Es waren die Themen, die Menschen und Medien im Wahlkampf bewegten: Die Kette in Deutschland-Farben, die die Kanzlerin Angela Merkel während des TV-Duells trug. Ihr selbst gebackener Streuselkuchen, mit dem sie auf ihrer Homepage für ihre Kandidatur warb. Die Vorliebe des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück für guten Wein. Seine Tränen, als seine Frau ihm während einer Wahlkampfveranstaltung ihr Vertrauen aussprach. Sein Mittelfinger, den er den Lesern des Magazins der Süddeutschen Zeitung in einem Interview ohne Worte zeigte.
Es ist der Charakter der Kanzlerkandidaten, es sind ihre Hobbys, ihre Familien, ihre Verfehlungen, die die Berichterstattung zum Bundestagswahlkampf 2013 dominierten. So ist zumindest der Eindruck. Doch bestätigt sich dieser Eindruck, wenn man die Wahlkampfberichterstattung genauer untersucht?
Dieser Frage soll die folgende Untersuchung nachgehen. Dazu sollen zunächst theoretische Erkenntnisse zusammengetragen werden. Unter welchen Umständen wird in der heutigen Zeit in Deutschland Wahlkampf gemacht? Welche Strategien verfolgen die Parteien, welcher Mittel bedienen sie sich, welche Regeln haben sie zu befolgen? Und besonders wichtig: Welche Bedeutung haben die Medien für die Politiker und Parteien im Wahlkampf? Anschließend soll der politische Journalismus näher betrachtet werden. Welche Aufgaben hat er, nach welchen Regeln funktioniert er, welche Rahmenbedingungen müssen berücksichtigt werden?
Untersuchungsgegenstand werden die vier Zeitungen Bild-Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung und die tageszeitung sein. Durch diese Auswahl soll es in der Analyse auch möglich sein, nicht nur generelle Tendenzen der Berichterstattung, sondern eventuell auch Unterschiede zwischen Qualitäts- und Boulevardzeitungen herauszustellen und Auswirkungen der politischen Leitlinien der einzelnen Blätter herauszuarbeiten.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Wahlkampf im Wandel
2.1 Aktuelle Herausforderungen politischer Kommunikation
2.2 Wann ist eigentlich Wahlkampf?
2.3 Amerikanisierung/Modernisierung von Wahlkämpfen
2.3.1 Medialisierung
2.3.2 Professionalisierung
2.3.3 Themen- und Ereignismanagement
2.3.4 Personalisierung und Privatisierung
2.3.5 Negative Campaigning
3. Medien im Wahlkampf
3.1 Politische Funktionen der Massenmedien
3.1.1 Öffentlichkeit herstellen
3.1.2 Artikulationsfunktion
3.1.3 Politische Sozialisation und Bildung
3.1.4 Kritik und Kontrolle
3.2 Wandel in der Medienlandschaft: Ökonomisierung, Konzentration, Diversifizierung
3.3 Nachrichtenselektion
3.4 Forschungsstand: allgemeine Merkmale der Wahlkampfberichterstattung
3.5 Forschungsstand: Berichterstattung über Kanzlerkandidaten
3.5.1 Umfang der Berichterstattung
3.5.2 Privates in der Berichterstattung
3.5.3 Bewertung der Kandidaten
3.5.4 Visualisierung
4. Zeitgeschichtlicher Abriss: Der Bundestagswahlkampf 2013
5. Zwischenfazit
6. Forschungsfragen und Hypothesen
7. Untersuchungsdesign
7.1 Untersuchungsmethode
7.2 Untersuchungsgegenstand
7.3 Untersuchungszeitraum
7.4 Untersuchungseinheiten
7.5 Reliabilität und Validität
8. Auswertung
8.1 Auswahl der Untersuchungseinheiten
8.2 Allgemeine Ergebnisse
8.3 Hypothese H1
8.4 Hypothese H2
8.5 Hypothese H3
8.6 Hypothese H4
8.7 Hypothese H5
8.8 Hypothese H6
8.9 Hypothese H7
9. Fazit
10. Literaturverzeichnis
11. Anhang
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Tabelle 1: Kategorienaufteilung
Abbildung 1: Nachrichtenfaktoren bei Schulz
Abbildung 2: Darstellungsformen der Wahlkampfberichterstattung
Abbildung 3: Kandidatenbezug in der Wahlkampfberichterstattung
Abbildung 4: Tendenzen der Kandidatenbewertung
Abbildung 5: Anteil der Darstellungsformen
Abbildung 6: Hauptakteure nach Parteien sortiert
Abbildung 7: Bezug zu den Kanzlerkandidaten
Abbildung 8: Erwähnung der Kanzlerkandidaten im Vergleich
Abbildung 9: Spitzenkandidaten in Text, Überschrift, Unterzeile, Bild und Zitat (sortiert nach Parteien)
Abbildung 10: Bezug zu Kanzlerkandidaten und sonstigen
Spitzenkandidaten
Abbildung 11: Hauptthemen der Berichterstattung
Abbildung 12: Nebenthemen der Berichterstattung
Abbildung 13: Angela Merkel als Hauptakteur – Themenverteilung
Abbildung 14: Peer Steinbrück als Hauptakteur – Themenverteilung
Abbildung 15: Themenverteilung Bild-Zeitung
Abbildung 16: Bewertung der Kanzlerkandidaten gesamt
Abbildung 17: Bewertung durch Süddeutsche Zeitung und tageszeitung
Abbildung 18: Bewertung durch Bild-Zeitung und Frankfurter
1. Einleitung
Es waren die Themen, die Menschen und Medien im Wahlkampf bewegten: Die Kette in Deutschland-Farben, die die Kanzlerin Angela Merkel während des TV-Duells trug. Ihr selbst gebackener Streuselkuchen, mit dem sie auf ihrer Homepage für ihre Kandidatur warb. Die Vorliebe des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück für guten Wein. Seine Tränen, als seine Frau ihm während einer Wahlkampfveranstaltung ihr Vertrauen aussprach. Sein Mittelfinger, den er den Lesern des Magazins der Süddeutschen Zeitung in einem Interview ohne Worte zeigte.
Es ist der Charakter der Kanzlerkandidaten, es sind ihre Hobbys, ihre Familien, ihre Verfehlungen, die die Berichterstattung zum Bundestagswahlkampf 2013 dominierten. So ist zumindest der Eindruck. Doch bestätigt sich dieser Eindruck, wenn man die Wahlkampfberichterstattung genauer untersucht?
Dieser Frage soll die folgende Untersuchung nachgehen. Dazu sollen zunächst theoretische Erkenntnisse zusammengetragen werden. Unter welchen Umständen wird in der heutigen Zeit in Deutschland Wahlkampf gemacht? Welche Strategien verfolgen die Parteien, welcher Mittel bedienen sie sich, welche Regeln haben sie zu befolgen? Und besonders wichtig: Welche Bedeutung haben die Medien für die Politiker und Parteien im Wahlkampf? Anschließend soll der politische Journalismus näher betrachtet werden. Welche Aufgaben hat er, nach welchen Regeln funktioniert er, welche Rahmenbedingungen müssen berücksichtigt werden?
Im Folgenden werden Ergebnisse aus früheren Forschungsprojekten zur Wahlkampfberichterstattung und im Speziellen zur Berichterstattung über Kanzlerkandidaten betrachtet. Ausgehend von diesen Forschungsergebnissen werden dann Hypothesen für die nachfolgende Inhaltsanalyse gebildet.
Untersuchungsgegenstand werden die vier Zeitungen Bild-Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung und die tageszeitung sein. Durch diese Auswahl soll es in der Analyse auch möglich sein, nicht nur generelle Tendenzen der Berichterstattung, sondern eventuell auch Unterschiede zwischen Qualitäts- und Boulevardzeitungen herauszustellen und Auswirkungen der politischen Leitlinien der einzelnen Blätter herauszuarbeiten.
2. Wahlkampf im Wandel
Um die theoretische Grundlage für die Forschung zur Wahlkampfberichterstattung zu legen, soll in diesem Kapitel zunächst der Wahlkampf aus politik- und kommunikationstheoretischer Sicht beleuchtet werden. Welche Rolle spielt er im politischen System der Bundesrepublik? Wie ist er zeitlich begrenzt? Welche Entwicklungen in der Wahlkampfführung sind in den vergangenen Jahren zu beobachten gewesen – gerade in Bezug auf das Verhältnis zu den Medien? Mit welchen Strategien und Konzepten versuchen Wahlkämpfer, die mediale Bühne für sich zu nutzen? All diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden.
