Mustafa Kemal Atatürk distanzierte sich von imperialistischem Expansionismus und plädierte für internationale Friedensdiplomatie zwischen den Staaten. So beabsichtigte er, der Nachfolgerin des untergegangenen Osmanischen Reichs die notwendige globale Anerkennung zu verschaffen und gute Beziehungen zur internationalen Staatengemeinschaft, insbesondere zum westlichen Europa, zu knüpfen. Sein Hauptaugenmerk lag jedoch auf der Errichtung eines zeitgenössischen – und vor allem westlich geprägten – Staates, der sich in allen Bereichen mit den europäischen Großmächten messen konnte.
Jahrhundertelang spielten die Türkei beziehungsweise ihr Vorgänger, das Osmanische Reich, eine beachtliche Rolle in der Weltpolitik. Doch die zerfallende Großmacht konnte nicht mit dem Fortschritt Europas mithalten und wurde zunehmend ein Interessensgebiet der imperialistischen Kolonialmächte, das lediglich durch deren Gunst fortbestand. Durch die verheerende Niederlage im Ersten Weltkrieg war der Untergang des Vielvölkerstaats schließlich besiegelt. Wie intendierte Mustafa Kemal Atatürk nun, die Türkei als Nationalstaat nach dem gelungenen Befreiungskrieg wieder reif für die internationale Bühne zu machen?
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Aufgabenstellung
2. Atatürk - eine Person sui generis
3. Ausgangssituation der türkischen Außenpolitik
3.1. Der Vertrag von Lausanne
3.2. Das türkische Konzept der Außenpolitik während des Befreiungskrieges
3.3. Das türkische Konzept der Außenpolitik nach der Staatsgründung
3.4. Die innenpolitische Situation
4. Außenpolitische Beziehungen nach der Staatsgründung
4.1. Großbritannien und Frankreich
4.2. Italien und Deutschland
4.3. Sowjetunion
5. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung und Aufgabenstellung
„ Der Gedanke vom Frieden in der Heimat, Frieden in der Welt, welches eines der fundamentalsten Prinzipien der türkischen Republik ist, stellt hinsichtlich des Wohlstands und des Fortschritts den grundlegendsten Wunsch der Menschheit und Zivilisation dar. Dieser Sache so viel wir nur möglich gedient zu haben, ist für uns ein Grund stolz zu sein. “ 1
So beschrieb der Gründer und erster Staatspräsident der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk2, die von ihm verfolgte Außenpolitik. Er distanzierte sich von imperialistischem Expansionismus und plädierte für internationale Friedensdiplomatie zwischen den Staaten. So beabsichtigte er, der Nachfolgerin des un- tergegangenen Osmanischen Reichs die notwendige globale Anerkennung zu verschaffen und gute Bezie- hungen zur internationalen Staatengemeinschaft, insbesondere zum westlichen Europa, zu knüpfen. Sein Hauptaugenmerk lag jedoch auf der Errichtung eines zeitgenössischen - und vor allem westlich geprägten - Staates, der sich in allen Bereichen mit den europäischen Großmächten messen konnte. Jahrhundertelang spielte die Türkei bzw. ihr Vorgänger, das Osmanische Reich, eine beachtliche Rolle in der Weltpolitik. Doch die zerfallende Großmacht konnte nicht mit dem Fortschritt Europas mithalten und wurde zunehmend ein Interessensgebiet der imperialistischen Kolonialmächte, das lediglich durch deren Gunst fortbestand. Durch die verheerende Niederlage im Ersten Weltkrieg war der Untergang des Vielvölkerstaats schließlich besiegelt. Wie intendierte Mustafa Kemal Atatürk nun, die Türkei als Nationalstaat nach dem gelungenen Befreiungskrieg wieder reif für die internationale Bühne zu machen?
