimal in die engere Wahl, das war‘s dann.
Nun war Alma bereit, sich mit Alternativen auseinanderzusetzen, wobei Fachfrau Gesundheit und Detailhandel ihre beste zweite Wahl waren. Gefunkt hat es dann beim Schnuppern in einem auf Grosskunden spezialisierten Detailhändler. Ihr gefiel die Lebhaftigkeit des Betriebs und wie die Mitarbeiter ein gut zusammenarbeitendes Team bildeten. Sie sagte zu und unterschrieb den Lehrvertrag.
Rückblickend formulierte Alma, ihr habe in diesem Prozess die Sorgfalt beim Erstellen der Bewerbungsunterlagen geholfen, die individuell auf sie zugeschnitten worden waren. Das Bemühen um Qualität hat ihr eigenes Bewusstsein dafür geschärft und erleichterten ihr die nachfolgenden Aktionen, wie das Anschreiben der Betriebe. „Früher war ich wie gelähmt im Wissen um ungenügende Unterlagen!“, meinte Alma.
Fall Fatim
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Fatim ist erst im Laufe des Schuljahres zum Brückenangebot gestossen. Er ist ein Schüler, der leistungsmässig am unteren Rand der Realschule angesiedelt ist. Im Gespräch gibt er sich wortkarg, was aber damit zu tun hat, dass er nur über einen recht begrenzten Wortschatz verfügt und sich schlecht ausdrücken kann.
Fatim hat eine Praktikumsstelle im Detailhandel bei einem Grossverteiler bekommen – für ihn ein wichtiger Schritt, um die Gelegenheit zu packen, sich über die praktische Arbeit zu empfehlen.
Im Praktikum läuft aber nicht alles nach Wunsch, Fatim befürchtet die Probezeit nicht zu bestehen und fragt um Rat. Die ihm zugewiesene Mitarbeiterin machte, so Fatim, immer wieder abschätzige und entwertende Bemerkungen in seine Richtung. Er lasse sich doch nicht als „Tubel“ bezeichnen. - Klar mache er manchmal Fehler und sei nicht schnell genug beim Einräumen der Lieferungen. Er habe sich aber in diesen Punkten seit Beginn markant steigern können. Wenn besagte Mitarbeiterin ihn bewerten würde, käme sicher nichts Gutes dabei heraus.
Schnell war klar, dass Fatim das Gespräch mit seinem Vorgesetzten suchen müsste um korrekte Behandlung und Respekt von dieser Mitarbeiterin einzufordern. – Behutsam wurde Fatim auf ein solches Gespräch vorbereitet, bis er sich sicher genug fühlte, um es führen zu können.
In der nächsten Sitzung strahlte Fatim übers ganze Gesicht. Er habe den Mut aufgebracht und konnte sachlich die Fakten über die Bemerkungen der Mitarbeiterin auf den Tisch legen. Sein Vorgesetzter versprach sich um die Angelegenheit zu kümmern und bestätigte ihm, dass solch abwertende Verhaltensweisen nicht geduldet würden. Gleichzeitig nutzte er das Gespräch um über Fatims Eindrücke zu sprechen. Sein Tempo und sein Kommunikationsverhalten seien noch zu verbessern. Wie? – Darüber möchte Fatim sprechen und einen Aktionsplan aufgleisen, jetzt wo der Knoten, der ihn belastete, gelöst war.
Fall Lara
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Laras Eltern haben sich vor kurzem getrennt. Ihre Mutter lebt in der Nähe von Bregenz (A), wo Lara die Schulen besucht hat. Ihr Vater arbeitet in der Schweiz, Lara wohnt bei ihm, die beruflichen Chancen wären in der Schweiz besser, so ihr Vater.
Lara ist eine intelligente, junge Frau, die ein gutes Empathievermögen aufbringt. Ihr Plan ist es, eine pflegerischen Beruf zu erlernen und als gute Ausgangsposition hat sie eine Praktikumsstelle akquirieren können in einem grösseren Alters- und Pflegeheim. Die Arbeit dort macht ihr Freude, sie bekommt gute Feedbacks und man lässt sie selbständig verantwortungsvolle Arbeiten in der Dementenabteilung ausführen. - Gut aufgegleist, und doch durchläuft Lara eigentliche Krisen.
Im Praktikumsbetrieb bleibt lange unklar, ob eine Lehrstelle ausgeschrieben wird. Lara bewirbt sich daher von Anfang an in externen Betrieben. Die erste Krise macht sich durch häufige krankheitsbedingte Absenzen bemerkbar. Im Gespräch zeigt sie grosse Zweifel, ob der Wechsel von Bregenz in die Schweiz richtig war. Lara vermisst ihre Freunde und Schulkollegen und denkt über einen Abbruch des Experiments „Ausbildung in der Schweiz“ nach.
Zwei Monate später – Lara macht in der Schweiz weiter – bekommt sie von ihrem Praktikumsbetrieb eine Absage bezüglich Lehrstelle. Ihre Bewerbung sei zu spät eingegangen. Zeitgleich bekommt ihre Mutter ernsthafte gesundheitliche Probleme. Lara kann eine Woche schnuppern gehen in einem anderen Seniorenzentrum.
Anfangs Dezember hat Lara die Qual der Wahl: Zwei Ausbildungsbetriebe haben ihr zugesagt, in ihrem Praktikumsbetrieb solle nun ebenfalls eine Lehrstelle frei werden.
Eine dritte Krise tritt im Frühling ein, als eine Mitarbeiterin im Praktikum ihr in einer Phase hoher Betriebsamkeit an den Kopf wirft, sie denke, Lara sei nicht für den Beruf Fachfrau Gesundheit geeignet. Selbstkritisch hinterfragt Lara diese Äusserung: „Kann ich in Stresssituationen meine Leistung bringen?“
In der Folge wird das Thema Stress, Stressbewältigung und geeignete Coping-Verfahren bearbeitet, was Lara die Sicherheit gibt, auch in kritischen Situationen auf ihre eigenen Fähigkeiten vertrauen zu können.
