Die vorliegende Arbeit stellt sich der Aufgabe, den Status des Verstorbenen beim Kasus der Bestattung zu untersuchen. Dabei geht sie von eigenen praktischen Erfahrungen aus 30 Jahren im Pfarrdienst aus, nimmt Beobachtungen auf, die Veränderungen in der Haltung der Hinterbliebenen, der Bestatter, der Friedhofsmitarbeiter und der Kollegen im Pfarrdienst zeigen und reflektiert diese durch Einbezug der in den letzten Jahren in großer Breite erschienen Literatur.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
1 Welchen Status hat der/die Verstorbene beim Kasus Bestattung?
1.1 Äußerungen durch die Hinterbliebenen
1.1.1 Todesanzeigen
1.1.2 Mitgestaltung der Trauerfeier
1.1.3 Musikwünsche
1.1.4 Grabtext
1.1.5 Rückmeldungen nach der Trauerfeier
1.1.6 Rückmeldungen aus der Trauerseelsorge
1.2 Rückmeldungen durch andere Akteure im Bestattungshandeln
1.2.1 Rückmeldungen durch die Bestatter
1.2.2 Rückmeldungen durch die Mitarbeiter des Friedhofes
1.2.3 Rückmeldungen der Pfarrer der Region
2 Welchen Status hat der/die Verstorbene aus biblisch-theologischer Sicht?
3 Welche Aufgabe ergibt sich daraus für das pastorale Handeln?
Anhang
Todesanzeigen-Dokumente
Grabtextfotografien
Briefdokumente
Textdokumente
Literaturverzeichnis
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist im Rahmen eines Kontaktstudiums an der Philipps- Universität Marburg in der Zeit vom 17.1.-28.5.2016 entstanden. Mein Dank gilt Frau Prof. Ulrike Wagner-Rau für eine erste Weichenstellung und Herrn Prof. Marcell Saß für seine kritische Begleitung. Ich unternehme nicht den Versuch, das Thema umfassend deduktiv zu erfassen und zu gliedern, son- dern gehe von meinen Beobachtungen und Erkenntnisfortschritten während der Beschäftigung damit aus und versuche abzuleiten, was sich daraus ver- allgemeinern lässt. Das ursprünglich sehr weiträumig gefasste Vorhaben, Individualisierungstendenzen bei Kasualien nachzugehen, wurde im Laufe der Wochen immer spezifischer, bis sich die Fragestellung herauskristallisier- te, der ich letztlich nachgegangen bin.
Außerdem danke ich den Schwestern und Brüdern im Pfarramt der beiden Evangelischen Kirchenkreise Wetzlar und Braunfels, die nicht nur auf meine Fragen geantwortet , sondern mir auch Predigten und Gesamtabläufe ver- gangener Trauerfeiern anvertraut haben. Mein Dank geht auch an die Wetz- larer Bestatter, Ingrid Geiger, Regine Sarges und Michael Czybik, die mir Zeit und Einblick in ihre Arbeit gewährt und auf meine Fragen bereitwillig geant- wortet haben, sowie an Frau Sabine Müller und Herrn Rainer Hasse als Mit- arbeitern der Wetzlarer Friedhöfe für ihre Offenheit und ihre Auskünfte.
Zuletzt gilt mein Dank meinen Töchtern Henriette und Friederike, die mir bei der für mich schwierigen graphischen Gestaltung der Arbeit geholfen haben und insbesondere Friederike für die Grabtextfotos. Meiner Frau Dorothea, die mit viel Verständnis und Geduld die Arbeit am Thema ermöglicht und mit ihren Nachfragen dafür gesorgt hat, dass der Text verständlicher wurde, sowie meinem Sohn Wilhelm, der es ertragen hat, dass es in Gesprächen zu Hause so oft um Tod und Bestatten ging.
Die Studienarbeit ist „partio-gendera“ verfasst. Das heißt, dass ich nicht immer gendergerecht formuliert habe, dass diejenigen, denen das wichtig ist es sich dazu denken sollen.
Zitate habe ich in der mir schriftlich gesandten Version belassen. Die Todes- anzeigen im Anhang habe ich abgebildet, da sie über die Zeitungsveröffent- lichung zugänglich waren und sind. Die an mich persönlich adressierten Brie- fe habe ich nur in ihrem zitierten Teil abgedruckt, um die Identität der Absen- der, aber auch der Verstorbenen, auf die die Passagen sich beziehen, zu schützen.
Einleitung
Welchen Status hat der Verstorbene bei der Bestattung? „Ich trag‘ Dich bei mir, bis der Vorhang fällt“1
Als Herbert Grönemeyer 2002, mehr als drei Jahre nach dem Tod seines Bruders Wilhelm (1.11.98) und seiner Frau Anna (5.11.98) das Album „Mensch“ veröffentlichte, rührten die authentischen Texte in Kombination mit der Musik Millionen Deutsche zu Tränen. Grönemeyer verarbeitete lyrisch- musikalisch, seine Trauer. Die Schlüsselzeile des Liedes „Der Weg“ benennt, was andere intensiv trauernde Menschen nachempfinden können und mit diesen Worten für sich nachsprechen: „Ich trag‘ Dich bei mir, bis der Vorhang fällt.“ Dem von Herbert Grönemeyer poetisch ausgedrückten Bedürfnis, der darin liegenden Hoffnung, dass etwas von einem von mir geliebten anderen Menschen bleibt, ja dass dieser Mensch dadurch in einer Form bleibt, der nur die Musik und Poesie sich annähern können, versuche ich in der vorliegen- den Arbeit nachzugehen. Wer ist der verstorbene Mensch nach dem Tod? Wie verhalten wir uns zu ihm als Hinterbliebene und als professionelle Akteu- re im Bestattungshandeln?
Im Folgenden versuche ich, mich dem Thema zu stellen, indem ich schildere, woran ich mich erinnere, wenn ich über Abschiede von geliebten Menschen nachdenke. Die geschilderten Beispiele haben mich zum Teil Jahrzehnte lang bewegt; in dieser Studienarbeit erzähle ich von ihnen, um von da aus herauszuarbeiten, was meiner Ansicht nach für das pastorale Handeln im Kasus Bestattung von großem Gewicht ist, theologisch aber selten reflektiert wird.
Erste Wahrnehmung
Am 8. März 1986, dem Tag meines Ersten Theologischen Examens, starb meine Lieblingstante Elfriede nach jahrelangem Krebsleiden. Sie war eine Seele von Mensch und in der Familie und in der Nachbarschaft äußerst beliebt und wertgeschätzt, weil sie jeden so annehmen konnte, wie er war, weil sie über niemanden schlecht redete und für jeden eine offene Tür, ein offenes Ohr und ein offenes Herz hatte. Nachbarskindern wurden Bonbons zugesteckt, in ihrem riesigen Garten duften wir spielen und toben, Erntega- ben wurden freigebig verschenkt und sie konnte viele der Grimm‘schen Mär- chen wortgetreu nacherzählen, während sie in der Sonne vor dem Haus Äp- fel oder Birnen schälte und an uns Kinder verteilte oder Wollsocken strickte. Ihr Tod an diesem besonderen Tag mischte Trauer in mein Hochgefühl ob des bestandenen Examens. Wenige Tage später, nachdem das halbe Dorf von ihr Abschied genommen oder meinem Onkel im Haus kondoliert hatte, Eine Frage, die mich in mein Vikariat begleitete, wo ich direkt nach dem dreimonatigen Schulpraktikum erste eigene Erfahrungen mit dem Kasus Bestattung machen konnte.
Eines war mir seit jenem Erlebnis jedenfalls klar: wenn ich selbst einmal in Verantwortung für die Gestaltung eines Bestattungsgottesdienstes stünde, würde ich sehr genau zuhören, was die Angehörigen mir aus dem Leben des Verstorbenen erzählen und ich würde mich sehr genau im privaten Umfeld der Wohnung umsehen, um Zeichen zu erkennen, die etwas darüber hinaus zur Persönlichkeit des Verstorbenen erzählen können, um die Angehörigen gezielt danach zu fragen. Außerdem würde ich niemals Herr XY oder Frau XY sagen, sondern den Taufnamen ohne Anrede verwenden.
Zweite Wahrnehmung
Nach dem Vikariat kam ich als Pastor im Hilfsdienst in eine andere Kirchen- gemeinde. Der damalige Superintendent war Pfarrer dieser Gemeinde seit fast 30 Jahren. Er hatte als Assistent bei dem Karl-Barth-Schüler G.C. Berkouwer gearbeitet und vertrat die Ansicht, die Vita des Verstorbenen habe auf der Kanzel nichts zu suchen. Eine spannende theologische Diskussion war die Folge, die mich in meiner Meinung bestärkte, mir aber half, noch einmal neu darüber nachzudenken, worum es bei der Bestattung geht. Seit dieser Zeit, Ende der 80er Jahre, bete ich vor jeder Beisetzung darum, dass Gott mir hilft, den Angehörigen, dem Verstorbenen, dem Evangelium und auch mir als Person und in meinem Amt gerecht zu werden.
Dritte Wahrnehmung
Im Oktober 2006 verstarb mein Jugendfreund Jürgen im Alter von 44 Jahren. Er war eine überaus markante Persönlichkeit mit zahlreichen Nuancen und Facetten. Schon zu Lebzeiten waren einzelne Episoden seiner Vita zu einer Art Legende im Heimatort geworden. Ein Mann, wie ein Baum, ein Mensch, der sich in seinen Überzeugungen von nichts und niemandem abbringen ließ, ein Mensch mit reichlich Ecken und Kanten, der sich nicht darum scher- te, wenn andere sich daran stießen. Jürgen liebte die Freiheit und nahm sich reichlich Zeit, Orte auf der Welt aufzusuchen, die für ihn ein Optimum an per- sönlicher Freiheit gewährten. Fündig geworden war er in den Weiten der ka- nadischen Rocky Mountains und des Nordwest-Territoriums. Dorthin zog er sich öfter für mehrere Wochen zurück und kehrte dann so zurück, als habe er in einem Jungbrunnen gebadet. Er war unverheiratet und gut situiert, doch neben seinen zahlreichen Stärken, gab es die große Schwäche, nicht zu sei- nen schwachen Seiten stehen zu können. Und so verwunderte es keinen, dass er über seine Krebserkrankung bis kurz vor seinem Tod mit niemandem gesprochen hatte. Auch mit mir nicht, fürchtete er doch, dass ich ihn dann hätte „bekehren“ wollen, wie er nach einem Herzinfarkt auf der Intensivstati- on bei einem meiner Besuche einmal augenzwinkernd bemerkt hatte.
