Präsidentschaftswahlen in den USA: Ein System mit Demokratiedefiziten ohne Aussicht auf Reform?


Diplomarbeit, 2004

118 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhalt

Einleitung

Teil I: Historischer Ursprung
1.1. Verfassungsväter
1.2. Verfassungskonvent
1.3. Fazit: Präsidentschaftswahlen im Sinne der Verfassungsväter: Ein ungenaues System mit bewusst integrierten und nicht antizipierten Demokratiedefiziten

Teil II: Evolution eines Systems & Wahlen in der Gegenwart
2.1. Evolution
2.1.1 Frühe Schwierigkeiten und der zwölfte Verfassungszusatz
2.1.2 Auswahl der Wahlmänner: Scheinbare Demokratisierung eines Systems
2.1.3 Adams und Hayes: Zwei Präsidenten des Kongresses, nicht des Volkes
2.1.4 Close Calls
2.2. Wahlen in der Gegenwart
2.2.1 Kandidatenauswahl
2.2.2 Geld, Medien und Strategien
2.2.3 Wahlmänner: Ihre Nominierung, ihre Wahl und ein missverstandenes System
2.2.4 Election Night
2.3. Fazit: Evolution mit eingeschränkter Demokratisierung

Teil III: Defizite und Reformdiskussion
3.1. Probleme und Defizite
3.1.1 „Wrong Winner“
3.1.2 Ungleiche Wähler und gefährliche Drittkandidaten
3.1.3 Volkszählung
3.1.4 Wahlbeteiligung
3.1.5 Bevölkerungsgruppen
3.1.6 Unvollständiger Wahlvorgang
3.1.7 Verzerrungen
3.2. Alternativen? Reformvorschläge in der Diskussion
3.2.1 Der „Distriktplan“
3.2.2 Der automatische Plan
3.2.3 Der proportionale Plan
3.2.4 Der nationale Bonusplan
3.2.5 Direkte Präsidentschaftswahlen
3.3. Keine Aussicht auf Reform? Reformversuche und Reformen aus der Sicht des historischen Institutionalismus und ein Ausblick
3.3.1 Der Ansatz
3.3.2 Chancenlose Reformversuche
3.4. Fazit: Erdrückende Defizite und eine Lösung ohne Erfolgschancen

Fazit: Präsidentschaftswahlen in den USA: Ein System mit Demokratiedefiziten ohne Aussicht auf eine sinnvolle Reform

Literatur

Einleitung

Die US-Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 waren wahrscheinlich das engste Rennen um das wichtigste politische Amt der Welt, seit Gründung der USA. Es gibt lange nach der Vereidigung von George W. Bush immer noch viele Diskussionen über den Verlauf dieser Wahl. Diese Diskussionen finden sowohl in der Öffentlichkeit, als auch in wissenschaftlichen Kreisen statt. Dabei lag das Hauptaugenmerk der Medien anfangs auf der umstrittenen Entscheidung des obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten bezüglich der erneuten Auszählung der Wählerstimmen in Florida.

Die mächtigste Demokratie der Welt geriet damals zunehmend in die Kritik. So amüsierte und besorgte es die Menschen in Europa gleichzeitig, dass eine Nation, welche die Demokratie, insbesondere in der Außenpolitik, immer zu einem der heiligsten Güter deklariert, per Gerichtsentscheid herausfinden musste, wer ihr zukünftiger Präsident sein würde.

Natürlich waren auch viele US-Amerikaner der Ansicht, dass diese Ereignisse besorgniserregend sind.

Problematischer als die Unregelmäßigkeiten bei der Stimmzählung in Florida sind jedoch die Defizite des gesamten US-Präsidentschaftswahlsystems. Da wäre zum Beispiel die Tatsache, dass sich die „Florida-Frage“ gar nicht erst gestellt hätte, wenn es in den USA, ähnlich wie z.B. in Frankreich, ein eine direkte Wahl des Präsidenten gäbe. Bei einer Direktwahl hätte Al Gore gewonnen, da er insgesamt einen Vorsprung von fast 540.000 Stimmen aufweisen konnte. Die Abstimmung durch die Wahlmänner sicherte Bush dennoch den Sieg. Hier lag er mit 271 zu 267 vorn.

An dieser Stelle wird schnell deutlich, wie entscheidend ein Wahlsystem sein kann. Hätte die wahlberechtigte Bevölkerung in den USA also die Möglichkeit ihren Präsidenten direkt zu wählen, wäre Al Gore 2000 in das Weiße Haus eingezogen.

Die Frage, ob das US-amerikanische Präsidentschaftswahlsystem noch zeitgemäß ist, stellt sich allerdings nicht nur als Konsequenz auf die Wahl 2000. Schließlich gab es in der Geschichte der Vereinigten Staaten bereits andere Präsidentschaftswahlen, bei denen ein Kandidat in das Weiße Haus einzog, obwohl er weniger Wählerstimmen als sein Kontrahent hatte. Es läßt sich also kaum bestreiten, dass das derzeitige Wahlsystem der USA bei der Wahl des Präsidenten den Wählerwillen nicht immer adäquat umsetzt: „The electoral vote

system creates the possibility that the winner of the popular vote may lose the election“

(Patterson 1999: S.394).

Hauptaufgabe dieser Arbeit wird es sein, die Hintergründe des US-amerikanischen Präsidentschaftswahlsystems auf den verschiedenen Ebenen zu durchleuchten. Erstes Ziel ist es herauszufinden, warum sich die Schöpfer der Verfassung für eine indirekte Wahl des

Präsidenten durch die Wahlmänner entschieden haben. Außerdem stellt sich die Frage, warum die Reformen, die dieses Wahlsystems erlebt hat, offensichtliche Demokratiedefizite bis zum heutigen Tage nicht beseitigt haben und ob die Chance besteht, diese Defizite in Zukunft zu beseitigen.

Der erste Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit dem historischen Ursprung des

Präsidentschaftswahlsystems. Es gilt zu verstehen, unter welchen Rahmenbedingungen und Gedankengängen der zweite, für die Präsidentschaftswahl entscheidende Artikel der US-amerikanischen Verfassung seinerzeit geprägt wurde. Besonders interessant ist in diesem

Abschnitt die Frage danach, warum sich die „Schöpfer der Verfassung“ nicht für eine direkte Wahl des Präsidenten entschieden haben, sondern für die Instanz der Wahlmännerstimmen. Dieser Untersuchung liegt die Vermutung zu Grunde, dass die Verfassungsväter mit Hilfe einer indirekten Präsidentschaftswahl die Interessen der gesellschaftlichen Elite des 18.

Jahrhunderts schützen wollten, da sie selbst Teil dieser privilegierten Schicht waren.

Im zweiten Teil soll die politische Entwicklung und Gegenwart ein wenig näher

beleuchtet werden. Im Zusammenhang mit der Entwicklung des Systems geht es im

Wesentlichen um zwei Aspekte: Zum einen ist es meine Absicht, die Evolution des US-Präsidentschaftswahlsystems anhand ausgewählter Wahlbeispiele zu analysieren, zum

anderen sollen die Defizite des Systems durch die Analyse dieser Wahlgänge deutlich

werden. Im Vordergrund stehen dabei die Wahlen, in deren Folge es zu Reformen gekommen ist und die bei denen das Wahlsystem problematische Auswirkungen gehabt hat.

Anschließend geht es um den Verlauf der Präsidentschaftswahlen der Gegenwart. Hinter

dieser Untersuchung steckt die Frage, ob die Wahl des Präsidenten in den Vereinigten Staaten in der Gegenwart überhaupt noch den Intentionen der Verfassungsväter entspricht, obwohl sie grundsätzlich auch heute noch auf den von diesen festgelegten Regeln basiert.

Die Vermutungen bezüglich der Fragestellungen des zweiten Teils lauten wie folgt: Zwar gab es in über 200 Jahren US-amerikanischer Präsidentschaftswahlen eine Demokratisierung des Systems, aber nur eine unzureichende, die weitere Reformen nötig macht. Insbesondere für die Akteure auf einzelstaatlicher Ebene bietet das „Electoral College“ anscheinend Anreize, die eine umfassendere Demokratisierung auch heute noch blockieren. Darüber hinaus entspricht die Wahl des Präsidenten gegenwärtig wahrscheinlich nicht mehr den Absichten der Verfassungsväter, obwohl sie formal noch nach den von diesen geschaffenen Regeln verläuft. Dies bedeutet, dass eine Reform lediglich ein System beseitigen würde, dessen Funktionsweise in der Gegenwart sowieso nicht mehr den Intentionen seiner Schöpfer entspricht.

Der dritte und letzte Teil widmet sich einer genauen Analyse der Defizite des gegenwärtigen Präsidentschaftswahlsystem und beschäftigt sich mit alternativen Konzepten. Dabei werden neben dem Risiko eines sogenannten „Wrong Winner“ auch erhebliche Verzerrungen des Wählerwillens und die ungleiche Bewertung von Wählern durch das derzeitige Wahlsystem deutlich. Außerdem stellt sich die Frage, warum es in über 200 Jahren nicht gelungen ist, etwaige Demokratiedefizite zu beseitigen. Diese Frage soll mit Hilfe des historischen Institutionalismus beantwortet werden. Entscheidend sind in diesem Zusammenhang die Strategie und die Motive der Reformgegner. Es werden allerdings auch die Reformhindernisse untersucht, die durch die Regeln des Gesetzgebungsprozesses und die Auflagen für eine Verfassungsänderung entstehen. Beides ist von großer Bedeutung.

Dieser Arbeit liegt eine eher pessimistische Vermutung zu Grunde: Wenn selbst die chaotischen Konsequenzen der Präsidentschaftswahl im Jahr 2000 nicht zu einer grundlegenden Reform des Wahlsystems für das wichtigste und mächtigste politische Amt der Welt geführt haben, werden die Wähler in den Vereinigten Staaten ihren Präsidenten auch noch in ferner Zukunft mit einem extrem problembehafteten Wahlsystem bestimmen. Dieses System wird bei einigen Wahlen auch weiterhin den Wählerwillen umkehren und den Kandidaten zum Präsidenten machen, der nicht die Mehrheit der Wählerstimmen bekommen hat.

Teil I: Historischer Ursprung

1.1 . Verfassungsväter

Um die Regeln, nach denen der Präsident in den USA gewählt, wird zu verstehen, ist es auch erforderlich die Bedingungen zu untersuchen, unter denen das Wahlsystem seinerzeit entstanden ist. Die Verfassungsväter haben sich damals darauf geeinigt, den Präsidenten mit Hilfe des „Electoral College“ zu wählen. Wie bereits in der Einleitung erwähnt, ist dieses System, bei dem der Präsident mit Hilfe von Wahlmännerstimmen gewählt wird, die heute auf bundesstaatlicher Ebene nach dem „Winner-Takes-All“-Prinzip verteilt werden (mit den Ausnahmen Maine und Nebraska), unter Wissenschaftlern und Politikern, nicht nur in den USA, heute in höchstem Maße umstritten.

Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit den persönlichen Hintergründen von drei Männern, die an der Gestaltung der US-amerikanischen Verfassung beteiligt waren. Ziel dieser Untersuchung ist es, unter anderem festzustellen, inwieweit das soziale Umfeld aus dem die „Schöpfer der Verfassung“ stammten, dafür verantwortlich war, dass diese Männer sich für eine indirekte Wahl des Präsidenten entschieden haben. Diese Untersuchung geht davon aus, dass die Verfassungsväter sich unter anderem deshalb für die indirekte Wahl des Präsidenten durch einen elitären Kreis von Wahlmännern entschieden, weil sie ihr eigenes Wohlergehen und ihre Interessen (insbesondere ihren Wohlstand) durch eine direkte Wahl des Präsidenten durch das Volk gefährdet sahen. Darüber hinaus trauten sie den Bürgern nicht zu eine so wichtige politische Entscheidung selbst zu treffen.

Alexander Hamilton war mit Sicherheit einer der wichtigsten Beteiligten bei der Schöpfung der US-amerikanischen Verfassung, obwohl er während des Verfassungskonvents nur eine untergeordnete Rolle spielte. Er schrieb im Anschluß an die Verfassungskonferenz von 1787 allein 52 der 85 Aufsätze aus der Serie „The Federalist“.

„The eighty-five essays were published in a New York city newspaper under the pen name „Publius“ and were entitled „The Federalist.“ The Federalists Papers explain the reasoning behind provisions of the Constitution and are widely acknowledged as a major work of political theory“ (Patterson 1999: 38).

Hamilton war im Unabhängigkeitskrieg Artillerist unter George Washington gewesen. Im Jahre 1782 beendete er seine militärische Laufbahn und wurde in den „Confederation Congress“ gewählt. Hier blieb er bis 1783 involviert und beendete gleichzeitig sein Jurastudium (Bradford 1994: 41). Obwohl Hamilton 1783 dem politischen Leben den Rücken kehrte, um sich voll auf die Arbeit in seiner Kanzlei in der Wall Street konzentrieren zu können, wurde er 1786 als einer der Repräsentanten gewählt, die den Staat New York auf einer Konferenz in Annapolis, Maryland vertreten würden. Auf dieser Konferenz, die sich primär mit den zwischenstaatlichen Handelsbeziehungen und anderen Problemen beschäftigen sollte, drängte Hamilton gemeinsam mit anderen Repräsentanten auf eine größere Konferenz, die im Mai 1787 in Philadelphia stattfinden sollte. Auf dieser sollte die Schaffung einer stärkeren Bundesregierung beschlossen werden, welche die Interessen der Einzelstaaten besser vertreten könnte als der „Confederation Congress“. Hamilton und seine Partner schafften es, viele andere Vertreter von ihrer Idee zu überzeugen und so fand der Verfassungskonvent 1787 tatsächlich statt (Bradford 1994: 42).

Hamilton vertrat den Staat New York gemeinsam mit zwei anderen Repräsentanten, aber er war zu Beginn nicht oft vor Ort. Selbst wenn er anwesend war, gab er nicht viel von sich. Am 18. Juni 1887 hielt er jedoch eine fünfstündige Rede, in der er seine Vorstellungen von einer nationalen Regierung erläuterte. Viele Abgeordnete waren von seinen Aussagen schockiert, denn Hamilton trat für eine starke Bundesregierung ein, von der mehr Macht ausgehen sollte, als sich die meisten Entsandten der damaligen Einzelstaaten vorstellen konnten (Bradford 1994: 43).

Abgesehen von der Schaffung einer starken Bundesregierung mit viel Kontrolle über die Einzelstaaten, die sich Hamiton von der Verfassung erhoffte, entstand bei seinen Ausführungen teilweise der Eindruck, dass er sich selbst widersprach: Einerseits sprach er sich für eine lebenslange Amtszeit von Präsident und Senatoren aus: „To that end, he recommended that the chief executive of the republic be elected to serve for a life term and that the members of the Senate, acting in the place of the House of Lords, be provided with an equivalent security in office“ (Bradford 1994: 44). Andererseits war er beispielsweise strikt gegen eine Wahl des Präsidenten ohne Beteiligung des Volkes: „He objected to the election of the president by any formula not involving the people“ (Bradford 1994: 45). Also findet man in einigen seiner Aussagen ein Plädoyer für einen Nationalstaat mit monarchischen Elementen, während er in anderen Momenten durchaus demokratische Elemente fordert.

Es läßt sich feststellen, dass Hamilton für einen Kompromiss eintrat, der zwar eine im Verhältnis zu den Einzelstaaten starke Bundesregierung hervorbringen würde, die Regierung aber nicht so viel Macht besitzen sollte, dass sie eine Gefahr für den Besitzstand der Bürger darstellte. Dabei ging es Hamilton sicherlich auch um den Schutz der eigenen Interessen, da auch er als Anwalt mit Kanzlei an der Wall Street in New York gut situiert war. Allerdings war es ihm auch wichtig, mit der Verfassung dafür Sorge zu tragen, dass Aristokraten das System nicht für unberechtigte Vorteile ausnutzen konnten.

Was das Amt des Präsidenten anbelangt, befürwortete Hamilton ein Wahlsystem, bei der die Stimme des Volkes eine Rolle spielen sollte. Durch die von ihm gleichzeitig geforderte lebenslange Amtszeit, relativiert sich der demokratische „Charakter“ seiner Forderungen allerdings wieder. Seine Äußerungen bezüglich einer direkten Wahl des Präsidenten machen seine Ablehnung sehr deutlich: „Supporters of direct election saw it as a way of guaranteeing the independence of the president from the Congress and protecting the people from legislative tyranny. Most members, however, felt that the general public was ill prepared for such momentous responsibility. Hamilton was somewhat more blunt. „your people, sir, are a great beast!“ he exclaimed during a debate on the merits of popular election“

(Abbott/Levine 1991: 9-10).

Diese Aussage Hamiltons verdeutlicht außerdem drei wichtige Aspekte: Sie zeigt zunächst, dass Hamilton sich selbst, wie auch die anderen „Schöpfer der Verfassung“ zu einem gewissen Grad abgehoben, bzw. gelöst vom Rest der amerikanischen Bevölkerung der damaligen Zeit gesehen hat. Diese Sicht hatte wohl ihre Ursache in der gehobenen sozialen Position der Repräsentanten, die an der Konferenz teilnahmen. Außerdem wird deutlich, dass Hamilton der breiten Masse nicht zutraute, politisch wichtige Entscheidungen in eigener Verantwortung und in vernünftiger Weise zu treffen. Zu guter Letzt steckt in der Aussage auch ein Stück Angst vor dem Volk.

Unter dem ersten Präsidenten der USA, George Washington, wurde Alexander Hamilton 1789 der erste Finanzminister der USA. Im Jahre 1795 legte er das Amt des Finanzministers nieder, nachdem er zwischenzeitlich mit Thomas Jefferson, „Secretary of State“ unter Washington, in einen öffentlichen Streit geraten war. Dieser Streit entstand nicht nur auf Grund eines spezifischen Anlasses, sondern war eine ideologische Auseinandersetzung zwischen den beiden Männern (Bradford 1994: 46). Gleichzeitig liegt in diesem Konflikt der Ursprung des amerikanischen Parteisystems: „America’s parties originated in the rivalry within George Washington’s administration between Thomas Jefferson and Alexander Hamilton. ... Jefferson defended states‘ rights and small landholders, while Hamilton promoted a strong national government and wealthy interests“ (Patterson 1999: 214). Hamilton gründete, als Folge der Auseinandersetzung mit Jefferson, die Partei der „Federalists“, die sich primär um die Interessen der Wirtschaft und der Reichen kümmerte. Ein weiterer Nachweis dafür, dass er in der Tat großes Interesse an der Wahrung der Interessen der sozial Bessergestellten hatte.

Rückblickend bleibt festzuhalten, dass Hamilton bei den eigentlichen Verfassungsverhandlungen keine sonderlich bedeutende Rolle gespielt hat. Im Bezug auf das Amt des Präsidenten fand auch die von ihm geforderte lebenslange Amtszeit keine Umsetzung in der Verfassung. Was den Modus für die Präsidentenwahl anbelangt, schien Hamilton mit dem von den „Framers“ gefundenen Kompromiss dennoch zufrieden zu sein. Zumindest lassen seine Aussagen im 68. Artikel der „Federalist Papers“ darauf schließen: „ Ich gehe weiter und zögere nicht zu behaupten, daß der Modus, wenn schon nicht vollkommen, so doch zumindest ausgezeichnet ist. Er vereint in hohem Maße alle Vorteile, deren Verbindung man nur wünschen konnte“ (Adams 1994: 411). Wie bereits erwähnt, forderte Hamilton während der Konferenz in Philadelphia, dass die Wahl des Präsidenten nicht ohne die Beteiligung des Volkes stattfinden solle. Eine direkte Wahl hätte er allerdings niemals befürwortet. Die Entscheidung für die Wahlmännerstimmen als Element des Wahlsystems entsprach also auch seinen Vorstellungen. Offiziell, weil er der Bevölkerung das nötige Wissen bzw. Urteilsvermögen absprach, eine direkte Wahlentscheidung selbst zu fällen. Auch dieses Argument erläutert er im 68. Artikel der „Federalist Papers“: „Eine kleine Anzahl von Personen, von ihren Mitbürgern aus der großen Menge ausgewählt, wird am ehesten die für diese komplizierte Analyse nötigen Kenntnisse und das erforderliche Urteilsvermögen besitzen“ (Adams 1994: 411-412).

Inoffiziell fürchtete er, wie auch die meisten anderen „Framers“, eine Situation in der zu große politische Macht in direktem Maße von der Bevölkerung ausgehen würde. Gerade bei der Wahl des Präsidenten hätte dies natürlich dazu führen können, dass sich die gesellschaftliche Elite mit einem Präsidenten konfrontiert sehen würde, der ihre Privilegien beschneidet. „He was attached to liberty in 1787 as he had been in 1775 – liberty as he understood it. But he would have no part in fostering either a threat to property by legislative confiscation or a threat of general exploitation and unearned advantage by an aristocratic cabal“ (Bradford 1994: 44).

Ein Teilnehmer des Verfassungskonvents, dessen Bedeutung oftmals unterschätzt wird, war John Dickinson. Er war der einzige Teilnehmer, der bei allen wichtigen Ereignissen auf dem Wege zur Verfassung anwesend war. Vom „Stamp Act Congress“ 1765 bis hin zur „Great Convention“ im Jahre 1787 (Bradford 1994: 99).