Fall Sandro
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Gespräch mit S.
Du hast erzählt, du habest letztes Jahr eine Lehre als Informatiker begonnen. Was führte zum Lehrabbruch?
Die Lehrstelle war gut, der Betrieb machte keine Fehler. Ich hatte in der Betriebskunde zu wenig gelernt und ungenügende Leistungen erzielt. Als man in Berufsschule und Betrieb dies merkte, versuchte man mich mit einem Lernatelier zu unterstützen. Die Massnahme wäre gut gewesen, sie kam leider zu spät. Ich konnte nicht einfach von einem Tag auf den andern (viel) mehr lernen, ich konnte die Techniken des Lernateliers nicht umsetzen. Dazu kam, dass der Stoff, den ich hätte aufbereiten müssen, in der Zwischenzeit so angewachsen war, dass ich nur noch den Berg sah.
Woran fehlte es denn? Eine Frage der Lerntechnik?
In der Sekundarschule, und auch vorher in der Primarschule, musste ich nie lernen. Ich verfüge über eine rasche Auffassungsgabe und habe mir den Stoff gut merken können. Man übt ja auch in der Schule und das genügte mir.
Ganz anders in der Lehre. Da fühlte ich mich wie ins kalte Wasser geworfen. Eine so grosse Menge an Stoff konnte ich mir nicht mehr in der Schule merken. Es reichte einfach nicht und ich konnte nicht meine Lerntechnik auf Knopfdruck umstellen.
Um was für Lerninhalte handelte es sich denn?
Eigentlich langweilte mich das Thema. Und wenn es langweilt, dann gelingt es mir nicht, die Energie zum Lernen aufzubringen.
Langweilen? – Dabei handelt es sich doch um Informatikwissen, also um genau das, was dich interessieren müsste, wenn du diesen Beruf ergreifst.
Es handelte sich um Grundlagen, wie das Aufsetzen eines PC’s. Dinge, die ich vor der Lehre in der Freizeit oft gemacht habe und die für mich nichts Neues beinhalteten, das langweilte mich.
Nun verstehe ich nicht ganz: Wieso hast du den Stoffberg als unüberwindbar gross betrachtet, wenn es sich inhaltlich um Arbeiten, wie das Aufsetzen, handelte, die für dich Routine waren?
Der Punkt ist der: Wenn ich vor dem Bildschirm sitze und einen Computer neu aufsetze, dann sind mir die einzelnen Schritte klar. Klicke ich etwas Falsches an, dann zeigen sich die Folgen rasch und ich kann einige Schritte zurückgehen und das korrigieren. Als Schulfach in der Berufsschule ist ein ganz anderes Vorgehen gefragt. Statt über Versuch und Irrtum zur Lösung zu kommen, wird erwartet, dass ich das Wissen um die Vorgänge exakt reproduzieren kann. Prüfungen werden in Papierform abgelegt, da kann ich nicht über einige Fehl-Klicks zur Lösung kommen. Ich muss auf Anhieb die richtige Lösung treffen.
Fall Sanja
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Sanja ist eine in der Schweiz geborene junge Frau mit kosovarischen Wurzeln. Zu Beginn des Brückenangebotes hatte sie noch ein sehr breites Spektrum von Berufswünschen, es reichte von Medizinischer Praxisangestellten über Detailhandel bis zu Fachfrau Gesundheit. Auf die Frage, was ihr in ihrem zukünftigen Beruf wichtig sei, antwortete sie: „Immer etwas zu tun haben.“ – In einer ersten Phase wurden die Interessen und Stärken exploriert und Unterstützung beim Schreiben von Bewerbungen gegeben.
Parallel zur Schule arbeitet Sanja in einer Praktikumsstelle in einem Seniorenzentrum. Diese Arbeit gibt ihr vertiefte Einblicke in den pflegerischen Beruf Fachfrau Betreuung Senioren und allmählich vermag sie die Wirkung, die sie auf ihre Senioren macht, einzuschätzen und daraus ihre Stärken abzuleiten und zu formulieren. Obschon in ihrem Praktikumsbetrieb eine Lehrstelle zu vergeben ist, bewirbt sie sich in Spitälern, Sanjas erste Wahl ist nun Fachfrau Gesundheit. Mitte Oktober kann sie im Kantonsspital schnuppern gehen. Einen knappen Monat später bekommt sie am Ende der Probezeit gute Rückmeldungen von ihrem Betrieb, die Chance auf die dortige Lehrstelle ist intakt.
Wochen später bringt Sanja freudestrahlend die Nachricht, sie habe die Lehrstelle im Kantonsspital bekommen.
Fall Simona
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Simonas Fall wird hier nur ausschnittweise widergegeben. Ihr Leistungsniveau entspricht einer durchschnittlichen Realschülerin, Simona ist sportlich aktiv, sie spielt Unihockey und kommt nach einem Lehrabbruch im Gastrobereich in das Brückenangebot.
Simona weiss, in welchem Berufsfeld sie zukünftig tätig sein möchte, sie sucht eine Lehrstelle im Detailhandel und hat eine Praktikumsstelle in einer Familie angenommen. Sie fühlt sich gut unterstützt beim Schreiben von Bewerbungen und lehnt eine weitergehende Unterstützung – nämlich Lehrstellencoaching – ab.
Monate später fragt Simona um einen Termin. Sie gibt einen Überblick über ihre Bemühungen. Ihre vielen Bewerbungen haben zu keinen greifbaren Resultaten geführt, im Gespräch zeigt sie deutlich, dass die Luft etwas draussen ist. Auf den Vorschlag, die nächsten zwei Wochen jede Bewerbungsaktivität ruhen zu lassen, reagiert sie mit: „Das lassen meinen Eltern nie zu!“
In der Folge erweitern wir die zu bearbeitenden Themen und es gelingt, die von eigenen und fremden Erwartungen gesetzten Schranken durchlässig zu machen und den auf ihr lastenden Druck zu mildern.