Auch zu seiner Beisetzung hatte sich eine große Schar Menschen versam- melt. Die Betroffenheit vor allem bei den zahlreichen Männern mittleren Al- ters, die gekommen waren, um von ihm Abschied zu nehmen, war im Raum deutlich spürbar.
Der Pfarrer betrat mit einem Lächeln die Kapelle. Er war dafür bekannt, dass er auch in schwersten Trauersituationen lächelte, weil er ja an die Auferste- hung glaubte und die damit verbundene Hoffnung sichtbar zeigen wollte. Was liturgisch geschah, habe ich verdrängt, so sehr war ich darüber verär- gert. Auch er schuf Distanz, indem er immer von Herrn Jürgen M. sprach. Doch dann nutzte er in der Predigt jede noch so dürftig vermittelte persönli- che Notiz aus dem Leben meines guten Freundes Jürgen als eine Art Sprungbrett, um das Evangelium „unterzubringen“. Noch heute bin ich wü- tend darüber, wie unsensibel er mit dem Stichwort Kanada, das bei Jürgen ja für so vieles stand, umging. Sinngemäß sagte er etwa: Er reiste gerne nach Kanada, der Freiheit wegen. Wahre Freiheit finden wir aber nur in Jesus Christus. Dieses Evangelium kam nicht an, wie mir mehrere alte Bekannte beim Trauerkaffee anvertrauten. Nach dem Leichenschmaus habe ich Erin- nerungsorte unserer Kindheit und Jugend aufgesucht, wo er mir näher war, als in Anwesenheit seines Sarges und den frommen Plattitüden des Kolle- gen.
Vierte Wahrnehmung
Im Januar 2011 besuchte ich eine Frau unserer Gemeinde zum 90. Geburts- tag. Ich war der einzige Gast an diesem Vormittag. Johanna S. war mir be- kannt, und es entwickelte sich ein gutes, intensives Gespräch. Während die- ses Gespräches fiel mein Blick auf ein Kinderbild, vor dem frische Schnitt- blumen und eine brennende Kerze standen. Danach befragt, vertraute mir Johanna S. an, dass dies das einzige Bild sei, das ihre Tochter Britta zeige, die mit vier Jahren verstorben sei. Wenn sie vor dem Bild stehe, rede sie oft mit ihr und erzähle ihr, was alles in der Familie passiere. Frau S. war sichtlich bewegt, als sie die Umstände des Sterbens schilderte. Sie habe als Mutter einem Kuraufenthalt zugestimmt und dort sei Britta dann verstorben. Schuld- gefühle nach 63 Jahren. Tiefe Trauer nach 63 Jahren. Aber nicht so, dass dadurch die schönen Seiten des Lebens nicht gelebt worden wären. Johanna S. war eine lebensfrohe alte Dame. Doch der besondere Tag verlangte offenbar nach Veröffentlichung dieser späten Trauer.
Oft begegne ich auf den Wetzlarer Friedhöfen Menschen, die noch nach Jah- ren trauern und habe das noch nie als krankhaft erlebt. Sie reden am Grab oder an Orten, die bedeutsam waren für sie und den oder die Verstorbene/n mit ihm oder ihr. Sie haben deutlich das Gefühl, dass ihre Lieben nicht ganz weg sind, nicht in einem schwarzen Nichts verschwunden, sondern noch da, real, aber anders.
In den 30 Jahren meines Dienstes als Vikar und Pfarrer habe ich 896 Men- schen bestattet. In den ersten Dienstjahren waren es nie über 20 Bestattun- gen pro Jahr, doch bedingt durch eine Vergrößerung des Zuständigkeitsge- bietes sind es seit 1995 nie weniger als 28 und seit 2008 nie unter 40 pro Jahr gewesen. Trauerfälle, Menschen, Individuen. Dreimal habe ich Familien begleitet, die ihr Kind durch plötzlichen Kindstod verloren haben. Zweimal musste ich den schweren Gang antreten und Kinder bestatten, die bei Unfäl- len gestorben waren. Drei der ehemaligen Konfirmanden musste ich beiset- zen und viele Menschen, die noch nicht alt und lebenssatt waren. Viermal haben wir Mordopfer zu Grabe getragen und 51 Menschen, die ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt hatten, weil der nächste Schritt im Leben schwerer erschien, als der eine Schritt heraus. Ich habe Verwandte und Freunde bestattet, wobei mir eine gewisse Professionalität geholfen hat. Der älteste Mensch, den ich bestattet habe war fast 106 Jahre alt, der jüngste fünf Monate. Insgesamt achtmal waren außer mir nur die Sargträger und die Bestatterin bei den Beisetzungen anwesend, die jedoch auf meine Bitte hin blieben und damit einen Gemeindebezug herstellten.
Wie in Wetzlar seit langem üblich, dominierten von Anfang meines Dienstes an die Urnenbeisetzungen mit insgesamt über 70 Prozent. Seit 2004 - wohl im Zusammenhang mit der Streichung des Sterbegeldes durch den Gesetz- geber - sind es jeweils mehr als 80 Prozent Urnenbeisetzungen pro Jahr.
896 Fälle, 896 Menschen, 896 Individuen. Und über diese 30 Jahre hat sich mir immer stärker die Frage aufgedrängt, welchen Status der/die Verstorbene bei der Kasualie Bestattung hat?
Als im November 1994 die Mutter einer sehr engagierten Presbyterin starb, erzählte sie mir, dass ihr nach dem Tod der Mutter einzig das Lied: „Weißt du, wieviel Sternlein stehen“ eingefallen sei, weil das ihre Mutter mit ihr als Kind abends vor dem Schlafengehen gesungen habe, und bei der letzten Zeile seien die Tränen gelaufen. „Kennt auch dich und hat dich lieb, kennt auch dich und hat dich lieb“. Kindheitswelten taten sich auf und Trost aus dieser schlichten Botschaft, in der doch das ganze Evangelium steckt, dass Gott jeden einzelnen kennt und liebt. Was heißt das aber für unseren Um- gang mit den Verstorbenen bei der Bestattung? Wie kommt dieser geliebte Einzelne dort vor?
In der Literatur wurde lange vor allem unter seelsorglichen Aspekten, von den Angehörigen her, gedacht. Was brauchen die Angehörigen, was tröstet sie, wie sollten sie begleitet werden?
Es gibt zahlreiche praktisch-theologische, soziologische und psychologische Veröffentlichungen zum Thema Todesverdrängung, die Bestattung als Ritual ist breit diskutiert worden, ebenso die Bestattungshomiletik. Es gibt Untersu- chungen zu Todesanzeigen, zum Grabtext und zur Bestattungsmusik. Die Zahl der Veröffentlichungen zum Thema Bestattung in den letzten 20 Jahren ist schier unüberschaubar, was ein Blick in das Literaturverzeichnis dieser Studienarbeit belegt, das rudimentär und exemplarisch ist. Dass es so viel neuere theologische Literatur zum Thema Bestattung gibt, liegt wohl auch daran, dass sich auf diesem Gebiet enorm viel verändert. Auch die Ratgeber- literatur zum Thema Sterben und Trauern ist ausufernd.
Gleichwohl gibt es recht wenige Veröffentlichungen zur Frage des Status des/r Toten bei der Bestattung. In der vorliegenden Arbeit unternehme ich den Versuch, mich dieser Frage- stellung auf unterschiedlichem Weg zu nähern. Zunächst aus der Beobach- terperspektive. In einem ersten Schritt widme ich mich den Beobachtungen, die ich bezüglich der Äußerungen durch die Angehörigen gewonnen habe. Die Angehörigen äußern sich durch Todesanzeigen, im Kasualgespräch, durch Mitgestaltung der Trauerfeier, durch den von ihnen gestalteten Grab- text und durch Rückmeldungen an die Bestatter bzw. an den Pfarrer/die Pfar- rerin. Sie äußern sich darüber hinaus, wenn ich ihnen absichtlich oder zufäl- lig als Seelsorger begegne. In Anlehnung an Joachim Matthes habe ich die Kasualien nie isoliert als gottesdienstliches Handeln verstanden, sondern als gestreckte Kasualien oder als „integrative Amtshandlungen“.2 Die Studienar- beit geht zunächst induktiv vor, das bedeutet, dass ich von Beispielen aus der eigenen oder beobachteten Praxis ausgehe, um von da aus allgemein gültige Schlüsse zu ziehen.
Dazu habe ich über den Verlauf eines Kalenderjahres die Todesanzeigen in unserer Lokalzeitung, der „Wetzlarer Neuen Zeitung“, gesichtet und daraufhin betrachtet, welchen Status die Verstorbenen darin für die Angehörigen haben. Prägnante Beispiele zeige ich im Anhang.
Ich habe die ortsansässigen Bestatter interviewt und später noch einmal per Mailabfrage konkret zur Thematik befragt, auch den Leiter des städtischen Friedhofsamtes und eine Friedhofsmitarbeiterin habe ich interviewt, sowie befreundete Kollegen aus ganz Deutschland.
Gezielt habe ich per Mail die Kollegen der beiden zur hessischen Enklave der Evangelischen Kirche im Rheinland gehörenden Kirchenkreise Wetzlar und Braunfels befragt , sie um Beispiele aus ihrer Bestattungspraxis gebeten und diese betrachtet. Auch Beispiele aus der eigenen Praxis habe ich noch einmal näher in Augenschein genommen und betrachtet, welchen Status der/die Verstorbene in meiner Kasualpraxis einnehmen.
Gleichzeitig habe ich durch eine umfangreiche Literaturrecherche versucht, die Frage praktisch-theologisch zu reflektieren und für mich zu beantworten. Insbesondere Impulse der Soziologie und der Seelsorgetheorie waren dabei hilfreich.
Die zweite Frage, die sich für mich während der Studienzeit ergab, ist eine pastoraltheologische: Welche Aufgabe folgt aus den Antworten zur Frage, welchen Status der Verstorbene beim Kasus Bestattung einnimmt, für das pastorale Handeln.
