Das "phantastische Binom" von Gianni Rodari als Mittel zur Konstruktion der Wirklichkeit

Untersuchungen zu "Grammatik der Phantasie - Die Kunst, Geschichten zu erfinden"


Master's Thesis, 2014

72 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Person Gianni Rodari
1.1. Biografie
1.2. Werke
1.3. Rezeptionsgeschichte in Deutschland
1.4. Der Pädagoge

2. Analyse der Grammatik der Phantasie
2.1. Entstehungsgeschichte
2.2. Struktur
2.3. Der Stein-im-Teich
2.4.. Das Phantastische Binom
2.4.1. Das Phantastische Binom als Naturkraft
2.4.2. Das Phantastische Binom als pädagogisches Mittel
2.4.3. Das Phantastische Binom als politisches Mittel
2.4.4. Phantasie und Realität im Phantastischen Binom
2.5. Rodaris Vorbilder
2.6. Rodaris Begriffsdefinitionen

3. Das Phantastische Binom und Kreatives Schreiben
3.1. Irritation
3.2. Die Oulipo

4. Das Phantastische Binom und die Hirnforschung
4.1. Die binäre Struktur das Gehirns
4.2. Kreativitätsmessung im Labor

5. Phantastisches Binom und Konstruktion der Wirklichkeit
5.1 Der Wirklichkeitsbegriff im Konstruktivismus
5.2. Konstruktivismus und Kunst
5.3. Konstruktivismus und Pädagogik
5.4. Das Phantastische Binom als Konstruktions-Instrument

6. Schlussbemerkung

Literatur..

Zusammenfassung

Das Phantastische Binom als Mittel zur Konstruktion der Wirklichkeit - Untersuchung zu Gianni Rodaris „Grammatik der Phantasie - Die Kunst, Geschichten zu erfinden“

Vorliegende Master-Thesis wurde im Rahmen des postgradualen Masterstudienganges Biografisches und Kreatives Schreiben an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin erstellt. Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung steht die kreative Schreibtechnik des „Phantastischen Binoms“, das Gianni Rodari, italienischer Kinderbuchautor, Journalist und Pädagoge (1920-80), in seinem theoretischen Werk „Grammatik der Phantasie - Die Kunst, Geschichten zu erfinden“ aus dem Jahre 1973 als zentrale Impulsmethode entwickelt.

Analyse des Begriffs im Rahmen der „Grammatik der Phantasie“, Bezug zu der französischen Literatengruppe Oulipo und Beleuchtung der Wirkungsweise dieses Phänomens unter hirnphysiologischen Gesichtspunkten bilden Aspekte der Betrachtung.

Daran schließt sich am Ende eine ästhetisch-philosophische Diskussion an mit Schwerpunkt auf der psychologisch-pädagogischen Theorie des Konstruktivismus unter der zentralen Fragestellung, inwiefern das „Phantastische Binom“ eine Form der Wirklichkeit schafft und damit Phantasie und Realität beim Geschichtenerfinden in neue Beziehung setzt.

Vorwort

Wer ist Gianni Rodari? Das war die Frage, die zu Beginn meiner Wahl dieses Themas für die vorliegende Abschlussarbeit im Rahmen des postgradualen Masterstudienganges „Biografisches und Kreatives Schreiben“ an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin stand. Begegnet ist mir dieser Name erst im Zuge eines Zitates, das mein Dozent Claus Mischon in dem Bewertungstext einer Semesterarbeit in Zusammenhang mit meinen Selbstreflexionen zu einer Sammlung kreativer Texte gesetzt hatte: „Alle Gebrauchsmöglichkeiten des Wortes allen zugänglich zu machen - das erscheint mir als ein gutes Motto mit gutem demokratischen Klang. Nicht, damit alle Künstler werden, sondern damit niemand Sklave sei“. Dieses Zitat stammt aus Gianni Rodaris theoretischem Werk „Grammatik der Phantasie - Die Kunst, Geschichten zu erfinden“ - in der deutschen Ausgabe von 2008 mit der Übersetzung von Anna Mudry hier als Textgrundlage verwendet und im weiteren zitiert als GdP (vgl. GdP, S. 10).

Dieser Satz hat eine gewisse Berühmtheit erlangt und wird immer wieder in Foren und Blogs zum Kreativen Schreiben genutzt (vgl. online www.Ruhrbarone.de; www.wortwechsel- kaufungen.de) , aber die Person und schriftstellerische Bdeeutung seines Urhebers tritt in Deutschland hinter diesem Zitat zurück, obwohl Rodari-Forscherin Cecilia Schwartz die Bedeutung Rodaris und insbesondere seiner „Grammatik der Phantasie“ für das Kreative Schreiben hervorhebt: „This work has previously been fêted both as a practical and didactic source of inspiration for creative Writing, and as a key to Rodari‘s authorship“ (Schwartz 2006, S. 212).

Mein Interesse war geweckt durch die in dem genannten Zitat gesponnene Verknüpfung von Sprache und Schreiben und einer Demokratisierung der Gesellschaft. Nachdem meine ersten Recherchen zu dieser Verknüpfung noch weitere hinzufügten, nämlich Rodaris Verfassen phantastischer Geschichten, vorzugsweise für Kinder und seine politische Aktivität als Mitglied der kommunistischen Partei Italiens, gab es für mich kein Halten mehr: Das war mein Thema! Als Hörspielautorin von Phantastischen Wissenschaftskrimis auf der Grenze zur Science Fiction fühlte ich mich von Rodaris Programm magisch angezogen. Vielleicht war es diese Melange in seiner Biografie, die einiges an Übereinstimmung (vom schriftstellerischen Erfolg abgesehen!) mit meiner eigenen Vita hat (Autorin fantastischer Geschichten, Mutter und Erzählerin frei erfundener Kinder- Gute-Nacht-Geschichten, Journalistin) und nun in Parallele bei Gianni Rodari eine objektive Projektionsfläche fand, um eine Reihe für mich bisher ungelöster Fragen zu beantworten:

1. Kann Schreiben gesellschaftlich emanzipatorisch wirken?
2. Lässt sich von fantastischen Themen ausgehend eine politisch-reale Wirkung erklären?
3. Gibt es einen hirnphysiologisch nachweisbaren Zusammenhang zwischen Phantasie und Kreativität?
4. Warum ist Gianni Rodari in Deutschland relativ unbekannt( obwohl im Gegensatz dazu in vielen anderen Ländern Europas sehr berühmt) ?