Die nächsten Schritte stellen sich fast von selbst ein. Simona schnuppert als Malerin, was ihr gut gefällt und diesen Beruf zu einer valablen Alternative macht. Gleichzeitig setzt sie sich mit ihrem Lehrabbruch auseinander und trifft nun die Unterscheidung, welche Faktoren betriebsbedingt und welche berufsbedingt sind. Die Auflösung des Lehrverhältnisses kann sie eindeutig den betriebsbedingten zuordnen, womit der Beruf Köchin ebenfalls in Frage käme.
Über einen Schnupperlehre findet Simona einen Gastrobetrieb, dessen Arbeitsklima sie mag und sie sagt der angebotenen Lehrstelle als Köchin zu.
Die Lehre fängt vielversprechend an. Ein Jahr später wird ihr Lehrvertrag erneut aufgelöst. Der Grund dafür liegt beim Ausbildner, der selbst Angestellter ist und den Betrieb auf eigenen Wunsch verlässt. Sein Nachfolger hat keine Ausbildungsberechtigung, damit war ein Weiterführen der Ausbildung nicht möglich.
Fall Valeria
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Valeria hat ihre Lehre in der Pflege in einem Altersheim nach zwei Jahren abgebrochen. Als Gründe gibt sie an, sie sei wohl zu offen gewesen, man habe ihr mangelnden Respekt vorgeworfen. Sie fühlte sich nicht genügend unterstützt und befürchtete, dass man sie zu wenig auf die Lehrabschlussprüfung vorbereiten würde. So wurde der Lehrvertrag im gegenseitigen Einvernehmen aufgelöst.
Valeria zeigt sich als energische junge Frau, die ihre Ziele klar verfolgt und eine klare, direkte Sprache spricht. Nach dem Lehrabbruch jobbte sie ein halbes Jahr als Hebammenhilfe und ungefähr gleich lang im Vertrieb einer Firma für naturmedizinische Produkte. Nach wie vor ist sie überzeugt, dass das Berufsfeld Pflege, bzw. Gesundheit das ihre sein wird.
Um ihre Berufswünsche zu realisieren und ihr Volksschulwissen etwas aufzufrischen meldet sie sich im Brückenangebot an. Valeria organisiert sich eine Praktikumsstelle in einem Spital.
Valeria lässt viele Bewerbungen von Stapel laufen und bekommt einige Gelegenheiten, sich vorzustellen und sich in einer Schnupperlehre zu präsentieren. Auch an ihrer Praktikumsstelle: Dort bekommt sie trotz guter Beurteilungen eine Absage: „Wir wollen lieber mit einem leeren Glas statt mit einem halbvollen anfangen!“, zitiert Valeria die Stationsleiterin. – Diese Bemerkung schmerzt sie, sie kann nicht nachvollziehen, dass ihre Erfahrungen in der Pflege zu ihrem Nachteil ausgelegt werden.
Der Lehrabbruch scheint wie ein Stigma auf ihr zu lasten. Im Gespräch zeigt es sich, dass darüber zu sprechen ihr grosse Mühe macht. Wenn das Gegenüber beginnt das Gespräch darauf zu lenken, spüre sie, wie ihr die Worte versagen und wie sie dann nach aussen hart wirken würde. – Über ein Kommunikationstraining wird versucht, das Thema Lehrabbruch zu entkrampfen. Ihre Überzeugung und Hingabe für den Beruf Fachfrau Gesundheit wird herausgestrichen und es werden Techniken geübt, das Thema direkt anzusprechen – wie es der Art von Valeria entspricht – ohne aber ihre Gesprächspartner vor den Kopf zu stossen, z.B. mit Begriffen wie „dann habe ich halt die Lehre hingeschmissen!“
Valeria beklagt sich darüber, dass in Vorstellungsgesprächen ihre Mathe-Noten ein Thema seien. Zwar würden selbige tatsächlich ihre Achillesferse bezüglich schulischer Leistungsfähigkeit darstellen, aber Mathe sei in einem Gesundheitsberuf kein Fach hoher Priorität, daher verstehe sie nicht, warum man ihr diesen Mangel vorhält und Absagen gar damit begründet werden.
Valeria spricht von angewandter Mathe im Beruf, wie Sauerstoffberechnung mit einer Formel. Wenn sie sehe wozu die Berechnung diene, dann könne sie dies. Anders sehe es mit Mathe als Schulfach aus, das ihr zu abstrakt sei. – Es zeigt sich, dass Valeria sich selbst unter einen hohen Erwartungsdruck setzt, so hoch, dass sie scheitern muss.
In der Folge gelingt es, über eine realistische Erwartungshaltung und über Techniken um Prüfungsängste zu überwinden, ihre Matheleistungen zu stabilisieren. Nebst weiteren Bewerbungen in ihrem Wunschberuf wird intensiv an Alternativen gearbeitet.
Nach einer Schnupperwoche im Alters- und Pflegeheim X. berichtet sie voller Freude von ihrer Arbeit, vom Kontakt mit den Bewohnern und von der Möglichkeit dort eine Lehrstelle zu bekommen.
Ein Praktikumsbesuch in diesem Betrieb zeigt, dass das Bild, das Valeria von ihrer Arbeit dort zeichnet, von Seiten des Betriebes nicht geteilt wird. Ihr Einfühlungsvermögen gegenüber den Bewohnern wird bemängelt, weiter habe Valeria sich nicht im gewünschten Mass ins Arbeitsteam zu integrieren vermocht.