Diese Facharbeit beschäftigt sich mit der Fragestellung, wie und inwiefern das außenpolitische Konzept des türkischen Staatsgründers zur Verbesserung der Reputation des „kranken Mannes am Bosporus“ bei- steuerte und wie schwer die Republik fortan in der internationalen Politik ins Gewicht fallen sollte. Zu- dem werden die Beziehungen zum Westen und zur Sowjetunion analysiert. Um Atatürks Wirken und sein Verständnis von Außenpolitik zu verstehen, muss man sich sein Leben und seinen Werdegang anschauen, da auch er ein Kind seiner Zeit, der Epoche des Imperialismus und Nationalismus, war. Daher werde ich zuerst mit einer Biographie Mustafa Kemals beginnen, um anschließend die türkische Diplomatie während des Befreiungskrieges und nach der Republikgründung und ihre Auswirkung auf das damalige Renommee der Türkei zu behandeln. Wichtige Meilensteine hierfür sind der Vertrag von Lausanne, die Mossulfrage und die Hataykrise. Diese werden umfangreich behandelt, um anhand dieser Beispiele das Konzept Ata- türks und ferner, die türkische Außenpolitik der 20er und 30er Jahre darzustellen. Der Vertrag von Mont- reaux von 1936, der der Türkei die Souveränität über die Meerengen zurückgab, wird aufgrund seiner viel- schichtigen Komplexität nur geringfügig behandelt. Die chronische Eingrenzung dieser Facharbeit begrün- det sich darin, dass es Mustafa Kemal Atatürk war, der der Türkei - und somit auch ihrer Außenpolitik - ihren grundlegenden Charakter gegeben hat. So prangt auch heute noch der Spruch „Frieden in der Heimat, Frieden in der Welt“ an den Wänden des türkischen Außenministeriums.
2. Atatürk - eine Person sui generis
Mustafa Kemal wurde um 1880/81 im damals osmanischen Saloniki geboren. Nach einer erfolgreichen Ausbildung in der Kriegsakademie zum Hauptmann trat er 1905 der osmanischen Armee und im selben Jahr noch der verbotenen jungtürkischen Gruppierung „Komitee für Einheit und Fortschritt“ bei, die sich gegen den autoritär herrschenden Sultan Abdulhamid II. positionierte. Dieser wurde 1909 durch die jung- türkischen Unionisten, denen Mustafa Kemal ebenfalls angehörte, gestürzt. Bei den neuen Machthabern wegen seiner liberalen Ideen und seines Ehrgeizes unbeliebt, wurde er an mehrere Fronten fernab vom Machtzentrum Konstantinopel versetzt. Er kämpfte 1911 gegen die Italiener in Libyen und war 1912/13 an den Balkankriegen beteiligt - mehr oder minder mit Erfolg. Seinen ersten großen Triumph, der ihm landes- weite Bekanntheit bescherte, feierte Mustafa Kemal 1915 im Ersten Weltkrieg, als er alliierte Truppen an der Okkupation der Dardanellen, einer strategisch äußerst wichtigen Meerenge mit Zugang zur Hauptstadt, hinderte. Für diesen Sieg wurde er zum General (türk. Pascha) befördert. Anschließend diente er bis zum Ende des Krieges als Oberbefehlshaber der Armeen in Syrien und Palästina und organisierte deren Rückzug aufgrund der sich abzeichnenden Niederlage des Osmanischen Reiches. Nach der Aufteilung des türkischen Kernlands in alliierte Besatzungszonen im Vertrag von Sèvres, organisierte Mustafa Kemal den Widerstand und konstituierte 1920 in Ankara ein nationalistisches Parlament, zu dessen Vorsitzenden und Oberbefehls- haber er ernannt wurde.3 Dem Sieg im Befreiungskrieg gegen die Griechen, welche zuvor Westanatolien okkupierten, für den er mit dem Titel Gazi 4 gewürdigt wurde, folgte 1922 die Abschaffung des Sultanats und 1923 der Friedensvertrag von Lausanne. Im selben Jahr wurde die Republik mit ihm als Staatspräsi- denten proklamiert. Bis 1926 erfolgte die Beseitigung jeglicher Opposition und die Etablierung eines auto- ritären Einparteienstaates mit der Republikanischen