Der Untertitel der „Grammatik der Phantasie“ lautet: „Die Kunst, Geschichten zu erfinden“. Das Werk richtet sich an Lehrer und Pädagogen, die Kinder im Vor- und Grundschulalter damit anleiten können, eben „Geschichten zu erfinden“.

Die Diskussion darüber, was pädagogisch machbar und sinnvoll ist, wird gerade heute aktiv geführt. Im Nachgang zur Pisa-Studie wurden in den letzten Jahren in Deutschland zahlreiche Neuerungen durchgeführt, u.a. das sogenannte „Turbo-Abitur“ mit einer Schulzeitverkürzung von 13 auf zwölf Jahre. Diese Reformen sind alle an der Vermittlung eines einheitlichen Lernstands ausgerichtet - Raum für Phantasie und kreative Entwicklung ist nicht Bestandteil der Diskussion (vgl. Schäfer 2011, S. 12 f.).

Insofern ist auch eine wichtige Motivation für diese vorliegende Arbeit, zu betrachten, welchen Stellenwert Rodaris Ideen im Zuge seiner „Grammatik der Phantasie“ in der gegenwärtigen schulpädagogischen Diskussion einnehmen könnten. Gerade in der heutigen Überschwemmung mit ästhetischen Konzepten durch eine riesenhafte Medienmaschinerie (Beispiel: Bestseller-Markt / Hollywood) mit vorgegebenen „Geschichten“ wirkt Rodaris Gewichtung eines ganz individuellen Zugangs zu kreativem Geschichten-Erfinden hochaktuell in seiner Notwendigkeit.

Im Rahmen des Kreativen Schreibens scheint mir unter schreibpädagogisch und - therapeutischem Aspekt individueller schriftlich-literarischer Ausdruck ohne Stigmatisierung als „unrealistisch“ wünschenswert, um die wachsende Zahl von Menschen mit depressiven (weil den individuellen Ausdruck beschneidenden) Lebenserfahrungen über das Schreiben zu ihren ureigensten inneren Bildern und individuellen Ressourcen zurückfinden zu lassen. Der Ausdruck „realistisches Schreiben“ gewinnt somit unter dem Aspekt „Konstruktion der Wirklichkeit“ möglicherweise eine erweiterte Bedeutung und auch das „fantastische Schreiben“ erhält neue „realistische“ Züge.

Nicht zuletzt fordert Rodaris Titel diskursives, kreatives Denken heraus: eine „Grammatik der Phantasie“ - das klingt nach einem Paradoxon. Und mit diesem Vorurteil eines unüberwindlichen Gegensatzes, einer gegenseitigen Ausschließlichkeit werde auch ich als Autorin von fantastischen Geschichten immer wieder konfrontiert. „Science Fiction nehmen wir gar nicht“ oder gar: „Das ist doch keine Literatur“ - sind typische Repliken auf meiner Suche nach Verkaufsmöglichkeiten von Hörspielen im Grenzbereich zwischen Wissenschaft und Fiktion.

In der Grammatik der Phantasie als ein Regelwerk für ungezügelte (unzügelbare?) Phantasie hat Gianni Rodari dieses Paradoxon zu seinem Programm gemacht - wie auch das Paradoxon des „Phantastischen Binoms“.

Einleitung

Für Gianni Rodari war die Zeit des Zweiten Weltkrieges und des Faschismus in Italien die Zeit seiner Adoleszenz, des jungen Erwachsenendaseins. Nach dem Fall des Mussolini- Regimes wandte sich Rodari dem Kommunismus zu. Parallel mit diesem Umschwung von einem Extrem ins andere verlief auch die Wendung in der italienischen Literatur: während die Zeit des Faschismus von realistischer Literatur geprägt war und jegliche phantastische Literatur verpönt war, wurde Rodari zum entschiedenen Verfechter phantastischer, skurriler und absurder Nonsens-Literatur: „from having been a mere pendant to the realistic narratives dominating the nineteenth century, and almost disappearing during the more than twenty years of fascist reign, the fantastic is - not least thanks to Rodari - rejuvenated during the 50s, only to flower and thrive from the 80s onwards“ (Schwartz 2006, S. 211).

Aus Faschismus erwächst hier Kommunismus, aus Realismus Phantastik: Welcher Zusammenhang besteht zwischen den beiden Extremen? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Phantasie und Wirklichkeit? Gibt es verlässliche Methoden der Beweisführung für einen Zusammenhang? Die zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit knüpft an diesen Überlegungen an: Verändert Phantasie die Realität? Oder differenzierter formuliert mit Bezug auf das vorliegende Thema zu Rodaris „Grammatik der Phantasie“: Lässt sich das Erfinden von phantastischen Geschichten mittels der Anwendung der kreativen Schreibtechnik des Phantastischen Binoms als kreativer Prozess unter Laborbedingungen im Hirn nachweisen und welche Interpretationsmöglichkeit bietet das Ergebnis in Hinsicht auf die Modifizierbarkeit unserer Realität ?

Das ist die zentrale Frage die hier beantwortet werden soll. Dafür soll im ersten Schritt nach einer kurzen Beleuchtung der Person Rodaris und seiner Biografie eine Analyse der „Grammatik der Phantasie“ und ihrer zentralen Technik des „Phantastischen Binoms“ hinzugezogen werden. Anschließend wird in einem Exkurs zu der französischen Literatengruppe Oulipo (Ouvroir des littérature potentielle) eine vertiefende Paralelle zu Rodaris Erzähltechniken hergestellt. Hier ist zentrale Bezugsquelle Gundel Mattenklotts Aufsatz „Spiel und Literatur: Schreiben in der Werkstatt potentieller Literatur (Oulipo)“ (Mattenklott 2013).