Mit diesen Aussagen konfrontiert, wird das Stärkeprofil von Valeria nochmals einer Prüfung unterzogen. Eine ihrer grössten Stärken, sei es, in Situationen, wo alles drunter und drüber geht, klaren Kopf zu bewahren und sinnvoll Aktion an Aktion zu reihen. Umgekehrt habe sie wenig Verständnis um auf feine Unterscheidungen der Befindlichkeit von Teammitgliedern oder Bewohnern einzugehen. – Eine Schlussfolgerung zieht Valeria dahingehend, ihre Alternativen zu fördern um eine Grundausbildung abzuschliessen um später dann ihre Stärken in einem Beruf wie Rettungssanitäter oder Polizistin einzubringen.
Einige Wochen später bekommt Valeria eine Lehrstelle zugesagt in ihrer ersten Alternative, nämlich Detailhandel.
Fall Nadja
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Nadja ist eine aufgestellte Jugendliche, die nach einem ersten missglückten Anlauf einer Berufsausbildung sich neu orientiert. Ihre ehemalige Lehrstelle schildert sie als wenig frequentiertes Schuhgeschäft, wo sie öfters nur herumstand und sich langweilte. So entschied sie, die Lehre abzubrechen um etwas in ihren Augen Lebhafteres zu suchen.
Um Zeit zu überbrücken suchte Nadja sich eine Beschäftigung und wurde durch den Rat einer Freundin auf ein Altersheim aufmerksam gemacht. Sie hatte einen pflegerischen Beruf bisher noch nie in Betracht gezogen, die (befristete) Arbeit dort machte ihr aber so viel Freude, dass sie sich ernsthaft überlegte, den Beruf Fachfrau Gesundheit erlernen zu wollen.
Ihre Bewerbungen um eine Praktikumsstelle zu Beginn des Brückenangebots schienen Erfolg zu haben, Nadja durfte schnuppern gehen und sich vorstellen. Im Lehrstellen-Coaching wurde sie auf die Situation Bewerbungsgespräch vorbereitet, vor allem, wie sie ihre Motivation für einen Pflegeberuf kommunizieren könne und wie sie mit dem Malus „Lehrabbruch“ in ihrem Lebenslauf umgehen könne.
Nadja berichtet strahlend, dass sie die Praktikumsstelle bekommen habe. Im Vorstellungsgespräch habe sie sich gut auf die Vorbereitung abstützen können und traute sich, das allzu intensive Herumwühlen bezüglich der Lehrvertragsauflösung abzublocken.
Nun verfolgt Nadja ihre beiden Berufsalternativen: Fachfrau Gesundheit und Kauffrau B. – Die folgenden Wochen bringen nichts Konkretes. Nadja scheint etwas die Geduld zu verlieren, sie wirkt zunehmend müde und lustlos. In den Herbstferien hat sie während drei Wochen ihre Bemühungen sistiert und keine Bewerbung geschrieben.
Das positive Bild der Arbeit im Praktikum bekommt Risse: Nadja würde gemäss Dienstplan zu viele Stunden arbeiten, die Tätigkeit selbst mache ihr schon Freude, aber die Stimmung unter den Mitarbeitern ihrer Abteilung sei schlecht.
Nadja verschickt wieder Bewerbungen für ihre beiden Berufsalternativen. Die Absagen mehren sich. Der November ist bereits verstrichen, womit die Chancen auf eine Lehrstelle als Fachfrau Gesundheit für den kommenden August sehr klein werden.
Damit konfrontiert wird nochmals von vorne begonnen und an Nadjas Interessen und Ressourcen gearbeitet. Zuerst fallen Begriffe wie „Kontakt zu anderen Personen“, „Sinnhaftigkeit“, „Würde gegenüber den Senioren“, dann aber auch „Coiffeuse“ und „Hotelberufe“. Über letztere weiss Nadja nur wenig Bescheid und wird sich Informationen einholen.
Bald darauf verliert sie die Praktikumsstelle, ihr wird vom Betrieb gekündigt. Dieses Ereignis scheint Energien in ihr freizusetzen. Der Beruf Coiffeuse steigt in ihrer Gunst merklich auf. Der niedrige Lehrlingslohn würde sie nun nicht mehr abschrecken, da ihre Mutter diesen aufstocken würde. Um Kauffrau zu werden, hat Nadja eine mögliche Finanzierung einer schulischen Ausbildung abgeklärt. In einem Altersheim kann sie sich noch für eine Lehrstelle als Betreuerin vorstellen.
Nadja wird letztlich eine Lehrstelle als Coiffeuse unterschreiben. Sie ist in mehreren Betrieben in der engeren Auswahl und sie prüft gründlich, ob die Atmosphäre in ihrem zukünftigen Betrieb stimmig ist und die Berufsbildnerin Verständnis aufbringt und bei Schwierigkeiten ihr zur Seite stehen wird.
Fall Tina
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Als Tina das Brückenangebot Vorlehre des GBS in St. Gallen besuchte, hatte sie ein knappes Lehrjahr als Dentalassistentin absolviert, das mit der Auflösung des Lehrvertrages endete. Tina ist eine gepflegte, gross gewachsene junge Frau, sie hebt sich durch ihre freundlichen höflichen Umgangsformen von ihren Mitschülerinnen ab. Im Lehrstellen-Coaching erweist sie sich als gut strukturierte Person, die ihre nächsten Schritte auf dem Weg zu einer passenden Ausbildungsstelle klar benennen kann. Sie möchte eine Lehrstelle im Detailhandel, am liebsten in einer Parfumerie. Die Voraussetzungen dazu bringt Tina mit: Sie war eine mittelstarke bis gute Realschülerin, sie kann leicht auf andere Personen eingehen, sie ist kommunikativ gewandt und weiss sich mit ihren Umgangsformen in erwachsenen Umgebungen gut zu integrieren.
