Wer kennt nicht die Märchen von Aschenputtel, Froschkönig, Dornröschen oder Rotkäppchen? Mit kaum einer anderen Erzählform kommen Kinder so häufig, nachhaltig und tiefgehend in Berührung. Dass von Märchen eine erstaunliche Faszination ausgeht und sie einen Einfluss auf Kinder ausüben können, wird von Fachleuten immer wieder unterstrichen. Denn „[…] allein schon die Tatsache, dass sich Märchen als immer wieder erzählte, erst spät schriftlich festgehaltene Geschichten im Gedächtnis der Menschen gehalten haben und diese offensichtlich immer wieder angesprochen haben, mag als Hinweis dafür dienen, dass diese Geschichten mehr sind als nur schöne Unterhaltung.“ Wie ihr Einfluss jedoch zu bewerten ist, darüber gehen die Meinungen oft auseinander.
In der Schule, und insbesondere in der Grundschule, ist die Gattung Märchen fester Bestandteil des bayerischen Lehrplans.
Auch die Identitätsfindung ist dort fest verankert. Ein Grund dafür findet sich in Artikel 131 Absatz 1 der Verfassung des Freistaats Bayern: „Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.“ Der Bildungsauftrag der Schule zielt also auf die ganze Schülerpersönlichkeit ab und schließt somit auch die Identitätsfindung als Erziehungsziel mit ein.
Die Frage Wer bin ich? beschäftigt jeden von uns, und jeder muss für sich selbst eine Antwort darauf finden. Die gesellschaftlichen Veränderungen erschweren es vor allem Heranwachsenden, eine stabile Identität auszubilden und diese zu erhalten. Das Identitätsproblem sollte daher auch in der Schule Berücksichtigung finden. Eine Vorrangstellung hat hierbei sicherlich der Deutsch- bzw. Literaturunterricht. Schließlich stellt die Literatur die Frage nach dem Menschen, seinen Lebensplanungen und -chancen. Lesen und Literatur haben unmittelbar mit den Schülern und ihren inneren Bewegungen zu tun. „Lesebedürfnisse entstehen aus Lebenslagen. […] Wenn wir uns im Literaturunterricht um die Lebenslage und die durch sie beeinflussten Lesebedürfnisse des Schülers kümmern, kann es uns gelingen, Lernvorgänge zu inszenieren, in denen es auch für das Grund-Ich der Schüler Besonderes zu bemerken und zu lernen gibt.“ Darüber hinaus hat Sprache, der Hauptgegenstand des (Deutsch-)Unterrichts, eine fundamentale Bedeutung bei der Entwicklung von Persönlichkeit und Identität. [...]
Inhaltsverzeichnis
- 1. Märchen und Identität im schulischen Bildungsauftrag
- 2. Allgemeines zur literarischen Gattung Märchen
- 2.1 Begriffsdefinition Märchen
- 2.2 Abgrenzung zu anderen epischen Kurzformen, formale Strukturen, Motive und Themen des Märchens
- 2.3 Unterscheidung verschiedener Märchen
- 2.4 Die Gebrüder Grimm und ihre Märchen
- 3. Aspekte der Identitätsorientierung
- 3.1 Was ist Identität? – Identitätstheoretische Ansätze
- 3.1.1 Identitätstheorie nach Mead
- 3.1.2 Identitätstheorie nach Erikson
- 3.1.3 Die Entwicklung von Ich-Identität nach Habermas
- 3.1.4 Identitätstheorien nach Krappmann, Tugendhat und Welsch
- 3.1.5 Narrative Identität nach Keupp, Polkinghorne und Mc Adams
- 3.2 Literatur und Identität
- 3.3 Identitätsorientierter Deutschunterricht nach Spinner, Kreft und Frederking
- 3.4 Produktive Verfahren im identitätsorientierten Unterricht
- 3.5 Kritik am identitätsorientierten Literaturunterricht
- 3.1 Was ist Identität? – Identitätstheoretische Ansätze
- 4. Märchen und Identitätsorientierung - Wirkungsweisen des Märchens auf Kinder und deren Identität
- 4.1 Kognitive Aspekte
- 4.2 Der Grausamkeitsaspekt
- 4.2.1 Grausame Elemente in einem ausgewählten Märchen der Gebrüder Grimm
- 4.2.2 Annahmen über die möglichen Wirkungen grausamer Elemente in Märchen
- 4.3 Der Erziehungsaspekt
- 4.3.1 Fantasie und Realität im Märchen
- 4.3.2 Das Märchen als heimlicher Erzieher
- 4.3.3 Der Einfluss des Märchens auf das soziale und moralische Bewusstsein
- 4.3.4 Der entwicklungs- und tiefenpsychologische Aspekt
- 4.4 Die Bedeutsamkeit des Märchens für die Gegenwart
- 4.4.1 Darstellung seelischer Reifungsprozesse im Märchen
- 4.4.2 Möglichkeiten der Projektion und Identifikation durch Märchen
- 4.4.3 Lebenshilfe und Sinnfindung durch Märchen
- 4.4.4 Ödipale Konflikte und Adoleszenzprobleme im Märchen
- 4.4.5 Ein ausgewähltes Märchen tiefenpsychologisch gedeutet
- 4.4.6 Die Gefahr der Überpsychologisierung des Märchens und seiner Deutungen
- 4.4.7 Eine Parodie der Märcheninterpretation