Kaspar Spinner erwähnt in seinem Artikel „Gibt es eine Didaktik des Kreativen Schreibens?“ (Spinner 2005) das Grundprinzip der Irritation als Charakteristikum Kreativen Schreibens und benennt dieses mit Gianni Rodaris „Phantastischem Binom“ als „am treffendsten beschrieben“ (ebd., S. 83). Spinner verweist auch auf die Nähe dieses Begriffs zur modernen Kognitionspsychologie: „Solche phantastischen Binome stören unser automatisiertes Verstehen und regen zu kreativen Vorstellungen an“ (ebd.).

Hieran anknüpfend soll ein Versuch unternommen werden, mithilfe der aktuellen Neurophysiologie Aussagen über Forschungsergebnisse der modernen Hirnforschung zu sammeln und daraus mögliche Folgerungen für eine Wechselwirkung von Phantasie und Realität zu abzuleiten. Dabei finden sich nur wenige Arbeiten zum Zusammenhang von Kreativität und Hirnphsysiologie. Zwei konnten aufgrund einer Untersuchung sprachlich- kreativer Prozesse zur vorliegenden Untersuchung herangezogen werden. (Hauswirth 2007; Fally 2007).

Ausgehend von Gabriele Ricos Konzept in ihrem Buch: „Garantiert schreiben lernen“ (1984) zu Clustering als Methode, die auf Grundlage der modernen Hirnforschung beim Kreativen Schreiben die Funktionsweise der beiden Hirnhälften berücksichtigt, ist auch für die vorliegende Fragestellung von besonderem Interesse, inwiefern Hirnforschung und Ideen zu kreativitätsfördernden Schreib-Prozessen ineinandergreifen. Rodaris „Phantastisches Binom“ scheint an dieser physiologischen Zweigeteiltheit unseres Denkapparates in eigener Weise ebenfalls anzuknüpfen.

Die Aktualität des Themas „Neurophysiologie der Kreativität“ kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass die Universität Nürnberg-Erlangen in Kooperation mit der Staedtler-Stiftung ein Verbundforschungsproekt zum Thema „Die Wirkung von Kunst auf Gehirn und Wohlbefinden“ durchführt und die Ergebnisse im Mai 2014 präsentieren wird (vgl. Staedtler- Stiftung 2014).

Der in der vorliegenden Arbeit verwendete Begriff der „Konstruktion von Wirklichkeit“ ist dem Buch „Wege ins Schreiben: Eine Studie zur Schreibdidaktik in der Grundschule“ von Michael Ritter (2008) entnommen, in dem er bemerkt, dass im pädagogischen Konzept der Reformpädagogik in Italien in den 70-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts - auf die Rodaris pädagogische Ideen maßgeblichen Einfluss hatten - das „Kind als Akteur seine eigene Entwicklung entfalten“ könne und „als Konstrukteur seiner Wirklichkeit verstanden“ werde (vgl. Ritter 2008, S. 215 f.).

Für die vorliegende Masterarbeit wurde die Entscheidung getroffen, die Haltung Rodaris, in den Kindern bereits die Verkörperung der zukünftigen Erwachsenen und späteren mündigen Bürger zu sehen, umzukehren: in jedem Erwachsenen steckt auch noch immer das einstige Kind. In diesem Sinne argumentiert auch Rolf Arnold in seiner konstruktivistischen Arbeit mit dem Untertitel: „Beiträge zu einer emotionspädagogischen Erwachsenenbildung“ (2005), wenn er behauptet: „Erwachsensein ist kein Nachkindheitsstadium im Leben, vielmehr bleibt der Erwachsene in seinem Selbstverständnis sowie in seinen Gefühlen und Handlungen stets eingebunden in verbliebene Kindlichkeiten, welche er niemals vollständig abstreift“ (Arnold 2005, S. V). Vor diesem Hintergrund sollen die Resultate dieser vorliegenden Arbeit für den Menschen sowohl im Kindheits- als auch im Erwachsenenstadium Gültigkeit haben und somit Rodaris für Kinder angeregte Poetik gleichermaßen auf die Belange erwachsener Schreibender „runtergebrochen“ werden.

Dass sich auch in Rodaris Didaktik die Adressaten mischen lässt sich vielleicht auch anhand der Tatsache untermauern, dass es zwei Versionen der Erzählung „Il filobus numero 75“ gibt, deren erste für Erwachsene konzipiert war (vgl. Schwartz 2006, S. 212). Abschließend sei noch auf das Problem der Literatursichtung hingewiesen: lediglich eine Handvoll Sekundärliteratur zu Rodari ließ sich auf deutscher oder englischer Sprache finden. Der weitaus überwiegende Teil der Aufsätze und Werke zu Gianni Rodari wurde auf italienisch publiziert - eine Sprache, die bei der vorliegenden Arbeit aus mangelnden Kenntnissen leider so gut wie gar nicht berücksichtigt werden konnte. Im Literaturverzeichnis der Dissertation von Cecilia Schwartz (2006) finden sich über 60 Literaturangaben auf italienisch, die daher - bis auf wenige Ausnahmen - nicht zur vorliegenden Untersuchung hinzugezogen werden konnten. Es konnte aus diesem Grund manchmal nicht darauf verzichtet werden, Sekundärzitate zu nutzen mit der darin schlummernden Gefahr der Fehlerhaftigkeit. Diese Stellen sind aber eindeutig als solche gekennzeichnet. Der für diese Arbeit begrenzte Zeitrahmen hat eine Auswahl der jeweiligen herangezogenen Literatur bedingt, so dass sie selbstverständlich keine erschöpfende Abhandlung zu den einzelnen Punkten sein kann sondern mehr eine ausschnitthafte Diskussion bietet - nicht zuletzt auch bedingt durch den Fokus auf das Phänomen des „Phantastischen Binoms“ und seine Wirkungsweise.

Die Schreibweise der vorliegenden Arbeit lehnt sich bezüglich der Begriffe Phantasie, Phantastik, Phantastisches Binom an die in der verwendeten Ausgabe des Werkes von Gianni Rodari mit „ph“ anstelle der neueren Schreibweise mit „f“ an.