Bald kann Tina sich an verschiedenen Praktikaplätzen vorstellen und erhält eine Praktikumsstelle in ihrem Wunschbereich. Ob daraus eine Lehrstelle werden könnte, ist ungewiss. Der Betrieb bemüht sich um eine Ausbildungsberechtigung im Detailhandel. Tina entscheidet sich weiter nach einer Lehrstelle zu suchen. Sie darf einige Male schnuppern gehen und erhält die Zusage für eine Lehrstelle in einem Modegeschäft. Der Praktikumsbetrieb bekommt die Ausbildungsberechtigung nicht, so entscheidet Tina sich für das Modegeschäft.
Die Auflösung des Lehrverhältnisses war ein Punkt in Tinas Geschichte, dem sie im Gespräch auswich. Während der Coaching-Sitzungen wurde das Thema nur insofern angetippt, als wie es im Bewerbungsschreiben platziert werden solle, damit Tina nicht gleich als Versagerin stigmatisiert würde.
Nun war aber der Zeitpunkt gekommen, wo es angezeigt schien, diesen dunklen Punkt direkt anzusprechen. Einerseits schien der Lehrabbruch sie weiterhin zu belasten und die Gefahr bestand, dass Tina in zukünftigen, ähnlich gearteten Situationen in unproduktiven Mustern gefangen sein würde. Anderseits gelang es im Lauf der Sitzungen ein gutes Vertrauensverhältnis aufzubauen. – „Ich möchte dich auf die abgebrochene Lehre ansprechen. Mir dünkt es wichtig, dass du für dich dieses Thema abschliessen kannst und es dich nicht an der neuen Lehrstelle wieder einholen kann. Möchtest du darauf eingehen?“, so lautete die an Tina gerichtete Frage. Sie war einverstanden und erzählte von ihrer ehemaligen Chefin, die launisch war und ihre Mitarbeiter in ruppigem Ton anging und auf deren Fehlern herumreiten konnte. In einer zweiten Runde wurde ein Perspektivenwechsel angeregt. Gemeinsam wurde ergründet, welche starken Seiten Tina in diesem verunglückten ersten Lehrjahr zeigen konnte und sie schrieb diese als Stichworte auf „Zettel“, die im Anschluss sortiert und gewichtet wurden.
Es ist ihr gelungen, jeden Tag sich neu zu motivieren und mit einer positiven Stimmung in der Praxis zu erscheinen. Tina brachte sich autodidaktisch das nötige Rüstzeug bei um sich der Dauerkritik ihrer gestrengen Chefin zu entziehen. Sie hat von Mitarbeiterinnen gute Feedbacks bekommen und liess sich nicht durch vielen Wechsel bei den Mitarbeiterinnen verunsichern. Als die Spannung an ihrer Ausbildungsstelle sich aber auf ihre Gesundheit auszuwirken begann, überwand Tina ihre Furcht und stand vor ihre Vorgesetzte hin um einen Gesprächstermin zu verlangen.
Die Kärtchen betrachtend konnte Tina erkennen, dass sie in einem schwierigen Lehrverhältnis viele Ressourcen bereitstellen konnte, um die Probleme anzugehen und zu überwinden. Es brach aus ihr heraus: „Ich konnte nie erklären, warum ich aufhörte, niemand hatte das so gesehen wie Sie!“ und sie wurde von einer Welle der Emotionen von Erleichterung überspült.
Obschon Tina durch ihre Mutter und das Amt für Berufsbildung während der Phase der Vertragsauflösung gut unterstützt worden ist, gab sie sich innerlich die Schuld für das Scheitern. Was auch immer sie tat, es genügte nicht. Erst jetzt gelang es ihr, die Ressourcen, die sie abrufen konnte, zu würdigen und als ihre Leistung zu betrachten. So würde sie in einer zukünftigen Situation berechtigte von unberechtigter Kritik wohl zu unterscheiden wissen ohne dass deswegen ihr Selbstwertgefühl beeinträchtigt wird.
Schlussfolgerungen
Schlussfolgerungen
Bei den Aussagen und Argumenten der Interviewpartnern zieht sich wie ein roter Faden der Begriff «Beziehung» durch. Gelingt es, eine tragfähige Beziehung zwischen Ausbildner und Lernendem zu schaffen, fühlt der Jugendliche sich ernst genommen und akzeptiert, dann würde er sich auch für seinen Betrieb einsetzen und seinen Beitrag leisten. Dem Jugendlichen Vertrauen schenken und die Schwierigkeiten der betrieblichen Integration als Investment betrachten, das sich auszahlen würde, so der Grundtenor von Ausbildnern von gefährdeten Jugendlichen.
Diese Schlussfolgerung mag einer Binsenwahrheit gleichen, die immense Bedeutung der Beziehungsebene soll dennoch vor Augen geführt werden. Wie eine Klammer umfasst sie ein Bündel von Erfolgsfaktoren, die dadurch ausgeformt werden können oder eben verkümmern, wo Beziehung von allzu vielen Rissen und Gräben durchfurcht ist.
Betriebe zu finden, die sich als Partner für gefährdete Jugendliche einbinden lassen, die trotz schlechter Zeugnisse und Referenzen das Wagnis eingehen und die Überzeugung leben, dass es gelingen wird, positive Entwicklungen anzustossen, braucht Überzeugungsarbeit. Lehrstellenmarketing ist ein geschönter Ausdruck für die intensive Netzwerksarbeit, die vor allem von den abgebenden und begleitenden Stellen geleistet wird, wie zum Beispiel innerhalb des Case Managements. Die Ressourcen für diese Arbeit sind nach Darstellung der Interviewpartner zu knapp bemessen.
Stichwort Fallbegleitung. Oft wäre es wünschenswert, könnte eine unterstützende Begleitung auch über längere Zeit gewährt werden. Die strukturellen Rahmenbedingungen würden dies verunmöglichen, da beispielsweise mit Beginn einer Lehrausbildung die Zuständigkeit der begleitenden Stelle endet.
