Im April des Jahres 2001 bekam ich Wladimir Kaminers Erstlingswerk „Russendisko“ in die Hände. Obwohl es erst im August 2000 veröffentlicht wurde, handelte es sich schon um die siebente Auflage! Ein Phänomen, welches nicht ganz alltäglich sein dürfte. Ein solcher Erfolg lässt sich nicht nur auf raffinierte Werbe- oder Verkaufsstrategien zurückführen. Auch der Umstand, dass sich sogar Kritiker-Gurus wie Marcel Reich-Ranicki mal ausnahmsweise positiv äußern, hat noch nicht jedem Buch den gleichen, durchschlagenden Erfolg beschert. Sicherlich ist die Wortschöpfung „Russendisko“ als Titel schon glücklich gewählt; schwingt in ihm, zumindest für deutsche Ohren, doch etwas von Halbwelt, Ruchhaftigkeit und Unbekanntem mit. Ältere Menschen wird er womöglich an die, aus der Zeit des „Kalten Krieges“ bekannte, Wendung „Die Russen kommen!“ erinnern. Er bedient auch die bis heute noch anhaltende „Ostalgie“-Welle, die sich nicht nur auf die kulturellen Hinterlassenschaften der DDR, sondern sich auch diffus auf weiter östlich Gelegenes bezieht. Grundsätzlich muss es jedoch noch andere Qualitäten geben, die dieses Buch auszeichnet. Eine der vorrangigen ist wohl, dass es den LeserInnen einfach gut gefällt. Alle Menschen, mit denen ich über das Buch sprach, waren begeistert oder zumindest sehr angetan von der Lektüre. Natürlich hat auch der Hintergrund, vor dem Kaminers Geschichten spielen – Berlin zur Nachwendezeit – seinen besonderen Reiz. Aufbruch ist spürbar, Veränderungen liegen in der Luft, vieles ist nicht vorhersehbar und alles scheint möglich. Zudem ist hier auch etwas ungewöhnliches passiert: Ein Russe schreibt auf deutsch, obwohl er erst seit etwa zehn Jahren in Deutschland lebt, über sein hiesiges Lebensumfeld und die Probleme eines Zugereisten. Diese Perspektive hat für das Lesepublikum offensichtlich etwas sehr Reizvolles. Erfahren wir doch auch etwas über uns selbst, aus dem Blickwinkel eines außerhalb unseres Kulturkreises Kommenden, des „Outsiders“ Kaminer, der mittlerweile längst zum „Insider“ in Sachen Deutschland und hier speziell Berlin avanciert ist. Dieser Umstand muss uns jedoch nicht beunruhigen, denn es liegen ja schon weitere gelungene Machwerke von ihm vor(1).
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1 „Militärmusik“, Goldmann, 8/2001, „Schönhauser Allee“, Goldmann, 12/2001, in Arbeit: „Die Reise nach Trulala“ (Erscheint August 2002. Es laufen schon Lesungen. Empfehlenswert!)