- 5. Didaktisch-methodische Überlegungen und Unterrichtskonzepte
- 5.1 Didaktische und methodische Überlegungen zum Märchen als Gegenstand identitätsorientierten Deutschunterrichts
- 5.2 Phasen-Modelle identitätsorientierten Deutschunterrichts
- 5.3 Exkurs: Märchen und Medien
- 5.4 Entwurf eines Lernzirkels zum Thema Märchen
- 5.4.1 Lehrplanbezug mit Gesamt- und Teilzielen
- 5.4.2 Vorüberlegungen
- 5.4.3 Unterrichtsverlauf
- 5.4.4 Reflexion
- 5.5 Modell einer identitätsorientierten Literaturunterrichtsreihe zum Märchen Hänsel und Gretel
- 5.5.1 Strukturplan der Unterrichtsreihe
- 5.5.2 Beschreibung der einzelnen Unterrichtsstunden
- 6. Die Eignung von Märchen für den identitätsorientierten Deutschunterricht
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Bedeutung von Märchen im identitätsorientierten Deutschunterricht der Grundschule. Ziel ist es, den Zusammenhang zwischen Märchen als literarischer Gattung und der Identitätsentwicklung von Kindern aufzuzeigen und didaktisch-methodische Konsequenzen für den Unterricht zu formulieren.
- Märchen und ihr Einfluss auf die kindliche Entwicklung
- Identitätstheorien und ihre Relevanz für den Deutschunterricht
- Didaktische und methodische Ansätze für einen identitätsorientierten Märchenunterricht
- Die Eignung von Märchen zur Förderung der Identitätsfindung
- Analyse der Wirkungsweisen von Märchen auf die kognitive und emotionale Entwicklung
Zusammenfassung der Kapitel
1. Märchen und Identität im schulischen Bildungsauftrag: Dieses Kapitel führt in die Thematik ein, indem es die Bedeutung von Märchen im Kontext des bayerischen Lehrplans und des Bildungsauftrags der Schule beleuchtet. Es betont die Relevanz der Identitätsfindung im schulischen Kontext und die Rolle des Deutschunterrichts dabei. Besonders wird auf die Herausforderungen der Identitätsbildung bei Grundschulkindern in der heutigen Gesellschaft eingegangen, und die Arbeit begründet ihre Fokussierung auf den Zusammenhang zwischen Märchen und Identitätsentwicklung in diesem Alter.
2. Allgemeines zur literarischen Gattung Märchen: Dieses Kapitel bietet eine umfassende Einführung in die Gattung Märchen. Es umfasst die begriffliche Abgrenzung, die formalen Strukturen, typische Motive und Themen sowie die Unterscheidung verschiedener Märchenarten. Der Beitrag der Gebrüder Grimm zur Märchenliteratur wird ebenfalls beleuchtet, um ein solides Fundament für die spätere Analyse der Märchen im Kontext der Identitätsentwicklung zu schaffen. Die Kapitel legen den Grundstein für das Verständnis des Mediums Märchen.
3. Aspekte der Identitätsorientierung: Hier werden verschiedene Identitätstheorien (Mead, Erikson, Habermas, Krappmann, Tugendhat, Welsch, Keupp, Polkinghorne und Mc Adams) vorgestellt und deren Relevanz für den Literaturunterricht und die Identitätsentwicklung von Kindern diskutiert. Es wird der identitätsorientierte Deutschunterricht nach Spinner, Kreft und Frederking erläutert sowie produktive Verfahren im identitätsorientierten Unterricht beschrieben und kritisch beleuchtet. Das Kapitel liefert das theoretische Rüstzeug zur Analyse der Interaktion zwischen Märchen und Identitätsfindung.
4. Märchen und Identitätsorientierung - Wirkungsweisen des Märchens auf Kinder und deren Identität: Dieses Kapitel befasst sich eingehend mit den Wirkungsweisen von Märchen auf Kinder und deren Identitätsentwicklung. Es analysiert sowohl kognitive Aspekte als auch emotionale und psychologische Einflüsse, unter anderem den Aspekt der Grausamkeit und den Erziehungsaspekt von Märchen. Die Bedeutung des Märchens für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und die Auseinandersetzung mit seelischen Reifungsprozessen wird ebenso thematisiert wie die Möglichkeiten der Projektion und Identifikation.
5. Didaktisch-methodische Überlegungen und Unterrichtskonzepte: Aufbauend auf den vorherigen Kapiteln entwickelt dieses Kapitel didaktisch-methodische Überlegungen und Unterrichtskonzepte für einen identitätsorientierten Märchenunterricht. Es werden Phasenmodelle vorgestellt, der Einsatz von Medien im Märchenunterricht diskutiert und ein konkretes Beispiel eines Lernzirkels sowie einer Unterrichtsreihe zu „Hänsel und Gretel“ entworfen. Hier wird die praktische Anwendung der theoretischen Überlegungen im schulischen Kontext aufgezeigt.
