Ziel dieser Arbeit ist die Entwicklung einer Methode der Fertigungssteuerung, welche die veränderte Rolle und das verbreiterte Aufgabenspektrum in einem Cyber-Physischen Produktionssystem berücksichtigt. Die Arbeit folgt einem systematischen Ansatz, indem zunächst eine grundlegende Problemstellung spezifiziert und anschließend die Vorteile konventioneller Methoden der Fertigungssteuerung hinsichtlich der Anwendung auf die grundlegende Problemstellung diskutiert werden. Aus den Erkenntnissen dieser Methodendiskussion sowie der Analyse produktionslogistischer Grundsätze werden Anforderungen an die zu entwickelnde Methode der autonomen Fertigungsregelung (AFR) definiert, welche die anschließende Methodenentwicklung prägen. Die AFR wird in den Anwendungsfällen der flexiblen Fließ- und Werkstattfertigung in zwei Simulationsmodellen mit verschiedenen Parameterkonstellationen simuliert sowie mit konventionellen Methoden hinsichtlich der logistischen Leistung verglichen.
Die Ergebnisse in beiden Anwendungsfällen bestätigen die theoretischen Potentiale der Selbststeuerung und der Integration der Aufgaben der Fertigungssteuerung in einer Methode. Je nach Parameterkonstellation können bei gleicher Arbeitszeit eine höhere Termintreue bei geringeren Durchlaufzeiten oder vergleichbare Termintreue und Durchlaufzeiten bei deutlich geringerer Arbeitszeit erzielt werden.
Diese Arbeit und insbesondere die Untersuchung am Szenario einer realen Werkstattfertigung liefern quantitative Anreize, die Entwicklung zu Cyber-Physischen Produktionssystemen weiter voranzutreiben und auf dem betrieblichen Hallenboden die notwendige Infrastruktur zu schaffen.
Kontinuierlich steigende Erwartungen an die logistische Zielerreichung, insbesondere an die Termintreue, zunehmend volatile Märke und die Reduktion von Umlaufbeständen führen dazu, dass die Fertigungssteuerung seit Jahren an Bedeutung gewinnt. Doch auch der Umfang der Fertigungssteuerung ist gestiegen, sodass heute neben Auftragsfreigabe und -überwachung auch die Arbeitsverteilung, Reihenfolgebildung und der Kapazitätssteuerung zu den Aufgaben der Fertigungssteuerung zählen.
Die Entwicklung im Rahmen der „Industrie 4.0“ in Richtung Cyber-Physischer Produktionssysteme (CPPS) basiert auf den Fortschritten in der Informations- und Kommunikationstechnologie und versucht diese Potentiale u. a. auch in der Fertigungssteuerung zu nutzen.
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Motivation
1.2 Zielstellung
1.3 Wissenschaftstheoretische Einordnung
1.4 Forschungsfragen
1.5 Aufbau der Arbeit
2 Grundlagen
2.1 Systemtheoretische Betrachtung von Produktionssystemen
2.1.1 Definition und Eigenschaften eines Systems
2.1.2 Komplexität als Herausforderung aus Sicht der Systemtheorie
2.1.3 Kapazität eines Produktionssystems
2.1.4 (Cyber-Physische) Produktionssysteme
2.2 Produktionsplanung und -steuerung (PPS)
2.2.1 Übergeordnete Aufgaben und Ziele der PPS
2.2.2 Klassifikation von Methoden der Produktionsplanung
2.2.3 Klassifikation von Methoden der Fertigungssteuerung
2.2.4 Klassifikation von PPS-Systemen in der Praxis
2.2.5 Regelung und Integration im Kontext der PPS
2.3 Selbststeuerung Cyber-Physischer Produktionssysteme
2.3.1 Einordnung der Selbststeuerung aus Sicht der Systemtheorie
2.3.2 Verständnis und Definition von Selbststeuerung
2.3.3 Transfer von Charakteristika der Selbststeuerung auf Produktionssysteme
2.3.4 Potentiale und Grenzen der Selbststeuerung
2.3.5 Technologische Anforderungen der Selbststeuerung
2.4 Klassifikation von Produktionssystemen zur Auswahl von Methoden der PPS
2.4.1 Klassifikation von Produktionssystemen zur Auswahl von Methoden der Produktionsplanung