Inhalt
1. Einleitung
2. Das Buch
3. Der Autor
4. Problembereiche eines Zugereisten
4.1 Migration
4.2 Spracherwerb
4.3 Wohnen
4.4 Arbeiten
4.5 Aufenthaltsstatus / Asylrecht
4.6 Integration
4.7 Klischees
5. Schlussbemerkungen
6. Literatur- und Quellenangaben
Studiengang Sozialarbeit / Sozialpädagogik
ASFH-Berlin
3. Sem., WS 2001/02
LV-Nr. 1092/2092
Dozent: Prof. H. Pfütze
Erstellt von: Christoph Heimrod (Matr.-Nr. 030156)
1. Einleitung
Im April des Jahres 2001 bekam ich Wladimir Kaminers Erstlingswerk „Russendisko“ in die Hände. Obwohl es erst im August 2000 veröffentlicht wurde, handelte es sich schon um die siebente Auflage! Ein Phänomen, welches nicht ganz alltäglich sein dürfte. Ein solcher Erfolg lässt sich nicht nur auf raffinierte Werbe- oder Verkaufsstrategien zurückführen. Auch der Umstand, dass sich sogar Kritiker-Gurus wie Marcel Reich-Ranicki mal ausnahmsweise positiv äußern, hat noch nicht jedem Buch den gleichen, durchschlagenden Erfolg beschert. Sicherlich ist die Wortschöpfung „Russendisko“ als Titel schon glücklich gewählt; schwingt in ihm, zumindest für deutsche Ohren, doch etwas von Halbwelt, Ruchhaftigkeit und Unbekanntem mit. Ältere Menschen wird er womöglich an die, aus der Zeit des „Kalten Krieges“ bekannte, Wendung „Die Russen kommen!“ erinnern. Er bedient auch die bis heute noch anhaltende „Ostalgie“-Welle, die sich nicht nur auf die kulturellen Hinterlassenschaften der DDR, sondern sich auch diffus auf weiter östlich Gelegenes bezieht. Grundsätzlich muss es jedoch noch andere Qualitäten geben, die dieses Buch auszeichnet. Eine der vorrangigen ist wohl, dass es den LeserInnen einfach gut gefällt. Alle Menschen, mit denen ich über das Buch sprach, waren begeistert oder zumindest sehr angetan von der Lektüre. Natürlich hat auch der Hintergrund, vor dem Kaminers Geschichten spielen – Berlin zur Nachwendezeit – seinen besonderen Reiz. Aufbruch ist spürbar, Veränderungen liegen in der Luft, vieles ist nicht vorhersehbar und alles scheint möglich. Zudem ist hier auch etwas ungewöhnliches passiert: Ein Russe schreibt auf deutsch, obwohl er erst seit etwa zehn Jahren in Deutschland lebt, über sein hiesiges Lebensumfeld und die Probleme eines Zugereisten. Diese Perspektive hat für das Lesepublikum offensichtlich etwas sehr Reizvolles. Erfahren wir doch auch etwas über uns selbst, aus dem Blickwinkel eines außerhalb unseres Kulturkreises Kommenden, des „Outsiders“ Kaminer, der mittlerweile längst zum „Insider“ in Sachen Deutschland und hier speziell Berlin avanciert ist. Dieser Umstand muss uns jedoch nicht beunruhigen, denn es liegen ja schon weitere gelungene Machwerke von ihm vor[1].
2. Das Buch
Das 192 Seiten umfassende Buch versammelt 50 Prosatexte, die selten länger als drei bis vier Seiten sind. Der Titel „Russendisko“ stammt von einer Veranstaltung, die Kaminer auf Anregung seiner Frau Olga organisierte:
„Olga monierte, Wladimir schreibe auf Deutsch, und überhaupt engagiere er sich nur für die Deutschen. ‚Mach doch mal was für unsere Landsleute.’ ‚Was denn?’ ‚Veranstalte eine Russendisko.’ Am 6. November 1999 fand die erste Fete statt. In der Tacheles-Kneipe Zapata lud Kaminer zum ‚Wilden Tanzen in den Jahrestag der grossen Oktober - Revolution’. ‚Es kamen aber nur Deutsche’, erzählt er.“[2]
Die Russen kamen erst später hinzu und aus der Veranstaltung entstand die populäre, ständig überfüllte „Russendisko“, welche regelmäßig im Kaffee Burger, in der Torstraße 60 (Berlin-Mitte), zelebriert wird.