2.1 Aktuelle Herausforderungen politischer Kommunikation
„Legitimation durch Kommunikation“ ist in der politischen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland eine entscheidende, wenn nicht die entscheidende Maxime. Politiker[1]müssen sich, ihre Programme, Entscheidungen und Handlungen immer wieder vor der eigenen Partei sowie vor den Wählern rechtfertigen:
„In der Demokratie kann politische Folgebereitschaft nicht erzwungen werden. Sie muss immer wieder kommunikativ erworben werden, bedarf andererseits aber auch der institutionellen Verankerung.“ (Sarcinelli 2009: 68)
Was seit jeher keine einfache Aufgabe ist, wird durch den Wandel der Gesellschaft in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten eine immer größere Herausforderung.
Durch die fortschreitende Individualisierung der Gesellschaft verlieren soziostrukturelle, kulturelle und parteiorientierte Motivationen auf Seiten der Wähler an Bedeutung (vgl. Balzer/Geilich 2009: 22, Schulz 2011: 31). Zunehmend verlieren Politiker daher das, was der Politik- und Kommunikationswissenschaftler Ulrich Sarcinelli als „institutionellen Loyalitätspuffer“ bezeichnet:
„Die Lösung der Bürgerinnen und Bürger wie auch der politischen Akteure von ihrer Klassen- und Massenbasis verändert Stellenwert und Qualität der gesellschaftlichen und politischen Kommunikationsbeziehungen.“ (2009: 64)
Auf ihre Stammwähler können sich die Politiker demnach immer weniger verlassen. Es gilt, Unentschlossene und Wechselwähler zu überzeugen. Die notwendige Öffentlichkeit bekommen die politischen Akteure in erster Linie über die Medien. Das bedeutet, dass sie ihre Themen und Entscheidungsprozesse für die Massenmedien darstellbar machen müssen. Problematisch hierbei – und durch den Wandel der Medienlandschaft (ausführlicher in Kapitel 3.2 erläutert) noch verstärkt – ist die Tatsache, dass „die kurzen Produktionszeiten und die schnellen Verfallsdaten der Neuigkeitswerte in den Medien den eher langwierigen politischen Verhandlungsprozessen eklatant widersprechen“ (Pfetsch 2009: 37). Dennoch versuchen Politiker und Parteien, „den Produktionserfordernissen der Medien gerecht zu werden, um ‚vorzukommen‘“ (Balzer/Geilich 2009: 21) und geraten dadurch zwangsweise in ein Dilemma.
Hinzu kommt noch, dass die Kommunikation in und mit den Medien quasi konträr zur Kommunikation innerhalb der politischen Parteien und Gremien verläuft. Sarcinelli weist darauf hin, dass sich politische Eliten auch auf den „Foren der ‚Verhandlungsdemokratie‘“ zu bewähren haben, deren Kennzeichen allerdings eher „Vertraulichkeit, Diskretion und Informalität“ sind (2011: 174). Sie geraten dadurch in einen kommunikationsbedingten Interessenkonflikt zwischen Medienlogik und Verhandlungsdemokratie, „sie werden in eine kommunikative Doppelrolle gedrängt und müssen insoweit auch zweigleisig fahren“ (Sarcinelli 2009: 63).
2.2 Wann ist eigentlich Wahlkampf?
Über die besondere Bedeutung von Wahlen und Wahlkämpfen herrscht in der Forschung Einigkeit. Ihnen wird eine herausragende Stellung in der Demokratie und dementsprechend hohe öffentliche Aufmerksamkeit attestiert, „weil aus ihnen in der Regel folgenreiche Weichenstellungen für das politische System resultieren“ (Schulz 2011: 217). Wahlkämpfe im Vorfeld der Wahlen werden als „Schlüsselphasen demokratischer Legitimation im repräsentativen System“ (Sarcinelli 2011: 225) und „Königsdisziplin der politischen Kommunikation“ (Balzer/Geilich 2009: 25) bezeichnet.
Aufgrund der bereits angesprochenen gesellschaftlichen Veränderungen „mit labiler gewordener Parteiidentifikation und einem zunehmend sprunghaften Wählerverhalten“ (Sarcinelli 2011: 234) ist die Bedeutung von Wahlkämpfen in den vergangenen Jahren noch gestiegen.
Kein Konsens besteht allerdings über die zeitlichen Abgrenzungen des Wahlkampfes. Zwar legen die Parteien „die Dramaturgie von Wahlkämpfen“ auf die letzten vier Wochen vor der Wahl aus (Ahrens 2009: 118) und auch viele Forschungsprojekte beziehen sich hinsichtlich des Erhebungszeitraumes „auf die ‚heiße Phase‘ eines Wahlkampfes, die bei Bundestagswahlen ca. vier bis sechs Wochen vor dem Wahltermin beginnt“ (Maurer/Reinemann 2006: 112). Doch insgesamt stellt der Wahlkampf eine nur „mehr oder weniger deutlich abgrenzbare[…] Phase politischer Kommunikation“ (Sarcinelli 2011: 225) dar. Auch muss der von den Parteien als Wahlkampf deklarierte Zeitraum nicht zwingend übereinstimmen mit der „Periode intensiver politischer Kommunikation“, in der die Bemühungen von Parteien und Kandidaten bereits darauf ausgerichtet sind, die Bürger mit Blick auf die kommende Wahl zu überzeugen (vgl. Falter/Schoen 2005: 512). Dazu stellt der ehemalige Wahlkampfmanager der CDU, Peter Radunski, fest:
„Während vom Wähler allenfalls die letzten vier, fünf Wochen als Wahlkampf empfunden werden, dauern die Werbekampagnen in der Bundesrepublik fast 1 Jahr. […] Zu planen sind Auftaktkampagnen, Zwischenkampagnen und Zielgruppenkampagnen, die alle laufen, bevor die eigentliche heiße Wahlkampfphase in den letzten vier, fünf Wochen beginnt.“ (1980: 97)
Immer wieder ist auch von der These des permanenten Wahlkampfes die Rede, es stelle sich die Frage, „inwieweit sich Wahlkämpfe als eine eigenständige Phase politischer Kommunikation noch klar von wahlfreien Phasen im politischen Prozess unterscheiden lassen“ (Sarcinelli 2000: 23). Die Antwort auf diese Frage bleibt die Forschung bisher allerdings schuldig.
2.3 Amerikanisierung/Modernisierung von Wahlkämpfen
Neue Strategien und Ansätze politischer Kommunikation, speziell im Rahmen von Wahlkämpfen, wurden in den vergangenen Jahren gern mit dem Begriff der Amerikanisierung bezeichnet. Grob kann wohl festgehalten werden, dass Amerikanisierung impliziert, „dass Wahlkämpfe weltweit Züge annehmen, die als typisch für Kampagnen in den USA gelten“ (Schulz 2011: 233).
Allerdings herrscht keinesfalls Einigkeit über eine genaue Definition dieses Begriffs. Laut Falter und Schoen wird der Ausdruck Amerikanisierung in der deutschen Literatur bereits seit den 1950er-Jahren verwendet, wenn auch mit inhaltlichen Akzentverschiebungen (2005: 515 f.). Verschiedene Autoren kritisieren den Gebrauch des Begriffes, da er zu ungenau und oberflächlich sei und die unterschiedlichen politischen, sozialen und kulturellen Strukturen der einzelnen Länder völlig außer Acht lasse (vgl. Meyer 2001: 205, Pfetsch 2001: 35, Schulz 2011: 233).
Strittig ist weiterhin, wie neu die Entwicklungen, die mit dem Amerikanisierungsbegriff bedacht werden, tatsächlich sind. Die Wahlforscherin Christina Holtz-Bacha betont, dass es mindestens seit der Bundestagswahl 1961 ausgemachte Sache sei, dass sich „deutsche Wahlkampfverantwortliche ungeachtet aller Unterschiede im politischen System und im Wahlverfahren am Vorbild der USA orientieren“ (1999: 15 f.). Neu scheint vielmehr die Bezeichnung dieses Trends mit dem Begriff der Amerikanisierung zu sein. Spricht Holtz-Bacha 1996 noch davon, dass der Begriff „gelegentlich“ gebraucht wird, ist er aus neueren Publikationen zum Thema Wahlkampf kaum noch wegzudenken.
Auch um dem negativen Unterton, der der Diskussion über Amerikanisierungstendenzen oft und nicht nur implizit anhaftet (vgl. Holtz-Bacha 1999: 10), zu entgehen, wird stattdessen häufig auch von einer Modernisierung der Wahlkämpfe gesprochen.