Dickinson wurde am 8 November 1732 in Talbot County, Maryland als Sohn des Richters Samuel Dickinson und Mary Cadwalader Dickinson geboren. Der spätere Erbe eines stattlichen Anwesens von sechs Quadratmeilen wurde anfangs privat unterrichtet und setzte seine Ausbildung unter John Moland fort, einem der führenden Mitglieder der damaligen Anwaltschaft in Philadelphia. Später genoss er eine der besten juristischen Ausbildungen in London und ließ sich im Anschluss als Anwalt in Philadelphia nieder. Im Laufe der Zeit wurde er einer der renommiertesten Anwälte in Amerika (Bradford 1994: 99).

Die Rolle Dickinsons in den Verfassungsverhandlungen in Philadelphia war auf den ersten Blick weniger bedeutend, als man auf Grund seiner politischen Position und Laufbahn erwarten durfte. Dies hängt zum Teil damit zusammen, dass er viele Sitzungen aus gesundheitlichen Gründen versäumte. Ein anderer wichtiger Grund waren seine Zweifel gegenüber der Einführung einer starken Bundesregierung. Dennoch hatte Dickinson relativ großen Einfluss auf die Gestaltung der Verfassung. So legte er sehr großen Wert auf die Schaffung von staatlichen Instrumenten, um Geld für die Landesverteidigung, die Außenpolitik und die Schaffung einer gemeinsamen Währung einzutreiben. Eine Forderung, die in Sektion acht des ersten Artikels der Verfassung umgesetzt wurde. Ein weiterer Aspekt, der für ihn große Bedeutung hatte, war die Unabhängigkeit der Einzelstaaten innerhalb der Union und der Schutz der einzelstaatlichen Interessen. So schlug er als erster vor, dass alle Staaten, unabhängig von ihrer Größe, die gleiche Anzahl an Abgeordneten in den Senat entsenden dürfen. Ein Vorschlag der in Sektion drei des ersten Artikels der Verfassung realisiert wurde (Bradford 1994: 102).

Ähnlich wie Alexander Hamilton, fürchtete auch John Dickinson ein Amerika mit einer zu stark ausgeprägten Demokratie: „Dickinson was in agreement with the more decided Federalists in the Convention that there was a danger of fostering democratic excesses by the creation of a new government; with many of his associates he foresaw the ominous prospect of a greedy proletariat in America’s future, a propertyless mass ready to vote itself the properties of others“ (Bradford 1994: 102). Erneut zeigt sich hier der Gedanke von der „furchteinflößenden Masse des Proletariats“, des „Great Beast“, das nur das Ziel verfolgt den Privilegierten ihren Reichtum zu entreißen und vor dem es sich zu schützen gilt. Mit seiner Meinung zu diesem Thema liefert auch Dickinson einen Nachweis dafür, dass sich die Verfassungsväter unter anderem auch deshalb für eine indirekte Wahl des Präsidenten entschieden haben, um ihren Reichtum und ihre soziale Stellung nicht zu gefährden.

George Mason war bei allen Sitzungen des Verfassungskonvents von 1787 anwesend. Er zählt im Nachhinein betrachtet zu den schärfsten Gegnern der Verfassung und wird als einer der Hauptinitiatoren der ersten zehn Verfassungszusätze, den „Bill of Rights“ gesehen (Bradford 1994: 148).

Mason wurde am 11. Dezember 1725 in Virginia geboren. Seine Eltern George Mason III und Ann Thomson Mason waren Großgrundbesitzer und besaßen zum damaligen Zeitpunkt bereits mehr als 5000 Morgen Land. Sein Stiefonkel, John Mercer, war ein angesehener Anwalt und seine beachtliche Büchersammlung sollte später als George Masons weiterführende Bildungsquelle dienen (Bradford 1994: 149).

1749 wurde Mason Richter im Gericht von Fairfax County. Im selben Jahr wurde er außerdem Teilhaber der „Ohio Company“. Im April 1750 heiratete er Ann Eilbeck of Mattawoman, die ihn mit einflussreichen Familien in Charles County in Kontakt brachte (Bradford 1994: 149).

Von 1776 bis einschließlich 1781 war George Mason Abgeordneter des Parlamentes von Virginia. Dies war seine politisch aktivste Zeit, in der er unter anderem auch als wichtigster Autor an der „Virginia Declaration of Rights“ mitwirkte, ein Dokument welches dem Staat Virginia als Verfassung diente und zum Teil auch Vorbild für die nur kurze Zeit später verabschiedete Unabhängigkeitserklärung der Kolonien war. Primäres Ziel der Verfassung war aber nicht die Einführung eines demokratischen Regierungssystems, sondern vielmehr die Verteilung und Restriktion von Macht (Bradford 1994: 151). Nach den Regeln dieses Dokuments sollte ein Rat von gewählten Vertretern die Rolle der Exekutive des Staates Virginia übernehmen. Die Mitglieder dieses Rates und die Gouverneure sollten durch das Parlament gewählt werden, die Senatoren hingegen durch eine Gruppe von Wahlmännern. In der Verfassung von Virginia zeigt sich also, bereits vor den Verhandlungen über eine Verfassung für die Vereinigten Staaten, die Idee des „Electoral College“ (Bradford 1994: 151-152).

Im Laufe der Jahre erkannte Mason zunehmend die Notwendigkeit einer stärkeren Bundesregierung, die in der Lage sein würde, Steuern zu erheben und Krieg zu führen. Also wurde er zu einem der Entsandten des Staates Virginia für den Verfassungskonvent. Mason kam mit viel Enthusiasmus nach Philadelphia. Seine Begeisterung wich jedoch schnell seinen Zweifeln über die Absichten der anderen Teilnehmer. Er stellte zunehmend fest, dass ihre Vorstellungen eine Bundesregierung zum Ziel hatten, die seiner Ansicht nach zuviel Macht besitzen würde. Auch ihre Meinungen zur Ausgestaltung des Präsidentenamtes teilte er nicht. Er wünschte sich eine dreiköpfige Exekutive, die aus einem Mitglied der Südstaaten, einem aus den in der Mitte liegenden Staaten und einem dritten aus den Nordstaaten bestanden hätte. Was den Wahlmodus des Präsidenten anbelangt, waren die Vorstellungen der meisten anderen Repräsentanten jedoch kongruent mit seinen eigenen. Auch Mason war Gegner einer direkten Wahl des Präsidenten (Bradford 1994: 153). Er verglich die Wahl des Präsidenten durch das Volk sogar mit einer Farbauswahl durch einen Blinden (Longley/Peirce 1981: 21)!

Abschließend läßt sich feststellen, dass Mason im Laufe der Konferenz in Philadelphia zu einem der schärfsten Kritiker der Verfassung wurde, der das Dokument in der beschlossenen Form fast komplett ablehnte. Dies gilt auch für das Amt des Präsidenten, denn wie bereits erwähnt, hätte er einen Exekutivrat präferiert. Allerdings gab es beim Thema des Wahlmodus für das Amt des Präsidenten keine Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und den Befürworten einer indirekten Wahl mittels Wahlmännerstimmen. Dies überrascht nicht, denn Mason hatte sich ja bereits als Autor der „Virginia Declaration of Rights“ für das System des „Electoral College“ zur Wahl der Senatoren im Staate Virginia entschieden. Die Befürwortung dieses Systems war auch im Fall Mason keine uneigennützige Entscheidung. Mason stammte, genau wie viele Teilnehmer des Verfassungskonvents, aus einer extrem reichen und einflussreichen Familie. Die Wahlmänner zwischen „sich und das Volk zu stellen“ konnte auch in seinem Fall nur nützlich für die Wahrung der eigenen Interessen sein.

Grundsätzlich lassen sich nach Betrachtung dieser Beispiele bereits zwei Gründe erkennen, warum sich die Schöpfer der Verfassung für ein indirektes Präsidentschaftswahlsystem mit Wahlmännerstimmen entschieden haben: Erstens war ihr Demokratiebegriff noch stark durch monarchische Elemente und Ideen beeinflusst. Unabhängig vom Demokratieverständnis der damaligen Zeit, ist allerdings auch ein zweiter Grund für den Kompromiss des indirekten Wahlverfahrens deutlich geworden: „Most were either wealthy or comfortably situated, ...“ (Bradford 1994: XVI). Selbstverständlich ist dieser Aspekt weder in der Verfassung selbst, noch in anderen Publikationen der „Framers“ (z.B. in den „Federalist Papers“) erwähnt. Auch wenn es unter den Beteiligten Befürworter einer direkten Wahl gab, wäre es naiv zu glauben, dass der Schutz der eigenen Privilegien keine Rolle bei der Entscheidung für ein indirektes Präsidentschaftswahlsystem gespielt hätten. Obwohl der Verfassungstext keine genauen Bestimmungen enthält, die festlegen wie die Kandidaten, die als Wahlmänner agieren, auf einzelstaatlicher Ebene ausgewählt werden sollen[1], konnten die Abgeordneten des Verfassungskonvents davon ausgehen, dass auch die Wahlmänner aus sozial bessergestellten Kreisen stammen würden. Schließlich waren viele der „Framers“ selbst Abgeordnete in den Parlamenten ihrer Heimatstaaten und ihre Kollegen in diesen Parlamenten waren größtenteils ebenfalls Großgrundbesitzer und sozial Bessergestellte. Die „Schöpfer der Verfassung“ konnten sich daher relativ sicher sein, dass die Parlamente in den Einzelstaaten sich bei der Auswahl der Wahlmänner nicht für eine Regelung entscheiden würden, welche eine langfristige Gefahr für die Wohlhabenden und ihren Besitz mit sich bringen würde.

„Few in the Convention could have imagined the typical elector to be an unsophisticated, politically inexperienced, detached notable. The political culture of eighteenth-century America dictated that men of standing in the community, those with the resources, education, family connections, and experience, devote themselves to political service. And though the ideology of the American Revolution undermined the tradition of deference which strengthened public support for elite leadership, it had not yet brought reality in line with ideals. The delegates themselves were living testimony to the persistence of gentlemen in politics“ (Kuroda 1994: 11-12).

1.2. Verfassungskonvent

Mit Hinblick auf die bisher gewonnenen Erkenntnisse, könnte man davon ausgehen, dass die Entscheidung für das indirekte Wahlverfahren auf einem breiten Konsens des Verfassungskonvents basierte. Relative Einigkeit bestand allerdings lediglich bezüglich der Ablehnung einer direkten Wahl des Präsidenten durch das Volk. Im Folgenden soll erläutert werden, warum der Begriff „Kompromiss“ dennoch zutreffend ist und wie es im Laufe der Konferenz zu eben diesem Kompromiss kam.