2.4.2 Klassifikation von Produktionssystemen zur Auswahl von Methoden der Fertigungssteuerung
2.5 Modellierung und Simulation zur Bewertung von Verfahren der PPS
2.5.1 Klassifikation der Simulationsmodelle von Produktionssystemen
2.5.2 Grundsätze ordnungsmäßiger Modellierung
2.5.3 Modellverifikation und -validierung
2.5.4 Modellierung der Kapazität eines Produktionssystems
3 Formulierung des Grundproblems
4 Bewertung von Methoden der Fertigungssteuerung hinsichtlich des Grundproblems
4.1 Methoden der Auftragsfreigabe
4.2 Methoden der Kapazitätssteuerung
4.3 Methoden der Arbeitsverteilung und Reihenfolgebildung
4.3.1 Regelbasierte Arbeitsverteilung und Reihenfolgebildung
4.3.2 Methoden der Selbststeuerung zur Arbeitsverteilung und Reihenfolgebildung
4.4 Ableitung von Anforderungen an die Methode zur autonomen Fertigungsregelung (AFR)
5 Beschreibung der Methode der autonomen Fertigungsregelung
5.1 Gesamtkonzept
5.2 Detaillierter Verfahrensablauf
5.2.1 Notation und Begriffe
5.2.2 Auftragsfreigabe und Arbeitsverteilung auf erster Bearbeitungsstufe
5.2.3 Arbeitsverteilung und Reihenfolgebildung
5.2.4 Kapazitätssteuerung
5.3 Verfahrensparameter
5.4 Theoretische Bewertung der Methode der autonomen Fertigungsregelung hinsichtlich der definierten Anforderungen
6 Evaluation der Methode der autonomen Fertigungsregelung mittels Simulation
6.1 Versuchsplanung
6.1.1 Überblick
6.1.2 Anwendungsfälle
6.1.3 Kennzahlen zum Methodenvergleich
6.1.4 Störungen
6.1.5 Ausgewählte Vergleichsmethoden
6.1.6 Hard- und Softwareumgebung
6.2 Untersuchung der Funktionalität der Methode der autonomen Fertigungsregelung abhängig von Parameterwahl ohne Kapazitätssteuerung
6.2.1 Einfluss der Planungsmethoden
6.2.2 Einfluss der Parameterwahl
6.3 Vergleich der Methode der autonomen Fertigungsregelung mit etablierten Fertigungssteuerungsverfahren ohne Kapazitätssteuerung
6.4 Erweiterung der Methode der autonomen Fertigungsregelung um Kapazitätssteuerung
6.5 Untersuchung der Funktionalität der Methode der autonomen Fertigungsregelung abhängig von Parameterwahl mit Kapazitätssteuerung
6.5.1 Einfluss der Planungsmethoden
6.5.2 Einfluss der Parameterwahl
6.6 Vergleich der Methode der autonomen Fertigungsregelung mit etablierten Fertigungssteuerungsverfahren mit Kapazitätssteuerung
6.7 Untersuchung der Funktionalität der Methode der autonomen Fertigungsregelung abhängig von Parameterwahl mit Kapazitätssteuerung im realen Anwendungsfall
6.8 Untersuchung der Funktionalität der Kapazitätssteuerung der Methode der autonomen Fertigungsregelung im realen Anwendungsfall
6.9 Vergleich der Methode der autonomen Fertigungsregelung mit konventionellen Methoden im realen Anwendungsfall
7 Schlussbetrachtung
7.1 Zusammenfassung
7.2 Potentiale und Grenzen der Methode der autonomen Fertigungsregelung im Praxiseinsatz
7.3 Ausblick
8 Literaturverzeichnis
9 Anhang
9.1 Liste eigener Veröffentlichungen
Danksagung
Diese Dissertation entstand während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Planung und Steuerung produktionstechnischer und logistischer Systeme (PSPS) der Universität Bremen. Das Thema entstand aus der Bearbeitung des Projekts „Methoden zur Kopplung von zentraler Planung und autonomer Steuerung in der Fertigung“ (Zentronom), das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wurde. Zahlreiche Personen haben mich bei diesem Vorhaben unterstützt, denen ich an dieser Stelle danken möchte.
Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr.-Ing. Michael Freitag, Direktor des BIBA – Bremer Institut für Produktion und Logistik GmbH sowie Leiter des Fachgebiets PSPS im Fachbereich Produktionstechnik an der Universität Bremen für die Betreuung dieses Promotionsvorhabens.