Überraschend häufig wurde die unterschiedliche Ausbildungsqualität in den Betrieben bemängelt. Dass Betriebe Lernende kaum ausbilden, und dann kurz vor Ende der Ausbildung den Lehrvertrag auflösen oder Lernende fast ausschliesslich von Lernenden im höheren Lehrjahr betreut werden, soll nicht sein. Die Wahrnehmung des Problems zeigt sich recht unterschiedlich. Hier die Sichtweise, welche die ungenügende Aufsicht über die Lehrbetriebe rügt, da das Argument der Gegenposition, die Aufsichtsbehörde, könne nichts unternehmen, wenn sie erst angegangen wird, wenn die Lehrvertragsauflösung unmittelbar bevorstehe. – Nicht zu vergessen ist der veritable Zielkonflikt in der Thematik. Das Durchsetzen von besseren Ausbildungsstandards bedeutet mehr Auflagen, mehr Ausbildung, mehr Kontrolle, was letztlich manchen Betrieb davon abhalten würde, Lehrstellen auszuschreiben. Und doch scheint man vor dieser Thematik, die nur einen, aber wesentlichen, Teilaspekt im gesamten Berufsbildungssystem darstellt, die Augen zu verschliessen.
Jugendliche hätten weniger «beiläufige» Kontakte zum berufsnahen Umfeld als früher, wird von Gesprächsteilnehmern festgestellt. Sie würden wie im Glashaus aufwachsen, Ferienjobs beispielsweise gäbe es kaum mehr. Damit brechen Kontaktmöglichkeiten weg, die Einblicke in die Arbeitswelt ermöglichten ohne unter dem Label «Berufserkundung» zu laufen, daher «beiläufig» genannt. Mit ihnen geht ein wichtiges Übungsfeld für betriebskompatible Verhaltensweisen verloren. – Wie Gegensteuer geben? – Indem beispielsweise Betriebspraktika organisiert werden, noch früher und intensiver als dies heute schon geschieht. Vielleicht in der Art, wie dies ein Lernender in einer Attestausbildung beschrieb, der in der Oberstufe einen Tag in der Woche in einem Betrieb arbeitete. Oder indem die Eltern eingebunden würden, und Jugendliche sich mehr als heute mit deren Arbeit auseinandersetzen würden.
Attestausbildungen haben die in sie gesetzten Erwartungen nicht vollumfänglich erfüllt. Die Anforderungen sind höher als bei den Anlehren, die sie ersetzten, was sich auch bei der hohen Zahl von Lehrvertragsauflösungen zeigt. Ein zweiter Aspekt betrifft die Durchlässigkeit zur entsprechenden EFZ-Ausbildung. Wegen unterschiedlicher Stoffpläne ist der Übertritt nach der EBA-Ausbildung ins zweite Lehrjahr der EFZ-Ausbildung nicht überall gewährleistet. - Hier sind vor allem die Verbände gefordert, die Inhalte besser abzustimmen und aber auch die Inhalte der EFZ-Ausbildungen zu überprüfen in dem Sinne: Was braucht in eine Grundausbildung gepackt zu werden, damit der Praktiker für seine Berufsausübung gerüstet ist und was gehört dem Bereich der Weiterbildung zugeschlagen.
Als Letztes sei darauf hingewiesen, dass Absolventen von Attestausbildungen in gewissen Berufen Mühe haben, danach eine Arbeitsstelle zu bekommen. Offensichtlich spielt der Markt zwischen Lehrstellenangebot und Nachfrage entsprechender Berufsleute nicht wie gewünscht. So kommt es zu einer Verschiebung der kritischen Nahtstelle von der ersten zur zweiten, also zum Übergang Ausbildung – Berufsarbeit. Wir haben dann zwar mehr Jugendliche, die eine Ausbildung machen, das Ziel des Bundes von 95% ist praktisch erreicht, aber sie stecken danach fest und finden nach ihrem Abschluss keine Arbeit. Dieses Problem scheint noch zu wenig erkannt zu sein. Die bisherigen Lösungsansätze erschöpfen sich darin, durch unterstützende Angebote die Bewerbungschancen zu verbessern. Man wird aber wohl kaum darum herumkommen, die Ausbildungsangebote künftig besser auf die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes abzustimmen, vielleicht gar das eine oder andere Ausbildungsangebot zu streichen. Parallel dazu sollte dem Aspekt der Markttauglichkeit der Berufsausbildung bei der Berufswahl der Jugendlichen mehr Gewicht verliehen werden.
Blicken wir nochmals zurück auf den Versuch eines Erklärungsmodells, auf eine systemische Betrachtung. Die Kernfrage, die dort gestellt wurde, war, wie es gelingt, Jugendliche aus dem Schule-Peers-System herauszuführen, damit sie sich erwachsenen, berufsbezogenen sozialen Systemen öffnen. Erfolgsversprechend erscheint der Weg, den Zugang zu anderen sozialen Feldern zu erleichtern, bzw. das Heraustreten aus der Insel des Schule-Peer-Systems zu fördern. Dabei ist darauf zu achten, wie attraktiv aus der Sicht des Jugendlichen die Anreize gesetzt sind. Während eine systemische Sichtweise davon ausgeht, wenn Jugendliche sich an soziale Felder ausserhalb ihres Schule-Peer Systems andocken können und sich selbst als mitgestaltend in einem grösseren Ganzen erleben, dann würden sie im wörtlichen Sinn be-greifen und ihre Verhaltensweisen angleichen. Anders tönt es, wenn implizit von einem Defizitmodell ausgegangen wird, wie in der Studie von Egger, Dreher & Partner: Entscheidend ist letztlich, dass die Schüler und Schülerinnen entweder eine ausreichende Eigenmotivation mitbringen oder aber vom persönlichen Umfeld dazu gebracht werden, aktiv einen Ausbildungsplatz zu suchen oder zumindest eine Zwischenlösung anzustreben. Ist beides bei einem Schüler oder einer Schülerin nicht gegeben, haben die meisten Kantone keine griffigen Instrumente, um solche Schülerinnen und Schüler zu einem Umdenken bzw. zu einer Verhaltensänderung zu bewegen. (Egger 2007, Seite 58)
Die «griffigen Instrumente» um intendierte Verhaltensänderungen zu bewirken, gibt es nicht, so sehr sie auch herbeigeschrieben werden. In derselben Studie schlagen die Autoren die Abkehr vom Freiwilligkeitsprinzip vor. Nach ihnen sollten Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz oder eine Anschlusslösung haben, flächendeckend erfasst und deren Defizite ausgeräumt werden.