Die Frage, wie der Präsident gewählt werden soll, war ein schwieriges Thema für die Delegierten der Konferenz. Vielen der Anwesenden war beim Thema der Exekutive auf Grund ihrer Erfahrungen sehr unwohl zu Mute. Sie hatten im Unabhängigkeitskrieg gegen King George gekämpft und fürchteten eine Exekutive mit monarchischen Tendenzen. Schließlich gab es auch unter den „Articles of Confederation“ keine unabhängige Exekutive und sie wollten nicht Teil haben, an der Schaffung eines „neuen King George“. Auch auf einzelstaatlicher Ebene waren die Gouverneure in der Rolle der Exekutive nicht sehr mächtig. Sie hatten zum Beispiel kein Vetorecht (Kuroda 1994: 8).

Im Verlauf der Konferenz in Philadelphia zogen die Väter der Verfassung drei verschiedene Möglichkeiten in Betracht, um den Präsidenten zu wählen: Die Wahl durch den Kongress, die landesweite, direkte Wahl durch das Volk und die Wahl mittels intermediärer Wahlmänner. Dazu kamen noch andere Vorschläge, die allerdings schnell und unter wenig Protest abgelehnt wurden. Beispielweise der Vorschlag, den Präsidenten durch die Gouverneure wählen zu lassen (Longley/Peirce 1981: 19).

Die Befürworter eines Systems, demzufolge der Präsident durch den Kongress gewählt worden wäre, führten mehrere Argumente an, um ihren Vorschlag zu rechtfertigen. Zum einen hielten sie ein derartiges Wahlverfahren für sinnvoll, weil die Sitzverteilung im Kongress ein direkter Spiegel der politischen Meinung der amerikanischen Bevölkerung sei. Außerdem wurden auch die Gouverneure von acht der damals dreizehn Staaten durch die jeweiligen Parlamente gewählt. Darüber hinaus argumentierten die Befürworter der Wahl durch den Kongress noch mit der Tatsache, dass die Abgeordneten im Kongress fundierte politische Kenntnisse hätten und somit am besten in der Lage wären zu beurteilen, ob die Kandidaten für das Amt des Präsidenten ausreichend qualifiziert sind (Longley/Peirce 1981: 19-20).

Das wichtigste Argument, das die Gegner dieses Vorschlags anführten, war die Sorge um die Unabhängigkeit der Exekutive bei einer Wahl durch den Kongress. Diese Sorge war besonders stark im Bezug auf das Thema der Wiederwahl. Einige Abgeordnete gingen noch weiter und behaupteten, dass eine Wahl des Präsidenten durch den Kongress, den Weg für Intrigen und Korruption zwischen der Legislative und der Exekutive freimachen würde. Andere befürchteten darüber hinaus eine höhere Anfälligkeit des Systems für Korruption durch andere Nationen, welche Einfluss auf die Abgeordneten und damit auf die Wahl des Präsidenten ausüben könnten. James Madison bezog sich bei seiner Argumentation gegen die Wahl durch den Kongress auf den politischen Philosophen Montesquieu. Dieser ging davon aus, dass eine Abhängigkeit der Exekutive von der Legislativen, die Exekutive gleichzeitig zur gesetzgebenden und gesetzausführenden Gewalt machen würde. Dies führt nach Montesquieus Ansicht zu tyrannischen Verhältnissen (Longley/Peirce 1981: 20).

Auch der Versuch einiger Abgeordneter, das Ausmaß an Unabhängigkeit der Exekutive zu erhöhen, indem sie eine Amtszeit von sieben Jahren ohne Möglichkeit der Wiederwahl vorschlugen, scheiterte am Misstrauen vieler Abgeordneter (Kuroda 1994: 8). So scheiterte auch der Vorschlag als Ganzes, den Präsidenten durch den Kongress wählen zu lassen: „They considered election by Congress at least four times but rejected it“ (Best 1996: IX).

Wie bereits erwähnt, gab es auch Anhänger eines direkten Wahlmodus’ für das Präsidentenamt, auch wenn ihre Vorschläge schon früh und mit deutlichen Mehrheiten abgelehnt wurden: „The two times the direct vote alternative was presented to the convention, it was overwhelmingly defeated“ (Abbott/Levine 1991: 9). Die wichtigsten Befürworter einer direkten Wahl des Präsidenten durch das Volk waren James Wilson, Gouverneur Morris und James Madison. Sie waren mit ihren Argumenten der Zeit voraus, konnten aber zum damaligen Zeitpunkt keine ausreichende Unterstützung von den anderen Abgeordneten der Konferenz gewinnen. Sie präsentierten der Versammlung mehrere Argumente für eine direkte Wahl. James Wilson argumentierte mit den positiven Erfahrungen, die man mit der direkten Wahl der Gouverneure in New York und Massachusetts bereits gesammelt hatte. Außerdem würde eine direkte Wahl beider Kammern des Kongresses durch das Volk, bei gleichzeitiger direkter Wahl des Präsidenten eine höhere Unabhängigkeit der beiden Institutionen voneinander und von den Staaten ermöglichen. Madison argumentierte, dass der Präsident direkt vom Volk gewählt werden sollte, da er die Menschen vertreten müsse und nicht die Einzelstaaten (Longley/Peirce 1981: 21).

Die Gegner der direkten Wahl hielten das Volk für unzureichend gebildet und informiert und in Folge dessen auch für zu leicht beeinflussbar, um eine derart wichtige politische Entscheidung selbst treffen zu können. Außerdem nutzten sie auch ein Argument, welches während der Diskussion um die Regelungen für den Kongress bereits eine wichtige Rolle gespielt hatte: Die befürchtete Dominanz der großen Staaten über die kleinen. So erklärte Sherman, dass die Menschen in der Regel für einen Präsidentschaftskandidaten aus ihrem eigenen Staat stimmen würden und die größten Staaten somit auch die besten Chancen hätten, dass ihre Kandidaten als Wahlsieger aus den Abstimmungen hervorgehen würden (Longley/Peirce 1981: 21).

Obwohl die Vertreter der direkten Wahl mit ihren Vorstellungen deutlich scheiterten, waren sie anscheinend in der Lage, die übrigen Abgeordneten davon zu überzeugen, dass eine Wahl durch den Kongress nicht die beste Lösung sei und wenigstens Elemente einer direkten Wahl in die Verfassung einfließen sollten. Somit war der Weg frei für einen Kompromiss der noch heute die verfassungsrechtliche Grundlage der Präsidentschaftswahlen in den USA bildet: Das „Electoral College“.

Die Entscheidung der „Framers“ für das „Electoral College“ als Wahlsystem für das Präsidentenamt wird sehr unterschiedlich bewertet. So sehen einige Autoren diesen Kompromiss lediglich als einfache Flucht der Verfassungsschöpfer vor einer ansonsten endlos scheinenden Diskussion über den Modus für die Präsidentenwahl. Die Vertreter dieser Ansicht beurteilen die in der Verfassung festgehaltenen Regelung nicht als optimalen Kompromiss, sondern unterstellen ihr erhebliche Mängel: „The provision for an electoral college struck a sort of balance between congressional selection and selection by some state-based process. Since everyone knew that Washington would be the first president in any case, no matter what method was decided upon, and since each of the other alternatives was fraught with problems, the electoral college compromise, while lacking any intrinsic virtue, at least had the advantage of commanding a majority of the convention. Allowing the question to be gotten of the table and done with. The future could take care of itself“ (Abbott/Levine 1991: 10).

Andere Autoren sind der Ansicht, dass der Kompromiss insofern besticht, als dass er in der Lage ist die Probleme der anderen Vorschläge zu umgehen und die Forderungen aller Beteiligten zu einem gewissen Grad zu berücksichtigen: „It was an ingenious and original compromise. Everyone got something: large states got electoral votes based on their population; small states got an assurance of at least three electoral votes and a contingency procedure based on a one-state-one vote principle. Those who feared a “tyranny of the majority“ got an indirect method of electing presidents. Those who feared the national legislature got a method in which the states could play a major role. Those in the slave states got a counting method that factored in added voting strength to reflect their slave population“ (Best 1996: X).

Als der Verfassungskonvent im Mai 1787 begann, hätte kaum einer der Anwesenden eine Wahl des Präsidenten mittels Wahlmännerstimmen befürwortet. Im Laufe der Konferenz tauchte mehrfach der Vorschlag auf, den Präsidenten mittels Wahlmännerstimmen zu wählen. So schlug der Abgeordnete Wilson ein System vor, demzufolge die Wahlmänner durch eine allgemeine Wahl in einzelnen Wahlkreisen bestimmt werden sollten, um dann den Präsidenten zu wählen. Sein Konzept wurde am zweiten Juni 1787 abgelehnt. Nur zwei Staaten befürworteten seinen Vorschlag, acht waren dagegen. Dem Abgeordneten Martin erging es ähnlich, als er am 17. Juli vorschlug, die Wahlmänner durch die Parlamente der Einzelstaaten ernennen zu lassen. Auch für seinen Vorschlag fand er lediglich die Unterstützung der Abgeordneten von zwei Staaten, acht Staaten waren erneut dagegen. Die Stimmung der Konferenz schlug allerdings um und so konnte der Abgeordnete Ellsworth zwei Tage später überraschend eine Mehrheit von sechs Staaten für seinen Vorschlag gewinnen, den Präsidenten durch Wahlmänner wählen zu lassen. Auch der Vorschlag, diese Männer durch die Parlamente der Einzelstaaten auswählen zu lassen, fand diesmal die Zustimmung der anwesenden Abgeordneten und wurde mit acht zu zwei Stimmen verabschiedet. Die Konferenz einigte sich in Folge dessen auf die Regeln, nach denen die Anzahl der Wahlmännerstimmen pro Einzelstaat festgelegt werden sollte. Diese lag, je nach Bevölkerungsgröße des jeweiligen Staates, zwischen einer und drei Stimmen. Allerdings beschlossen die „Framers“ am 23. Juli in einer weiteren Abstimmung ihre Entscheidung erneut zu überdenken. Die Zweifel entstanden, als der Abgeordnete William C. Housten aus New Jersey darauf hinwies, dass es extrem kostspielig und unpraktisch sein würde die Wahlmänner aller Staaten an einem Tag am selben Ort zusammen zu führen, nur um den Präsidenten zu wählen (Longley/Peirce 1981: 23). Die Abgeordneten entschieden sich am 31. August als Konsequenz dieser Zweifel dafür, einen Sonderausschuss damit zu beauftragen eine Lösung zu finden. Mitwirkende in dieser Kommission waren unter anderem auch John Dickinson und James Madison. Vier Tage später hatten die elf Männer einen Kompromissvorschlag erarbeitet, der nahezu alle Forderungen berücksichtigte: „The big states got an element of population-based apportionment in choosing the electors; the small states got equal voting rights in the contingent election plan when a majority of the electors failed to agree; the feelings of states‘-rights advocates were acknowledged by giving the state legislatures the right to decide how the electors should be chosen; and those who wanted to entrust the choice of the president to the people could see at least the potential for popular vote“ (Longley/Peirce 1981: 23). Im Hinblick auf diese Fakten ist es wenig erstaunlich, dass der Verfassungskonvent an dem vom Sonderausschuss erarbeiteten Konzept nur noch wenige Änderungen vornahm.