1 Welchen Status hat der/die Verstorbene beim Kasus Bestattung?
„Wie definieren die Lebenden die Toten?“3 Von dieser Leitfrage aus betrach- te ich im Folgenden die Äußerungen der verschiedenen Akteure im Bestat- tungshandeln. Zentral dabei sind die Äußerungen der Angehörigen, die sichtbar werden in der Gestaltung von Todesanzeigen, der Mitgestaltung der Trauerfeier, der Musikauswahl zur Bestattung, dem Grabtext, den mündli- chen oder schriftlichen Rückmeldungen an die Bestatter oder den Pfarrer und in den Seelsorgesituationen in zeitlichem Abstand zur Beisetzung. Da- nach betrachte ich die Äußerungen der anderen Akteure, Bestatter, Pfarrer, Friedhofsmitarbeiter. Die Beobachtungen werden jeweils durch aus der Fachliteratur gewonnenen Erkenntnissen kommentiert. Am Ende jedes Ab- satzes entwickele ich daraus eine Schlussfolgerung, die im dritten Teil der Arbeit: „Welche Aufgabe ergibt sich daraus für das pastorale Handeln?“ wie- der aufgegriffen wird. Ausgangspunkt der Analyse ist dabei das Votum Wil- helm Gräbs: „Sie (Menschen) verhalten sich auf gestaltende Weise zum Tod. Sie tun das, indem sie den Toten ihr Grab und damit ihre Ruhestätte geben, indem sie sie in ihrer Erinnerung aufbewahren, indem sie sich Vorstellungen davon machen, was mit ihnen nach dem Ende dieses irdischen Daseins sein wird.“4 Was davon zu erkennen ist, versuche ich in der vorliegenden Arbeit herauszufinden und dadurch Antworten zu geben auf die oben genannte Leitfrage.
1.1 Äußerungen durch die Hinterbliebenen
„Das gegenwärtig erlangte Maß an Professionalisierung im Kontext von Ster- ben und Tod zeigt, dass auch diesbezügliche Angelegenheiten dem familiä- ren Zuständigkeitsbereich weitgehend genommen worden sind. Einzig die Todesanzeige, der Ablauf der Trauerfeier sowie die Gestaltung des Grabes bleiben in der Verantwortung der Familienmitglieder.“5 Die Hospizbewegung, die Kirchen und die meisten Bestatter versuchen den Angehörigen nahezu- legen, sich körperlich von ihren Verstorbenen zu verabschieden, Tote zu ver- sorgen und auszusegnen, weil das für die Realisierung des Todes wichtig ist. „Die handgreifliche Interaktion mit dem toten Körper wird als eine spezielle ‚religiöse‘ Erfahrung gedeutet und erlebt.“6 Doch dies ist in Deutschland noch nicht der Normalfall. Dabei stellt der Abschied am offenen Sarg oft die letzte Möglichkeit dar, „unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit dem Verstorbenen in Interaktion zu treten. Auch wenn der Tote nicht reagieren kann, ist es in die- ser Situation legitim von Interaktion zu sprechen, da die verstorbene Person in der Abschiedssituation häufig noch als Person betrachtet wird, die man beispielsweise ansprechen kann. Entsprechend ist auch der Abschiedssegen in der Württembergischen Agende (Und auch den Agenden der VELKD und der UEK, Anmerkung von mir) in der 2. Person Singular formuliert und auf den Toten bezogen.“7
Ein fünfzigjähriger Erwachsener hat in Deutschland außerhalb der Medien in der Regel noch keinen Toten gesehen oder sich mit dem Thema „Umgang mit Verstorbenen“ aus eigener Betroffenheit befassen müssen. Das führt dazu, dass es im Fall des Todes eines nahen Angehörigen keine eingeübten Verhaltensmuster gibt, dass die Angehörigen folglich unsicher sind, wie sie sich zu verhalten haben und was zu tun ist.
Vorauszuschicken ist, dass nur in den Fällen etwas über die Haltung der An- gehörigen zu erkennen ist, in denen sie anlässlich des Todes eines Men- schen handeln. In der Bundesrepublik Deutschland sterben pro Jahr etwa 850.000 Menschen.8 Ungefähr halb so viele Todesanzeigen werden veröf- fentlicht, woraus sich ableiten lässt, „dass etwa genauso vielen Verstorbenen keine Anzeige gewidmet wird“9 Außer den anonymen Bestattungen, die durch die Ordnungsämter angeordnet werden, werden laut Beerdigungsun- ternehmern etwa in Hamburg bis zur Hälfte der Verstorbenen ohne Trauer- feier beigesetzt,10 im Fachjargon heißt das dann „stiller oder einfacher Ab- trag“. Laut einer Studie der Universität Leipzig aus dem Jahr 2010 werden in Deutschland 22 % der Verstorbenen anonym beigesetzt.11 Das heißt, „in über einem Fünftel der Bestattungsfälle (wird) in Deutschland die Variante größtmöglicher Reduktion von Semiotizität sowie Nichtbeteiligung Hinterblie- bener gewählt.“12 In allen diesen Fällen lässt sich die Frage, wie die Leben- den die Toten definieren, aufgrund fehlender Dokumente nicht beantworten. Für die christlichen Kirchen sollte das aber Grund sein, sich verstärkt darum zu bemühen, dass getaufte Glieder am Leib Christi, deren Name vor Gott bei der Taufe genannt wurde und die zur Gemeinschaft gehören, nicht ohne Ge- bet und Segen beigesetzt werden.
Nach Auskunft des Wetzlarer Friedhofsamtes werden in Wetzlar zwar seit über 10 Jahren stetig über 80 % der Verstorbenen kremiert und es erfolgen Urnenbeisetzungen, der Anteil der anonymen, also nicht in einer namentlich gekennzeichneten Einzelgrabstelle beigesetzten Verstorbenen, liegt aber unter 10 %.13
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich demzufolge mit durch Angehörige Verstorbener dokumentierten Äußerungen. Die folgenden Abschnitte be- schreiben die Äußerungen in Todesanzeigen, durch Mitgestaltung der Trau- erfeiern, durch Musikwünsche, durch Grabtexte und in Form von Rückmel- dungen durch Angehörige nach Bestattungen. Da ich keine Gesprächsproto- kolle von Kasualgesprächen anfertige, verfüge ich über kein verifizierbares Material, um die Ausgangsfrage von daher zu beantworten. Es bliebe bei Vermutungen. Deshalb kann ich diese oben genannte Form der Äußerungen durch Angehörige nicht auswerten. Bei den Hausbesuchen zur Vorbereitung eines Trauergottesdienstes halte ich es aber für unerlässlich, nicht nur die verbalen Äußerungen der Angehörigen zu beachten und genau hinzuhören und mich rück zu versichern, sondern in frei schwebender Aufmerksamkeit sehr genau auf Details in der Wohnung zu achten, die etwas Wichtiges über die verstorbene Person erzählen. Sehr lehrreich war für mich dabei einst die Lektüre des Romans „Rot“ von Uwe Timm, in dem der gerade verstorbene Beerdigungsredner Thomas Linde aus seiner Praxis erzählt. Timm schreibt: “Etwas, ein Detail, muß gefunden werden, das die Leute zum Reden bringt, über sich, über den Verstorbenen, so wie dieser Schrank, genauer der Sprung in der Marmorplatte des Schranks.“14 Es folgt dann die Episode aus dem Leben der Verstorbenen, die diesen Schrank so bedeutsam macht und etwas Maßgebliches über diese Frau erzählt, etwas, das Lindner aufgreifen, um das er seine Rede herum aufbauen wird. Lindner lernt daraus, so wie ich auch: „Ich stieg die Treppe hinunter und dachte, du mußt dich ändern, du mußt die Dinge wieder an dich herankommen lassen, hinsehen, genau, diese flusige Wahrnehmung, der Sprung in diesem spießigen, ja gräßlichen Schrank macht ihn zu etwas ganz Einmaligem.“15 Solche Beobachtungen helfen mir bei der Grundierung einer Bestattungspredigt, weil sie mir ein Ge- spür für den verstorbenen Menschen geben. Sie sind für mich förmliche Schlüsselwahrnehmungen. Bei der Lektüre zur Vorbereitung dieser Arbeit habe ich bei Lutz Friedrichs eine ähnliche Episode gefunden, in der er von einem Kasualgespräch erzählt, in dem die Tochter der Verstorbenen eine Kindheitsszene erzählt: „Ihr Vater war als Offizier auf Norderney, hat von da dunkelblaue Decken mit hellblauen Streifen mitgebracht, woraus die Mutter Mäntel für die Kinder genäht hatte. Die seien ‚sehr schön‘ gewesen, und ‚warm‘.“16 Dieses Bild wird für ihn handlungsleitend bei der Verfassung der Predigt. Friedrichs geht es dabei darum, Gottes Spuren in der Lebensge- schichte zu entdecken. Verstorbene sind für ihn Menschen, in deren Lebensgeschichte Gott Spuren hinterlassen hat, die den Angehörigen beim Trauergottesdienst gezeigt werden sollten.
1.1.1 Todesanzeigen
Im Zeitraum zwischen Juni 2015 und Mai 2016 habe ich die in der Lokalzeitung „Wetzlarer Neue Zeitung“ veröffentlichten Todesanzeigen gesammelt und der Frage unterzogen, welche Rolle der/die Tote in ihnen spielt. Dabei sind mir im Vergleich zu zurückliegenden Jahren folgende Phänomene aufgefallen, aus denen sich eine veränderte Haltung zum Tod und zum Umgang mit Traditionen erkennen lässt:
1. Portraits der verstorbenen Person werden abgebildet.
2. Verstorbenen wird eine aktive Rolle als Sprecher zugewiesen.
3. Verstorbene werden in 2. Person Singular angesprochen.
4. Die Inserenten verwenden nur ihre Vornamen.
5. Symbole als Zeichen von Lebendigkeit (Blumen, Bäume, Hobbies u.a.) sind zu sehen.
6. Ewigkeitsaussagen werden gemacht (immer, nie, unendlich).
7. Die bleibende Erinnerung sichert die Gegenwart und Zukunft des Verstor- benen.
8. Das Kreuz als Symbol verschwindet mehr und mehr.
Manchmal befinden sich auch mehrere dieser Merkmale auf einer Anzeige.