1. Person Gianni Rodari

1.1. Biografie

Mt den Worten der Übersetzerin der „Grammatica della fantasia“ ins Deutsche, Anna Mudry, war Gianni Rodari ein Bäckerssohn aus Norditalien, den liebenswürdige, heitere Gelassenheit auszeichnete und den „eine kurze, ,missglückte Karriere‘ als Lehrer mit unüberwindlichem Horror vor schulischer Disziplin erfüllt hatte, sodass er eine zweite Laufbahn als Journalist und Schriftsteller für Kinder einschlug, die in seinem sechzigsten Lebensjahr durch den Tod jäh unterbrochen wurde“ (Mudry 1992, S.223). In dieser knappen Charakterisierung des bedeutendsten Kinderbuchautors Italiens im 20. Jh. (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999, S. 921) sind bereits zwei wichtige Züge der Biographie Rodaris angedeutet: das Geprägtsein von extremen und divergenten Lebenserfahrungen und die Entschiedenheit, neue Wege zu gehen.

Geboren wurde Gianni Rodari am 23. Oktober 1920 im italienischen Omegna in Piemont als Sohn eines Bäckers (vgl. Kaminski 1979, S. 194). Nach dem Tod des Vaters zog die Familie 1930 nach Gavirate in der Provinz Varese in der Lombardei (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999, S. 920; vgl. Sala 2013, S. 38). 1931 stellt er Antrag auf den Besuch des Gymnasiums, das Seminario di San Pietro die Seveso in Mailand. Rodari galt als Musterschüler , meldete sich dennoch nach der 3. Klasse wieder ab (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999, ebd.; vgl. Sala 2013, ebd.). Anschließend besuchte er das Istituto Magistrale Manzoni in Varese (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999, ebd.), wo er 1938 mit nur 18 Jahren sein Lehrerdiplom erhielt (vgl. ebd.). Zunächst war er als Hauslehrer bei geflüchteten deutschen Juden tätig, 1939 begann er ein literatur-wissenschaftliches Studium an der Mailänder „Universita Cattolica“ (vgl. Sala 2013, S.39) , das er aber aus finanziellen Gründen abbrechen musste (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999, ebd.). Während dieser Zeit unterrichtete er an einer Elementarschule (vgl. Kaminski 1979, ebd.). Winfred Kaminski schreibt, dass Rodari den Lehrerberuf aufgab, um journalistisch arbeiten zu können (vgl. ebd.).

Dass Mudrys Einschätzung, der Lehrerberuf habe Rodari „mit unüberwindlichem Horror erfüllt“ (s.o.) Berechtigung hat, lässt sich auch aus Rodaris kritischen Anmerkungen zum Schulunterricht schließen (vgl. P. 2.4.2., S. 26: “Das Phantastische Binom als pädagogisches Mittel“), die Mudry als Rodaris Absicht zusammenfasst „...auf der Seite der Kinder zu stehen und die öffentliche Meinung für die selbstkritische Solidarität mit Ihnen zu sensibilisieren, statt selbstgefällige Autorität walten zu lassen" (Mudry 1992, S.224).

1940 wurde er aus gesundheitlichen Gründen nicht in den Kriegsdienst eingezogen musste aber den Verlust zweier Freunde hinnehmen, die im Krieg gefallen waren und erfuhr, dass sein Bruder in ein Konzentrationslager deportiert wurde. Nach dem Fall des Faschismus näherte er sich der kommunistischen Partei Italiens an, wurde 1944 ihr Mitglied und nahm am Widerstandskampf der „Resistenza Partigiana“ teil (vgl. Sala 2013, S. 39). Von 1945-47 gab er die Zeitschrift „L‘Ordine Nuovo“ heraus und wurde 1947 Redakteur der kommunistischen Zeitung „L‘Unità“, deren Chefredakteur er von 1956 bis zu seinem Tod 1980 war (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999, S. 920). Nach seiner Prüfung als professioneller Journalist begann er für die römische Tageszeitung „Paese Sera“ zu arbeiten. Ab 1935 war Rodari in der katholischen Bewegung „Azione Cattolica“ aktiv, in der er auch bis 1937 Präsident war (vgl. Sala 2013, S. 38 f.).

1953 heiratete er Maria Teresa Ferretti, mit der eine Tochter hatte, Paola.

1952 begannen seine zahlreichen Reisen in die damalige Sowjetunion, nach Bulgarien und China (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999, ebd.).

Nach Angaben Bernd Zillichs wurde Rodari mitten in der Zeit des Kalten Krieges nach Erscheinen seines ersten pädagogischen Buches „Das Handbuch des Pioniers“, vom Vatikan exkommuniziert und seine Bücher in den Pfarreien verbrannt (vgl. Zillich 2013). Auch Jack Zipes schreibt in seinem Vorwort zur Englischen Ausgabe der „Grammatik der Phantasie“, dass Rodari von der katholischen Kirche als „devil‘s advocate“ (vgl. Zipes 1996, S. XIII) denunziert wurde und sie danach trachtete, seine Werke zu verbieten und ihn als Schriftsteller zu brandmarken, dessen Politik den Kinderseelen schaden würde (vgl. ebd., S. XVII).

Dessen ungeachtet wurden seine zahlreichen Kinderreime- und Erzählungen mit mehreren Auszeichnungen versehen:

1959 Premio Prato, 1963 Premio Città di Caorle, 1963/68 Premio Castello, 1967 Premio Europa Dralon, 1968 Österreichischer Staatspreis für Kinderliteratur, 1970 Hans Christian Andersen Preis (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999, ebd.).

Gianni Rodari hat die Beziehungen in der Familie als sehr positiv erlebt. In der GdP schildert er die Erinnerungen an seinen Vater, den Bäcker, dessen Bild fast untrennbar mit dem der Backstube und des Backofens verbunden zu sein scheint, ausgelöst durch eine Schreibübung, in der er das Wort zu identifizieren sucht, mit dem bei ihm „der Funke übersprang“:

„Das Wort Backofen bedeutet für mich: ein mit Säcken vollgestellter großer Raum mit einer mechanischen Knetmaschine linker Hand und gegenüber die weißen Kacheln des Backofens, sein Schlund, der sich öffnet und schließt, mein Vater, der knetet und formt, in den Ofen schiebt, aus dem Ofen holt. Für mich und meinen Bruder formte er jeden Tag auf besondere Weise ein Dutzend Brötchen aus feinstem Mehl, die wir voller Genuss aßen und die sehr knusprig sein mussten“ (GdP, S. 72).