Ein von der Konferenz im Nachhinein beschlossener Zusatz schränkte den Kreis der Personen ein, die als Wahlmänner in Frage kamen. So heißt es dazu in der Verfassung: „But no Senator or Representative, or Person holding an Office of Trust or Profit under the United States, shall be appointed an Elector“. Dieser Zusatz wurde einstimmig angenommen und sollte gewährleisten, dass Kongressabgeordnete oder Bundesangestellte keinen Einfluss auf die Wahl des Präsidenten haben würden (Longley/Peirce 1981: 25).

Heftig diskutiert wurde die Frage, welche Instanz den Präsidenten wählen würde, wenn keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit der Wahlmännerstimmen für sich gewinnen könnte, oder zwei Kandidaten die gleiche Anzahl an Wahlmännerstimmen auf sich vereinen würden. Das Konzept der Sonderkommission sah für diesen Fall vor, dass der Senat den Präsidenten wählen sollte. Dieser Vorschlag wurde jedoch von einigen Abgeordneten abgelehnt, weil der Senat sich, gemäß der ursprünglichen Verfassung, im Gegensatz zum Repräsentantenhaus, aus Abgeordneten zusammensetzt, die von den Parlamenten der Einzelstaaten gewählt werden und nicht durch das Volk selbst. Allerdings wurde der Alternativvorschlag, den Präsidenten in diesen Fällen durch das Repräsentantenhaus wählen zu lassen wiederum von den kleinen Staaten abgelehnt, da sich die Anzahl der Abgeordneten die jeder Staat in das Repräsentantenhaus entsenden darf nach der Bevölkerungsgröße der Staaten richtet. Im Senat hingegen ist jeder Staat unabhängig von der Größe seiner Bevölkerung mit zwei Abgeordneten vertreten. Somit hätten sich die kleinen Staaten bei der Wahl des Präsidenten durch das Repräsentantenhaus zurecht benachteiligt gesehen. Die Abgeordneten fanden aber auch für dieses Problem eine Kompromisslösung. So wurde im Verfassungstext festgehalten, dass der Präsident zwar durch das Repräsentantenhaus gewählt wird, sofern keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit der Wahlmännerstimmen für sich gewinnen könnte, oder zwei Kandidaten die gleiche Anzahl an Wahlmännerstimmen auf sich vereinen würden. Allerdings hat jeder Staat im Gegensatz zu den sonstigen Abstimmungen im Repräsentantenhaus in diesem Fall nur eine Stimme. Mit diesem Kompromiss stellten die Verfassungsväter sicher, dass die Abstimmung zwar durch die nationale Kammer getätigt wird, deren Abgeordnete durch das Volk gewählt werden ohne, dass aber die kleinen Staaten bei der Wahl des Präsidenten durch diese Kammer Nachteile hinnehmen müssen.

Dass dieses Thema für die Verfassungsväter von so großer Bedeutung war, verwundert aus der heutigen Perspektive: „What the Framers hadn’t counted on was the emergence of national political parties“ (Abbott/Levine 1991: 11). Das Zweiparteiensystem ist dafür verantwortlich, dass der Präsident nur zwei Mal seit Gründung der Vereinigten Staaten durch das Repräsentantenhaus gewählt werden musste. „If no candidate secures a majority of electoral votes, the decision then goes to the House of Representatives. This has happened twice, once in 1800 and again in 1824“ (Best 1996: XI). Diese Entwicklung war von den Verfassungsvätern nicht antizipiert. Sie gingen davon aus, dass die meisten Präsidentschaftswahlen im Repräsentantenhaus entschieden würden, denn sie ahnten nicht, dass sich in fast allen Wahlkämpfen ein Rennen zwischen dem Kandidaten der Republikaner und dem der Demokraten abspielt, in dem Drittkandidaten so gut wie nie von Bedeutung sind. Die einzige Bedeutung die Drittkandidaten gelegentlich haben, liegt darin begründet, dass sie in einigen Wahlen für entscheidende Stimmenverluste seitens des demokratischen oder des republikanischen Kandidaten verantwortlich sein können (siehe auch Beispiele unter 2.1.). Dieser Umstand kann allerdings nicht als Kritik in Richtung der Drittkandidaten gewertet werden, sondern lediglich als Veranschaulichung dafür, dass die Entstehung des Zweiparteiensystems für einen Ablauf der Präsidentschaftswahlen gesorgt hat, wie er so nicht von den Verfassungsvätern vorgesehen war.

Welche Rückschlüsse ergibt also die Analyse des Verfassungskonvents? Um sicherzustellen, dass der Verfassungsentwurf der in Philadelphia verabschiedet wurde, auch in den Ratifizierungskonferenzen der Einzelstaaten Zustimmung finden und somit zum gültigen Recht für die Vereinigten Staaten werden würde, mussten ihre Befürworter viel Überzeugungsarbeit leisten. Es gab viele bedeutende Männer auf den politischen Bühnen der Einzelstaaten, die große Zweifel an dem vorgelegten Verfassungsentwurf hatten und sich dagegen aussprachen. Es ist daher schon sehr erstaunlich, dass die in der Verfassung enthaltenen Regeln zur Wahl des Präsidenten von den Gegnern der Verfassung kaum kritisiert wurden: „With the hindsight that history affords, it is remarkable to note how seldom the opponents of the new Constitution attacked the presidential election system in the sometimes tumultuous ratifying conventions that followed submission of the document to the states in September 1787“ (Longley/Peirce 1981: 28). So schrieb Alexander Hamilton in dem bereits zuvor zitierten 68. Artikel der „Federalist Papers“: „Der Wahlmodus für den höchsten Amtsträger der Vereinigten Staaten ist fast der einzige Teil des Systems von einiger Bedeutung, der ohne scharfe Kritik davongekommen ist und sogar ein gewisses Maß an Zustimmung von seinen Gegnern erhalten hat“ (Adams 1994: 411).

Wissenschaftler, die sich dafür einsetzen, dass das System in seiner heutigen Form Bestand haben soll, würden diesen Umstand wahrscheinlich damit begründen, dass der auf dem Verfassungskonvent im Jahre 1787 verabschiedete Kompromiss allen zu einem gewissen Grad entgegen kam. Die Kritiker des Systems sehen das geringe Maß an Kritik, das damals geübt wurde, durch andere Faktoren begründet. So äußern sich Abbott und Levine wie folgt zu den Erwartungen der „Framers“ hinsichtlich des gefundenen Kompromisses: „It is safe to say that they assumed that George Washington would receive an automatic majority of the electoral college in the first election and, perhaps, in the second and even third election as well. After Washington, they may have imagined that most presidential elections would be resolved in Congress, from among candidates nominated by electors in the states, on the assumption that normally no one would receive a majority of electoral votes” (Abbott/Levine 1991: 11).

Es läßt sich also feststellen, dass der gefundene Kompromiss in erster Linie dadurch überzeugt hat, dass er mehrheitsfähig war. Es war für die Sonderkommission weniger relevant ein Konzept zu entwerfen, dass auch Entwicklungen und Veränderungen in der politischen Landschaft bzw. im politischen Alltag der Zukunft berücksichtigt. Vielmehr ging es darum eine Lösung zu finden, mit dem eine Mehrheit der Abgeordneten auf dem Verfassungskonvent leben konnte und das somit ein ausreichendes Maß an Zustimmung finden würde.

In der gesamten Diskussion um den Vorschlag des Sonderausschusses gab es ein Thema, dass nicht für Diskussionen unter den Abgeordneten sorgte: Die Frage danach, wie die Wahlmänner selbst durch die Parlamente der Einzelstaaten bestimmt werden sollen. Der Verfassungstext erteilt in dieser Frage keine genauen Anweisungen und das Thema fand im Verlauf der Konferenz kaum weitere Beachtung durch die Abgeordneten.[2] So ließen die Abgeordneten den Parlamenten der Einzelstaaten in dieser Frage völlige Freiheit. Diese hätten sich demnach dazu entschließen können die Wahlmänner selbst zu wählen, sie durch eine öffentliche Wahl in den einzelnen Distrikten des jeweiligen Bundesstaates wählen zu lassen, oder durch eine öffentliche Wahl im gesamten Staat ( Longley/Peirce 1981: 24). Dieser Aspekt ist von extrem großer Bedeutung hinsichtlich der Frage nach möglichen Demokratiedefiziten des US-amerikanischen Präsidentschaftswahlsystems. So sehen Kritiker des Systems eines der Hauptprobleme in dem Risiko, dass das System einen sogenannten „Wrong Winner“ in das Weiße Haus „befördern“ kann, um die Wortwahl von Abbott und Levine aufzugreifen. Abbott und Levine definieren diesen Kandidaten wie folgt: „He or she will be a „Wrong Winner“, the choice of the official electoral college but the runner-up in the popular vote“ (Abbott/Levine 1991: XI). Dieses Szenario hat sich in der Geschichte der USA vier Mal abgespielt: Im Jahre 1824 gewann John Quincy Adams das Rennen um das Weiße Haus, obwohl sein Gegner Andrew Jackson 41,34 Prozent der Wählerstimmen für sich gewinnen konnte und Adams nur 30,92 Prozent. Das Phänomen wiederholte sich bei der Wahl 1876, als der Kandidat Tilden die Wahl verlor, obwohl er bei den Wählerstimmen einen Vorsprung von 3,02 Prozent gegenüber Rutherford Hayes vorweisen konnte.[3] 1888 erhielt Benjamin Harrison 47,82 Prozent der Wählerstimmen. Sein Gegner Grover Cleveland erreichte ein Ergebnis von 48,62 Prozent und verlor die Wahl dennoch (Best 1996: XII). Die vierte und bisher letzte Präsidentschaftswahl, bei der es einen „Wrong Winner“ gab, fand im Jahre 2000 statt. Wie bereits erwähnt, hatte Al Gore einen Vorsprung von fast 540.000 Stimmen und verlor die Wahl dennoch. „This can happen because all of a state’s electoral votes are awarded to the winner of the state’s popular vote regardless of whether the winning candidate’s margin is one vote or three million votes“ (Best 1996: XII).