Als im Februar 2007 eine Klassenkameradin meiner ältesten Tochter bei ei- nem Unfall während einer Konfirmandenfreizeit einer Nachbargemeinde starb, veröffentlichten die Angehörigen eine Todesanzeige mit einem aktuel- len Foto ihrer Tochter und Schwester.17 Vorher hatte ich Abbildungen Verstorbener regelhaft in Österreich und Italien beobachtet, nicht aber in un- serer Region. Inzwischen finden sich Portraitfotos bei etwa 10 % der Anzei- gen. Durch die Fotografie wird der Verstorbene unverwechselbar. Die Fotos zeigen meist passbildähnliche Portraits oder Aufnahmen aus dem Alltagsle- ben, gerne auch Bilder mit hohem emotionalem Erinnerungswert. In einigen Fällen zeigen sie den/die Verstorbene/n als jungen Menschen. So entsteht der Eindruck von Dynamik und Lebendigkeit, der den Inserenten offenbar wichtig ist.18 Auch die unter 2.-7. benannten Phänomene sind in den letzten zehn Jahren als Stilmerkmale der Gattung Todesanzeige zugewandert. Die beobachtete Häufigkeitsverdichtung ist kennzeichnend für einen laufenden Veränderungsprozess. Anna Stöhr versucht in ihrer gattungsspezifischen Analyse der Todesanzeige, „zu beweisen, dass sich auf Grundlage diverser gesellschaftlicher Entwicklungen, Neuerungen, Umbrüche und dergleichen mehr folglich auch die vom Menschen geschaffenen Texte modifizieren; sie letztlich Spiegelbild unserer sich beständig verändernden Gefühls-und Erleb- niswelt sind.“19 Dabei ist zu beobachten, dass es nur sehr selten kreative Neuschöpfungen20 sind, die veröffentlicht werden, sondern im Wesentlichen auf Vorlagen der Bestatter oder der Anzeigenredaktion der Tageszeitung zurückgegriffen wird. Auch veröffentlichte Anzeigen, die Inserenten positiv wahrgenommen haben, werden aufgenommen. Für die Beurteilung der Rolle des Verstorbenen aus Sicht der Angehörigen ist es jedoch unerheblich, ob die Texte selbst ausgesucht wurden, was unter Zeitdruck nach einem Todes- fall, in Trauer und ohne Vorüberlegungen kaum zu erwarten ist, oder ob sie aus Florilegiensammlungen professioneller Anbieter stammen. Die Angehö- rigen sind es aus anderen Lebensbereichen gewohnt, wählen zu können. Und sie wählen Texte, mit denen sie sich und die Verstorbenen identifizieren können. Offensichtlich entsprechen die Vorlagen den eigenen Erwartungen und werden nicht als von außen gesetzte Impulse aufgefasst. Laut Birgit Hosselmann21 ist dabei zu beobachten, dass die Anzeigen mit persön- lich/individuellem Charakter stark zunehmen. Die von mir analysierten To- desanzeigen bestätigen das.
In Transformationsprozessen ist in der letzten Phase der Punkt erreicht, an dem das Neue für selbstverständlich genommen wird und niemand sich mehr vorstellen kann, dass es je anders war (Beispiele dafür sind Trauungen, bei denen der Brautvater die Braut in die Kirche führt, der selbstverständliche Gebrauch der Bestattungsformel „Erde zu Erde…“, der auf Wilhelm Löhe zurück geht, der sie wiederum dem Book of Common Prayer entlehnt hat22 oder der Trend zusätzlich zu oder anstatt von Erde Streugrün oder Blüten ans Grab zu stellen, wonach Angehörige beim Abschied gerne greifen, um sie auf Sarg oder Urne fallen zu lassen. Denn beides steht für das Leben, beides sind Zeichen der Lebendigkeit).
„Vielen Todesanzeigen in Zeitungen und Karten ist ein Spruch vorangestellt, der ‚sich als Spiegelbild des Glaubens, der Gedanken und der empfundenen Gefühle der Hinterbliebenen deuten‘ lässt. Eine stichprobenartige Untersu- chung von Traueranzeigen ergab, dass fast ein Drittel der Anzeigen dabei eine Anrede in der 2. Person verwenden, ein Zehntel ergreift für die verstor- bene Person die Stimme.“23 Im modernen Medium Internet werden mehr als 90% der Verstorbenen persönlich angeredet.24 „Das Internet unterstützt be- reits bestehende Tendenzen zur Individualisierung der Trauer und treibt sie weiter voran. Weit mehr als traditionelle Trauerfeiern, in denen die individuel- le Biographie von Verstorbenen zuweilen wenig Raum hat, sind Internet- Gedenkseiten imstande, unterschiedlichen Erinnerungen verschiedener Hin- terbliebener gerecht zu werden und ein Bild der Verstorbenen als vielschich- tige und nicht eindeutig typisierbare Persönlichkeit zu präsentieren.“25 Hans Geser merkt dazu an: „Virtuelle Gedenkseiten im Internet gewinnen ihre Be- deutung vor allem daraus, dass sie zwischen der Vergänglichkeit der Trauer- feier und der unveränderbaren Dauerhaftigkeit physischer Grabmäler eine neue Ausdrucksebene bilden.“26 Keine Gedenkseite, aber eingespielte Vi- deosequenzen, auf denen eine betagte Dame Gedichte in erzgebirgischem Dialekt vorträgt, wurden von der Familie bei der Trauerfeier eingespielt. Die Enkel planen sogar eine Memorialseite zur Erinnerung an die für sie so be- merkenswerte Oma einzurichten. Inzwischen sind die Aufnahmen auf Youtu- be zu sehen.27
Es sind laut Carmen Berger-Zell drei Aspekte, die Angehörige im Wesentlichen „veranlassen, Erinnerungszeichen für ihre Verstorbenen anzulegen. Erstens kämpfen sie gegen das persönliche und gesellschaftliche Vergessen. (…) Der zweite Aspekt ist, dass Hinterbliebene im Internet über die Gedenkseiten die Anteilnahme der Öffentlichkeit suchen und bekommen (…) Ein weiterer Aspekt, der für die Hinterbliebenen eine Rolle spielt, ist die Kontaktaufnahme zu den Verstorbenen. Über die Gedenkseiten kommunizieren sie ihre Gedanken und Gefühle mit den Verstorbenen.“28 Dieser dritte Aspekt ist wesentlich für die vorliegende Untersuchung.
Folgende Vorsprüche, die Anna Stöhr als „sowohl für die Angehörigen, als auch für die Toten etwas sehr Persönliches“29 nennt, sind mir im Hinblick auf die Leitfrage aufgefallen:
-„Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht tot, der ist nur fern. Tot ist nur, wer vergessen wird.“
- „Begrenzt ist das Leben, doch unendlich die Erinnerung.“
- „Das Sichtbare ist vergangen. Es bleibt die ewige Erinnerung.“
- „Nicht alle sind tot, deren Hügel sich hebt! Wir lieben, und was wir geliebet, das lebt. Das lebt, bis uns selber das Leben zerrinnt; nicht alle sind tot, die begraben sind.“
- „Menschen, die wir lieben, bleiben für immer, denn sie hinterlassen Spuren in unserem Herzen.“
-“Familie und Freundschaft ist ein Band, das durch den Tod nicht zerschnitten werden kann.“
- „ Du bist nicht mehr da, wo du warst - aber du bist überall, wo wir sind.“
-„Menschen gibt es, die vergisst man nie; wie weit der Tod sie auch getragen. Ein warmer Glanz von ihrem Wesen bleibt bei uns an allen Tagen.“
- “Was man tief in seinem Herzen besitzt, kann man durch den Tod nicht ver- lieren.“
-„Du wirst in unseren Herzen immer bei uns bleiben.“
- „Niemals geht man ganz. Irgendetwas von Dir bleibt hier und hat seinen Platz für immer bei uns.“
- „Wenn Du einen Menschen im Herzen trägst, dann kannst Du ihn nicht ver- lieren.“
-„Gedanken - Augenblicke, sie werden uns immer an Dich erinnern und uns glücklich und traurig machen und Dich nie vergessen lassen.“
Außer den Vorsprüchen, in denen die Hinterbliebenen sich äußern, lassen sie aber auch die Verstorbenen Worte sprechen:
- „Wenn ihr mich suchet, suchet mich in Euren Herzen. Habe ich dort eine Bleibe gefunden, dann bin ich immer bei Euch.“
-„Wenn ihr an mich denkt, seid nicht traurig. Erzählt lieber von mir, so wie ich euch immer erzählt habe und traut euch ruhig zu lachen. Lasst mir einen Platz zwischen euch, da wo ich ihn im Leben hatte.“
- „Wenn wir Abschied nehmen müssen, schenkt uns die Liebe die tröstende Wärme glücklicher Erinnerungen und eine innere Nähe, die uns selbst der Tod nicht nehmen kann.“
In diesen Sprüchen lebt der/die Verstorbene in der Erinnerung bzw. dem Herzen, das als Zentrum der Persönlichkeit empfunden wird. Insofern trennt der Tod nicht komplett, sondern nur partiell.
In ihrer empirischen Untersuchung beschreibt Birgit Hosselmann eine Ent- wicklung, die durch meine Beobachtungen verifiziert wird: “Unter der Prämis- se, dass der Tod gegenwärtig vor allem als eine private Angelegenheit ver- standen wird und höchstens marginal die Gesellschaft berührt, sind diese Formulierungen verständlich und entsprechend legitim. Die private Erinne- rung scheint damit der einzige Einspruch gegen den Tod sein zu können, aber nur, solange wir leben.“30
Bedeutsam für die evangelische Bestattungspraxis ist die aus dem von Hos- selmann untersuchten Datenmaterial gewonnene Erkenntnis, dass der christ- liche „Glaube nur für wenige eine solche Relevanz hat, ihn persönlich zum Ausdruck zu bringen“.31 Im von mir gewählten Beobachtungszeitraum zeig- ten 10,3 % der Annoncen Bezüge zum christlichen Glauben. Das Kreuz wird auch nicht mehr als christliches Symbol der Hoffnung auf Auferstehung durch Christus angesehen, sondern als Zeichen des Todes. Und weil die Lebens- symbole verstärkt verwendet werden, verschwindet das Kreuz mehr und mehr aus den Todesanzeigen.