Auch danke ich Herrn Prof. Dr.-Ing. Jens Heger, Juniorprofessor für Ingenieurwissenschaften, insb. Modellierung und Simulation technischer Systeme und Prozesse am Institut für Produkt- und Prozessinnovation (PPI) der Leuphana Universität Lüneburg, für die Übernahme der Zweitprüferschaft.
Zudem möchte ich mich bei Herr Prof. Dr.-Ing. Bernd Scholz-Reiter, derzeitiger Rektor der Universität Bremen und früherer Leiter des BIBA sowie des Fachgebiets PSPS der Universität Bremen für das Vertrauen bedanken, das er mir bei meiner Einstellung gewährte und die außergewöhnlichen akademischen Freiheiten, die er mir am Institut einräumte.
Auch bedanke ich mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen für die motivierenden Diskussionen und ihre konstruktive Kritik, die erheblich zur Qualität dieser Arbeit beigetragen haben. Danken möchte ich zunächst meinen Bürokollegen Herrn Mirko Kück und Frau Marit Hoff-Hoffmeier-Zlotnik für Ihre Geduld und stete Bereitschaft zur kritischen Diskussion meiner Zwischenergebnisse. Hervorheben möchte ich Frau Susanne Schukraft, bei der ich mich besonders für die exzellente Zusammenarbeit im Projekt Zentronom bedanken möchte. Herrn Dennis Lappe danke ich für die kontinuierliche Unterstützung meines Vorhabens und vor allem die Ratschläge zur Erstellung der Simulationsmodelle.
Den gesamten Weg bis hierher hätte ich nicht gehen können, wenn ihn meine Eltern Annemarie und Maximilian mir nicht ermöglicht hätten. Ihnen widme ich diese Arbeit.
Bremen, 15. Mai 2016 Sebastian Grundstein
Abstract
Kontinuierlich steigende Erwartungen an die logistische Zielerreichung, insbesondere an die Termintreue, zunehmend volatile Märke und die Reduktion von Umlaufbeständen führen dazu, dass die Fertigungssteuerung seit Jahren an Bedeutung gewinnt. Doch auch der Umfang der Fertigungssteuerung ist gestiegen, sodass heute neben Auftragsfreigabe und -überwachung auch die Arbeitsverteilung, Reihenfolgebildung und der Kapazitätssteuerung zu den Aufgaben der Fertigungssteuerung zählen.
Die Entwicklung im Rahmen der „Industrie 4.0“ in Richtung Cyber-Physischer Produktionssysteme (CPPS) basiert auf den Fortschritten in der Informations- und Kommunikationstechnologie und versucht diese Potentiale u. a. auch in der Fertigungssteuerung zu nutzen. Fertigungsprozesse können transparenter visualisiert und die Steuerung dieser Fertigungsprozesse in Echtzeit kann beispielsweise durch Verfahren der Selbststeuerung ermöglicht werden. Einhergehend mit dieser Entwicklung ist eine Verschiebung im Aufgabengefüge von Produktionsplanung und Fertigungssteuerung zugunsten Letzterer zu beobachten.
Ziel dieser Arbeit ist die Entwicklung einer Methode der Fertigungssteuerung, welche die veränderte Rolle und das verbreiterte Aufgabenspektrum in einem Cyber-Physischen Produktionssystem berücksichtigt.
Die vorliegende Arbeit folgt einem systematischen Ansatz, indem zunächst eine grundlegende Problemstellung spezifiziert wird und anschließend die Vorteile konventioneller Methoden der Fertigungssteuerung hinsichtlich der Anwendung auf die grundlegende Problemstellung diskutiert werden. Aus den Erkenntnissen dieser Methodendiskussion sowie der Analyse produktionslogistischer Grundsätze werden Anforderungen an die zu entwickelnde Methode der autonomen Fertigungsregelung (AFR) definiert, welche die anschließende Methodenentwicklung prägen. Die AFR wird in den Anwendungsfällen der flexiblen Fließ- und Werkstattfertigung in zwei Simulationsmodellen mit verschiedenen Parameterkonstellationen simuliert sowie mit konventionellen Methoden hinsichtlich der logistischen Leistung verglichen.
Die Ergebnisse in beiden Anwendungsfällen bestätigen die theoretischen Potentiale der Selbststeuerung und der Integration der Aufgaben der Fertigungssteuerung in einer Methode. Je nach Parameterkonstellation können bei gleicher Arbeitszeit eine höhere Termintreue bei geringeren Durchlaufzeiten oder vergleichbare Termintreue und Durchlaufzeiten bei deutlich geringerer Arbeitszeit erzielt werden.