Es stellt sich die Frage, wie es dazu gekommen ist, dass dieses Phänomen überhaupt in Erscheinung treten kann? Wie bereits erwähnt findet man die Antwort nicht, indem man nur die Verfassung konsultiert. Dennoch findet sich die Wurzel des „Übels“ in der Verfassung, nämlich in der schon erwähnten Gestaltungsfreiheit hinsichtlich der Frage, wie die Wahlmänner ausgesucht, bzw. gewählt werden sollen. Diese wird den Einzelstaaten durch die Verfassung erteilt. Die Einzelstaaten haben sich wiederum im Laufe der Zeit dazu entschlossen ihre Wahlmännerstimmen nach dem „Winner-Take-All“-Prinzip zu vergeben. Best erklärt auch diesen Zusammenhang: „Ironically, the major “defect“ here, the unit-rule provision, is not part of the Constitution. This winner-take-all formula (unit rule) is merely a state practice, first adopted in the early nineteenth century for partisan purposes, and gradually accepted by the rest of the states to ensure maximum electoral weight for their state in the national election“ (Best 1996: XII).

Es zeigt sich, dass die Verfassungsväter nur indirekt für das Risiko des „Wrong Winner“ und anderer Defizite verantwortlich sind, da erst die „Unit-rule“ (auch „General Ticket System“ genannt) für die Verteilung der Wahlmännerstimmen in den Einzelstaaten dieses und andere Phänomene ermöglicht. Dieser Aspekt wird im zweiten Teil der Arbeit genauer beleuchtet werden.

1.3. Fazit: Präsidentschaftswahlen im Sinne der Verfassungsväter: Ein ungenaues System mit bewusst integrierten und nicht antizipierten Demokratiedefiziten

Abschließend betrachtet, lässt sich feststellen, dass die „Framers“ bewusst einige Elemente in das System integriert haben, die aus heutiger Sicht undemokratisch erscheinen. Zum Beispiel die indirekte Wahl mittels der Wahlmänner. Einige Verfassungsväter äußerten öffentlich, dass sie es dem Volk nicht zutrauen, den eigenen Präsidenten direkt zu wählen. Dies liegt natürlich auch daran, dass zum damaligen Zeitpunkt noch ein gänzlich anderes Demokratieverständnis vorherrschend war. Inoffiziell spielten aber auch die eigenen Interessen der Verfassungsväter eine gewichtige Rolle. Bei einer direkten Präsidentschaftswahl hätten sie befürchten müssen, viele ihrer Privilegien zu verlieren, wenn das Volk einen Präsidenten ins Amt wählte, dessen Priorität soziale Gerechtigkeit wäre. Es war absehbar, dass auch die Wahlmänner selbst aus sozial bessergestellten Kreisen kommen würden. Demnach war die indirekte Wahl des Präsidenten über die Instanz der Wahlmänner eine gute Absicherung der Privilegien der gesellschaftlichen Elite des 18. Jahrhunderts.

Von viel größerer Bedeutung sind heute aber die Aspekte des Systems, welche von den „Framers“ nicht genau reglementiert wurden, weil ihnen eine detaillierte Reglementierung nicht als notwendig erschien, oder weil diese eine Verabschiedung der gesamten Verfassung verhindert hätte. Ihnen war es wichtiger zum Ende des Verfassungskonvents mehrheitsfähige Lösungen zu finden, als sich über langfristige politische Entwicklungen und damit verbundene Konsequenzen für die Präsidentschaftswahl Gedanken zu machen. So kann man heute davon ausgehen, dass die Verfassungsväter fest damit gerechnet haben, dass nach der Ära Washington kaum eine Wahl bei der Abstimmung der Wahlmänner entschieden würde. Sie gingen vielmehr davon aus, dass die überwiegende Mehrheit der Präsidentschaftswahlen bei der durch die Verfassung vorgesehenen Entscheidung im Kongress entschieden würden (Abbott/Levine 1991: 11). Diese zweite Instanz sieht die Verfassung für die Fälle vor, in denen keiner der Kandidaten eine absolute Mehrheit der Wahlmännerstimmen bekommt. Die Teilnehmer des Verfassungskonvents rechneten allerdings nicht mit der Entstehung des US-amerikanischen Zweiparteiensystems. Dieses sorgte in Kombination mit zunehmenden Dominanz der „Unit-Rule“ auf einzelstaatlicher Ebene dafür, dass die Abstimmung der Wahlmänner im Normalfall zu einem Rennen zwischen den zwei Kandidaten der beiden großen Parteien wurde. Somit fällt die Entscheidung darüber, wer ins weiße Haus einziehen darf, in fast allen Fällen bereits in der ersten Instanz. Damit geriet ein entscheidender Schritt der Präsidentschaftswahlen ins Abseits, der für mehr Gleichgewicht zwischen den einzelnen Staaten sorgen sollte: Die „Framers“ sahen die Abstimmung der Wahlmänner eher als eine Art Vorauswahl der Kandidaten, bei der die bevölkerungsreichen Staaten im Vorteil waren. Dieser Vorteil sollte durch die Abstimmung im Kongress kompensiert werden, da jeder Staat, unabhängig von der Größe seiner Bevölkerung, bei dieser nur eine Stimme hat.

Auch im Bezug auf die Frage nach etwaigen Demokratiedefiziten und anderen Problemen des Systems haben sich insbesondere die Aspekte als entscheidend herausgestellt, die nicht durch den Text der Verfassung reglementiert sind. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage nach der Auswahl der Wahlmänner auf einzelstaatlicher Ebene. Wie schon erwähnt, überläßt die Verfassung diese Entscheidung den Parlamenten der Einzelstaaten. Dieser Gestaltungsspielraum sorgte dafür, dass die Wahlmänner anfangs primär durch die Parlamente selbst gewählt wurden. Später setzte sich zunehmend die Wahl durch die Bevölkerung nach dem „Winner-takes-all“-Prinzip durch, bei dem der Gewinner der einfachen Mehrheit der Wählerstimmen alle Wahlmännerstimmen des jeweiligen Bundesstaates für sich verbuchen kann. Neben dem Risiko eines „Wrong Winner“ bringt dieses Prinzip auch noch weitere Probleme und Unstimmigkeiten mit sich. Diese werden in Teil II und III dieser Arbeit noch genauer herausgearbeitet.

Die unbedachten und nicht-antizipierten Konsequenzen des in der Verfassung festgehaltenen Wahlsystems stellen sich also hinsichtlich der Frage nach etwaigen Demokratiedefiziten als viel schwerwiegender heraus, als die von den „Framers“ bewusst in das System integrierten Einschränkungen der Demokratie. Sowohl der Kompromiss der Verfassung, als auch die Entwicklung des Präsidentschaftswahlsystems zeigen, wie bedeutsam der Föderalismus im politischen Gefüge der USA war und ist. Die Verfassungsväter waren auch im Bezug auf die Wahl des Präsidenten in der schwierigen Lage, die Interessen nahezu aller Einzelstaaten zu befriedigen. Daher war es einfacher, den Einzelstaaten in einigen Fragen, insbesondere aber bei der Auswahl der Wahlmänner, nicht zu genaue Vorschriften zu machen und auf diesem Wege einen mehrheitsfähigen Kompromiss zu finden. Die Priorität war nicht ein perfektes Präsidentschaftswahlsystem, sondern ein Verfassungsentwurf, der auf dem Verfassungskonvent und in allen Bundesstaaten verabschiedet werden würde: „The most basic reason for the invention of the electoral college was that the convention was deadlocked on simpler schemes like direct election and choice by Congress. It devised a system that could be „sold“ in the immediate context of 1787“ (Longley/Peirce 1981: 30).

Teil II: Evolution eines Systems & Wahlen in der Gegenwart

Ziel dieses Abschnitts ist es, die Entwicklung des Präsidentschaftswahlsystems anhand einzelner Wahlen und ihrer Konsequenzen für das Wahlsystem zu analysieren. Die beiden wichtigsten Faktoren im Hinblick auf die Veränderungen des Systems sind die Rolle der Einzelstaaten und die Entstehung des Zweiparteiensystems. Dies erklärt sich einerseits anhand der Tatsache, dass den Staaten im Bezug auf die Auswahl der Wahlmänner seitens der Verfassungsschöpfer völlige Freiheit gelassen wurde. Andererseits spielen sowohl das Zweiparteiensystem, als auch die einzelstaatliche Ebene die entscheidende Rolle, wenn es um die Frage danach geht, ob das System Reformchancen in Richtung mehr Demokratie hat.

Natürlich waren Systemveränderungen in Folge von Präsidentschaftswahlen insbesondere auf Ebene der Staaten primär in den ersten Jahren der USA zu beobachten. Dennoch ist auch die Analyse späterer Wahlen wichtig, um Probleme zu definieren, die in der Gegenwart immer noch ständige Begleiter des Wahlsystems sind.

2.1. Evolution

In diesem Abschnitt wird die Entwicklung des Systems anhand ausgewählter Wahlbeispiele veranschaulicht. Dabei wird sich zeigen, dass die Defizite der Verfassung bezüglich der Präsidentschaftswahl die politischen Akteure schon früh zu Nachbesserungen zwangen. Darüber hinaus verhinderte die den Parlamenten der Einzelstaaten durch die Verfassung eingeräumte Gestaltungsfreiheit eine vollständige Demokratisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die Anreize des „Electoral College“ für die Parteien und die Einzelstaaten haben dies bis heute verhindert.

Zwei weitere Wahlbeispiele zeigen, dass auch eine Entscheidung im Kongreß den Volkswillen umdrehen kann. Abschließend beschäftigt sich dieser Abschnitt noch mit weiteren Wahlen, bei denen die Ergebnisse extrem knapp und umstritten waren. Auf diesem Wege sollen weitere Probleme und die Notwendigkeit von Reformen verdeutlicht werden.

2.1.1 Frühe Schwierigkeiten und der zwölfte Verfassungszusatz

Die folgenden Beispiele zeigen, wie schnell die Defizite der Verfassung bezüglich der Präsidentschaftswahlen offensichtlich wurden. Dabei geht es nicht nur um zu starke Einschränkungen des Volkswillens durch die einzelstaatlichen Parlamente, sondern auch um formale Probleme, die durch den zwölften Verfassungszusatz nur teilweise gelöst werden konnten.

Die ersten Präsidentschaftswahlen 1788 und 1792 hinterließen einen trügerischen Eindruck. Auf Grund der Dominanz George Washingtons schien es so, als ob das von der Verfassungsvätern konzipierte System einwandfrei funktionierte. Washington wurde in beiden Fällen einstimmig gewählt und genoss große Anerkennung in der Bevölkerung. Durch seine Person wurde das Bild vom Präsidenten als dem wichtigsten Repräsentanten des amerikanischen Volkes geprägt. Eine Aura, von dem dieses Amt auch in der Gegenwart noch umgeben ist (Longley/Peirce 1981: 33-34).