Der Vater bleibt für Rodari untrennbar mit der Arbeit seiner Hände und dem fürsorglichernährenden Aspekt verbunden. So kann sich Rodari nicht mehr an das Gesicht des Vaters auf dem Totenbett erinnern, nur an die Arme, deren Haare sich der Bäcker immer mit einer Zeitung absengte, damit sie nicht in den Teig fielen, und an seine Hände. Vom lebenden Vater hat sich ein klares Bild eingeprägt:

„Das letzte Bild, das ich mir von meinem Vater bewahrt habe, ist das eines Mannes, der vergeblich versucht, sich seinen Rücken am Backofen zu wärmen. Er ist durchnässt und zittert. Er ist im Gewitter nach draußen gegangen, um ein von Pfützen eingeschlossenes Kätzchen zu retten. Sieben Tage später stirbt er an Lungenentzündung. Damals gab es noch kein Penicillin“ (ebd.).

Ein paar Jahre später muss Rodari den Verlust zweier Freunde verschmerzen, die im Krieg gefallen waren. Über einen von ihnen, Amedeo, lassen sich ebenfalls in der GdP Erinnerungspassagen finden, die Rodaris starke emotionale Beziehung deutlich machen, wieder als es darum geht, wann der Funke überspringt und „sinkt in eine vergangene Welt und lässt versunkenes Dasein emporsteigen“:

„Wir waren zu zweit, Amedeo und ich. Wir setzten uns an einen kühlen Säulengang, um Weißwein zu trinken und über Kant zu sprechen. Wir trafen uns auch im Zug, beide waren wir Pendelschüler. Amedeo trug einen langen blauen Mantel. An manchen Tagen erriet man unter seinem Mantel die Umrisse eines Geigenkastens. Der Griff meines Kastens war entzwei, ich musste ihn unter dem Arm tragen. Amedeo kam zu den Gebirgstruppen und fand in Russland den Tod“ (GdP S.11 f.).

Dieser Freund verbrachte mit Rodari viele Nachmittage und hinterließ tiefe Bilder in dessen Erinnerung: „Die Freundschaften mit sechzehn hinterlassen die tiefsten Spuren im Leben. Aber nicht darum geht es hier. Es geht darum, wahrzunehmen, wie ein beliebiges Wort als magisches Wort funktionieren kann, um Felder der Erinnerung freizulegen, die unter dem Staub der Zeit ruhen“ (ebd.).

Es deutet sich hier an, dass für Gianni Rodari Erleben, Erinnern und Schreiben in einem engen Zusammenhang stehen.

Rodaris Leben scheint durchzogen von der Position zwischen den Extremen: die besondere Fürsorgeerfahrung durch den Vater und dessen Verlust, die tiefe Freundschaft zu Amedeo und dessen frühen Soldatentod. Das Grauen von Krieg, Vertreibung und Deportation und die Diktatur des Faschismus und die Hinwendung zum Partisanentum und Kommunismus.

Um den Grundgedanken dieser vorliegenden Arbeit aufzugreifen: Rodaris Leben hat binäre Züge und auf der anderen Seite hat er es geschafft, diese Gegensätze in seinem Tun und in einer eigenen Realität zu vereinen: politisch hat er die Funktion eines verantwortlichen Multiplikators in einer gesellschaftlich relevanten Position übernommen, er hat selber eine intakte Familie gegründet und sich Zeit seines Arbeitslebens für die Schwächsten der Gesellschaft eingesetzt und versucht, eine Mittlerstellung zwischen autoritärem Erziehungsund Schulsystem und der freien Entwicklung kindlicher Kreativität einzunehmen.

1.2. Werke

In der Darstellung von Kümmerling-Meibauer ist Rodari der „populärste Kinderlyriker Italiens“. Sie weist darauf hin, dass seine Gedichte wiederholt in Schulausgaben und Anthologien erschienen und einige sogar vertont wurden. Als Vorbilder Rodaris nennt sie die französischen Surrealisten und den englischen Nonsens von Lewis Carrol und Edward Lear für Rodaris „lustig-absurde Geschichten“. Durch seine Redakteurstätigkeit und das Erscheinen vieler seiner Gedichte und Erzählungen in der Kinderbeilage „El pioniere“ der Zeitung „L‘Unità“ erhielt Rodari zahlreiche Zuschriften von Kindern, die ihn baten, Gedichte über den Beruf ihrer Väter zu schreiben. Über diese Anregung inspiriert führte Rodari „ein neues Thema in die italienische Kinderlyrik ein: die Darstellung der Arbeit“ - ein Zug, den Kümmerling-Meibauer „revolutionär“ nennt (vgl. Kümmerling-Meibauer 1990, S. 920).

Bereits 1936 veröffentlichte Rodari erste Kindergeschichten in der katholischen Zeitschrift „L‘Azione Giovanile“ (vgl. Sala 2013, S. 38). Bis zu seinem Tod 1980 sollten noch über 20 Werke von Rodari verlegt werden, Erzählungen, Märchen und Gedichte für Kinder, überwiegend zunächst erschienen in dem wöchentlichen Beiblatt der Tageszeitung der Kommunistischen Partei Italiens „,L‘Unità“, dem „El Pioniere“ und im „Il Corriere dei Piccoli“, zunächst unter dem Pseudonym „Lino Picco“ (vgl. Schwartz 2006, S. 7; vgl. Kaminski 1979, S. 194). Später, ab 1960, wurden alle wichtigen Werke Rodaris von dem Turiner Verlag Enaudi publiziert (vgl. Weinkauff 2008, S.107).