Doch dieser Begriff ist bei oberflächlicher Betrachtung nicht eindeutig. Weder aus seiner Lesart als „bestimmte[r] Typ des sozialen Wandels“ (Sarcinelli 2011: 157) noch aus seiner Definition als „Vorgang ständig zunehmender gesellschaftlicher Komplexität“ (Schulz 2011: 234) lässt sich auf die Formen und Strategien politischer Kommunikation schließen, die er umfasst.
Ungeachtet der Definitionsschwierigkeiten sollen im Folgenden einige der Phänomene beschrieben werden, die den Wahlkampf in der Bundesrepublik heute zweifelsfrei ausmachen und die in der Regel unter den Begriffen Amerikanisierung oder Modernisierung eingeordnet werden.
Dabei ist zu beachten, dass all diese Phänomene nicht ausschließlich im Wahlkampf auftreten, sondern als generelle Veränderungen der politischen Kommunikation gelten können. Dies hat zum einen mit den wachsenden Anforderungen an die politische Kommunikation und zum anderen mit der ausgedehnten Wahlkampfphase zu tun (vgl. Kapitel 2.1 und 2.2).
2.3.1 Medialisierung
Medialisierung[2]bezeichnet die zunehmenden Bemühungen der Parteien und Politiker, die Medienbühne zu nutzen, um die breite Masse der Wähler anzusprechen. Denn:
„Medienpräsenz ist eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, dass die Parteien und ihre Kandidaten in das Bewusstsein der Wähler dringen, denn die Medien, insbesondere das Fernsehen, sind die wichtigste und oft auch die einzige Informationsquelle zur Meinungsbildung der Wähler.“ (Schulz 2011: 248)
Um größtmögliche Aufmerksamkeit seitens der Medien zu bekommen, sind für einen Politiker Medienkompetenz und die Fähigkeit, sich selbst und die eigenen Positionen medienadäquat zu inszenieren, von großer Wichtigkeit. Publizität wird zu einer eigenständigen und nicht zu unterschätzenden Machtressource (vgl. Meyer 2001: 98, Sarcinelli 2011: 238, Schulz 2011: 229). Denn mögen ihre politischen Fertigkeiten auch noch so groß sein, nutzt es Politikern wenig, wenn niemand von ihrer Kompetenz erfährt: „Fach- und Sachkompetenz ohne Darstellungskompetenz ist nur halbierte Kompetenz.“ (Sarcinelli 2011: 183)
Medienkompetenz bedeutet die zunehmende Ausrichtung der öffentlichen Auftritte und Statements an der Medienlogik, an Nachrichtenwerten und Unterhaltungsregeln. Dies ist für den Politiker im Wahlkampf unabdingbar, hat er doch „ohne einen hohen und weiter ausbaufähigen Rangplatz in der Mediengunst […] keine realistische Aussicht auf Erfolg“ (Meyer 2001: 97).
Ohne Medienkompetenz geht es also nicht. Allerdings betont beispielsweise Sarcinelli, dass diese die politischen Fertigkeiten auch nicht eins zu eins ersetzen kann:
„Die Vorstellung jedenfalls, in der Mediendemokratie könne politische Kompetenz einfach durch Medienprominenz ersetzt werden, erscheint dann doch – unbeschadet des Bedeutungszuwachses von Medienprominenz als politisch relevantem Faktor – eine unzulässige Übertreibung.“ (2011: 180)
Bisweilen geht die Medialisierung auch noch einen Schritt weiter, wenn Politik und Medien gemeinsam Ereignisse des Wahlkampfes inszenieren. In diese Kategorie fallen zum Beispiel Fernsehdebatten oder die TV-Duelle, die es auf Bundesebene seit dem Wahlkampf im Jahre 2002 gibt:
„Fernsehdebatten sind gleichsam in Reinform die Stilisierung des Wahlkampfes zum Kandidatenwettstreit. Sie sind zudem als typisches Medienereignis, das in Kooperation von Kampagnenmanagement und Fernsehen inszeniert wird, ein spektakuläres Beispiel für die Medialisierung des Wahlkampfes.“ (Schulz, 2011: 242)
Die Regel sind solche Ereignisse allerdings noch nicht, da sie eine umfassende und detaillierte Absprache zwischen Medien und Politik voraussetzen und daher die Bewegungsfreiheit beider Seiten deutlich eingeschränkt ist (vgl. Dörner/Vogt 2009: 238).
2.3.2 Professionalisierung
Um die Bemühungen im Wahlkampf möglichst effizient zu organisieren und die Aktionen der Partei so gut es geht nach der Medienlogik auszurichten, geben Politiker die Verantwortung für ihren Wahlkampf zunehmend in die Hände von Profis. Weit verbreitet ist mittlerweile der Einsatz „von spezialisierten Beratern und Agenturen, von denen viele mit dem Marketing-Ansatz in Werbung und Public Relations vertraut sind“ (Schulz 2011: 236).
Diese Entwicklung an sich ist nicht ganz neu, laut Sarcinelli bemühen sich die Parteien um Professionalisierung im Wahlkampf mindestens seit den 1970er-Jahren. Auch Radunski beschreibt schon 1980 die wachsende Bedeutung von hauptberuflichen Wahlkampfberatern und Wahlkampfmanagern.
Neu sind in den vergangenen Jahren dagegen „Umfang und Intensität demonstrativer Öffentlichkeitsbezüge bis hin zu Medienspektakeln und neu ist auch, dass das Mediale selbst Gegenstand der politischen Debatte wird“ (Sarcinelli 2011: 295).
Warum Fachkräfte aus der Werbung als Kampagnenmanager besonders beliebt sind, erklärt der Politikberater Peter Grafe:
„Wahlkampf ist aber auf die Massen aus, wieRTLundAldi, und deswegen näher bei der Werbung als beim Diskurs, näher an der Wirkung als an der Wahrhaftigkeit […].“ (1994: 16)
Um eine möglichst große Wirkung zu erzielen, versuchen die Wahlkampfexperten, ihre Partei und insbesondere ihre Kandidaten ganz nach den Regeln der Werbung als Marken zu etablieren. Der Vorteil hierbei ist, dass die „Marke Politiker“ über eine Bekanntheit verfügt, die die stets wechselnden politischen Produkte nicht erreichen können. Von ihr erhoffen sich die Akteure daher „Langfristigkeit, Glaubwürdigkeit, Unterscheidbarkeit und Überzeugungskraft“ (vgl. Balzer/Geilich 2009: 24).
2.3.3 Themen- und Ereignismanagement
Ergänzend zur eigenen Kampagne versuchen Parteien und Politiker die Themen, die für ihren Wahlkampf wichtig sind, in den Medien zu platzieren. Findet die Debatte über ein Problem, für dessen Bearbeitung die Partei besondere Kompetenz anbieten kann, im Rahmen der redaktionellen Berichterstattung statt, ist dies für Parteien und Politiker die Gelegenheit, „issueownershipzu reklamieren, d. h. Themen zu ‚besetzen‘“ (Schulz 2011: 245). Im Vorteil sind hier in der Regel die Parteien, die an der Regierung beteiligt sind, denn sie können das politische Tagesgeschäft nutzen, um die von ihnen favorisierten Themen in den Vordergrund zu rücken (vgl. ebd.).
Für die Wahrnehmung der Parteien durch die Wähler ist die redaktionelle Berichterstattung der Medien außerdem weit wichtiger als die Wahlwerbung. Denn die umkämpfte Zielgruppe der Unentschiedenen und Wechselwähler entzieht sich oftmals der politischen PR (Public Relations), „bei Medieninhalten, die als unabhängige Berichterstattung gelten, ist diese Selektivität weit geringer“ (Schulz 2011: 245). Das liegt daran, dass die Kampagne in den Massenmedien „von der Mehrzahl der Wähler gar nicht als Wahlkampf verstanden wird“ (Radunski 1980: 44) und daher als „vergleichsweise objektiv und glaubwürdig eingeschätzt wird“ (Falter/Schoen 2005: 510).
Eine Schwierigkeit des Themenmanagements ist allerdings, dass sich die redaktionelle Berichterstattung nur sehr schwer beeinflussen lässt:
„Der Kommunikationsinhalt ist dabei nur mittelbar zu kontrollieren und wird […] stets verfärbt oder kommentiert erlebt.“ (von Mannstein 2009: 130)
Laut Brettschneider neigen Journalisten außerdem dazu, besonders in der Berichterstattung über politische Themen, „ihre journalistische Distanz vor allem dadurch unter Beweis stellen zu können, indem sie häufiger negativ als positiv über die Parteien und ihre Akteure berichten“ (2009: 111).