Die Probleme des Wahlsystems zeichneten sich allerdings bei genauerer Betrachtung bereits zum damaligen Zeitpunkt ab. So hatten die Verfassungsväter das System des „Electoral College“ ins Leben gerufen, um den Präsidenten nicht direkt vom Volk wählen zu lassen. Sie hatten es aber auch versäumt, der Bevölkerung ein Minimum an Mitsprache zu sichern. Stattdessen lässt die Verfassung, wie schon im vorhergehenden Abschnitt festgestellt, den Einzelstaaten in dieser Frage völlige Handlungsfreiheit. Somit blieben viele Fragen offen:

„Did this mean that the legislatures should appoint the electors directly? Or would the people choose the electors? And if the people made the choice, would they choose by districts? Or would the election be on a statewide basis – a method that would come to be known as the General Ticket System?“ (Longley/Peirce 1981: 32).

Bei der ersten Präsidentschaftswahl im Jahre 1788, entschlossen sich lediglich vier der damals elf Bundesstaaten[4] dazu, dem Volk Entscheidung darüber zu überlassen, wer Wahlmann sein dürfte. In zwei dieser vier Staaten, namentlich in Maryland und Virginia, wurde die Entscheidung auf Grundlage der Ergebnisse in den einzelnen Wahlkreisen gefällt („District System“)[5]. In Pennsylvania und New Hampshire hingegen basierte die Wahl auf dem „General Ticket System“, also auf dem „Winner-takes-all“-Prinzip. In den restlichen sechs Bundesstaaten wurden die Wahlmänner durch die Parlamente gewählt (Longley/Peirce 1981: 32).

In den Staaten, in denen die Parlamente die Wahlmänner auswählten, spielte die Wahlbevölkerung nur eine auf das Minimum reduzierte Rolle bei der Wahl des Präsidenten. Die einzige „Einflussmöglichkeit“ des Volkes auf die Wahl bestand unter diesen Voraussetzungen darin, dass es die Abgeordneten in den Parlamenten der Staaten zu einem früheren Zeitpunkt gewählt hatte. Die Bundesstaaten, in denen die Wahlmänner durch das Parlament gewählt wurden, hatten also aus der indirekten Wahl des Präsidenten, wie sie von den Verfassungsvätern vorgesehen war, eine noch indirektere gemacht. Allerdings liegt die Verantwortung für diese Entwicklung wiederum bei den Verfassungsvätern und den von ihnen festgelegten Regeln. Ohne den durch die Verfassung garantierten Spielraum wären die Einzelstaaten nicht in der Lage gewesen, die Wahlmänner durch die Parlamente wählen zu lassen. Dieser Umstand entzog dem Amt des Präsidenten einen großen Teil seiner demokratischen Legitimation. Da sich George Washington in der Bevölkerung zum damaligen Zeitpunkt aber extrem großer Beliebtheit erfreute, regte sich kaum Widerspruch.

Die uneinheitlichen Standards und die Demokratiedefizite waren allerdings nicht die einzigen negativen Konsequenzen der ungenauen Instruktionen der Verfassung bezüglich der Auswahl der Wahlmänner auf einzelstaatlicher Ebene. Ein weiteres Problem stellte das durch die Verfassung vorgeschriebene „Double Balloting“ dar. Demnach war jeder Wahlmann verpflichtet, für zwei Präsidentschaftskandidaten abzustimmen. Allerdings konnten die Wahlmänner nicht angeben, welchen der beiden Kandidaten sie für das Amt des Präsidenten wählten und welchen für das Amt des Vizepräsidenten. Da Washington Südstaatler war, wurde Adams aus Massachusetts bei der Wahl 1788 schnell der Favorit für das Amt des Vizepräsidenten. Allerdings bestand die Gefahr, dass sowohl Washington, als auch Adams die gleiche Anzahl an Wahlmännerstimmen auf sich vereinen würde, falls alle Wahlmänner für beide Kandidaten stimmten. Die Entscheidung wäre dann, den Regeln der Verfassung zur Folge, im Repräsentantenhaus gefallen. Bedenkt man, dass eine Verfassung, deren Regeln bereits bei der ersten Präsidentschaftswahl derartige Konsequenzen mit sich bringt, zum damaligen Zeitpunkt in zwei der dreizehn Bundesstaaten noch nicht verabschiedet war, ist es naheliegend, dass Alexander Hamilton versuchte, einen derartigen Verlauf der Wahl zu verhindern. Er forderte einige Staaten dazu auf, ihren Wahlmännern Anweisung zu geben, nicht für Adams zu stimmen und so einen Vorsprung Washingtons zu sichern. Wie sich im Nachhinein herausstellte, wäre sein Einsatz nicht zwingend nötig gewesen, da Adams insgesamt nur weniger als die Hälfte der Wahlmännerstimmen auf sich vereinen konnte (Longley/Peirce 1981: 33). Dennoch zeigte sich bereits zu diesem Zeitpunkt, dass die ungenauen Spielregeln der Verfassung Nachbesserungen notwendig machten. Dieses Problem spielte auch im Zusammenhang mit der Wahl 1800 erneut eine Rolle.

Auch bei der zweiten Wahl im Jahre 1792 wurden die Wahlmänner in 9 der 15 zu diesem Zeitpunkt zur Union gehörenden Bundesstaaten, durch die Parlamente bestimmt. In New Hampshire und Massachusetts gab es zum damaligen Zeitpunkt ein Mischsystem, bei dem ein Teil der Wahlmänner durch die Bevölkerung und der andere Teil durch die Parlamente bestimmt wurden. Erneut gab es lediglich vier Bundesstaaten in denen allein die Bevölkerung die Wahlmänner wählen konnte. Lediglich in zwei dieser vier Staaten wurde wiederum nach dem „District System“ gewählt (Longley/Peirce 1981: 34).

Im Schatten der zweiten Präsidentschaftswahlen vollzog sich in der politischen Landschaft eine Entwicklung, die für die Evolution des US-Präsidentschaftswahlsystem in hohem Maße relevant ist: Das Zweiparteiensystem gewann zunehmend an Bedeutung. Wie bereits in Teil I dieser Arbeit beschrieben, gab es im Laufe der ersten Amtszeit von George Washington einen Streit zwischen Alexander Hamilton und Thomas Jefferson. Als Folge dieses Streits gründete Hamilton die „Federalist Party“ und Jefferson die „Anti-Federalist Party“. Letztere wurde später zu den „Republicans“ und taufte sich wiederum später zu dem Namen um, den sie auch heute noch trägt: „The Democrats“. Das zunehmende politische Gewicht der beiden Parteien war schon im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 1796 bemerkbar. George Washington hatte sich bereits zu Beginn des Jahres entschieden, nicht für eine dritte Amtszeit zu kandidieren.[6]

Obwohl die Entscheidung Washingtons noch nicht offiziell verkündet wurde, nominierten die im Kongress vertretenen Mitglieder der Federalisten bereits im Sommer 1796, im Rahmen ihres „Congressional Caucus“[7] ihre Kandidaten für das Amt des Präsidenten und des Vizepräsidenten. Selbiges taten die Republikaner. Diese Nominierungen durch die Parteiorganisationen wirkte sich in radikaler Weise auf die Rolle der Wahlmänner aus: Die von den Verfassungsvätern beabsichtigte Unvoreingenommenheit als Grundlage für die Entscheidung der Wahlmänner bestand von nun an nur noch auf dem Papier, da die Parteien ihre Wahlmänner dazu verpflichteten, für den von der Partei nominierten Kandidaten zu stimmen. Die politische Entwicklung in den Vereinigten Staaten hatte das Konzept der Framers bereits im Vorfeld der dritten Präsidentschaftswahlen überholt. „Henceforth the electors would be little more than political puppets, mere tools of the political parties that had already decided on the nominees“ (Longley/Peirce 1981: 35).

Die zunehmende Bedeutung der beiden Parteien sorgte in Kombination mit dem bereits umschriebenen „Double Balloting“ für ein weiteres Problem: Es bestand nun die Gefahr, dass die für das Amt des Präsidenten und Vizepräsidenten gewählten Männer nicht der selben Partei angehören würden. Dies erklärt sich wie folgt: Bis zur Wahl 1796 bestand die größte Sorge darin, dass ein als Vizepräsident designierter Kandidat genau so viele Stimmen auf sich vereint, wie der Präsidentschaftskandidat. Wie zuvor erwähnt, wäre eine Entscheidung mit unvorhersehbarem Ergebnis im Repräsentantenhaus die unausweichliche Konsequenz. Um dies zu verhindern, hatten viele Anhänger Washingtons schon bei der ersten Wahl keine zweite Stimme abgegeben. Genau diese Vorsichtsmaßnahme war bei den dritten Präsidentschaftswahlen 1796 ursächlich dafür, dass Präsident und Vizepräsident tatsächlich nicht der selben Partei angehörten. Die zu dieser Zeit dominanten „Federalists“, hatten Sorge, dass Pinckney, ihr Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten, genau so viele Stimmen bekommen würde, wie ihr Präsidentschaftskandidat Adams. Daher hielten sie einige Stimmen für Pinckney bewusst zurück. Dies hatte allerdings zur Folge, dass Pinckney nicht nur weniger Wahlmännerstimmen auf sich vereinte, als Adams, sondern auch als der republikanische Präsidentschaftskandidat Thomas Jefferson (Longley/Peirce 1981: 35).

Dieses Problem wurde erst im Jahre 1804 durch den zwölften Verfassungszusatz gelöst. Dieser enthält die explizite Aufforderung, dass die Wahlmänner kenntlich machen müssen, wen sie für das Amt des Präsidenten wählen und welcher Kandidat das Amt des Vizepräsidenten übernehmen sollte.

Selbst John Adams wurde allerdings unter zweifelhaften Umständen Präsident: Der Bundesstaat Vermont gehörte zu diesem Zeitpunkt noch zu den Staaten, deren Wahlmänner durch das jeweilige Parlament und nicht durch die wahlberechtigte Bevölkerung bestimmt wurden. Es gab jedoch enorme Defizite in den Wahlgesetzen Vermonts. So hatte das Parlament die Wahlmänner gewählt, ohne zuvor ein Gesetz zu verabschieden, welches ihm überhaupt das Recht eingeräumt hätte, die Wahlmänner selbst auszusuchen. Ohne die vier Stimmen aus Vermont hätte Adams eine Stimme weniger als Jefferson gehabt und somit die Wahl verloren. Es gab jedoch keinen Widerspruch im Kongress und Adams konnte sein Amt antreten.

Abgesehen von diesen Problemen, gab es auf einzelstaatlicher Ebene auch bei den dritten Wahlen noch keine einheitliche Regelung für die Wahl der Wahlmänner. Zwischen 1792 und 1796 war die Anzahl der Bundesstaaten auf mittlerweile 16 angewachsen. Bei der Präsidentschaftswahl 1796, entschieden sich 8 dieser 16 Staaten, alle Wahlmänner durch ihr Parlament wählen zu lassen. In sieben Bundesstaaten wählte zunächst allein die Bevölkerung: In Maryland, Virginia, North Carolina und Kentucky nach dem „District System“ und in New Hampshire, Pennsylvania und Georgia griff man erneut auf das „General Ticket System“ zurück. Allerdings erreichte kein Wahlmann in New Hampshire die nötige Mehrheit und so musste letztendlich doch das Parlament die Kandidaten wählen. Massachusetts bediente sich erneut eines Mischsystems aus einer Wahl durch die Bevölkerung und einer Abstimmung im Parlament (Longley/Peirce 1981: 34).