Schlüsselwörter
Märchen, Identität, Identitätsentwicklung, Grundschule, Deutschunterricht, Literaturdidaktik, Identitätsorientierter Unterricht, Identitätstheorien (Mead, Erikson, Habermas), kognitive Entwicklung, emotionale Entwicklung, Erziehungsaspekt, didaktisch-methodische Überlegungen, Lernzirkel, Unterrichtsreihe.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zu: Märchen und Identitätsorientierung im Deutschunterricht der Grundschule
Was ist der zentrale Gegenstand dieser Arbeit?
Die Arbeit untersucht die Bedeutung von Märchen im identitätsorientierten Deutschunterricht der Grundschule. Sie beleuchtet den Zusammenhang zwischen Märchen als literarischer Gattung und der Identitätsentwicklung von Kindern und formuliert daraus didaktisch-methodische Konsequenzen für den Unterricht.
Welche Aspekte der Märchen werden behandelt?
Die Arbeit behandelt verschiedene Aspekte von Märchen, darunter begriffliche Abgrenzungen, formale Strukturen, typische Motive und Themen, verschiedene Märchenarten und den Beitrag der Gebrüder Grimm. Es werden sowohl die kognitiven als auch die emotionalen und psychologischen Einflüsse von Märchen auf Kinder analysiert, einschließlich des Aspekts der Grausamkeit und des Erziehungsaspekts.
Welche Identitätstheorien werden vorgestellt?
Die Arbeit stellt verschiedene relevante Identitätstheorien vor, darunter die Ansätze von Mead, Erikson, Habermas, Krappmann, Tugendhat, Welsch, Keupp, Polkinghorne und Mc Adams. Diese werden im Kontext des Literaturunterrichts und der Identitätsentwicklung von Kindern diskutiert.
Wie wird der identitätsorientierte Deutschunterricht beschrieben?
Die Arbeit erläutert den identitätsorientierten Deutschunterricht nach Spinner, Kreft und Frederking, beschreibt produktive Verfahren und beleuchtet kritische Aspekte. Es werden didaktisch-methodische Überlegungen und Unterrichtskonzepte für einen solchen Unterricht entwickelt, inklusive Phasenmodelle, dem Einsatz von Medien und konkreten Beispielen wie einem Lernzirkel und einer Unterrichtsreihe zu „Hänsel und Gretel“.
Welche konkreten didaktischen Beispiele werden gegeben?
Die Arbeit enthält ein konkretes Beispiel eines Lernzirkels zum Thema Märchen und einen Entwurf einer identitätsorientierten Unterrichtsreihe zum Märchen „Hänsel und Gretel“, inklusive Strukturplan und Beschreibung der einzelnen Unterrichtsstunden. Lehrplanbezug und Teilziele werden ebenfalls berücksichtigt.
Welche Kapitel umfasst die Arbeit?
Die Arbeit gliedert sich in sechs Kapitel: 1. Märchen und Identität im schulischen Bildungsauftrag; 2. Allgemeines zur literarischen Gattung Märchen; 3. Aspekte der Identitätsorientierung; 4. Märchen und Identitätsorientierung - Wirkungsweisen des Märchens auf Kinder und deren Identität; 5. Didaktisch-methodische Überlegungen und Unterrichtskonzepte; 6. Die Eignung von Märchen für den identitätsorientierten Deutschunterricht.
Welche Schlüsselwörter beschreiben die Arbeit?
Schlüsselwörter sind: Märchen, Identität, Identitätsentwicklung, Grundschule, Deutschunterricht, Literaturdidaktik, Identitätsorientierter Unterricht, Identitätstheorien (Mead, Erikson, Habermas), kognitive Entwicklung, emotionale Entwicklung, Erziehungsaspekt, didaktisch-methodische Überlegungen, Lernzirkel, Unterrichtsreihe.
Für wen ist diese Arbeit relevant?
Diese Arbeit ist relevant für Lehramtsstudierende, Grundschullehrer*innen, Deutschdidaktiker*innen und alle, die sich für den Einsatz von Märchen im Deutschunterricht und deren Bedeutung für die kindliche Identitätsentwicklung interessieren.
Wo finde ich einen detaillierten Überblick über den Inhalt?
Die Arbeit enthält ein detailliertes Inhaltsverzeichnis sowie Zusammenfassungen jedes einzelnen Kapitels, die einen umfassenden Überblick über den Inhalt bieten.
Was ist das übergeordnete Ziel der Arbeit?
Das übergeordnete Ziel der Arbeit ist es, die Bedeutung von Märchen für die Identitätsentwicklung von Grundschulkindern aufzuzeigen und daraus praxisrelevante didaktisch-methodische Konsequenzen für den Deutschunterricht abzuleiten.
- Quote paper
- Julia Moosbauer (Author), 2010, Das Märchen als Gegenstand identitätsorientierten Deutschunterrichts, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/374951