Des Weiteren versuchen Parteien und Politiker, Ereignisse so zu gestalten, dass ihnen mediale Aufmerksamkeit sicher ist. Im Idealfall haben sie das Glück, Teil genuiner Ereignisse von hoher Relevanz zu sein. Darüber hinaus mediatisieren sie Ereignisse, indem sie etwa Zeit und Ort einer Vertragsunterzeichnung oder einer Zusammenkunft mit anderen Politikern günstig wählen und darüber den Medien ihre Themen anbieten. Oder aber sie inszenieren Ereignisse, schaffen sie „ausschließlich zu dem Zweck […] Medienöffentlichkeit zu erzielen […]: Pressekonferenzen, Anhörungen, Besuche und Begehungen“ (Jarren/Donges 2011: 186 f.).
2.3.4 Personalisierung und Privatisierung
Eine der wichtigsten Entwicklungen in der politischen Kommunikation ist die Personalisierung. Mit ihr ist die Ausrichtung der Wahlkampagne auf wenige Spitzenpolitiker gemeint.[3]Für diese Strategie gibt es im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen gibt es zwei kurzfristige Einflussgrößen auf das Wählerverhalten: „die Einstellungen zu wichtigen politischen Themen und die Einstellungen zu den kandidierenden Spitzenpolitikern“ (Brettschneider 2009: 102). Zum anderen lässt sich aus der Sicht der politischen PR ein Kandidat viel einfacher inszenieren und den Wählern ‚verkaufen‘ als ein politisches Programm (vgl. von Mannstein 2009: 127).
Anders als in früheren Wahlkämpfen, in denen Personalisierung meist „das große Finale der politischen Auseinandersetzung“ markierte (von Mannstein 2009: 126 f.), ist sie heute von Beginn an prägendes Merkmal der Kampagne. Die Grundzüge des durch die Personalisierung implizierten Wettstreites – mehr Kandidat gegen Kandidat als Partei gegen Partei – werden im Angelsächsischen als ‚Horse Race‘ bezeichnet. Der Wahlkampf konzentriert sich „auf die Frage, wer jeweils ‚vorn liegt‘ und am Ende das Rennen wohl für sich wird entscheiden können“ (Dörner/Vogt 2009: 240).
Kritisiert wird die Praxis der Personalisierung vor allem, weil viele Definitionen sie „als einen reduktionistischen Prozess, als eine Verkürzung des Politischen auf Kosten von Themen-, Problem- oder Sachbezügen“ sehen (Hoffmann/Raupp 2006: 457, vgl. auch Schulz 2011: 240 ff.). Mittlerweile besteht allerdings weitgehend Konsens darüber, dass eine kandidatenorientierte Kampagne, beziehungsweise kandidatenorientiertes Wählen, weder ‚unpolitisch‘ noch ‚inhaltsleer‘ sein muss (vgl. Brettschneider 2009: 103 ff., Hoffmann/Raupp 2006: 465, Schulz 2011: 260 f.). Vielmehr kann Personalisierung eine Chance für zielgruppengerechte Vermittlung von Politik sein:
„Das Publikum wird von politischer Komplexität entlastet,undPolitik wird von komplexen Ansprüchen des Publikums entlastet.“ (Hoffmann/Raupp 2006: 463)
Anders verhalte es sich jedoch bei „jener Variante der Personalisierung, die Spitzenpolitiker bewußt nicht als Inhaber politischer Rollen, sondern als Privatpersonen in unpolitischen Kontexten darstellt“ (Falter und Schoen 2005: 507). Diese Form der Personalisierung nennt Holtz-Bacha Privatisierung und stellt dazu fest:
„Das bedeutet die Einbeziehung der ganzen Person in den Wahlkampf: Alter, Eheleben und außereheliches Leben, Kinder, Haustier, Gesundheitszustand, Steuererklärung – das alles wird thematisiert, vom Kandidaten selbst und vom politischen Gegner. Wird zwar einerseits Personalisierung auch in Deutschland festgestellt […] läßt sich andererseits von ‚Privatisierung‘ allenfalls in Ansätzen sprechen.“ (1999: 13)
Ansätze, die sicherlich auch zu finden sind, weil das Publikum sich „besonders für die ‚menschliche Seite‘ der Politik, d.h. für die handelnden Personen, ihre Charaktereigenschaften – wie Ehrlichkeit, Integrität – und auch politikferne Merkmale wie Aussehen oder Privatleben“ interessiert (Schulz 2011: 239). Wahlentscheidende Bedeutung wird den politikfernen Merkmalen der Politiker allerdings nicht zugestanden. Laut Brettschneider spielten beispielsweise in Bezug auf die Wahrnehmung der Kanzlerkandidaten in den Jahren 1969 bis 1998 „Themenkompetenz, Integrität sowieLeadership-Qualitäten“ eine deutlich größere Rolle als persönliche Merkmale (vgl. 2009: 106 ff.).
2.3.5 Negative Campaigning
Negative Campaigning, oder auch Angriffswahlkampf genannt, bezeichnet eine Strategie, „die darauf abstellt, die Schwächen konkurrierender Parteien herauszustellen, ihre Ziele und auch ihre Kandidaten zu diskreditieren“ (Schulz 2011: 243). In den USA ist der Angriffswahlkampf an der Tagesordnung, „diese Art der Angriffe und die entsprechende Verteidigung wird wie eine sportliche Veranstaltung wahrgenommen“ (Grafe 1994: 150).
In Deutschland ist das anders, Negative Campaigning spielt nur eine untergeordnete Rolle im Wahlkampf und kommt oft nur dann vor, wenn Parteien sich in arger Verlegenheit befinden (vgl. Falter/Schoen 2005: 510, Grafe 1994: 152 ff., Schulz 2011: 243). Denn auch wenn Negativwerbung einen „hohen Aufmerksamkeitsgrad“ hat, reagieren Öffentlichkeit und Medien häufig pikiert über Angriffe unter der Gürtellinie (vgl. Grafe 1994: 152 ff., Sarcinelli 2011: 242). Daher konzentriert sich die Kritik beim Angriffswahlkampf in Deutschland dann auch auf Parteien als Ganzes und deren politische Positionen, „Attacken auf einzelne Politiker, die zudem auf persönliche Eigenschaften zielen, sind hierzulande in Bundestagswahlkämpfen eher selten“ (Holtz-Bacha 1999: 14).
3. Medien im Wahlkampf
Nach dem kurzen Überblick über Natur und Merkmale des Wahlkampfes geht es im folgenden Kapitel um den politischen Journalismus und die Berichterstattung über Wahlkämpfe. Zunächst werden dazu die politischen Funktionen der Massenmedien skizziert. Im Anschluss geht es um den Wandel der Medienlandschaft und die Regeln der Nachrichtenselektion. Abschließend gibt das Kapitel einen Überblick über den Forschungsstand zur Wahlkampfberichterstattung und im Speziellen über den Forschungsstand zur Berichterstattung über Kanzlerkandidaten.
3.1 Politische Funktionen der Massenmedien
Die Aufgaben des Journalismus beziehungsweise die Funktionen der Medien in der Gesellschaft sind vielfältig. Die gängigsten Stichworte, die das allgemeine Rollenverständnis der Medien beschreiben, sind sicherlich Information, Meinungsbildung sowie Kritik und Kontrolle (vgl. unter anderem Fengler/Vestring 2009: 30 ff., Meier 2007: 15 f.). Im Rahmen dieser Aufgaben sehen sich die Medien mit hohen Erwartungen konfrontiert:
„Medien haben […] nicht nur einen Beitrag zur Früherkennung und Frühwarnung vor gesellschaftlichen Risiken und Gefahren, zur Erklärung, Interpretation und Kommentierung sozialer Ereignisse und Phänomene zu leisten, sondern sich auch aktiv für die Konfliktbewältigung einzusetzen. Beispielsweise wird erwartet, dass die Medien in ihrer Berichterstattung die allgemeinen Menschenrechte sowie ethnische und religiöse Minderheiten respektieren, eine Verständigung zwischen allen Gesellschaftsmitgliedern über räumliche, soziale und kulturelle Schranken hinweg anstreben und alles vermeiden, was Krieg, Kriminalität und Gewalt begünstigt.“ (Jarren/Meier 2002: 109)
Die Medien haben wichtige Funktionen im Bezug auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Systems. Da sich diese Arbeit auf die Berichterstattung über Politik konzentriert, werden im Folgenden speziell die Aufgaben der Medien bezüglich des politischen Systems dargestellt. Dazu wird vor allem die Darstellung des Kommunikationswissenschaftlers Roland Burkart herangezogen, der die Funktionen der Medien in die Kategorien sozial, politisch und ökonomisch unterteilt (vgl. 1998: 368 ff., auch Lengauer 2007: 19).