Aus den unter 1.-8. vorgelegten Beobachtungen32 interpretiere ich, dass die Angehörigen mit Texten, Symbolen und Fotos die Verstorbenen als lebendig zeigen. Sie sprechen die Toten persönlich an oder lassen sie reden. Es finden sich nur wenige Belege für eine Auferstehungshoffnung, dagegen zahlreiche Beispiele für eine „intramundane Postmortalität“ in der Erinnerung, in den Kindern oder auch in den eigenen Werken.“33
1.1.2 Mitgestaltung der Trauerfeier
Zu Beginn meiner pastoralen Tätigkeit vor 30 Jahren suchten die Hinterblie- benen den Sarg und den Blumenschmuck aus (oft in den Lieblingsfarben und mit den Lieblingsblumen der Verstorbenen, wodurch die Erinnerung an die Person verstärkt wird), sie präsentierten sich, ihre Beziehung zum verstorbe- nen Menschen und ihre Trauer durch Kränze oder Pflanzschalen mit Spruchbändern, und manchmal wurden Nachrufe bei besonders verdienten Mitgliedern von Vereinen oder langjährigen Mitarbeitern von Betrieben gehal- ten. Frank Thomas Brinkmann wertet die Beteiligung und Mitgestaltung der Trauerfeiern durch die Hinterbliebenen sehr positiv. Er schreibt: „Man kommt ein gutes Stück weiter, wenn man sich zu verstehen aufmacht, daß hinter den häufig ausgewählten bzw. erbetenen Sätzen, Versen, Titeln
-erstens ein Programm verbirgt, unter dem sich die Angehörigen anschicken, Trauerarbeit zu leisten,
-zweitens ein Motto, unter das sie die gelebte Lebenszeit der Verstorbenen stellen und würdigen wollen, und
-drittens die jeweilige Auffassung oder Resterinnerung von institutionalisierter Religion bzw. kirchlicher Frömmigkeit.“34
Laut Auskunft der Wetzlarer Bestatter achten Hinterbliebene heute sehr stark auf die Sprache der Blumen und fragen sich, ob diese zur verstorbenen Per- son passen, etwa, weil es seine/ihre Lieblingsblumen sind. Auf den Spruch- bändern werden die Verstorbenen fast ausschließlich in 2. Person Singular angesprochen und sie werden des „ewigen Gedenkens“ versichert. Sie sen- den auch eine Botschaft an die Trauergemeinde, insofern sie auf eine positi- ve Beziehung der Hinterbliebenen zur verstorbenen Person hinweisen. Ver- mehrt werden viele Kerzen als Lebens- und Hoffnungszeichen von den An- gehörigen gewünscht, so dass die Mitarbeiter des Friedhofes sich oft durch ein Kerzen- und Blumenmeer den Weg zu Sarg oder Urne bahnen müssen. Und seit einigen Jahren und in deutlich zunehmendem Maße werden Porträt- fotografien der Verstorbenen in starker Vergrößerung für alle gut sichtbar neben dem Sarg oder der Urne aufgestellt. Wie bei den Todesanzeigen, sind es entweder passbildähnliche Fotos oder Bilder mit hohem emotionalem Er- innerungswert. Bei einem Trauergottesdienst haben Angehörige im vergan- genen Jahr eine Powerpointpräsentation zu der verstorbenen Person ge- zeigt, laut Auskunft einer verantwortlichen Mitarbeiterin des Friedhofs wird diese Form der Verlebendigung wie auch Videopräsentationen in den letzten Jahren öfter gewählt.
Bei der Bestattung von Kindern habe ich zweimal erlebt, dass die Trauergemeinde Luftballons vom Grab aus aufsteigen ließ. Oft bringen Hinterbliebene Grabbeigaben wie Erinnerungsstücke an gemeinsame Erlebnisse mit dem/der Verstorbenen mit oder legen Briefe, Bilder oder andere persönliche Botschaften auf Sarg oder Urne bei.
Manchmal musizieren Familienangehörige der Verstorbenen ihre oder der Verstorbenen Lieblingsstücke und manchmal trägt ein Angehöriger einige persönliche Gedanken vor. Dabei wird die verstorbene Person fast immer in 2. Person Singular angesprochen. Mein Eindruck ist, dass diese Form me- dialen Vorbildern folgt, da fast ausschließlich jüngere Familienmitglieder das Wort ergreifen. In Filmen wie „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“, „Vier Hochzeiten und ein Todesfall“ oder „Jenseits von Afrika“ werden solche Sze- nen als emotionale Höhepunkte wegen ihres innigen Bezuges zur verstorbe- nen Person dargestellt. Im Film „Philadelphia“ wird bei der Trauerfeier ein Film mit Szenen aus dem Leben des Verstorbenen gezeigt. Vor allem Kind- heits- und Jugendbilder sind dabei zu sehen. In diesem Film wird das Ster- ben des aidskranken Anwaltes Andrew Beckett, gespielt von Tom Hanks, gezeigt. In einer erschütternden Szene setzt sich Beckett dem bevorstehen- den Abschied gedanklich und emotional immer wieder aus, indem er eine Opernarie aus Andre Chenier, gesungen von Maria Callas, mehrfach hinter- einander hört und sich mit der Situation in Text und Musik identifiziert. Bei der Trauerfeier vollzieht sich der Abschied vom Verstorbenen dann durch die multisensorische Repräsentation desselben. In den genannten Filmen stellen die Vergegenwärtigungen der Verstorbenen durch die Worte und Handlun- gen der Hinterbliebenen eine Art „Verzückungsspitze“ (Nietzsche) der Filme dar.
Bei Hausbesuchen einige Wochen nach dem Tod eines nahen Angehörigen, manchmal auch noch nach Jahren, wie in der Vorrede beschrieben, be- obachte ich immer wieder, dass den Verstorbenen eine Art privater Erinne- rungsschrein gewidmet wird, auf dem persönliche Gedenkbausteine aufge- stellt wurden.. Manchmal bitten Hinterbliebene mich, mit ihnen gemeinsam Fotoalben anzusehen, einmal sogar Videosequenzen, die aus alten Super 8- Filmen und neueren Videoaufnahmen zusammengesetzt waren. Das zeigt meines Ermessens, dass Klaus Feldmann Recht hat mit seinem Votum. „So erweisen sich neben den inneren Bildern der Erfahrungen mit der lebenden Person die fotografischen, filmischen und sonstigen medialen Abbilder des Verstorbenen als Lebenden, die meist von Betroffenen aufbewahrt und se- lektiv in der Wohnung ausgestellt werden, als bleibendes Erinnerungsmateri- al.“35
Bei einer Urnenbeisetzung im Ruheforst Laubach hatten die Töchter und Enkelinnen der Verstorbenen die Grabstelle mit Traumfängern und medialen Erinnerungsgegenständen ausgeschmückt. Fotos aus acht Jahrzehnten ge- lebten Lebens, nicht nur aus guten Tagen, waren rund um das für die Beiset- zung vorbereitete Erdloch aufgestellt. Die Trauerfeier fand an dem Tag statt, an dem die Verstorbene ihren 80. Geburtstag feiern wollte. Die älteste Toch- ter verlas die Rede, die ihre Mutter zu diesem Anlass schon verfasst hatte, sprach ihre Mutter dann persönlich an, um anschließend mit allen mit dem Geburtstagssekt am Grab anzustoßen und das Leben zu feiern. Alle stießen auch mit Inge, der Verstorbenen, symbolisch an, die ja erkennbar nicht mehr als Person, nur noch repräsentiert durch die Urne, anwesend war. Offen- sichtlich behielt die Verstorbene ihre Bedeutung, auch wenn unausweichlich deutlich war, dass ihre Lebenszeit begrenzt war, gerade weil sie mitten in der Vorbereitung ihres 80. Geburtstages verstorben war.
Alle diese Ausdrucksformen, die von Angehörigen gewählt werden, dienen meines Erachtens dazu, die Trauerfeier stimmig zu gestalten. Die eingesetz- ten Symbole (Kerzen, Blumen, Fotos, Gegenstände) sind kleinste Ritualbau- steine.36 Sie können “zu wichtigen Symbolen der Zuneigung und des Ab- schieds werden.“37 Für die Angehörigen bieten sie eine Möglichkeit, die Ver- storbenen über die liebevolle und sorgsame Mitgestaltung der Trauerfeier zu ehren und sie ihrer Zuwendung zu versichern. Der Soziologe Volker Nölle, der in seiner Untersuchung, “Vom Umgang mit Verstorbenen“ zu begründen versucht, dass Hinterbliebene bei der Gestaltung der Trauerfeier, wie bei Sarg- und Grabwahl entsprechend dem Rational-Choice- Ansatz verfahren, schreibt: “Entscheidend ist, wie die Toten definiert werden. Solange Akteure die Verstorbenen selbst als Akteure wahrnehmen, die ihnen helfen oder schaden können - die also physisch, aber noch nicht sozial tot sind - , haben sie ein Eigeninteresse daran, sie auf eine Art zu bestatten, von der sie annehmen, daß sie die Toten davon abhält, den Lebenden zu schaden.“38 Es wird demnach altruistisch für die Toten gedacht, so Nölle.
Durch Fotos aber auch durch brennende Kerzen (wie die Tränen der Ange- hörigen beim Entzünden der Kerze zur Namensnennung in den Gottesdiens- ten am Ewigkeitssonntag zeigen) werden die Verstorbenen vergegenwärtigt. Dabei steht „das Bild der lebenden Person (…) konträr zu deren Absenz, die sich in der Präsenz des Sarges manifestiert.“39 „…die Portraitfotografie plat- ziert die Verstorbenen nicht nur in himmlischen Gefilden, sie finden auch ganz praktisch Einzug in die Gemeinde der Lebenden.“40 Matthias Marks hat das Phänomen der Portraitbilder bei Bestattungen untersucht und konstatiert: „Das Bild ist und will mehr, als bloß Repräsentation eines Abwesenden zu sein.“41 Als Folge seiner Untersuchung stellt er fest, dass Portraits bei Be- stattungen auf zweierlei Art wirken können: „Entweder sie wirken katapha- tisch, indem sie dem Dargestellten ein Surplus, einen ‚Zuwachs an Sein‘ ver- leihen; es kommt zu einer Intensivierung der Präsenz durch Vergegenwärti- gung des Abwesenden. Oder sie wirken apophatisch, indem sie den Rezipi- enten die Gegenwart entziehen; es kommt zur Entgegenwärtigung des An- gehörigen verbunden mit dem unlösbaren Bedürfnis, den Tod zu durch- schauen.“42
Aber nicht nur über das Foto, sondern auch über den Sarg, der als Symbol für den Verstorbenen steht, erleben die Hinterbliebenen eine besondere Nähe zu dem Menschen, den sie betrauern. Empirisch belegt Thomas Quartier, dass immer dann, wenn der Sarg im Ritual im Mittelpunkt stand, die Empfindungen der Trauergemeinde am intensivsten waren.43 Wohl deshalb, weil sie Sarg und Verstorbenen als synonym wahrnehmen.
Mittlerweile ist es selbstverständlich geworden, dass bei Trauerfeiern Ge- genstände, die an den Toten erinnern, gezeigt werden. „Genau genommen, verläuft das zeremonielle Hervorheben der individuellen Lebenswelt aber mindestens ebenso sehr über Objektbeigaben, Erinnerungsartefakte, Be- schreibungstexte und künstlerische Gestaltungselemente, wie über Perso- nen- und Körperabbildungen.“44 Jede Form der Beteiligung der Hinterbliebe- nen ermöglicht es ihnen letztlich, der verstorbenen Person einen neuen Platz in ihrem Leben zuzuweisen. Erinnerungs- und Beziehungsarbeit wird damit geleistet. „Es geht (dabei) nicht nur um die Würdigung eines Verstorbenen, sondern darum, weiter bestehende Verbindungen zu ihm deutlich zu ma- chen.“45
Als Schlussfolgerung ergibt sich für mich, dass die Angehörigen durch die Mitgestaltung der Trauerfeier in Wort und Bild ihren verstorbenen Angehöri- gen zu einer realen Präsenz verhelfen. Die Angehörigen nehmen die Ver- storbenen nicht als Objekte, sondern bleibend als Subjekte wahr. Die Beteili- gung hilft ihnen dabei, den Verstorbenen einen neuen Platz in ihrem Leben zuzuweisen.