„Il libro delle Filastrocche“ war Rodaris erstes Kinderbuch und enthielt Gedichte, die zuvor in den Zeitungsbeilagen erschienen waren. Später erweiterte er dieses mit den später erschienen Bänden „Il treno delle filastrocche“, 1952, und „Gelsomino nel paese dei bugiardi“, 1958, zu dem Gedichtband „Filastrocche in Cielo e in terra“, 1960. Spielerische, phantastische Schlaflieder und Gedichte, freie Nachdichtungen von englischen Limericks, Nonsens- Gedichte, Märchenverdrehungen und Lügengeschichten wechseln sich ab. Mit diesem Werk wurde Rodari der populärste Kinderlyriker Italiens (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999, S. 921).

Zum einen hebt Kümmerling-Meibauer die revolutionäre Wirkung dieses Gedichtbandes hervor, die durch Rodaris Wahl von Arbeitern, Emigranten, Familienvätern und Künstlern als Protagonisten anstelle exotischer heldenhafter Figuren in Alltagskonflikten entstünde (vgl. ebd.) und damit Einfluss des Neorealismus sichtbar mache, andererseits betont Kaminski, dass Rodari in seinen Büchern „für das Recht auf Phantasie und die Kraft der Imagination“ eintrete und dabei keinen strikten Gegensatz zwischen Phantasie und Wissenschaft sehe (vgl. Kaminski 1979, S. 194).

Rodaris „Favole a Telefono“, erschienen 1962, ist ein Band mit Erzählungen, die Rodari seiner Tochter Paola und „ihren Freunden in aller Welt“ widmete. Lt. Kümmerling-Meibauer wurde mit diesem Buch der Autor zum „Wegbereiter der modernen phantastischen Kinderliteratur in Italien“ (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999, S. 924).

In diesen 70 Erzählungen erfindet ein Vater, der als Handlungsreisender wochentags durch Italien reist, jeden Abend für seine kleine Tochter eine Gutenachtgeschichte am Telefon, die aufgrund der Telefongebühren kurz sein muss. Als innovativ bezeichnet Kümmerling- Meibauer Rodaris Idee, das zur damaligen Zeit neue Kommunikationsmittel Telefon einzusetzen und so die mündliche Erzähltradition des Märchens zu modernisieren. Auch die offene Struktur der Kurzgeschichten hat ebenso Anklang an die Märchenform wie der Erzähleinstieg (vgl. ebd., S. 922 f.).

Die in diesem Band zusammengefassten Kurzgeschichten waren bereits in ihrer periodischen Erscheinungsweise in der Zeitungsbeilage „Il Corriere dei Picolissimi“ ein Erfolg. 1983 wurde eine Schulausgabe editiert, die auf Erlass des Kultusministers zum Lektürekanon der Grundschulen gehörte (vgl. ebd., S. 924).

Kümmerling-Meibauer weist auf den Rodariforscher Boero hin, der die Bedeutung dieses Werkes vor allem in seinem engen Bezug zur „Grammatica della Fantasia“ sieht. Dabei bezieht er sich auf das Fehlen einer eindeutigen Genre-Klassifikation, das Verschwimmen der Grenzen zwischen realistischen Alltagsbeschreibungen und phantastischen Begebenheiten und das Auftauchen skurriler Figuren (vgl. ebd., S. 923).

Die GdP wurde zwar erst gute zehn Jahre später veröffentlich, lag aber zur Entstehungszeit der „Favole“ bereits schon in einer Rohfassung vor (s. P. 2.1., S. 19 ff. „Entstehungsgeschichte“). Über diese beiden Bücher hinaus war Rodari Autor rund 15 weiterer Kinderbücher mit Gedichten und Erzählungen, zudem wurden einige Geschichten verfilmt, wie „La freccia azzurra“ 1966 , zur selben Zeit in der damaligen UdSSR ein weiterer Zeichentrickfilm zu Rodaris „Il romanzo di Cipollino“ (vgl. Zillich 2013) oder „Gelsomino nel paese dei bugiardi“, in der deutschen Verfilmung unter der Regie von Jürgen Brauer 1996 mit dem Titel „Lorenz im Land der Lügner“ (vgl. Weinkauff 2008, S. 117).

Die Geschichte des „Cipollino“, zu deutsch „Zwiebelchen“, erschien 1951 und wird auch von Weinkauff mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. Seine Erfolgsgeschichte begann in der damaligen Sowjetunion und stellt die abenteuerliche Geschichte einer Revolution im Gemüsegarten dar. Als „politisch aussagekräftig“ erlangte diese Erzählung in der ehemaligen UdSSR „Kultstatus“ und vermittelt auch noch in den heutigen Kommentaren von Lesern mit „DDR-Sozialisation“ den Eindruck einer „Kindheitsikone“ (vgl. ebd., S.115).

Bis Anfang des 21. Jahrhunderts wurden alleine in Italien über zwei Millionen Exemplare seiner Werke verkauft, darüber hinaus wurden sie neben Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch in 27 weitere Sprachen übersetzt (vgl. Sala 2013, S. 45).

Nicht alle Werke Rodaris wurden ins Deutsche übersetzt, Weinkauff hat in ihrem Aufsatz die besondere Rezeption Rodaris im deutschen Sprachraum beschrieben (2008). Diese Rezeptionsgeschichte ist bemerkenswert durch den Umstand, dass Rodari besonders Anklang in den kommunistischen Ländern der 1960er Jahre fand (vgl. Sala 2013, S. 45).

1.3. Rezeptionsgeschichte Rodaris in Deutschland

Trotz seiner überragenden Bedeutung für die Kinderliteratur in Italien und der reichen Zahl an Forschungsinstitutionen und - publikationen zu Gianni Rodari in seinem Heimatland sind in Deutschland von 1969 bis 2008 nach Recherche von Gina Weinkauff (vgl. Weinkauff 2008, S.106) lediglich 8 Beiträge zu Rodari in deutscher Sprache erschienen. Die Suche nach Sekundärliteratur für die vorliegende Arbeit hat darüber hinaus zur Masterarbeit der Universität Graz von Christina Sala aus dem Jahre 2013 geführt, die eine Übersetzungs- analyse des „Cipollino“ von Rodari vornimmt. 2006 hat Cecilia Schwartz eine Dissertation in italienischer Sprache zu den fantastischen Aspekten in Rodaris Werk an der Universität Stockholm vorgelegt, mit einem englischen Summary (Schwartz 2006). Diese Arbeit nutzt Weinkauff als „nahezu aktuellen Einblick in die Rodari-Forschung“ (vgl. Weinkauff 2008, S. 106).