Die Informationsfunktion steht dabei quasi übergeordnet und für sich allein, da nach Burkart eine eindeutige Zuordnung zu einem der drei genannten Funktionsbereiche nicht möglich ist. Sie hat vielmehr als eine „zentrale Leistung der Massenmedien“ (1998: 391) Auswirkungen auf alle gesellschaftlichen Teilsysteme. Denn die Qualität der Informationsvermittlung hat eine entscheidende Bedeutung für die Funktionalität der gesamten massenmedialen Kommunikation (vgl. 1998: 396).
Soziale Funktionen sind laut Burkart die Sozialisationsfunktion, die soziale Orientierungsfunktion, die Rekreationsfunktion (Unterhaltung, Eskapismus) und die Integrationsfunktion. Grob kann festgehalten werden, dass Medien – gerade im Angesicht einer immer komplexer werdenden Gesellschaft – den Menschen Werte und Normen an die Hand geben sowie die nötigen Informationen, um überhaupt in ihrer Umwelt zurechtzukommen und sich in sie zu integrieren. Des Weiteren bieten sie Zerstreuung und Ablenkung von den Mühen des Alltags (vgl. 1998: 372 ff.).
Ökonomische Funktionen der Medien sind nach Burkart die Zirkulationsfunktion, die regenerative Funktion sowie die herrschaftliche Funktion. Demnach unterstützen Medien als Werbeträger die „Aktivierung der Ware-Geld-Beziehung“ (1998: 387) und vermitteln das notwendige Wissen für ökonomische Entscheidungen. Darüber hinaus wirkt die von den Medien angebotene Unterhaltung regenerativ auf die Menschen, die dadurch in der Lage sind, „einigermaßen entspannt, physisch erholt und psychisch motiviert neuerlich an die Arbeit zu gehen“ (1998: 391). Letztlich tragen die Medien ebenfalls dazu bei, die gesellschaftliche Ordnung der Marktwirtschaft zu legitimieren (vgl. ebd.).
Zu den politischen Funktionen der Medien zählt Burkart das Herstellen von Öffentlichkeit, die Artikulationsfunktion, die politische Sozialisations- beziehungsweise Bildungsfunktion sowie die Kritik- und Kontrollfunktion. Diese Aufgaben sollen an dieser Stelle näher betrachtet werden.
3.1.1 Öffentlichkeit herstellen
Politische Willensbildung in einer Demokratie entsteht im Idealfall durch die Diskussion aller Mitglieder der Gesellschaft (vgl. Schicha 2010: 29, Ronneberger 1974: 199 f.). Damit auch alle Mitglieder an der Diskussion teilhaben können, muss sie zwangsläufig öffentlich geführt werden. Die gesellschaftlichen Akteure, die diese Öffentlichkeit herstellen, sind in der Regel die Massenmedien:
„Öffentlichkeit entsteht und besteht heute im wesentlichen dadurch, daß Informationen via Massenmedien veröffentlicht, also öffentlich zugänglich gemacht werden.“ (Burkart 1998: 380)
Zu beachten ist allerdings, dass sowohl aufgrund der komplexen und ausdifferenzierten Gesellschaft als auch der Vielfalt der Medienangebote nicht von der einen Öffentlichkeit gesprochen werden kann, sie setzt sich vielmehr aus verschiedenen Ebenen und Teilöffentlichkeiten zusammen (vgl. Schicha 2010: 26 ff.).
Wichtig ist die Herstellung des öffentlichen Raums als „Forum[…] für den gesellschaftlichen, speziell den politischen Diskurs“ (Schulz 2011: 80) für alle Handelnden im politischen System, für Politiker und Parteien und ebenso für die Bürger. Denn für die Bürger sind die Massenmedien in der Regel die einzige Möglichkeit, sich über politische Inhalte und Personen zu informieren. Die Politik entzieht sich ihrer direkten Erfahrung (vgl. Lengauer 2007:19, Schulz 2001: 146 ff., Schicha 2010: 37).
Parteien und Politiker auf der anderen Seite kommunizieren über die Medien mit verschiedenen Akteuren. Zum einen mit dem Bürger, der politische Inhalte über die Medien aufnimmt und dessen Reaktion als Zustimmung oder Kritik ebenfalls über die Medien transportiert wird. Dadurch werden im öffentlichen Raum Themen und Meinungen dargestellt, „die kritisches Räsonnement ermöglichen und so dem Souverän eine Entscheidungsgrundlage verschaffen“ (Sarcinelli 2011: 37). Zum anderen nutzen die Politiker die Medien auch, um mit politischen Partnern oder Gegnern zu kommunizieren (vgl. Schulz 2011: 39).
3.1.2 Artikulationsfunktion
Ebenso wenig wie es die eine Öffentlichkeit gibt, gibt es die eine öffentliche Meinung. Denn im Rahmen gesellschaftlicher Meinungsbildungsprozesse herrschen „mannigfache und zum Teil auch sich widersprechende Ansichten zu gesellschaftlich relevanten Themen“ vor (Schicha 2010: 31). Daraus lässt sich die Artikulationsfunktion der Medien ableiten:
„Dem Gedanken des Podiums, auf dem verschiedene Positionen miteinander konkurrieren bzw. um Anerkennung werben, wird nur dann entsprochen, wenn die Medien der Vielfalt der vorhandenen Interessen und Meinungen auch tatsächlich zur Artikulation verhelfen.“ (Burkart 1998: 381)
Die große Gefahr für den gesellschaftlichen Diskurs besteht darin, dass die Medien Konformitätsdruck erzeugen und dadurch ein Zustand der Geschlossenheit entsteht. In diesem Zustand kann „Wissen von Individuen, unangenehme Erfahrungen sozialer Teilgruppen vor der Allgemeinheit verborgen bleiben, so daß Probleme gesellschaftlich nicht wahrgenommen werden und zur Bearbeitung gelangen“ (Pöttker 2001: 26 f.).
Dass Probleme nicht wahrgenommen werden, ist nicht die einzige Gefahr, die besteht, wenn Meinungen nicht ausgewogen dargestellt werden. Ebenso ist ein Effekt denkbar, für den die Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann den Begriff „Schweigespirale“ geprägt hat. Werden Meinungen, die vermeintlich in der Minderheit sind, nicht ausreichend berücksichtigt, entsteht „ein sozialer Druck zugunsten der Mehrheitsmeinung“ (Schulz 2011: 224). Personen, die davon abweichen, haben zunehmend Skrupel, ihre Meinung kundzutun.
Nicht nur die Berücksichtigung aller Interessen und Meinungen, sondern auch die angemessene Artikulation dieser ist Aufgabe der Medien. Die Inhalte sollen ohne Probleme rezipiert werden können. Journalisten wird daher auch die Funktion des Vermittlers oder Übersetzers zugesprochen (vgl. Burkart 1998: 382, Ronneberger 1974: 200).
3.1.3 Politische Sozialisation und Bildung
Die Funktion der politischen Sozialisation ergibt sich aus der Tatsache, dass „[a]ngesichts des hohen Differenzierungsgrads moderner Gesellschaften […] auch das politische System unübersichtlich geworden“ ist (Burkart 1998: 383). Medien müssen daher politische Rollen und Akteure vorstellen sowie politische Prozesse transparent machen. Sie wecken auf Seiten der Bürger Interessen und geben ihnen Informationen, Bilder und Verhaltensanregungen mit, die entscheidend für die Formung des politischen Vorstellungsvermögens und Willens sind (vgl. Lengauer 2007: 20, Ronneberger 1974: 201 f.). Nur dadurch sind die Bürger in der Lage, ihre Gestaltungsmöglichkeiten im politischen System auszuschöpfen:
„Erst unter diesen Umständen können ja Möglichkeiten und Chancen aktiver Teilnahme am politischen Geschehen erkannt und gegebenenfalls ergriffen werden.“ (Burkart 1998: 383)
Hand in Hand mit der Sozialisationsfunktion geht die Funktion der politischen Bildung. Dabei leisten die Medien einen Beitrag zur „Heranbildung von sich am politischen Prozeß beteiligenden Staatsbürgern“ (Burkart 1998: 384). Mit Bildung ist hier allerdings nicht die Erzeugung eines umfassenden Wissens über politische Prozesse und Akteure gemeint, sondern Bildung definiert beispielsweise Ronneberger als „die Fähigkeit […], Informationen aufzunehmen und zusammenhängend zu verstehen.“ (1974: 204). Laut Ronneberger wäre schon viel erreicht, wenn die Bürger so weit ‚gebildet‘ wären, dass „die passive Konsumhaltung einer wenigstens fragenden Einstellung, die blinde Zustimmung oder Opposition einem argumentierenden Verstehenwollen weichen würde“ (1974: 205). Insofern erfüllen die Medien einen sehr grundlegenden Beitrag zur politischen Diskussion.