Volkspartei (CHP). Während seiner Regierungszeit (1923-1938) führte Mustafa Kemal massive Reformen in allen Bereichen durch, um den Staat und die Ge- sellschaft zu modernisieren.5 So drängte er unter anderem den Einfluss des Islam im öffentlichen Leben zurück, schrieb westliche Kleidung und Zeitrechnung vor und führte das lateinische Alphabet für die bis dato mit arabischen Buchstaben geschriebene türkische Sprache ein. Da er den Niedergang des osmani- schen Vielvölkerstaats miterlebte, lehnte er dieses Konzept ab und formte einen Nationalstaat. Er leitete eine Türkifizierung der Minderheiten ein und unterdrückte ihre Kultur und Sprache. Als Ehrentitel bekam er 1934 vom Parlament den Nachnamen „Atatürk - Vater der Türken“ verliehen. Atatürk starb 1938.6
Heute umgibt ihn in der Türkei ein Personenkult. So ist das Aufhängen eines Atatürk-Portraits in jeder Amtsstube Pflicht und er wird mehrmals jährlich durch Staatszeremonien geehrt. Im gesamten Land befinden sich Statuen, Büsten und Denkmäler, die ihm zu Ehren errichtet wurden. Ungeachtet der eigenen politischen Ideologie muss jede Partei Atatürk mehr oder weniger in das Parteiprogramm integrieren - Politik ohne den Staatsgründer ist unmöglich.
3. Ausgangssituation der türkischen Außenpolitik
3.1. Der Vertrag von Lausanne
Die türkischen Nationalisten unter Mustafa Kemal feierten am 24. Juli 1923 ihren bisher größten außenpo- litischen Erfolg - die Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne und die dadurch erfolgende Revidierung des Vertrags von Sèvres von 1920, welcher das Osmanische Reich zu einem kleinen halbautonomen Mari- onettenstaat der Alliierten machte. Lausanne war in vielerlei Hinsicht von großer Bedeutung. Nach dem Sieg auf dem Schlachtfeld gegen die von den Alliierten unterstützten Griechen musste nun ein Sieg auf diplomatischer Ebene folgen, um den Status quo zu untermauern und die eigene Herrschaft zu festigen. Ende 1922 wurde sowohl die Regierung des Sultans in Istanbul als auch die der Nationalisten in Ankara zu Gesprächen im neutralen Lausanne eingeladen. Mustafa Kemal reagierte brüskiert und initiierte einen Ge- setzesentwurf zur Abschaffung des Sultanats, welcher am 01.11. durch das Parlament in Ankara angenom- men wurde. Somit waren die Kemalisten7 alleiniger Ansprechpartner und Repräsentant der Türkei.8
Die türkischen Hauptforderungen orientierten sich hauptsächlich am 1920 formulierten „Nationalpakt“ (türk. Misak- ı Milli) sowie am Waffenstillstand von Mudanya von 1922, der den türkischen Sieg bestätigte: Die Wiederherstellung der türkischen Souveränität9, die Verhinderung eines armenischen Staats in Ostana- tolien, die Einhaltung der im Nationalpakt erklärten Grenzen (d.h. Gesamtanatolien mit Ostthrakien, dem Sandschak von Alexandrette und der Provinz Mossul), keine ausländischen Truppen an den Meerengen, keine wirtschaftlichen Privilegien für fremde Staaten, keine Einschränkung des türkischen Militärs und die Tilgung der osmanischen Staatschulden. Im Gegensatz dazu standen die alliierten Forderungen, welche Sèvres als Maßstab nahmen. So wollte Großbritannien das erdölreiche Mossul und die für den Handel wichtigen Meerengen auf keinen Fall türkischer Kontrolle überlassen, Frankreich beharrte auf den osma- nischen Schulden, da die Kreditgeber meist Franzosen waren. Der harte Widerstand der Alliierten gegen- über den türkischen Forderungen wurde durch die Zusicherung umfangreicher Reformen nach europäi- schem Vorbild und das Versprechen der Annäherung an Europa gemildert.10