Einig gehe ich und viele der Gesprächsteilnehmer mit Egger, Dreher & Partner, dass das Problem der gefährdeten Jugendlichen bedeutend ist und in Zukunft sich wohl noch verschärfen dürfte. So verlässt Jahr für Jahr eine Kohorte von rund 2’000 bis 2’500 Jugendlichen die obligatorische Schule, welche den Einstieg in eine Ausbildung der Sekundarstufe II oder ins Erwerbsleben dauerhaft nicht schaffen. Sie weisen ein hohes Risikopotenzial auf, wiederkehrend oder dauernd auf Unterstützungsleistungen der sozialen Sicherungssysteme angewiesen zu sein. (Egger 2007, Seite 66)
Die erwähnte Studie betont aber ebenfalls die Notwendigkeit von langfristig ausgerichteten Eingliederungsstrategien auf Fallebene und ist damit in Einklang mit dem Ansatz der systemischen Betrachtung, Verhaltensveränderungen würden über das Andocken an soziale Felder ausserhalb des Peer-Schule Systems erreicht. Hier das Zitat:
Hierfür bedürfte es über mehrere Jahre hinweg koordinierte, langfristig ausgerichtete Eingliederungsstrategien auf Fallebene. Dass es solche Strategien offensichtlich in den meisten Kantonen nicht gibt, liegt unseres Erachtens auch daran, dass sich eigentlich keine Stelle nach dem Übergang I dafür verantwortlich fühlt, Jugendliche mit erheblichen Defiziten in eine schulische oder berufliche Ausbildung zu führen, sofern diese Defizite erwartungsgemäss nicht innert Jahresfrist gelöst werden können. (Egger 2007, Seite 66)
Andocken an soziale Felder, das bedeutet aber auch auf der Ebene «Person» das Verfeinern von Fertigkeiten wie Kommunikationsverhalten, Selbstwert u.a.m.. Wir kehren damit zurück zum Begriff «Beziehung», und schliessen damit einen Kreis.
Wie auch öfters von den Interviewpartnern festgestellt wurde, sind kognitive Fertigkeiten eng verknüpft mit «Beziehung», bzw. den anderen bei der Person angegliederten Erfolgsfaktoren. «Das Fachliche bekommen wir dann schon hin», ist eine typische Aussage dazu. Offenbar folgt bei den betrachteten gefährdeten Jugendlichen der Erwerb sachlichen Wissens dem sozialen Andocken und nicht umgekehrt. Mit anderen Worten: Das Ausräumen von Defiziten im kognitiven Bereich wird nicht gelingen ohne die Verknüpfung an soziale Systeme ausserhalb des Schule-Peer Systems. Und dazu mag es auch Sinn machen, vermeintliche Umwege zu beschreiten, wie die Förderung der kommunikativen Kompetenzen, des Selbstwertes, der Selbstwirksamkeit und des Erwerbs von Strategien in Richtung von positiven Bewältigungsverhalten.
Anhang
Literaturangaben
Häfeli, Kurt und Schellenberg Claudia, Erfolgsfaktoren in der Berufsbildung bei gefährdeten Jugendlichen, Bern, 2009.
Bertschy, Kathrin, Böni, Edi und Meyer, Thomas, "zwischen Ausbildung und Arbeitsmarkt. ," 2007,
Willemse,Isabel; Waller, Gregor; Genner, Sarah; Suter, Lilian; Oppliger, Sabine; Huber, Anna-Lena; Süss, Daniel. "JAMES - Jugend, Aktivitäten, Medien - Erhebung Schweiz". Zürich, 2014.
Luhmann, Niklas; Baecker, Dirk. "Einführung in die Systemtheorie". Heidelberg: Carl-Auer-Systeme-Verl., 2002.
Egger, Dreher & Partner. "Vertiefungsstudie Bildungsangebote im Übergang von der obligatorischen Schule in die Berufsbildung", 2007.
Titelbild: Cajacob
Thesenpapier
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Häufig gestellte Fragen
Was ist das Ziel dieser Arbeit über die Nahtstelle Schule-Beruf?
Diese Arbeit zielt darauf ab, Aufmerksamkeit und Verständnis für "gefährdete" Jugendliche zu schaffen, das Bewusstsein für zukünftige Probleme zu schärfen, den "Originalton" der Befragten zu vermitteln, Einblicke in die Praxis zu geben und mögliche Lösungsansätze aufzuzeigen.
Wer sind die Zielgruppen dieser Arbeit?
Die Zielgruppe sind "gefährdete" Jugendliche, für die der Übergang von der Schule in den Beruf schwierig ist. Dies umfasst auch Jugendliche mit Migrationshintergrund, Flüchtlinge und solche, die Schwierigkeiten haben, eine Ausbildungsstelle zu finden oder eine begonnene Ausbildung abzuschliessen.
Was sind die Erfolgsfaktoren in der Berufsbildung gefährdeter Jugendlicher?
Die Erfolgsfaktoren werden in Mikrosystem (Person und Familie), Mesosystem (Schule, Betrieb, Peers, Beratung) und Makrosystem (gesellschaftliche und wirtschaftliche Faktoren) unterteilt. Besondere Bedeutung wird Faktoren wie Beziehung, gute Umgangsformen und ein hohes berufliches Anforderungsniveau zugemessen.