3.1.4 Kritik und Kontrolle
Die Kritik- und Kontrollfunktion der Medien ist sicherlich eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Massenmedien sollen sich „im Sinne einer kontrollierenden Öffentlichkeit betätigen“ (Sarcinelli 2011: 122), Journalisten bekennen sich zu ihrer „Wächterfunktion“ (Schulz 2011: 102). Kontrollieren sollen die Medien alle Personen und Institutionen der Gesellschaft in entscheidender Position und mit entsprechendem Einfluss, sie sollen Machtmissbrauch und Fehlverhalten aufdecken (vgl. Lengauer 2007: 20). Die Kontrolle der politischen Akteure hat allerdings eine besondere Bedeutung:
„Die Fähigkeit und Möglichkeit von Mitgliedern einer Gesellschaft zur Kritik an (politischen) Machtträgern muß zweifellos als ein zentrales Kennzeichen von Demokratie gewertet werden.“ (Burkart 1998: 384)
Auch wenn die Kontrolle durch die Medien als „unvollendete Kontrolle“ (Ronneberger 1974: 203) bezeichnet werden muss, da den Medien die Möglichkeiten der Sanktion und Korrektur fehlen, bleibt ihre Kritik selten ohne Wirkung. Die Aufdeckung der Missstände – und manchmal allein die Angst vor eben jener – sorgt in der Regel entweder direkt für eine Verhaltensänderung oder zieht das Eingreifen der zuständigen Stellen nach sich (vgl. Burkart 1998: 384 f.).
Entscheidend für die Wahrnehmung der Kritik- und Kontrollfunktion der Medien ist die Unabhängigkeit von privaten, geschäftlichen und wirtschaftlichen Interessen und insbesondere die „Distanz zu und Unabhängigkeit von der Politik“ (Sarcinelli 2011: 122, vgl. auch Meier 2007: 14 ff.). Durch die zunehmende Medialisierung und Professionalisierung der politischen Kommunikation (vgl. Kapitel 2.3.1 und 2.3.2) wird es immer wichtiger, darauf zu achten, dass diese Distanz so gut es geht bestehen bleibt.
3.2 Wandel in der Medienlandschaft: Ökonomisierung, Konzentration, Diversifizierung
Die moderne Medienlandschaft hat in den vergangenen Jahren tiefgreifende Wandlungen erfahren. Die Einführung des privaten Rundfunks und die technischen Möglichkeiten, die sich auf rasante Weise entwickeln, haben vielfältige Entwicklungen nach sich gezogen, unter anderem die Ökonomisierung, die Konzentration und die Diversifizierung der Massenmedien.
Ökonomisierung bezeichnet „eine Mediendynamik, bei der unternehmerische Gesichtspunkte und Strategien immer mehr an Bedeutung gegenüber der öffentlichen Aufgabe der Medien gewinnen“ (Beck 2012: 307). Moderne Medienunternehmen werden hauptsächlich nach kaufmännischen Gesichtspunkten geführt. Für sie ist die Rentabilität oberste Prämisse. Darin unterscheiden sie sich nicht mehr von Unternehmen anderer Branchen. Die Quote beziehungsweise den Absatz zu erhöhen, ist das erklärte Ziel. Es gilt daher, die „Medienregeln für die Maximierung von Aufmerksamkeit“ zu befolgen, und zwar ohne Berücksichtigung von demokratischen, sozialen und kulturellen Standards (Meyer 2001: 59).
Die zunehmende Ausrichtung an der Logik des Marktes hat verschiedene Konsequenzen. Es bilden sich große Medienkonzerne heraus, denn aus wirtschaftlicher Sicht ergeben sich „in der Regel Kosten- und Wettbewerbsvorteile, wenn allgemeine und medienspezifische Konzentrationsprozesse in Gang gesetzt werden“ (Jarren/Meier 2002: 118). Bleiben nur wenige marktbeherrschende Konzerne übrig, ist allerdings die publizistische Vielfalt bedroht. Das zeigt das Beispiel der Tageszeitungen: Die Anzahl der Verlage schrumpft seit Jahren, ebenso die der publizistischen Einheiten. Viele Lokal- und Regionalzeitungen haben in ihrem Verbreitungsgebiet eine Monopolstellung. Ähnliche Entwicklungen sind auch in den anderen Mediengattungen zu beobachten (vgl. Beck 2012: 311 f.).
Problematisch ist dies, da die ökonomische Ausrichtung der Medien sich nicht gut mit ihrem gesellschaftlichen Auftrag verträgt:
„Wachsende Konzentration delegitimiert die Medien insgesamt und vergrößert die Chancen und Risiken des ökonomischen und publizistischen Machtmissbrauchs. Die Einschränkung der publizistischen (Meinungs-)Vielfalt und die inhaltlichen Homogenisierungen durch Konzerninteressen stellen jedenfalls eine schwere Hypothek für eine demokratiepolitische Legitimierung der Medien dar.“ (Jarren/Meier 2002: 125)
Unter kaufmännischer Betrachtungsweise sind die Mediennutzer nicht länger als „informations-bedürftige Staatsbürger oder politisch-interessierte Öffentlichkeit“ (Lengauer 2007: 23) zu sehen, sondern als Kunden eines medialen Produktes. Immer stärker wird daher versucht, Güter anzubieten, die speziell auf die verschiedenen Zielgruppen zugeschnitten sind. Die Folge ist die Diversifizierung des Angebots der Medien (vgl. Schulz 2011: 19).
Aus ökonomischer Sicht sind diese Produkte im Idealfall zusätzlich auf die Anforderungen der Werbekunden ausgerichtet, die mit ihren Anzeigen einen erheblichen Beitrag zur Finanzierung leisten. So entstehen beispielsweise „Lifestyle-Zeitschriften, Pendlerzeitungen, Special-Interest-Zeitschriften, Stadtmagazine, Wirtschafts- und Sonntagsblätter“ (Jarren/Meier 2002: 111).
Nicht zuletzt haben Ökonomisierung, Konzentration und Diversifizierung auch Auswirkungen auf die tägliche Arbeit in den Redaktionen. Das „Nutzenmaximierungspostulat“ (Jarren/Meier 2002: 113) findet auch dort seine Anwendung. Die Journalisten sehen sich immer größer werdendem Zeit- und Leistungsdruck ausgesetzt. Die wichtige Unabhängigkeit des Journalismus von wirtschaftlichen Interessen ist durch die zunehmende Ökonomisierung der Medien längst nicht mehr gegeben.
3.3 Nachrichtenselektion
Die Nachrichtenselektion ist eine Aufgabe, die im redaktionellen Alltag von großer Bedeutung ist. Journalisten sehen sich jeden Tag aufs Neue mit einer Flut an Informationen konfrontiert, mit Hunderten von Meldungen, die es für die Rezipienten aufzubereiten gilt:
„Sie sichten und selektieren Informationen, interpretieren und bewerten diese, und entwerfen ein Weltbild, das den sozialen und politischen Bedürfnissen der Mediennutzer entgegenkommt.“ (Schulz 2011: 76)
Diese Selektion verläuft nicht willkürlich. Grob gesagt gibt es zwei Komplexe, die die Nachrichtenauswahl in den Redaktionen steuern. Zum einen sind es formale und ökonomische Mechanismen, die sich in den verschiedenen Medienorganisationen herausgebildet haben, beispielsweise „professionelle und redaktionelle Konventionen, zeitlicher Druck, Standards und Abläufe der Nachrichtenproduktion“ (Schulz 2011: 88, vgl. auch Lengauer 2007: 24). Zum anderen orientieren sich Journalisten an Nachrichtenfaktoren.
Nachrichtenfaktoren sind Ereignismerkmale, die als Auswahlkriterien für Meldungen gelten. Je mehr Nachrichtenfaktoren eine Meldung aufweist und je ausgeprägter diese Nachrichtenfaktoren sind, desto höher ist der Nachrichtenwert der Meldung[4](vgl. Maier/Stengel/Marschall 2010: 18, Ruhrmann/Göbbel 2007: 3 ff., Schulz 1976: 15 ff., Schulz 2011: 92).