Folgende Einigung kam nach achtmonatigen Gesprächen zustande: Die Türkei unterzeichnet den Vertrag als gleichgestellter vollwertiger Verhandlungspartner und wird als souveräner Staat in den anatolischen Grenzen anerkannt. Zudem werden die osmanischen Kapitulationen, die insbesondere Großbritannien und Frankreich wirtschaftliche und rechtliche Konzessionen gewähren, aufgehoben. Die verbleibenden Schul- den des Osmanischen Reichs werden auf die Nachfolgestaaten verteilt, wobei die Türkei den größten Anteil zu zahlen hat. Ankara garantiert Minderheitenrechte, welche allerdings nur für Nichtmuslime gelten. Die größte Minderheit, die Kurden, sind davon ausgeschlossen. Der im Januar bereits stattgefundene Bevölke- rungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland wird nachträglich legitimiert.11 Eine internationale Kommission soll zur Kontrolle der fortan demilitarisierten Meerengen gegründet werden. Die Grenze zum Irak und somit die Frage um Mossul wird allerdings nicht festgelegt und soll später zwischen der Türkei und der Mandatsmacht Großbritannien separat ausgehandelt werden.12 Der türkisch beanspruchte Sandschak von Alexandrette in Nordwestsyrien bleibt allerdings in französischer Hand.13 Der Vertrag von Lausanne war das Fundament, auf der später die Republik aufgebaut wurde. Die Türkei wird von den ehemaligen Feinden als souveräner Staat anerkannt und kann im Gegensatz zu ihren Bündnispartnern im Ersten Weltkrieg eine unabhängige nationale Wirtschaft aufbauen und als eigenständiger Staat ihre Politik bestimmen. So schreibt der Politikprofessor William Hale:
„ Mit der Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne 1923 bestand der neue türkische Staat seinen kritischsten Test. Er hat letztendlich ein Ausmaßan Sicherheit und internationaler Anerkennung erreicht, an welchen es seinem osmanischen Vorgänger seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts mangelte. Infolgedessen konnte die Außenpolitik nach dem inneren Wiederaufbau den zweiten Platz einnehmen. “ 14
Das Ergebnis ist trotz der Nichterfüllung aller Ziele, wie die Souveränität über die Meerengen, ein beach- tenswerter Erfolg, wenn man berücksichtigt, dass es damals nur wenige unabhängige asiatische Staaten gab. Jedoch sollte man sich von der geografischen Lage der Türkei nicht täuschen lassen. Sie orientierte sich keinesfalls an Asien, sondern erklärte mit dem Vertrag von Lausanne, dass sie auf all ihre vormaligen Ansprüche in der islamischen und arabischen Region verzichte.15 Die türkische Delegation machte unmiss- verständlich klar, dass Asien und die islamische Welt für sie keine allzu große Rolle mehr spielen werde - eine Modernisierung im Sinne Europas bzw. des Westlichen war nun der „Goldene Apfel“ der Türken.16
3.2. Das türkische Konzept der Außenpolitik während des Befreiungskrieges
Bereits im Befreiungskrieg waren diplomatische Kontakte mit den Alliierten unumgänglich. Anfangs noch als Aufrührer und Anarchisten diffamiert, erlangten die Kemalisten sehr früh eine gewisse Anerkennung, insbesondere durch die guten Kontakte mit den Bolschewisten in der Sowjetunion. Mustafa Kemal zeigte auch hier sein diplomatisches Geschick. Obwohl für ihn bereits damals nur eine parlamentarische Republik nach westlichem Vorbild infrage kam, waren andere Bündnisse zur Festigung und Legitimierung der An- kara-Regierung notwendig. Erst durch die Waffen- und Goldlieferungen der Kommunisten konnten die Nationalisten den Krieg überhaupt führen und schließlich siegreich beenden.17 Hierbei zeigt sich, wie ge- schickt Mustafa Kemal vorging: Er versah seine Reden mit sozialistischen Begriffen und wirkte dadurch wie ein „muslimischer Kommunist“. Auch wurde auf seinen Befehl hin 1920 eine offizielle kommunisti- sche Partei