1.1.3 Musikwünsche
Im Dezember 2015 eröffnet die einzige Tochter der Verstorbenen nach einer kurzen Begrüßungsphase das Kasualgespräch mit dem Satz: “Mein Vater war ein Schwein.“ Danach schilderte sie wortreich und durch Weinkrämpfe unterbrochen, wie ihr Vater ihre Mutter lebenslang drangsaliert, schikaniert und misshandelt habe und wie die Mutter sich immer schützend vor die Tochter gestellt habe. Am Ende äußerte sie einen ungewöhnlichen Musik- wunsch, der per CD bei der Trauerfeier eingespielt werden solle: „Mutter, die du bist im Himmel“ von den Kastelruther Spatzen.46 Darin heißt es: „Mutter, die du bist im Himmel, du wirst immer bei mir sein. Alle Liebe in mir, gehört dir ganz allein. Mutter, die du bist im Himmel, schaust du mir dort oben zu? Ja, dann seh‘ ich dich, der hellste Stern bist du.“ Wir sprachen über das Lied und seine Bedeutung für die Tochter und ich ließ das Lied vor der Predigt nach einigen einleitenden Worten abspielen. Während des Liedes und aller Bezüge, die ich in der Predigt zur verstorbenen Mutter herstellte, liefen die Tränen der Rührung bei Tochter und Schwiegersohn. Nach der Beerdigung hatte die Tochter das dringende Bedürfnis, mir für die Würdigung ihrer Mutter zu danken, der das auch bestimmt gut gefallen habe, wie sie anmerkte.
In den letzten Jahren werden verstärkt Musikwünsche an mich herangetra- gen, meist wird eine Einspielung per CD gewünscht. Zu den auch auf „ trau- ernetz.de“ seitens der Evangelischen Kirche eingepflegten Musikstücken ge- sellen sich immer wieder Wunschtitel, zu denen die Verstorbenen oder die Hinterbliebenen eine besonders intensive Beziehung hatten oder haben. „So unterschiedlich die Musikwünsche im Einzelfall sind, so ähnlich ist doch die hinter ihnen stehende Motivation: weder der Anlass (der Tod eines Men- schen) noch der Ort seiner Begehung (die Kirche) geben das musikalische Programm einer Trauerfeier vor, sondern zumeist die Persönlichkeit das Ver- storbenen, sein (vermeintlicher) Musikgeschmack, seine (subjektiven) Vorlie- ben.“47
Carmen Berger-Zell, die es für eine gelingende Trauerarbeit für unerlässlich hält, geeignete Resonanzräume zu schaffen, schreibt dazu: “Musik hat die Gabe, eine leibliche Resonanz mit den eigenen Empfindungen herstellen zu können. Sie schafft einen Raum, in dem Trauernde sich ihren Verstorbenen nahe fühlen können.“48 Es ist davon auszugehen, dass die Hinterbliebenen Musikstücke sehr bewusst auswählen, weil sie dadurch die Verstorbenen in der Trauerfeier vergegenwärtigen. „Und sie verbinden so den Gottesdienst und die persönlichen Bezüge der Verstorbenen. „Musik gilt (…) auch in der Bestattung als Identitätsmerker.“49
Cäcilie Blume belegt in ihrer empirischen Studie, dass über die Musik die verstorbene Person repräsentiert wird: „Wünsche aus dem Bereich der popu- lären Musik werden aber auch als förderlich für die Stimmigkeit erlebt. Dies ist häufig der Fall, wenn ein Musikwunsch einen Bezug zum Verstorbenen aufweist. Er wird von Pfarrern in zweifacher Weise als positiv wahrgenom- men. Einerseits kann der Musikwunsch die Einzigartigkeit dieses Lebens zum Ausdruck bringen. Andererseits kann der Musikwunsch für die Angehö- rigen stimmig sein, da der Verstorbene durch den Bezug zum Musikstück in der Bestattung vorkommt und die verstorbene Person (…) durch die Auswahl des Stückes stellvertretend noch einmal ‚hörbar‘ wird und somit für die Ange- hörigen wiedererkennbar wird.“50 An anderer Stelle führt sie aus: “Durch die Trauerfeier soll die verstorbene Person multisensorisch dargestellt und dadurch vergegenwärtigt werden. Diese Darstellung dient neben der Verge- genwärtigung der verstorbenen Person auch der Würdigung der Person und ihres Wirkens. (…)Die Trauerfeier an sich wird vorwiegend als Handlung für die verstorbene Person betrachtet. Aus diesem Grund ist der Bezug zur ver- storbenen Person als Orientierung an deren Geschmack oder als Eingehen auf deren Wünsche häufig Hauptmotiv für die Gestaltung.“51 Blume schluss- folgert aus den Befragungen und Beobachtungen, die sie ihrer Studie zu- grunde gelegt hat, dass die Analyse nahelegt, „dass bei Bestattungsmusik mehr und mehr deren (sic. Der Verstorbenen) Funktion und Bedeutung in den Vordergrund rücken.“52 Über die Musik, mit der die verstorbene Person assoziiert wird, ist der/die Verstorbene in besonderer Weise präsent. „Das musikalische Präsent-Werden der verstorbenen Person wirkt sich dabei vor- wiegend auf emotionaler Ebene aus. (…) Die Wirkung dieser Darstellung der verstorbenen Person im Ritual ist von besonderer Intensität, da hierbei ein bestimmter Wesens- oder Charakterzug der Verstorbenen als ’unumstößli- che (-) Tatsache öffentlich präsentiert wird, was Dietrich Rössler als Objekti- vation bezeichnet.“53
„De facto ist das Ganze aber viel weniger individualistisch: Musikvorlieben werden sozial vermittelt.“54 Dadurch wird auch verständlich, warum sich ein Kanon neuer Bestattungsmusik entwickelt hat, aus dem bei fast allen Trauer- feiern mit Musikwünschen der Hinterbliebenen zurückgegriffen wird. Dass sich Stücke ständig wiederholen, widerspricht nicht der Wahrnehmung, dass dieses Stück nun gerade besonders gut zu diesem persönlichen Abschied passt. Das Fazit, das Eberhard Hauschildt zieht, lautet: „Gute Musik in der Kirche ist eine Sache der situativen Passung.“55 Um diese situative Passung, dem Anlass, den Angehörigen, dem Evangelium und dem Verstorbenen ge- recht zu werden, geht es dabei. Die Rückmeldungen von Angehörigen nach Trauerfeiern belegen, dass der Musik eine besonders starke Wirkung zuge- schrieben wird.56 Das kann ich aus meiner langjährigen Praxis vollumfänglich bestätigen. Die persönlich gewählten Musikbeiträge wirken als emotionalste Momente der Trauerfeiern. Deshalb ist bei der Vorbereitung sehr genau zu überlegen, an welcher Stelle die gewünschten Titel eingespielt werden und was sie auslösen. Nach meiner Erfahrung empfiehlt es sich, Titel nicht ohne einleitende, überleitende oder erklärende Worte abzuspielen, damit die ver- sammelte Gemeinde versteht, warum jetzt diese Musik folgt. Grundsätzlich halte ich das Diktum Eberhard Hauschildts für richtig, der für den Umgang der Pfarrer mit Musikwünschen empfiehlt, zu „interpretieren statt zu kontrol- lieren“57
Ronald Uden nennt drei Voraussetzungen als konstitutiv für den Einsatz von Musikstücken, „damit eine Trauerfeier weder ästhetisch verunglückt noch die Glaubwürdigkeit des Gedenkens und die Würde des Toten in Frage stellt:
Musik muss eine persönliche Verbindung zum Verstorbenen, ihm nahe stehenden Menschen oder den Teilnehmern der Trauerfeier haben Die Präsentation ungewöhnlicher Musikstücke muss bewusst erklärt, eingebettet, moderiert werden (…) mit einem tiefer gehenden Bezug auf das Leben (sic. des Verstorbenen).
Insgesamt muss eine musikalische Einheit entstehen, ein ästhetisches Gesamtkunstwerk ohne Pathos, ohne Kitsch und ohne Trivialitäten.“58
Der/die Verstorbene sind in der Trauerfeier präsent und abwesend zugleich. „Je nach Gestaltung der Trauerfeier und Bestattungsart können Momente der Präsenz oder der Absenz der verstorbenen Person überwiegen.“59 Die chan- gierenden Wahrnehmung der Verstorbenen durch die Angehörigen erfordert es, in der Gestaltung der Trauerfeier sehr genau darauf zu achten, die emp- fundenen und sowohl in Todesanzeigen, Kasualgesprächen wie durch die Mitgestaltung und die Musikwünsche zum Ausdruck gebrachten „lebendigen Anteile“ der Verstorbenen nicht zu missachten. Cäcilie Blume stellt bei der Auswertung der Voten der Hinterbliebenen fest, dass der subjektive Ein- druck, der verstorbenen Person gerecht geworden zu sein, auch mit der Mu- sikwahl begründet wird. Das hat „einen positiven Effekt auf die Verfassung der Trauernden. Eng damit verbunden ist die tröstende Vorstellung vom Wohlbefinden des oder der Verstorbenen.(…) Auch wenn die Vorstellung des Wohlbefindens der Verstorbenen primär einen tröstenden Effekt auf die Hinterbliebenen hat, zeigt dies, dass die Trauerfeier aus deren Sicht entgegen der häufig in der Literatur vertretenen Meinung auch eine Feier für die verstorbene Person darstellt.“60
Das ist auch die Schlussfolgerung, die sich für mich aus dem oben Beschrie- benen ergibt. Über die Musikauswahl durch die Angehörigen wird die Identi- tät des/der Verstorbenen punktuell sichtbar und darüber als „lebendig“ wahr- genommen.
1.1.4 Grabtext
In Wetzlar sind als Reaktion auf die Entstehung von Friedwäldern und Ruhe- forsten in erreichbarer Nähe seit acht Jahren baumbestandene Friedhofsflä- chen und ein Waldstück, das zum „Alten Friedhof“ gehört, als Beisetzungs- flächen für Baumbestattungen ausgewiesen worden. Wenn gewünscht, kön- nen die Namen und Daten der Beigesetzten auf Stelen veröffentlicht werden, worauf die Leitung des Friedhofsamtes der Stadt hinzuwirken versucht. Der Prozentsatz der Gräber ohne jede Kennzeichnung wird seitens des Fried- hofsamtes mit etwa 10 % angegeben. Dahinter verbergen sich Sozialamts- bestattungen und Bestattungen, die auf Wunsch der Verstorbenen ohne an- schließende Kennzeichnung erfolgt sind.