In der Forschung werden oftmals unterschiedliche Nachrichtenfaktoren angeführt, eine allgemein gültige Aufstellung gibt es nicht. Eine erste Einteilung nahm Einar Östgaard 1965 vor, er ordnete die verschiedenen Faktoren wie zum Beispiel Nähe, Status, Prominenz, Personalisierung und Emotion den drei Kategorien Vereinfachung, Identifikation und Sensationalismus zu. Diese drei Kategorien sind im Grunde in der nachfolgenden Forschung immer weiter ausdifferenziert worden (vgl. Ruhrmann/Göbbel 2007: 5 ff.).
Abbildung 1:Nachrichtenfaktoren bei Schulz
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Schulz 2011: 91
Ein erstes umfangreiches Konzept veröffentlichten die beiden norwegischen Friedensforscher Johan Galtung und Mari Holmboe Ruge ebenfalls 1965. Sie definierten zwölf Nachrichtenfaktoren, davon acht kulturunabhängige (Dauer des Ereignisses, Schwellenfaktor, Eindeutigkeit, Bedeutsamkeit, Konsonanz, Überraschung, Kontinuität, Komposition/Variation) und vier kulturabhängige (Betroffenheit von Elitenationen, Betroffenheit von Elitepersonen, Personalisierung und Negativismus) (vgl. Maier/Stengel/Marschall 2010: 34 ff., Ruhrmann/Göbbel 2007: 5).
Die erste Studie, die den Einfluss von Nachrichtenfaktoren im deutschen Journalismus überprüft, stammt vom Kommunikationswissenschaftler Winfried Schulz. Er ordnete die Nachrichtenfaktoren von Galtung und Ruge neu, modifizierte sie in Teilen und gliederte sie in sechs Faktorendimensionen: Zeit, Nähe, Status, Dynamik, Valenz und Identifikation (vgl. Schulz 1976: 32 ff.).
Die Einteilung in Faktorendimensionen behält Schulz auch in späteren Publikationen bei, nun enthält die Aufstellung die Dimensionen Status, Valenz, Relevanz, Identifikation, Konsonanz und Dynamik (vgl. Abbildung 1).
Dass die einzelnen Faktoren begrifflich nicht in Stein gemeißelt sind, zeigt schon die Tatsache, dass bei Schulz‘ Aufzählung der Nachrichtenfaktor Negativismus fehlt, dessen besondere Bedeutung er selbst festhält:
„Insbesondere die Nachrichtenfaktoren Negativismus – Konflikt und Kontroverse – sowie Prominenz (bzw. Elite-Person) erwiesen sich in allen einschlägigen Studien als einflussreich (…).“ (Schulz 2011: 92)
Einen neuen Ansatz in der Forschung zu Nachrichtenfaktoren und Nachrichtenwert lieferte 1990 der Kommunikationswissenschaftler Joachim Friedrich Staab. In seinem Modell werden die Nachrichtenfaktoren „weniger als Ursachen für journalistische Auswahlentscheidungen […], sondern vielmehr als Folgen derselben verstanden“ (Ruhrmann/Göbbel 2007: 8). Das bedeutet, dass die Journalisten die Nachrichtenfaktoren in den Meldungen akzentuieren beziehungsweise überbetonen, um ihre Nachrichtenauswahl zu rechtfertigen (vgl. ebd., Schulz 2011: 93).
Dennoch herrscht in der Forschung weitestgehend Einigkeit darüber, dass die Anwendung von Nachrichtenfaktoren zur Selektion sinnvoll ist. Sie helfen, die Komplexität der Ereignisse und der Informationen zu reduzieren, ein sinnhaftes Bild von der Welt zu erzeugen und den Rezipienten Verhaltenssicherheit zu geben (vgl. Ruhrmann/Göbbel 2007: 3, Schulz 2011: 94).
Kritisch betrachtet werden in der jüngeren Vergangenheit allerdings zwei Entwicklungen. Zum einen, dass Medien zunehmend Selektionskriterien anwenden, „die aus Zwängen und Routinen der Medienproduktionen, aus Normen und Traditionen der journalistischen Profession, aus subjektiven Vorlieben und Abneigungen“ resultieren (Schulz 2011: 80). Zum anderen, dass angesichts der Ökonomisierung und des daraus resultierenden Konkurrenzdruckes einige Nachrichtenfaktoren ein immer größeres Gewicht bekommen. Gerade die Faktoren Prominenz und Negativismus gewinnen an Bedeutung, das Ergebnis sei eine „Boulevardisierung, Dramatisierung, Personalisierung und Simplifizierung nicht nur der politischen Berichterstattung“ (Ahrens 2009: 117).
Speziell in Bezug auf die Politikberichterstattung lässt sich festhalten, dass eine Diskrepanz zwischen Medienlogik und Logik des politischen Systems besteht:
„Es zeigt sich, dass diese Auswahlkriterien der Medien für das, was für sie an der Politik interessant und daher berichtenswert erscheint, in einemextremen Spannungsverhältniszu dem stehen, was das Charakteristische der Politik selbst ausmacht.“ (Meyer 2001: 47)
Insbesondere die Berichterstattung über Wahlkämpfe „orientiert sich weniger an den Themenprioritäten der Parteien und mehr am Nachrichtenwert des Wahlkampfgeschehens“ (Schulz 2011: 253). Dies wird ebenfalls als eine Folge des Wandels auf dem Medienmarkt und des stärker werdenden Konkurrenzdrucks angesehen.
Ausführlicher sollen diese Entwicklung und die dominierenden Faktoren der Politik- und Wahlkampfberichterstattung im nächsten Kapitel beleuchtet werden.
3.4 Forschungsstand: allgemeine Merkmale der Wahlkampfberichterstattung
In den vergangenen Jahren wird immer mehr zur Berichterstattung über Wahlkämpfe geforscht. Aufgrund der hohen Reichweite der Medien beschäftigen sich viele Studien jedoch hauptsächlich oder ausschließlich mit Merkmalen und Wirkung der Berichterstattung im Fernsehen oder im Internet (vgl. Holtz Bacha 2006, 2010). Da sich diese Arbeit mit der Analyse von Tageszeitungen beschäftigt, wird im Folgenden allerdings ausschließlich der Forschungsstand bezüglich der Printmedien skizziert.
Einen zentralen Beitrag zur Forschung über Wahlberichterstattung in Tageszeitungen haben die Medienwissenschaftler Jürgen Wilke und Carsten Reinemann geleistet. In ihrer im Jahr 2000 veröffentlichten Studie vergleichen sie die Berichterstattung von vier Qualitätszeitungen (Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Die Welt) über die Bundestagswahlen 1949 bis 1998[5]. Die Langzeitanalyse setzen sie für die drei folgenden Bundestagswahlen in anderen Publikationen fort (Wilke/Reinemann 2003, Wilke/Reinemann 2006, Wilke/Leidecker 2010).
In der Studie untersuchen sie stets den Umfang der Berichterstattung, formale Merkmale (Platzierung, Darstellungsformen und Quellen), Anlässe und Themen, Personalisierung sowie Zitierungsgrad und Authentizität. Darüber hinaus wird in den Studien der Darstellung und Bewertung der Kanzlerkandidaten besondere Aufmerksamkeit gewidmet, dazu im nächsten Abschnitt mehr.
Im Bezug zum Umfang der Berichterstattung zu den Bundestagswahlen lässt sich keine eindeutige Entwicklung feststellen, zu sehr schwanken die Zahlen in den verschiedenen Jahren (vgl. Wilke/Leidecker 2010: 341 ff.).
Abbildung 2:Darstellungsformen der Wahlkampfberichterstattung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Wilke/Leidecker 2010: 346
Interessant sind jedoch die Trends, was Darstellungsformen und Quellen angeht. Hier lassen sich gleichermaßen fast lineare Trends erkennen. Zum einen nimmt der Anteil an den Darstellungsformen Nachricht und Bericht immer mehr ab, subjektive und hybride Darstellungsformen wie Kommentare, Glossen, Reportagen und Features gewinnen an Bedeutung (vgl. Abbildung 2, dazu auch Maurer/Reinemann 2006: 113). Zum anderen stieg der Anteil der Eigenbeiträge, also der selbst verfassten Beiträge, der Zeitungen stetig, erreichte 2009 mit 88 Prozent seinen bisher höchsten Wert (vgl. Wilke/Leidecker 2010: 347). Entsprechend kleiner wurde mit den Jahren der Anteil der Berichte, die von den Nachrichtenagenturen übernommen wurden (2009: 8 Prozent).