Was wird unter "Beziehung" im Kontext der Berufsbildung verstanden?
"Beziehung" bezieht sich auf die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen Jugendlichen und Eltern, Lehrpersonen, Ausbildern und Beratern. Eine gute Beziehung kann Schwierigkeiten an anderer Stelle kompensieren und ist entscheidend für den Erfolg in Praktikum und Ausbildung.
Was sind die dynamischen Erfolgsfaktoren?
Die dynamischen Erfolgsfaktoren sind:
- Kommunikative Kompetenzen, Kontakt- und Teamfähigkeit, soziale Kompetenzen
- Gute Umgangsformen, "betriebskompatible" Eigenschaften
- Hoher Selbstwert, Selbstwirksamkeitserwartung, Durchsetzungsvermögen, positives Bewältigungsverhalten
- Gute Beziehung zu Eltern
- Informelles Beziehungsnetz
- Gute Beziehung Lernende–Lehrperson
- Hohe Erwartungen an die Lernenden
- Anregendes Lernklima, positive Leistungsrückmeldungen, Unterstützung
- Gute Beziehung zu Berufsbildenden, Passung Betrieb–Jugendliche
- Gute Beziehung zwischen Klient/innen und beratenden Personen
- Vernetzung und Zusammenarbeit
Welche Rolle spielen die Peers in der Entwicklung gefährdeter Jugendlicher?
Die Rolle der Peers ist ambivalent. Einerseits ist die Schule der wichtigste Ort, um Freunde zu finden. Anderseits kann das Schule-Peers-Sozialsystem den Jugendlichen auch in einem sozialen Ghetto gefangen halten, aus dem sie sich nur schwer lösen können. Alternativen ausserhalb dieses Systems sind daher von grosser Bedeutung.
Was ist das Case Management und welche Rolle spielt es?
Case Management ist ein Unterstützungsangebot für Jugendliche mit Schwierigkeiten in der Berufsbildung. Ziel ist es, die Jugendlichen systematisch zu erfassen, zu begleiten und mit geeigneten Massnahmen zu unterstützen. Es beinhaltet die Koordination verschiedener Stellen und Massnahmen, um die Arbeitsmarktfähigkeit der Jugendlichen zu erhöhen.
Was sind die Herausforderungen bei Attestausbildungen?
Trotz der Absicht, gefährdeten Jugendlichen eine Perspektive zu bieten, weisen Attestausbildungen eine hohe Lehrvertragsauflösungsrate auf. Dies deutet auf eine Überforderung vieler Jugendlicher mit den Anforderungen hin. Zudem gibt es regionale Unterschiede und Unterschiede zwischen den Berufsfeldern.
Welche Rolle spielt die Familie beim Übergang von der Schule in den Beruf?
Die Familie spielt eine entscheidende Rolle. Eine gute Beziehung zu den Eltern, soziale und symbolische Ressourcen sowie ein unterstützendes Umfeld erleichtern den Übergang. Umgekehrt können problematische Familienverhältnisse diesen Übergang erschweren.
Was sind die Herausforderungen für Flüchtlinge bei der Integration in den Arbeitsmarkt?
Flüchtlinge stehen vor besonderen Herausforderungen, darunter Sprachbarrieren, fehlende Bildungsabschlüsse und Traumata. Es ist wichtig, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Sprachkenntnisse zu verbessern und sich beruflich zu qualifizieren.
Welche Bedeutung hat die Persönlichkeit bei der Vergabe von Lehrstellen?
Die Persönlichkeit spielt eine wichtige Rolle. Freundlichkeit, Offenheit, Höflichkeit, Engagement, Zuverlässigkeit und betriebskompatible Eigenschaften können ungünstige Startbedingungen ausgleichen. Betriebe suchen zunehmend nach Jugendlichen, die in ihr Team passen.
Was kann man gegen das schlechte Image von Handwerksberufen tun?
Es ist wichtig, das Ansehen von Handwerksberufen zu fördern und Jugendlichen die vielfältigen Karrieremöglichkeiten aufzuzeigen, die diese Berufe bieten. Es gilt auch den Eltern die Vorteile einer Ausbildung im Handwerk aufzuzeigen. Zudem sollte im Unterricht die Bedeutung dieser Berufe verdeutlicht und die technischen Fertigkeiten der Jugendlichen gefördert werden.
Welche Rolle spielen Praktika bei der Berufswahl?
Praktika sind eine wichtige Möglichkeit, verschiedene Berufe kennenzulernen und praktische Erfahrungen zu sammeln. Allerdings sollten Praktika nicht als billige Arbeitskräfte missbraucht werden. Es ist wichtig, dass Praktika gut betreut werden und eine realistische Vorstellung vom Beruf vermitteln.
Was sollte bei der Unterstützung gefährdeter Jugendlicher beachtet werden?
Wichtig ist, den Jugendlichen mit Wertschätzung zu begegnen, ihre Stärken zu fördern, realistische Ziele zu setzen und ihnen Unterstützung anzubieten, ohne ihnen die Eigenverantwortung abzunehmen. Es ist auch wichtig, ihnen den Zugang zu berufsbezogenen Netzwerken und sozialen Systemen ausserhalb der Schule zu erleichtern.
Welche Schlussfolgerung kann man aus den Fallbeispielen ziehen?
Die Fallbeispiele verdeutlichen, dass der Weg in die Berufswelt für gefährdete Jugendliche oft steinig ist und von zahlreichen Hindernissen geprägt sein kann. Es ist wichtig, die Jugendlichen individuell zu unterstützen, ihnen Mut zu machen und ihnen zu helfen, ihre Stärken zu erkennen und ihre Schwächen zu überwinden.
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- Alfred Cajacob (Author), 2017, Ein Schritt ins Leere? Schwierigkeiten von Jugendlichen beim Eintritt ins Berufsleben, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/377580