Über 80 % der Verstorbenen in Wetzlar werden kremiert. Seit 2005 werden in der Kernstadt keine Urnenwände mehr errichtet, sondern Urnenrasengrä- ber mit einheitlicher Grabplatte, Urnenreihengräber mit durch den Fried- hofsbetreiber garantierter Grabpfege, individuelle Baumgräber und Urnen- sondergräber mit freien Gestaltungsmöglichkeiten angeboten. Bei den Erd- bestattungen kann gewählt werden zwischen Reihengräbern mit Gestal- tungsvorgaben, anonymen Gräbern oder Kaufgräbern ohne Gestaltungsauf- lagen. In einem neu angelegten Memoriam-Garten wird die Grabpflege dar- über hinaus durch den Betreiber des Friedhofes gewährt. Norbert Fischer nennt das die „Diversifikation des sepulkralen Raumes.61 “
Die Fülle der Wahlmöglichkeiten ist eines der Kennzeichen der Moderne, Multioptionalität. Die Anonymisierung einerseits korrespondiert andererseits mit dem gegenläufigen Trend zur Individualisierung, ja Intimisierung. Auf den Zusammenhang weist die Soziologin Julia Schäfer in einer Studie hin.62 Bei- des zeigt ein Gang über den Friedhof eindrücklich. Ein Gang über die Wetz- larer Friedhöfe führt vor Augen, wie sich die Grabtexte über die Jahrzehnte verändert haben. Die erste Beisetzung auf einem der hiesigen Friedhöfe ha- be ich als Vikar 1986 durchgeführt. Die Grabfläche mit den Reihengräbern dieses Jahres ist noch nicht eingeebnet. Die ersten Gräber von Menschen, die ich 2015 bestattet habe, sind schon mit Stein versehen. Der Grabtext ist dadurch lesbar.
Auffällig ist, dass erstmals im Jahr 1990, dann aber erst wieder 2005 auf ei- nem der Wetzlarer Friedhöfe ein Grabstein mit Portraitfoto der Verstorbenen auftaucht63, dann zunächst vor allem bei jung verstorbenen Russlanddeut- schen zu finden ist und in den letzten Jahren immer mehr zum regelmäßig beobachtbaren Grabtext gehört. Auch Gravuren von Portraitaufnahmen fin- den vielfach Verwendung. „Die Fotografie auf dem Grabstein, typischerweise in ovaler Einfassung, konterkariert physische Objektivierung und übersinnli- che Transzendenz mit einer ‚beweiskräftigen‘ Wirklichkeitsdarstellung. Die verstorbene Person ist ein Individuum (gewesen); ihr in der Mitte lebendiger sozialer Zusammenhänge dokumentiertes Abbild beweist es.“64 “Als Emblem des Grabtextes kann, ja muss das Foto zur imaginativen Rückverwandlung des toten Körpers in einen lebendigen Akteursleib verwendet werden.“65 QR- Codes, die aus Großstädten bekannt sind und über die ein Zugang zu virtuel- len Gedenkseiten im Internet möglich ist, habe ich in Wetzlar noch nicht fin- den können.
Daneben fallen die Zeichen der Lebendigkeit auf, die das früher dominieren- de Kreuz, das nicht als Auferstehungszeichen, sondern als Todeszeichen interpretiert wird, ersetzt haben. Vögel, Blumen, Urlaubs- und Sehnsuchts- landschaften, Symbole für Hobbies, Berufe und Leidenschaften der Verstor- benen, jedenfalls Zeichen, die für das Leben stehen, finden sich gehäuft. Auch die Texte, die auf Grabsteinen zu lesen sind, entsprechen den Texten der Vorsprüche auf den Todesanzeigen. Oft zieren diese Texte auf dem Grab liegende Gipstafeln, -bücher oder -herzen. Die Verstorbenen werden darauf der ewig währenden Liebe versichert und es wird ihnen versprochen, dass man sie nie vergisst. Dass diese Grabschmuckartikel industriell gefertigt sind, zeigt, dass es dafür einen Bedarf gibt. Angehörige und Freunde wählen diese Form der Kommunikation mit dem Verstorbenen. Es zeigt sich, dass „der Mechanismus des Erinnerns und die Versicherung, der Toten für immer zu gedenken, (…) sozial allgemein akzeptabel“66 sind. Eine weitere, in den letzten Jahren überaus oft auftauchende Grabtextergänzung, stellen Engelfi- guren dar. Auf Nachfrage, warum Angehörige diese Engel aufstellen, wurde von den Befragten unisono geantwortet, weil man glaube, dass der Schutz- engel den Verstorbenen auch nach dem Tod beschütze.
Bibelstellen oder -texte finden sich nur dann, wenn sie elementar wichtig für die verstorbene Person und ihr Leben waren.67 „Auch der Baum selbst, um den herum die Urnen kreisförmig bei den sogenannten Baumbestattungen beigesetzt werden, steht uneingeschränkt für das Leben.68 Entsprechend führt Mattias Meitzler aus. „Es ist evident, dass hier vermehrt profane Symbo- le aufgegriffen und abgebildet werden, die der Feier des individuellen verbli- chenen Lebens dienen und mit ihm sinnbildlich verbunden sind. (..) Immer mehr Grabsteine offenbaren einen ‚Durchbruch von akteurzentrierten Sym- bolen, Aufschriften und Bebilderungen und anderen Referenzen (…) deren Signifikat eindeutig nicht die ‚überpersönliche‘ Sphäre einer Religion ist, son- dern die lebensweltliche Sphäre der individuellen Person‘. Konkret bedeutet dies, dass Hinweise oder ‚greifbare Sinnbilder‘, die etwa für Freizeitbeschäf- tigungen, Vereinsmitgliedschaften oder Lebenseinstellungen stehen können, die Rolle und Platzierung traditioneller Trauersymbole einnehmen. Diese Entwicklung ist die dominierende zeitgenössische Tendenz auf dem Friedhof der Gegenwart.“69
Meitzler stellt die Frage, „inwiefern sich Individualität (und der häufig syno- nym verwendete Begriff der Identität) nicht nur zu Lebzeiten, sondern auch und gerade post mortem inszenieren und kommunizieren lässt. Im Fokus stehen vor allem die Wahl der Bestattungsart sowie die ‚feinen‘ Unterschiede der Grabgestaltung.70 Allerdings zeigen die präsentierten Fotos die Verstor- benen in einem bestimmten Moment, ohne die sonstigen Merkmale, also nur einen Aspekt einer Persönlichkeit, nicht die Facettenvielfalt. Dennoch dienen sie dazu, die Verstorbenen als lebendige Personen in die Erinnerung treten zu lassen.
„Menschen brauchen Erinnerungszeichen (…).Gedenk und Grabzeichen können, wie alle anderen privaten Totenerinnerungszeichen zu Resonanz- körpern werden, durch die ein dynamisch-strukturierter Raum entsteht, in dem Trauernde in der Erinnerung an sie die Verbindung zu ihren Verstorbe- nen leben.“71
Thorsten Benkel spricht davon, dass sich das Erinnerungsmanagement ver- feinert hat. „neben den ‚großen Namen‘, die für sehr viele Menschen bedeut- sam sind, stehen die ‚kleinen großen Namen‘ des sozialen Umfeldes, deren Eigenheiten und Eigenschaften nach ihrem Tod von ihren significant others ebenfalls en detail aufbewahrt und - etwa über die Grabsteingestaltung (mehr noch über entsprechende Foren im Internet, Einschub von mir) - ei- nem größeren Umfeld bekannt gegeben werden. Diese Tendenz greift weit genug um sich, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts von einer ‚Zäsur der Sepulkralgeschichte‘ die Rede ist.“72 Benkel führt aus, was hinter dieser Ent- wicklung steckt und benennt die weiteren Folgen, die alle oben von mir dar- gestellten Phänomene plausibel erklären: „Die Tendenz, die Persönlichkeit des Toten rückblickend in den Fokus zu nehmen, und damit einhergehend die Neigung der Hinterbliebenen, Bestattung und Grabgestaltung zu einer Feier jener konkreten Lebenswelt auszuschmücken, die nun nicht mehr be- steht, schiebt ein anderes Sinnmuster in den Vordergrund. Ist das gegenwär- tige Alltagsleben vom Ressourcenjagen in der Erlebnis-, Entscheidungs- und Multioptionsgesellschaft geprägt, so lässt sich der Bruch zwischen Leben und Tod dadurch abmildern, dass die zu Lebzeiten errichteten Bastelexisten- zen auch ‚zu Todzeiten‘ noch bewusst aufgegriffen, ja geradezu zelebriert werden. (…) Die vage Aussicht auf mögliche Anschlusszustände, die im Jen- seits auf die Toten warten könnten, ist für viele Menschen mittlerweile zu spekulativ, um beispielsweise bei der Gestaltung der Grabstätte schwerer zu wiegen als die Nachzeichnung der in der Diesseitswelt gewonnenen und modellierten Individualität.“73
In seiner äußerst erhellenden Analyse belegt Benkel, dass die Angehörigen „den toten Körper (nicht) als Vexierpunkt ihrer Trauer- und Erinnerungsleis- tungen verstehen. Die Leerstellen, die solche Setzungen freilassen, werden mit der Einzigartigkeit der verstorbenen Person gefüllt. Fotos, Briefe, symbo- lische Andeutungen, Erinnerungsartefakte, auf die Grabplatte gestellte All- tagsgegenstände, sogar Lebensmittel bringen zum Ausdruck, dass der Friedhof kein Ort des Todes, sondern ein Ort der Erinnerung an Lebendigkeit ist.“74
Nach Benkel ist „die Rückbesinnung auf das Leben(…) auf dem Friedhof ein dominierendes Sinnmotiv.“75 Die von den Hinterbliebenen „mit der Grabstätte assoziierten und identifizierten Personen treten in Grabdarstellungen (an an- derer Stelle habe ich vom ‚Grabtext‘ gesprochen) immer stärker als Personen in den Vordergrund, und nicht mehr lediglich als Mitglieder der Gemeinschaft der Toten. Identitätsstiftende und -steigernde Handlungsmöglichkeiten sind den Verstorbenen zwar abhandengekommen, aber dies wird in der zeitge- nössischen Bestattungskultur zunehmend dadurch kompensiert, dass ihre Repräsentation am und durch das Grab umso stärker subjektiviert wird. Das Grab soll etwas aussagen über die Person, die darin bestattet liegt - und das Subjekt wird dabei als ‚es selbst‘ dargestellt.“76 An die Stelle der Leiche rückt die Biographie.77 Alois Hahn hat in seiner breit angelegten Studie von einem Wirklichkeitsdruck“ gesprochen, der vom erinnerten, wenn auch verlorenen Leben, ausgeht und zur Folge hat, dass dieser Erinnerung neu reflektiertes Leben entweicht.78
Benkel ist Soziologe. Und er ist einer der profiliertesten Kenner und Analysten gegenwärtiger Tendenzen der Friedhofskultur, aber auch der Sepulkralkultur insgesamt. Seinen Analysen verdanke ich wesentliche Erkenntnisse für die vorliegende Arbeit. Insbesondere seinem Ansatz, von zwei Körpern der Toten auszugehen und zu denken.