Themen und Anlässe der Wahlkampfberichterstattung waren laut der Studie in erster Linie die Wahl und der Wahlkampf an sich. Gefolgt wurde dieser Themenkomplex in der Regel von wichtigen Bereichen des politischen Geschäfts: der Außenpolitik, Wirtschaftspolitik, Parteipolitik und vor der Wende auch der Deutschlandpolitik (vgl. Wilke/Leidecker 2010: 349). Die Gewichtung dieser Bereiche war vor jeder Wahl unterschiedlich, je nachdem, welche Probleme und Ereignisse die politische Berichterstattung im Allgemeinen dominieren. So stand beispielsweise im Vorfeld der Bundestagswahl 2002 die Außenpolitik an zweiter Stelle der Themenliste, da der drohende Irak-Krieg und die Weigerung des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder, Deutschland am Militäreinsatz zu beteiligen, auch unabhängig vom Wahlkampf ein wichtiges Thema der aktuellen politischen Berichterstattung darstellte (vgl. Wilke/Reinemann 2006: 316).
Die Personalisierung der Berichterstattung ist nach den Befunden der Studien kein neues Phänomen. Mit Ausnahme der Bundestagswahl 1949 lag der Anteil der Beträge mit Bezug zu einem oder beiden Kanzlerkandidaten[6]jenseits der 50 Prozent (vgl. Wilke/Leidecker 2010: 352 f., auch Maurer/Reinemann 2006: 124). Personalisierung ist allerdings ein Merkmal, das nicht nur in Wahlkampfzeiten, sondern in der alltäglichen politischen Berichterstattung festzustellen ist:
„Es sind Menschen, die in erster Linie das Erscheinungsbild einer Partei prägen. Das gilt in Wahlkampfzeiten wie auch während der Legislaturperiode in der redaktionellen Berichterstattung.“ (von Mannstein, 2009: 123)
Als Maß für Authentizität wird in den Untersuchungen von Wilke und Reinemann der Grad der Zitierung herangezogen. Sowohl die Beiträge, die überhaupt Zitate der Kanzlerkandidaten enthalten, als auch die Länge der Zitierung wurde untersucht. Seit Mitte der 1980er-Jahre (einzige Ausnahme bildet die Wahl 2009) konstatieren die Forscher einen Trend zu immer kürzeren Zitaten, das Aufkommen von sogenannten „text-bites“ (Wilke/Leidecker 2010: 355).
Die Zunahme von subjektiven Darstellungsformen und Eigenbeiträgen der Zeitungen in Kombination mit der Reduzierung und Verkürzung der Zitate beschreibt auch Lengauer im Vorfeld seiner Studie zur redaktionellen Politikvermittlung in medienzentrierten Demokratien. Er fasst sie unter dem Stichwort „journalistische Autonomisierung und Interpretativität“ zusammen (2007: 26). Laut Lengauer gehören Personalisierung, De-Thematisierung, Entpolitisierung und Entideologisierung, konfrontativer Negativismus und eben journalistische Autonomisierung und Interpretativität zu den am häufigsten beschriebenen Merkmalen und Trends des politischen Journalismus (vgl. ebd.).
Auch in anderen Publikationen, die sich mit der Natur der Wahlkampfberichterstattung beschäftigen, sind hauptsächlich diese Stichworte wiederzufinden:
„Tatsächlich finden sich in der massenmedialen Wahlkampfberichterstattung transnationale Muster und Perspektiven der redaktionellen Vermittlung von Wahlkämpfen wie Dethematisierung, Dramatisierung, Dynamisierung, Personalisierung und negative Akzentuierung, die in der amerikanischen wie europäischen Wahlkampfberichterstattung gleichermaßen anzutreffen sind.“ (Plasser 2008: 172)
Interessant ist an dieser Stelle, dass auch bezüglich der redaktionellen Berichterstattung über Wahlkämpfe in der Literatur zum Teil von einer Amerikanisierung gesprochen wird. Doch wie schon mit Blick auf die Theorie einer Amerikanisierung der Wahlkampfführung, wird mittlerweile auch das Konzept der Amerikanisierung der Berichterstattung als wenig akkurat angesehen. So stellt Lengauer in seiner Studie zwar fest, dass in den USA, Österreich und Deutschland dieselben Merkmale der Wahlkampfberichterstattung zu finden sind, deren Ausprägungen allerdings sehr unterschiedlich ist. So finden sich auch Merkmale, die in Deutschland deutlich ausgeprägter sind als in den USA, was die Theorie einer schlichten Übernahme amerikanischer Berichterstattungsmuster durch deutsche Medien unwahrscheinlich macht (vgl. Lengauer 2007: 311 ff.).
3.5 Forschungsstand: Berichterstattung über Kanzlerkandidaten
Bereits zuvor wurde erwähnt, dass die Personalisierung der politischen Berichterstattung kein neues Phänomen und nicht nur in der Berichterstattung im Vorfeld von Wahlen, sondern auch in der alltäglichen politischen Berichterstattung zu beobachten ist. Dennoch haben Personen in der politischen Landschaft gerade im Wahlkampf eine herausragende Bedeutung. So nimmt auch die Orientierung der Berichterstattung an den Spitzenkandidaten und -politikern mit dem nahenden Wahltermin spürbar zu (vgl. Maurer/Reinemann 2006: 125). Im Folgenden soll – erneut auszugsweise – der Forschungsstand zum Umfang der Berichterstattung zu den Kanzlerkandidaten, aber auch zum Bezug zu Privatem, zur Bewertung der Kandidaten durch die Medien und zum Schluss zur Visualisierung betrachtet werden.
3.5.1 Umfang der Berichterstattung
Um Erkenntnisse über den Grad der Personalisierung der Wahlkampfberichterstattung zu bekommen, wird in Studien oftmals ermittelt, in wie vielen Beiträgen zum Wahlkampf die Kanzlerkandidaten erwähnt werden. Nach den Ergebnissen von Wilke und Reinemann bewegt sich die Personalisierung konstant auf einem hohen Niveau. Einzig die Berichterstattung zum Bundestagswahlkampf 1949 bildete eine Ausnahme, damals hatten nur 19 Prozent der Beiträge einen Bezug zu den Kanzlerkandidaten (vgl. Abbildung 3).
Klammert man die Berichterstattung von 1949 allerdings aus, lässt sich feststellen, dass bis zur Bundestagswahl 2009 im Durchschnitt rund 66,2 Prozent der Berichte einen Bezug zu mindestens einem der Kanzlerkandidaten hatten. Besonders hohe Werte, zum Beispiel 79 Prozent im Jahr 1961 oder 75 Prozent im Jahr 1990, erklären Wilke und Reinemann unter anderem mit einer stark auf die Kandidaten ausgerichteten Wahlkampagne (vgl. Wilke/Reinemann 2000: 82 ff.).
[...]
[1]Aus Gründen der Einfachheit wird in dieser Arbeit stets die männliche Form der Berufe und Ämter (Politiker, Journalist, Spitzenkandidat etc.) benutzt. Damit sind allerdings stets sowohl männliche als auch weibliche Personen gemeint.
[2]Synonym zum Begriff Medialisierung wird in der Literatur zum Teil auch der Begriff Mediatisierung gebraucht. Schulz (2011: 30) argumentiert allerdings, dass der Ausdruck Mediatisierung bereits in anderen wissenschaftlichen Zusammenhängen gebraucht wird und daher der Ausdruck Medialisierung zu bevorzugen ist.
[3]Schulz (2011: 239) führt außerdem noch den Begriff der Präsidentialisierung ein, wenn sich die Kampagne ausschließlich auf den Spitzen- beziehungsweise den Kanzlerkandidaten konzentriert.
[4]Auch wenn sich die Faktoren ursprünglich nur auf die Darstellungsform der Nachricht bezogen, ist es mittlerweile legitim zu sagen, dass sie ebenso gewichtige Auswahlkriterien für andere journalistische Darstellungsformen sind.
[5]Zur genauen Anlage der Untersuchung: Wilke/Reinemann 2000: 19 ff.
[6]Eventuelle Bezüge zu anderen Spitzenpolitikern wurden in den Studien nicht untersucht.
- Quote paper
- Lisa Schrader (Author), 2014, Merkel und Steinbrück unter sich? Personalisierung der Berichterstattung zum Bundestagswahlkampf 2013, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/365720
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