gegründet, um einerseits die Unterstützung der Bolschewisten im Krieg zu garantieren, welche Interesse an einem kommunistischen Umsturz in der Türkei hatten, und andererseits die erstarkenden sozi- alistischen Splittergruppen in Anatolien unter eigener Autorität zu vereinen.18 Mustafa Kemal wollte ver- hindern, dass eine alternative Bewegung in Konkurrenz zu seiner entstand. Obwohl er letztendlich massiv Kommunisten verfolgte und den Kommunismus ablehnte, unterhielt die Sowjetführung dennoch gute Be- ziehungen zu ihm, da sie das Parlament in Ankara - kommunistisch oder nicht - einer britischen Marionet- tenregierung in Istanbul bevorzugte.19 Das Verhältnis zur Sowjetunion spielte eine große Rolle, da beide Staaten ein Legitimitätsproblem besaßen und durch gegenseitige Unterstützung ihre internationale Recht- mäßigkeit geltend machen wollten. Die türkische Nationalbewegung lehnte den Kommunismus als innen- politisches System zwar ab, kooperierte jedoch mit den Bolschewisten auf internationaler Ebene.20 Durch Erfolge im Krieg anerkannten auch andere Mächte rasch das neue Parlament an. So wurden bereits ab 1921 diplomatische Kontakte mit Frankreich und Italien geknüpft, von denen die Nationalbewegung profitierte. So hielten sich die Italiener gänzlich aus den Kampfhandlungen heraus und auch die Franzosen zogen nach einem Abkommen im selben Jahr ab. Dies waren hinsichtlich des Prestiges wichtige Schritte für Mustafa Kemal und die Ankara-Regierung.21 Allerdings stand die Türkei nach dem Vertrag von Lausanne, abgesehen vom Verhältnis zur Sowjetunion, relativ isoliert da. Mustafa Kemal, nun als Präsident und Nationalheld die führende Figur im Land, fasste den Plan, eine konsequente und friedliche Außenpo- litik zu führen, um die Türkei zu einem gleichberechtigten Mitglied der internationalen Gemeinschaft zu machen.22 Des Weiteren sollte eine solche Friedenspolitik der Erhaltung der hart erkämpften Errungen- schaften dienen und verhindern, dass die Türkei durch abenteuerliche Kriegslust ein ähnliches Desaster wie Sèvres erlebt.23 Mustafa Kemal war sich bewusst, dass die Außenpolitik proportional mit der Macht eines Staates sein musste.24 Insofern verfolgte er anstatt einer revisionistischen, eine pragmatische Außenpolitik und war stets zu Kompromissen bereit. So verzichtete er in Lausanne vorübergehend auf den Sandschak von Alexandrette und später, im Vertrag von Ankara 1926, gänzlich auch auf Mossul.
3.3. Das türkische Konzept der Außenpolitik nach der Staatsgründung
Der Orientalist und Turkologe Klaus Kreiser beschreibt das Atatürksche Konzept folgendermaßen:
„ Atatürks System war alles andere als militaristisch und entbehrte jedes imperialistische Auftreten im der Außenpolitik - und dies gewiss nicht nur aus wirtschaftlicher Schwäche undängstlicher Zurückhaltung, sondern weil für Atatürk der Rückzug auf das anatolische 'Herz des Landes' Vorrang vor großtürkischen Ambitionen hatte und ihm das Modernisierungsprojekt wichtiger war als eine rückwärtsgewandte Nationalromantik. “ 25
Die Zwischenkriegszeit war geprägt vom Konflikt zwischen den Anhängern des Status quo und den Revi- sionisten. Der harsche Diktatfrieden von Versailles 1919 schürte den Konflikt zwischen Deutschland und den Alliierten und sorgte keinesfalls für einen kontinuierlichen Frieden. Europa begann seine Bedeutung in der Weltpolitik zu verlieren, es folgten wirtschaftliche Probleme. Der Einfluss der Kolonialmächte auf pe- riphere Gebiete verringerte sich mit den zunehmend auftretenden innenpolitischen Krisen. Die neue Türkei profitierte von diesen Aspekten. Sie hatte - verglichen zu ihrem Vorgänger - eine gewisse Autonomie, der