Er konkludiert aus seinen langjährigen Beobachtungen, dass durch die Regie der Angehörigen über die Bestattungszeremonie und die Grabgestaltung, die verstorbene Person immer stärker „in Szene gesetzt“ wird und so die „von den Angehörigen gehegte assoziierte Lebendigkeit hervorsticht. Insbesondere fotografische Abbildungen stellen der buchstäblichen ‚Festgelegtheit‘ des toten Körpers ein bildliches Souvenir des lebendigen Körpers dergestalt gegenüber, dass klar ist: Wer hier liegt, war ein besonderer Mensch - und ist es im Gedenken seiner Angehörigen noch immer.“79
Benkel denkt von den trauernden Hinterbliebenen her und geht davon aus, dass diese „insgeheim sowieso wissen: Es gibt, der Doppelgesichtigkeit des Todes angemessen, zwei Körper des Toten. Der beerdigte ist der ‚biologi- sche‘ Körper: er löst sich allmählich auf und ist, wird er nicht ohnehin kre- miert, nach 20 Jahren, auf die ein Wahlgrab in Deutschland durchschnittlich hin angelegt ist, nicht mehr vorhanden. (…) Der zweite Körper des Toten ist der lebendige Leib, der sich in der Erinnerung dem ‚gedanklichen Blick‘ of- fenbart. Es handelt sich um den aktiven Körper, an dessen Aktionen, Bewe- gungen und Berührungen sich die Angehörigen erinnern, wenn sie an die verstorbene Person denken. Er ist die Komplementärerscheinung zum (Grabstein-)Foto, das eine Szene zeigt, in der beide Körper noch ein einziger lebendiger waren. Die kognitive Konstituierung des zweiten Körpers schließt an die zu Lebzeiten erbrachten sozialen Leistungen an.“80 „Der zweite Körper kann nicht ‚sterben‘, weil sein ‚Leben‘ als Phantasma post mortem entsteht, wenn der erste Körper gestorben ist und in der Folge unsichtbar geworden ist. (…) Der zweite Körper (…) wird zum ‚aktiven‘ Impulsgeber der Erinne- rungsleistungen, für emotionale Regungen, für kognitive Ausflüge in eine vergangene oder alternative Wirklichkeit, er ist potentieller Ansprechpartner einseitiger Dialoge, Projektionsfläche für Wunschbilder, kurzum: Inbegriff der von der Objektivität des ersten Körpers unberührten sozialen Wirklichkeit, die zwischen Verstorbenen und Angehörigen fortbesteht. Sie besteht zumindest so lange, wie es lebendige Erinnerung gibt (…) in einer reduzierten, kompaksaß eine große Trauergemeinde in der Friedhofskapelle, und vor der Tür drängte sich eine Menschenmenge, weil der Raum für alle viel zu klein war. Alle schwiegen andächtig. Dann betrat der Ortspfarrer, gefolgt vom Frauen- chor, der traditionellerweise zu Bestattungen von Mitgliedern singt, den Raum. Die Lieder rührten mich zu Tränen, auch wenn sie inhaltlich keinen Bezug zu Tante Elfriede hatten. Aber es waren ihre Lieblingslieder, und das gab ihnen eine tröstende Qualität. Vertraute Bibeltexte und ein allgemeines Gebet ohne Bezug zu Tante Elfriede oder den anwesenden Angehörigen folgte, dann die Predigt, der der Pfarrer einen tabellarischen Lebenslauf vo- rangestellt hatte. Wir wussten nun alle, wann Tante Elfriede getauft worden war und wann konfirmiert, der Hochzeitstag wurde erwähnt und die Taufen und Konfirmationen der beiden Söhne, zuletzt noch die Trauung des älteren Sohnes und der Schwiegertochter. Und dann predigte er über ihren Konfir- mationsspruch. Einen Vers, der ihr 1926 von ihrem Konfirmator ausgesucht und zugesprochen worden war, in ihrem Leben aber, anders als der Trautext aus Römer 15,7, der eingerahmt die Wohnzimmerwand schmückte, keine erkennbare Rolle gespielt hatte. Tante Elfriede, Frau Elfriede H., wie er sie mehrmals mit Bezug auf ihre kirchliche Vita nannte, kam aber nicht mehr vor. Die Voranstellung der Anrede „Frau“ führte bei mir zu einem merkwürdig dis- tanzierten Gefühl. Was hatte das alles mit dieser glutvollen, mit jeder Faser ihrer Existenz das Leben bejahenden Frau zu tun? Warum erwähnte er nichts von dem, was sie unverwechselbar und einmalig gemacht hatte, ob- wohl er sie seit beinahe 20 Jahren kannte, so lange wie er als Ortspfarrer in diesem Dorf seinen Dienst versah?
[...]
1 Grönemeyer, Herbert, Der Weg Textdokument 1
2 Matthes, Joachim, Volkskirchliche Amtshandlungen. Lebenszyklus und Lebensgeschichte, in: Ders., Erneuerung der Kirche - Stabilität als Chance?, 83-112
3 Nölle, Vom Umgang mit Verstorbenen, 9
4 Gräb, Religion als Deutung des Lebens, 141
5 Meitzler, Bestattungskultur im sozialen Wandel, in: Benkel/Meitzler, Sinnbilder und Abschiedsgesten, 285
6 Helmers, Zukunft gestalten, 2
7 Blume, Populäre Musik bei Bestattungen, 266f
8 Berger-Zell, Abwesend und doch präsent, 138
9 Hosselmann, Todesanzeigen als memento mori?, 34
10 Wiefel-Jenner, Katharina, An den Rändern des Todes, 415
11 Friedrichs, Die kirchliche Bestattung: Tradition im Wandel, in Klie u.a. Theologie der Bestattung, 71
12 Mickan, „…wenn ich irgendwo so’n Steinchen hätte mit Namen“, 88 10
13 Auskunft Rainer Hasse, Leiter des Friedhofsamtes der Stadt Wetzlar
14 Timm, Rot, 85
15 Ebd., 89
16 Friedrichs, Gott „freiphantasieren“, 360
17 Siehe Todesanzeigen-Dokument 1 im Anhang
18 Siehe Todesanzeigen- Dokumente 2 und 3 im Anhang 12
19 Stöhr, Die Todesanzeige im Wandel, 17
20 Siehe Todesanzeigen-Dokumente 4 und 5 im Anhang
21 Hosselmann, a.a.O., 46
22 Bieritz, Bestattungsrituale im Wandel, in. Klie, Thomas (Hg.), Performanzen des Todes, 250
23 Brouwer, Abschied von Dir, in: Klie u.a., Theologie der Bestattung, 232 13
24 Ebd, 233
25 Schäfer, Tod und Trauerrituale in der modernen Gesellschaft, 169f
26 Geser, Virtuelle Gedenkstätten im World Wide Web, 138
27 Oma Marias Pillengedicht, Oma Marias Ballade vom Bier, Oma Marias „Bürgschaft“
28 Berger-Zell, a.a.O., 160f
29 Stöhr, a.a.O., 48
30 Hosselmann, a.a.O., 84
31 Hosselmann, a.a.O., 71f
32 Siehe Todesanzeigen- Dokumente 1- im Anhang
33 Drehsen/Sparn, Im Schmelztiegel der Religionen, 301
34 Brinkmann, Seelsorge im Trauerfall, 55
35 Feldmann, Tod und Gesellschaft, 126
36 Uden, Wohin mit den Toten?, 98
37 Ebd., 98
38 Nölle, a.a.O., 122
39 Blume, a.a.O., 271
40 Marks, Trost im Angesicht des Toten?, in: Klie u.a., Theologie der Bestattung, 552
41 Marks, a.a.O., 557
42 Marks, a.a.O., 558f
43 Quartier, Die Grenze des Todes, 26
44 Benkel, Die doppelte Distanz der Bilder, in: Benkel/Meitzler, a.a.O., 102 19
45 M. Roth, Kirchliche Trauerbegleitung in der Perspektive der neuen Trauerforschung, 300 20
46 Liedtext im Anhang, Textdokument 2
47 Reinke, Zwischen Individualität und Konformität, in: Bestattungskultur in der Gegenwart, BThZ 29 (2012), 290
48 Berger-Zell, a.a.O., 198
49 Blume, a.a.O., 44
50 Ebd., 71
51 Ebd., 217f
52 Ebd., 223
53 Blume, a.a.O., 231
54 Hauschildt, Jedem das Seine ?, in: Bubmann, Weyel, Praktische Theologie der Musik,64 22
55 Ebd., 76
56 Blume, a.a.O., 225
57 Hauschildt, Der Streit am Sarg um die Musik, 312
58 Uden, a.a.O., 157
59 Blume, a.a.O., 232
60 Ebd., 248f
61 Fischer, „Auf dem Weg zu einer neuen Bestattungskultur“, 227
62 Schäfer, Tod und Trauerrituale in der modernen Gesellschaft, 145 24
63 Siehe Fotodokument 19
64 Benkel, a.a.O., 61
65 Ebd. 62
66 Schäfer, a.a.O., 74
67 Siehe Fotodokumente
68 Meitzler, Bestattungskultur im sozialen Wandel, in Benkel/Meitzler, Sinnbilder und Abschiedsgesten, 257
69 Ebd., 280
70 Ebd., 220
71 Berger-Zell, a.a.O., 132
72 Benkel, Das Schweigen des toten Körpers, in, Benkel, Meitzler, a.a.O., 54
73 Ebd., 57
74 Ebd., 58
75 Ebd., 58
76 Ebd, 59
77 Saake, „Vom Verschwinden der Leiche“, in: Herzog/Fischer (Hg.), Totenfürsorge, 81 27
78 Hahn, Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit, 33
79 Benkel, a.a.O., 61
80 Ebd., 62
- Arbeit zitieren
- Jörg Süß (Autor:in), 2016, Welchen Status hat der Verstorbene beim Kasus der Bestattung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/372832
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