Die Wahl des Jahres 1796 machte die schwerwiegenden Probleme des Wahlsystems noch deutlicher als die beiden vorhergehenden Wahlgänge: „Thus the electoral college’s propensity für razor-thin decisions and ist suspectibillity to political manipulation was abundantly clear as the nation headed for the climatic election of 1800.“ (Longley/Peirce 1981: 36).

Die Präsidentschaftswahl im Jahre 1800 und ihre Konsequenzen sind ebenfalls exemplarisch dafür, wie schnell die politische Realität und insbesondere die Entstehung des Zweiparteiensystems die Regeln der Verfassung bezüglich der Präsidentschaftswahl überholt haben. Darüber hinaus war sie auch ein anschauliches Beispiel dafür, wieviel Spielraum für Manipulationen dieses Regelwerk lässt. Dabei wird erneut deutlich, dass das größte Manko dieses Wahlsystems darin besteht, dass es keine eindeutigen Anweisungen bereithält, wie die Wahlmänner auf einzelstaatlicher Ebene gewählt werden sollen. Nachbesserungen waren unumgänglich. Dass in der Frage der Wahlmännerauswahl kein landesweit einheitlicher Standard bestand, war allerdings 1800 nicht das einzige Problem. Erschreckend war auch, dass viele der Männer, die einige Jahre zuvor selbst am Verfassungskonvent teilgenommen und 1787 offiziell erklärt hatten, das Präsidentschaftswahlsystem gegen Betrug und Intrigen verteidigt zu haben, sich für Manipulationen zum Vorteil der eigenen Partei in ihren Bundesstaaten einsetzten.

James Madison war an einer Umstellung vom „District System“ zum „General Ticket System“ in Virginia beteiligt. Eine Maßnahme, die dazu dienen sollte, alle 21 Wahlmännerstimmen aus Virginia für den republikanischen Kandidaten Thomas Jefferson zu sichern. Dabei trug der Kandidat Jefferson in einem Brief sogar selbst Argumente für die Umstellung vor: So war er der Ansicht, das ein „District System“ zwar wünschenswert wäre, aber nur, wenn alle Staaten mitziehen würden. Da zu diesem Zeitpunkt in zehn der 16 Staaten die Parlamente die Wahlmänner auswählten, war es nach Ansicht Jeffersons unklug für die restlichen sechs nach dem „District System“ zu verfahren (Longley/Peirce 1981: 37).

Im Staat New York wurden die Wahlmänner zu diesem Zeitpunkt noch vom Parlament gewählt. Dieses wurde nach der Wahl im April von einer republikanischen Mehrheit kontrolliert. Anlass genug für Alexander Hamilton, Gouverneur John Jay in einem Schreiben dazu aufzufordern, schnellstmöglich ein „District System“ einzuführen, um somit zu verhindern, dass alle Wahlmännerstimmen bei der Präsidentschaftswahl an den republikanischen Kandidaten Thomas Jefferson gehen würden. Jay entschloss sich, dieser Aufforderung nicht Folge zu leisten und somit gingen letztendlich alle 12 Stimmen aus New York an Jefferson (Longley/Peirce 1981: 37-38).

Diese Beispiele verdeutlichen, warum auch heute noch in 48 der 50 Bundesstaaten das „General Ticket System“ angewandt wird: Jeder Bundesstaat und die in ihm regierende Partei möchten sicherstellen, dass die Wahlmännerstimmen des Staates einen möglichst großen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. Longley und Peirce schildern, dass bereits zum damaligen Zeitpunkt die republikanische Zeitung „Aurora“ die mangelnde Genauigkeit der Verfassung bezüglich des Auswahlverfahrens der Wahlmänner und die daraus resultierenden Konsequenzen anprangerte (Longley/Peirce 1981: 38).

Im Gegensatz zur Wahl im Jahr 1796 wurden die Wahlmänner bei der Wahl 1800 nicht in acht, sondern bereits in zehn der 16 Staaten durch die Legislative gewählt. In Virginia und Rhode Island fand hingegen eine Wahl durch die Bevölkerung unter dem „General Ticket System“ statt. Auch in Maryland, Kentucky und North Carolina bestimmte die wahlberechtigte Bevölkerung die Wahlmänner, allerdings im Rahmen des „District Systems“. In Massachusetts traf das oberste Gericht die Entscheidung über die Auswahl der Wahlmänner (Longley/Peirce 1981: 38).

Die Entscheidung darüber, wer das wichtigste politische Amt der USA während der nächsten vier Jahre innehaben würde, fiel jedoch nicht im Rahmen des „Electoral College“: Die Republikaner hatten es versäumt, wenigstens einem ihrer Wahlmänner Anweisung zu geben, seine Stimme für den Kandidaten auf das Amt des Vizepräsidenten Aaron Burr zurückzuhalten. So schafften es Jefferson und Burr zwar, Adams und Pinckney zu schlagen, allerdings gab es zwischen ihnen selbst Gleichstand. Dies hatte zur Folge, dass zum ersten Mal in der noch jungen Geschichte der USA das Repräsentantenhaus den Präsidenten wählen musste. Auch im Laufe der Verhandlungen und Sitzungen im Kongress, wurde die Bedeutung parteipolitischer Taktiken und Präferenzen sehr deutlich. Viele Föderalisten waren sich zwar der Tatsache bewußt, dass Burr ein ungeeigneter Kandidat für das mächtigste Amt im Land war, stimmten aber dennoch für ihn, nur um einen Sieg Jeffersons zu verhindern, den sie als Hardliner betrachteten. Nach einer schier endlosen Sitzung, fiel am 17. Februar 1801 die Entscheidung dennoch zu Gunsten von Thomas Jefferson. Burr wurde Vizepräsident. Jefferson berücksichtigte ihn allerdings kaum bei Entscheidungen, und die Republikaner stellten Burr 1804 auch nicht zur Wiederwahl auf. Allerdings ging nicht nur Burr beschädigt aus dieser Wahl hervor. Auch die Föderalisten mußten bei den folgenden Kongresswahlen herbe Verluste hinnehmen und verloren einen Großteil ihrer Macht (Longley/Peirce 1981: 39-41).

Diese Präsidentschaftswahl war rückblickend betrachtet also nicht nur ein weiterer Beweis für die Anfälligkeit des Systems für parteipolitische Manipulationen, sondern auch für die Notwendigkeit des bereits erwähnten 12.Verfassungszusatzes, der den Wahlmännern die Anweisung gibt, kenntlich zu machen, welchen Kandidaten sie für das Amt des Präsidenten wählen und welchen für das des Vizepräsidenten.

[...]


[1] In Artikel II Sektion 1 der US-Verfassung ist zur Auswahl der Wahlmänner lediglich Folgendes vermerkt: „Each State shall appoint, in such Manner as the Legislature thereof may direct, a Number of Electors, equal to the whole Number of Senators and Representatives to which the State may be entitled in the Congress: ...”.

[2] An dieser Stelle muss erneut auf den Wortlaut der Verfassung zu diesem Thema verwiesen werden: „Each State shall appoint, in such Manner as the Legislature thereof may direct, a Number of Electors, equal to the whole Number of Senators and Representatives to which the State may be entitled in the Congress: ...”. Dabei bezog sich der letzte Verweis auf diesen Teil des Verfassungstextes auf die Frage nach der sozialen Stellung der Wahlmänner. In diesem Fall geht es allerdings primär um die Tatsache, dass die Verfassung völlig offen lässt, wie die Einzelstaaten die Wahlmänner auswählen und es trotzdem kaum Diskussionen unter den „Framers“ zu diesem Aspekt gab.

[3] 1824 wurde Adams allerdings nur zum „wrong winner“, weil kein Kandidat die nötige absolute Mehrheit der electoral college Stimmen erreicht hatte und die Entscheidung im Repräsentantenhaus fiel. Der Fall Adams geht demnach nicht zu lasten der „unit-rule“. Ähnlich verhält es sich mit der Wahl 1876. Hier mußte der Kongress in Kooperation mit einem Wahlkomitee über die Rechtmäßigkeit einiger Wahlmännerstimmen entscheiden. Diese Entscheidung war schließlich Grundlage für einen Vorsprung von einer „Electoral-College“-Stimme für Hayes.

[4] Zwar gab es zu diesem Zeitpunkt bereits 13 Bundesstaaten, aber Rhode Island und North Carolina hatten den Verfassungsentwurf zum Zeitpunkt der ersten Präsidentschaftswahlen noch nicht verabschiedet.

[5] Nach den Regeln des „district system“ werden die Wahlmännerstimmen auf Grundlage der Ergebnisse in den einzelnen Wahlkreisen verteilt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Gefahr eines „wrong winner“ nicht mehr besteht. Außerdem bringt auch das „district system“ viele Probleme mit sich. Dazu mehr unter 3.2.1.

[6] Eine Entscheidung die sich zur einem ungeschriebenen Gesetz entwickelte, gebrochen nur durch Franklin Roosevelt, der als Folge des zweiten Weltkrieges eine dritte Amtszeit im weißen Haus verbrachte. Als Konsequenz wurde die Limitierung auf zwei Legislaturperioden 1951 mit dem 22. Amendment auch verfassungsrechtlich abgesichert.

[7] Diese Parteiversammlungen zur Nominierung von Kandidaten für Spitzenämter, waren die Vorläufer zu den heutigen „Primaries“.

Ende der Leseprobe aus 118 Seiten

Details

Titel
Präsidentschaftswahlen in den USA: Ein System mit Demokratiedefiziten ohne Aussicht auf Reform?
Hochschule
Universität Bremen
Note
1
Autor
Jahr
2004
Seiten
118
Katalognummer
V37678
ISBN (eBook)
9783638369527
ISBN (Buch)
9783638705370
Dateigröße
926 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit setzt sich mit der Entstehunggeschichte des "Electoral College", seinen Demokratiedefiziten und den möglichen Alternativen zur Wahl des US-amerikanischen Präsidenten auseinander. Außerdem wird geklärt, warum es nie zu einer grundlegenden Reform des Systems gekommen ist. Zu diesem Zweck wird auch der Ansatz des historischen Institutionalismus herangezogen.
Schlagworte
Präsidentschaftswahlen, System, Demokratiedefiziten, Aussicht, Reform
Arbeit zitieren
Diplompolitologe Jann Claußen (Autor:in), 2004, Präsidentschaftswahlen in den USA: Ein System mit Demokratiedefiziten ohne Aussicht auf Reform?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37678

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