durch den Machtverlust der Westmächte bedingt war. Zweitens war sie für sowohl die Verteidiger als auch die Anfechter der Nachkriegsordnung aufgrund ihrer geostrategischen Lage von enormer Bedeutung. Drittens wandelte sich mit dem kommunistischen Russland ein historischer Erzfeind in einen wertvollen Verbündeten, welchen die isolierte Republik dringend benötigte. Mustafa Kemal Atatürk gelang es, diese Vorteile geschickt und rational zu nutzen, wobei er sich der langjährigen osmanischen Tradition der Bewahrung des Gleichgewichts konkurrierender Staaten bediente.26
Beim Entwickeln einer Außenpolitik hatte die Türkei zwei potenzielle Handlungsweisen: Entweder sie verlässt sich auf das Gleichgewicht der Mächte oder sie tritt einem Bündnis bei.27 Bei Letzterem gibt es das Problem, dass eine Mittelmacht wie die Türkei zum Satelliten des mächtigeren Staates werden kann, was der wesentliche Grund war, warum sich Atatürk für das Erstere entschied. Es gab hauptsächlich drei Grup- pen, die er zu berücksichtigen hatte. Die erste bestand aus den Verteidigern des neuen Status quo, Großbri- tannien und Frankreich. Höchste Priorität war es, Probleme mit diesen Staaten zu lösen und gute Beziehun- gen zu pflegen. Mustafa Kemal wollte sich politisch diesen nähern und sich gut mit ihnen verstehen, da er sie als Vorbild hochachtete. Zur zweiten Gruppe gehörten die revisionistischen Staaten der Zwischenkriegs- zeit, Italien und Deutschland. Zu diesen wollte Atatürk distanziert bleiben, insbesondere zu Mussolini, den er als größte Gefahr für die Türkei empfand. Er betrachtete diese faschistischen Länder lediglich als Ge- gengewicht zur ersten Gruppe und vermied außergewöhnliche Herzlichkeit, unterhielt allerdings gute Wirt- schaftsbeziehungen. Die letzte Gruppe war die Sowjetunion, mit der seit dem Befreiungskrieg äußerst gute Beziehungen geknüpft worden waren und welche die Türkei langjährig unterstützte. Der kommunistische Staat diente als Gegengewicht zu den ersten beiden Gruppen.28 Jedoch vermied die Türkei es, eine zu enge Freundschaft zum bolschewistischen Nachbarn zu pflegen. Diese hätte die Beziehungen zum Westen be- lastet. Ferner vertraute man den Sowjets nicht vorbehaltlos. Diese Haltung sollte sich nach dem Zweiten Weltkrieg als gerechtfertigt erweisen, als Stalin Anspruch auf türkische Ostprovinzen erhob und die Türkei sich den USA annäherte.29
So verließ Atatürk sich auf eine ausgeglichene balancierte Außenpolitik mit einer westlichen Neigung30, welche auf Räson baute und keine Anzeichen von Revisionismus oder Irredentismus zeigte. Dies wird in erster Linie im Konflikt um die Meerengen und in der Hatayfrage31 ersichtlich, in der die Türkei ihre Ziele durch kühle vernünftige Diplomatie auf legalem Wege im Einverständnis mit den Westmächten erreichte - ohne Provokation anderer Staaten.
3.4. Die innenpolitische Situation
Außenpolitisch war die Souveränität des Staates in Lausanne zwar gesichert worden, innenpolitisch musste Mustafa Kemal aber drei große Fragen lösen. Diesen wurde der Vorrang vor der Außenpolitik gewährt, sodass bis Anfang der 30er letztere mehr oder weniger vernachlässigt wurde bzw. nicht stark ausgeprägt war. Die erste war die Konsolidierung der eigenen Herrschaft und die Beseitigung jeglicher Opposition. Die Islamisten und Royalisten wurden mit der Abschaffung des Kalifats und der Ausweisung der osmani- schen Dynastie 1924 aus dem politischen Geschehen verbannt.
[...]
1 Atatürk in einem Telegramm an den amerikanischen Präsidenten Roosevelt am 03.11.1933. ATATÜRK ARAŞTIRMA MERKEZI 2006: Atatürk'ün Tamim, Telgraf ve Beyannameleri, S. 478. (Übersetzung des Autors).