Weinkauff stellt heraus, dass in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die internationale Rezeption der Werke Rodaris in den „Ländern des sozialistischen Lagers“ einsetzte , nach 1960 dann eine zweite Welle mit den „Favole a telefono“ auch zunehmend die westlichen Länder erreichte, mit Schwerpunkt auf dem romanischen Sprachraum und dem geringsten Interesse in Nordeuropa und dem anglophonen Sprachraum (vgl. ebd, S. 106 f.). Viele Werke Rodaris, wie seine Reisetagebücher und Theaterstücke, wurden überhaupt nicht übersetzt und auch sein essayistisches und journalistisches Werk ist außerhalb Italiens nicht bekannt. Die „Grammatica della Fantasia“ dagegen ist in einigen Ländern das einzige übersetzte Buch von Rodari, so in Schweden und den USA. Rodari wurde in der DDR zehn Jahre vor seinem Erscheinen in der BRD publiziert. Auswahl und Rezeption waren so unterschiedlich, dass man nach Ansicht von Weinkauff fast den Eindruck gewinnen konnte, man „habe es mit zwei unterschiedlichen Autoren zu tun, die zufälligerweise den gleichen Namen tragen“ (vgl. Weinkauff 2008, S. 108).

Als die erste Auflage der „Grammatik der Phantasie“ in der deutschen Übersetzung des Werkes von Anna Mudry 1992 erschien, war Rodari bereits 12 Jahre tot. In Österreich dagegen bestand eine besondere Affinität zum Werk Rodaris, im Zuge derer es zu sorgfältigen und modernen Publikationen des Autors kam. In der Schweiz dagegen gibt es keine Rodari-Publikation. In der „geteilten deutschsprachigen Rezeptionsgeschichte“ standen verschiedene Werke Rodaris im Zentrum der Aufmerksamkeit: während in der DDR das „Zwiebelchen“ besondere Berühmtheit erlangte (1954) waren es im Westen die „Gutenachtgeschichten am Telefon“ (1964). Vier Titel Rodaris erschienen ausschließlich in der DDR, sechs Titel ausschließlich im Westen. 18 Bücher wurden nicht ins Deutsche übersetzt (vgl. ebd., S. 11).

Weinkauff weist auch auf die Rolle der Wahl des Übersetzers hin, die Einfluss auf die Rezeptionsgeschichte eines Autors haben kann. Im Fall von James Krüss als deutscher Übersetzer in der BRD habe dieser Umstand bspw. dazu geführt, dass ein Werk Rodaris so aussehe „als sei es von Krüss und nicht von Rodari“ (vgl. ebd., S. 120). Anstelle des sozialkritischen Gehaltes und eines politisch-appellativen Gestus tritt ein Rodari mit hervorgehobener literarisch inszenierter Kindlichkeit (vgl. ebd., S. 121). Weinkauff hebt bei Rodari das „Motiv der Verkehrten Welt“ hervor, das in Schlaraffenlandphantasien schwelge (vgl. ebd., S. 128). Alle Fabeln Rodaris seien strukturell einfach und gründeten auf Spielregeln, die vom britischen Nonsens und von der Praxis der Surrealisten inspiriert und die in der „Grammatik der Phantasie“ niedergelegt seien. Weinkauff nennt die GdP „eine Art praxisorientierte Poetik und zugleich ein Handbuch zur pädagogischen Arbeit mit Kindern“ (vgl. ebd., S. 128 f.). Diese Form der Sichtweise auf Rodari hat ihm den Weg in die Publikationswelt und öffentliche Wahrnehmung in der BRD geebnet. So trifft der Thienemann-Verlag eine Auswahl von 37 mit Weinkauffs Worten „weithin unpolitischen Geschichten aus dem Korpus der Märchen-Adaptionen und der wunsch-traumhaften mundus-inversus Phantasien“ (vgl. ebd.). Damit wurde die damalige Vorliebe der BRD für märchennahe traditionelle Erzählformen getroffen, die mit einer „wiederentdeckten romantischen Kindheitsauffassung vortrefflich harmoniert“ (vgl. ebd.). Während diese Geschichten aufgrund ihrer Veröffentlichung in der BRD den Lesern der DDR vorenthalten blieben, gingen sie im Westen 1984 in die achte Auflage, 1972 wurde eine Hörversion produziert und einige Geschichten dienten als Kurzfilm-Vorlagen für „Die Sendung mit der Maus“ (vgl. ebd., S. 130). Neben der Auswahl der Geschichten im Zusammenhang mit dem jeweiligen politischen System und der Wahl des Übersetzers spielten auch Praktiken der Buchausstattung eine Rolle in dem nationalen Bekanntheitsgrad Rodaris, die in Deutschland uneinheitlich und unspezifisch waren, so dass die Rodari-Ausgaben nicht äußerlich als solche zu identifizieren waren (vgl. ebd., S. 135 f.).

Dazu kommt nach Ansicht Weinkauffs der Umstand, dass die deutsche Kinderliteratur weniger von Einflüssen aus dem romanischen Sprachraum, sondern traditionell mehr aus dem anglophonen und skandinavischen Sprachraum kamen - also das „Ausbleiben der Modernität Gianni Rodaris“ in Deutschland nicht zuletzt in der „Zählebigkeit kultureller Stereotype“ liege (vgl. ebd., S. 137).

Kümmerling-Meibauer bezeichnet Rodaris „Favole a telefono“ als „Wegbereiter der modernen phantastischen Kinderliteratur in Italien“ (Kümmerling-Meibauer 1999, S. 923).