In der ersten Geschichte „Russen in Berlin“ erzählt Kaminer, wie er 1990, als Teil der „Avangarde der fünften Emigrationswelle“[3], in die damals gerade noch existierende DDR kam. Die in den weiteren Geschichten geschilderten Begebenheiten sind zumeist skurrile Alltagsbeobachtungen, die sich hauptsächlich im Mikrokosmos Prenzlauer Berg, in dem er seit geraumer Zeit seinen Wohnsitz hat, abspielen. Dabei wird nicht auf penetrante Art und Weise problematisiert. Kaminer beschreibt die Personen seiner Stücke und die oft vertrackten Umstände, in denen sie stecken, vielmehr lakonisch und mit leicht amüsiertem Wohlwollen. Niemandem wird fies vor den Kopf gestoßen, der ganz normale Wahnsinn des Alltags spricht für sich selbst. Der Autor versteht es, eine Atmosphäre der Sympathie und Versöhnlichkeit aufzubauen, der man sich als LeserIn nur schwer zu entziehen vermag. Es wird klar, dass er, wie die Berliner selbst, Spaß an seinem hiesigen Leben hat. Ganz anders als viele seiner Landsleute in der ehemaligen Heimat:
„Die Berliner tun stets, was sie für richtig halten und haben am Leben Spaß. In Moskau dagegen kam es zu einer Serie von Selbstmorden, als die Tagesschau einmal zwanzig Minuten später gesendet wurde, und viele flohen aus der Stadt, weil sie dachten, die Welt gehe unter. Laut Statistik haben in Russland nur 17,8 Prozent der Bevölkerung an ihrem Leben Spaß. Zu viele Mücken wahrscheinlich. Deswegen ziehe ich Berlin vor.“[4]
3. Der Autor
Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren. Nach einer Ausbildung zum Toningenieur für Theater und Rundfunk studierte er Dramaturgie am Moskauer Theaterinstitut. Er war in der Moskauer Rockszene aktiv, veranstaltete Untergrundkonzerte und gründete eine unabhängige Theaterwerkstatt. Nach einem Happening zum fünften Todestag John Lennons wurde er von der Polizei aufgegriffen und vor die Wahl gestellt, ins Gefängnis zu gehen oder der Armee beizutreten. Aus seiner Entscheidung für die zweite Variante stammt auch der Stoff für seinen Roman „Militärmusik“. 1990 reiste er für 96 Rubel, zusammen mit einem Freund, spontan mit dem Zug nach Ostberlin. Hier wurde er, aufgrund seiner Abstammung, als anerkannter Jude mit einem ostdeutschen Ausweis versehen. Später lernte er seine Frau Olga kennen und bekam mit ihr zwei Kinder. Nach einer Arbeit als Theatertechniker und einer eigenen Inszenierung auf einem Theaterschiff, kam er eher zufällig zum Schreiben, als ihn ein taz-Autor (Helmut Höge), nach einem Vortrag über neue russische Literatur ansprach, ob er nicht Lust hätte, etwas für die taz zu schreiben.
„ ‚Ich sagte ihm, dass ich nicht wüsste, was ich schreiben sollte’, sagt Kaminer. Höge erwiderte: ‚Vollkommen egal. Jetzt ist Weihnachten, schreib, wie die Russen Weihnachten feiern.’ Er habe dann, sagt Kaminer weiter, noch gesagt, dass Russen nicht Weihnachten feiern. Aber Höge meinte: ‚Schreib es trotzdem.’ “[5]
So erschien 1998 Kaminers erster Text in der taz: „Wodka, rasiert“. Seitdem gibt es wohl nur wenige Feuilletons, für die er noch nicht geschrieben hat. Er hat seine regelmäßige Kolumne „Intershop“ in der taz, veröffentlicht auf den „Berliner Seiten“ der FAZ, schreibt für die russische Zeitung „Russkij Berlin“ und arbeitet seit Juni 1999 regelmäßig für den Sender SFB 4 Radio MultiKulti. Dort hat er eine wöchentliche Kolumne, die jeden Samstag um 8:40 Uhr ausgestrahlt wird. „Wladimirs Welt – Notizen eines Alltagskosmonauten“ ist wegen einer Kooperation mit dem WDR und Radio Bremen auch im Sendegebiet des Funkhaus Europa zu hören. Lesereisen, Interviews und die Organisation der „Russendisko“ füllen neben weiteren Projekten seinen prallen Terminkalender.
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[1] „Militärmusik“, Goldmann, 8/2001, „Schönhauser Allee“, Goldmann, 12/2001, in Arbeit: „Die Reise nach Trulala“ (Erscheint August 2002. Es laufen schon Lesungen. Empfehlenswert!)
[2] Riedi, 2001
[3] Kaminer, 2000
[4] Ebd.
[5] Bartels, 2001