2 Nachnamen, wie Atatürk, was so viel wie Vater der Türken bedeutet, wurden erst 1934 eingeführt, vgl. KREISER 2008: Atatürk. Eine Biographie, S. 18. Im Folgenden wird bei Personen auf die historische Korrektheit bezüglich der Verwendung von Namen geachtet.
3 HANIOGLU 2015: Atatürk. Visionär einer modernen Türkei, S. 308-312.
4 Gazi bedeutet „Eroberer, Gotteskrieger“ und hat eine religiöse Konnotation. Mustafa Kemal trug diesen Titel trotz seiner antireligiösen Haltung mit Stolz und behielt ihn bis zu seinem Lebensende bei.
5 Für Mustafa Kemal und viele Türken damals kam der Begriff „Modernisierung“ mit „Europäisierung“ gleich, vgl. HANIOGLU 2015: Atatürk. Visionär einer modernen Türkei, S. 207.
6 GÜLBEYAZ 2004: Mustafa Kemal Atatürk. Vom Staatsgründer zum Mythos, S. 8f.
7 Während des Krieges wurden die Widerständler in westlichen Medien nach ihrem Anführer Mustafa Kemal als Kemalisten generalisiert. Danach werden jedoch nur die Anhänger der Ideologie des Kemalismus so genannt.
8 ORAN 2010: The Peace Treaty of Lausanne, S. 126.
9 KREISER 2008: Atatürk. Eine Biographie, S. 176.
10 ORAN 2010: The Peace Treaty of Lausanne, S. 127ff.
11 Vgl. FIRAT 2010: Relations with Greece, S. 198-202.
12 ORAN 2010: The Peace Treaty of Lausanne, S. 130f.
13 Vgl. UZGEL et al. 2010: Relations with Western Europe. Relations with France, S. 168.
14 HALE 2013: Turkish foreign policy since 1774, S. 41. (Übersetzung des Autors).
15 BIYIKLI 2008: Kaynak ç al ı Ve A çı klamal ı Atatürk Dönemi Türk D ış Politikas ı Kronolojisi, S. 360.
16 Als „Goldener Apfel“ wurde früher das Ziel türkischer Eroberungen bezeichnet, wie z. B. Konstantinopel und Wien, vgl. BORATAV 1986: KizilElma (or Kizil-Alma), S. 245f.
17 HANIOGLU 2015: Atatürk. Visionär einer modernen Türkei, S. 132f.
18 Die Partei wurde bereits 1921 aufgelöst, nachdem die Hilfeleistungen der Bolschewisten gesichert und kommunistische Kontrahenten ausge- schaltet worden waren, vgl. DAĞISTAN o. J.: Milli Mücadele'de Mustafa Suphi Olay ı, o. S.
19 HANIOGLU 2015: Atatürk. Visionär einer modernen Türkei, S. 120-123.
20 ORAN 2010: Appraisal of the Period, S. 153.
21 HANIOGLU 2015: Atatürk. Visionär einer modernen Türkei, S. 134f.
22 RILL 2011: Kemal Atatürk. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S. 116.
23 GÜLBEYAZ 2004: Mustafa Kemal Atatürk. Vom Staatsgründer zum Mythos, S. 212.
24 AKŞIN 2007: K ı sa Türkiye tarihi, S. 178.
25 KREISER 2008: Atatürk. Eine Biographie, S. 300.
26 ORAN 2010: Appraisal of the Period, S. 143.
27 HALE 2013: Turkish foreign policy since 1774, S. 72.
28 ORAN 2010: Appraisal of the Period, S. 151.
29 RILL 2011: Kemal Atatürk. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S. 123f.
30 UZGEL et al. 2010: Relations with Western Europe. Relations with France, S. 165.
31 Der Sandschak von Alexandrette wurde 1938 in Hatay umbenannt, vgl. ebd., S. 167.
- Quote paper
- Salih Talha Güney (Author), 2017, Atatürks außenpolitisches Modell zwischen Scheitern und Erfolg. Frieden in der Heimat, Frieden in der Welt?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/370978
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