1.4. Der Pädagoge

Als ehemaliger Lehrer, der weiterhin an einer kreativen Erziehung der Kinder interessiert ist, stellt Rodari das Ideal einer Schule der Zukunft auf, in der Räume zur eigenen Gestaltung zugelassen sind und die nicht vordergründig Wissen vermittelt, sondern den ganzen Menschen anspricht und ihm einen eigenständigen Wissenserwerb ermöglicht (vgl. Ritter 2008, S. 267): „[...]: die Schule für ,Konsumenten‘ ist tot, und so zu tun, als ob sie weiterlebe, erspart ihr die Verwesung nicht (die augenfällig im Gange ist); eine lebendige und neue Schule kann nur eine Schule für ,Schöpfer‘ sein“ (GdP, S. 193).

Michael Ritter hat in seiner Studie zur Schreibdidaktik in der Grundschule „Wege ins Schreiben“ (2008) ausführliche Überlegungen zu Rodaris „Grammatik der Phantasie“ in seine Betrachtung mit einbezogen. Ritter setzt Rodari besonders in Bezug zu zeitgenössischen Kunstästheten , beleuchtet damit den konzeptionellen Unterbau von Rodaris „Grammatik“ und hebt dessen gesellschaftspolitischen Ansatz hervor, die Notwendigkeit der Bildung kreativer Menschen für eine verantwortungsvolle, mündige Gesellschaft zu verfolgen (vgl. Ritter 2008, S. 265). Dabei analysiert er Rodaris Aussagen in diesem Kontext als Appell, Kreativitätsförderung nicht als Ressourcennutzung der Gesellschaft zu missbrauchen, sondern als individuelles Grundrecht im Lebensalltag wahrzunehmen (vgl. ebd., S. 266).

Im Kontext der gegenseitigen Beeinflussung Rodaris und der Reggio-Pädagogik der Reggio Emilia, zu der Rodari einen engen Bezug pflegte (vgl. Rodari 2008, S.9), hebt Ritter hervor, im pädagogischen Konzept dieser Reformpädagogik in Italien seit den 60-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts könne das „Kind als Akteur seine eigene Entwicklung entfalten“ und werde „als Konstrukteur seiner Wirklichkeit verstanden“ (vgl. Ritter 2008, S. 215 f.). Ansatzpunkt dieser konsequent aus der Erziehungspraxis abgeleiteten Reggio-Pädagogik war das Ziel, die aufbewahrende Kindergartenpädagogik zu überwinden und stattdessen die ganzheitliche und sinnliche Entwicklung des Kindes zu fördern. „Direktheit und Unmittelbarkeit werden damit bestimmende Merkmale einer Pädagogik, die auf das konkrete Erleben ausgerichtet ist“ (ebd.).

Als Grundzüge dieser Pädagogik nennt Ritter in Anlehnung an Schäfer (1995): 1. „Wahrnehmen und Gestalten“ - Wirklichkeit wird gestaltet mit den Mitteln der Imagination und Phantasie und als wechselseitiger Prozess erlebbar gemacht. 2. „Das Bündnis von Vernunft und Phantasie“ - Grundlage ist die Erkenntnis, dass rationales und phantasievolles Handeln untrennbar verbunden sind und keinen Gegensatz bilden, sondern sich ergänzen. 3. „Vom Umgang mit der Kultur des Kindes - Für eine Pädagogik des Fragens und Zuhörens“ - die Kinder werden nicht mit dem fertigen Wissen der ErzieherInnen konfrontiert, sondern auf ihrem Weg zu eigenen Erkenntnissen unterstützt (vgl. Ritter 2008, S.216).

Rodaris Idee des Phantastischen Binoms ist dabei Teil dieser Pädagogik. „Die Kombination des Ungewöhnlichen im PB schafft offene Räume, die durch die Phantasie der Kinder ausgefüllt werden können. Es entstehen so Spielräume, in denen die Welt nach einer eigenen Ordnung strukturiert und phantastische Möglichkeiten erwogen werden können“ (Ritter 2008, S. 231). So werde die Realität aus ihrer starren Determinierung herausgelöst und die Wirklichkeit als formbarer Raum erfahren. Auch die Sprache wird vielschichtiger und tiefgründiger erlebt (vgl. ebd.).

Nach Ansicht Ritters konzipiert das Kind bei Rodari einen Gegenentwurf zur Realität, der aber immer auf die erfahrenen Elemente dieser Realität zurückgreife (vgl. Ritter 2008, S.245). So findet sich bei Rodari die Überzeugung: „Das Spiel ist keine bloße Erinnerung an empfangene Eindrücke, sondern deren schöpferische Aufarbeitung, ein Prozess, durch den das Kind die Gegebenheiten der Erfahrung miteinander verbindet, um eine neue Realität zu konstruieren, die seiner Neugier und seinen Bedürfnissen entspricht“ (GdP, S. 186). Dass sich Rodaris Ansichten zum Spiel mit denen zum PB mischen, wird auch an dem Satz von Novalis deutlich, den er zitiert: „Spielen heißt, den Zufall erproben“ (zit. nach GdP, S. 173).

Ritter weist darauf hin, dass die konzeptionelle Auseinandersetzung mit Rodaris Thesen in Deutschland noch ausstehe. „So existiert bislang kaum Sekundärliteratur zu den didaktischmethodischen Äußerungen Rodaris, die, wenn überhaupt, zumeist nur als methodischer Anregungskatalog für einen produktionsorientierten Literaturunterricht betrachtet, nicht aber ihrer konzeptionellen Breite wegen als umfassender Ansatz für die schreibdidaktische Diskussion ernst genommen werden“ (Ritter 2008, S. 213).

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Excerpt out of 72 pages

Details

Title
Das "phantastische Binom" von Gianni Rodari als Mittel zur Konstruktion der Wirklichkeit
Subtitle
Untersuchungen zu "Grammatik der Phantasie - Die Kunst, Geschichten zu erfinden"
College
Alice Salomon University of Applied Sciences Berlin AS
Grade
1,0
Author
Year
2014
Pages
72
Catalog Number
V368554
ISBN (eBook)
9783668479036
ISBN (Book)
9783668479043
File size
849 KB
Language
German
Notes
Keywords
Gianni Rodari, Kreatives Schreiben, Phantastische Geschichten, Hirnforschung, Bildung
Quote paper
Katja Reinicke (Author), 2014, Das "phantastische Binom" von Gianni Rodari als Mittel zur Konstruktion der Wirklichkeit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/368554

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