Diese Arbeit und insbesondere die Untersuchung am Szenario einer realen Werkstattfertigung liefern quantitative Anreize, die Entwicklung zu Cyber-Physischen Produktionssystemen weiter voranzutreiben und auf dem betrieblichen Hallenboden die notwendige Infrastruktur zu schaffen.
1 Einleitung
1.1 Motivation
Aufgrund steigender Erwartungen an die logistische Zielerreichung sowie volatiler Märkte, die eine zuverlässige Nachfrageprognose erschweren, gewinnt die Fertigungssteuerung für produzierende Unternehmen seit Jahren an Bedeutung (Lödding, 2013). Doch nicht nur die Bedeutung, sondern auch der Aufgabenumfang der Fertigungssteuerung ist gestiegen. Während das „Aachener Modell“ der Produktionsplanung und -steuerung, das in den 1990ern entwickelt wurde, die Aufgaben der Fertigungssteuerung im Kern auf die Auftragsfreigabe und -überwachung reduziert (Schuh, 2006), werden dieser mittlerweile auch die Aufgaben der Arbeitsverteilung, Reihenfolgebildung und der Kapazitätssteuerung zugewiesen (Lödding, 2013).
Die Fertigungssteuerung ist zudem mit den Herausforderungen einer steigenden Anzahl an individualisierten Produktvarianten und zunehmenden Bedeutung der Termintreue konfrontiert (Abele & Reinhart, 2011; Lödding, 2013; Schuh, Potente & Thomas, 2013). Um effizient zu produzieren werden Durchlaufzeiten verkürzt und Umlaufbestände reduziert, wodurch Fertigungsprozesse anfällig gegenüber ungeplanten Ereignissen werden (Engelhardt & Reinhart, 2012). Daher gewinnt die Fertigungssteuerung in Echtzeit zunehmend an Bedeutung (Engelhardt & Reinhart, 2012). Insbesondere Verfahren der dezentralen Fertigungssteuerung sowie Verfahren der Selbststeuerung werden in diesem Kontext als aussichtsreich bewertet (Freitag, Herzog & Scholz-Reiter, 2004; Monostori, Váncza & Kumara, 2006; Scholz-Reiter, Rekersbrink & Görges, 2010). Diese Verfahren sind allerdings auf Echtzeit-Daten aus dem Produktionsprozess angewiesen, die in der Unternehmenspraxis bis dato häufig nicht verfügbar sind bzw. waren (Schuh, Gottschalk & Höhne, 2007).
Die Entwicklung im Rahmen der „Industrie 4.0“ in Richtung Cyber-Physischer Produktionssysteme (CPPS) basiert auf den Fortschritten in der Informations- und Kommunikationstechnologie und eröffnet die Perspektive, die benötigten Daten zur Verfügung zu stellen und nutzbar zu machen (Broy, 2010). Eigenschaften Cyber-Physischer Produktionssysteme sind u. a. Ad-hoc-Vernetzbarkeit, Selbstkonfiguration und dezentrale, intelligente Datenverarbeitung (Reinhart et al., 2013). Dazu werden u. a. Sensortechnologien wie die Radiofrequenzidentifikation (RFID) in der Fertigung vermehrt eingesetzt (Engelhardt & Reinhart, 2012). Dadurch werden neben der Transparenz der Fertigungsprozesse auch die Datenhaltung verbessert und die Fertigungssteuerung in Echtzeit sowie die Anwendung von Verfahren der Selbststeuerung ermöglicht (Broy, 2010; Engelhardt & Reinhart, 2012). Einhergehend mit dieser Entwicklung erfolgt eine Veränderung im Aufgabengefüge von Produktionsplanung und Fertigungssteuerung. Die Produktionsplanung im Kontext der Industrie 4.0 wird sich vorrangig auf die übergeordnete Planung von Produktionsmengen und Fertigstellungsterminen konzentrieren, während die Fertigungssteuerung zunehmend autonom Entscheidungen in klassischen Aufgabenbereichen der Produktionsplanung (z. B. Reihenfolgebildung von Aufträgen) auf Basis grober Planvorgaben trifft (Kuprat, Mayer & Nyhuis, 2015).
Sehr großes Anwendungspotential selbststeuernder Fertigungssteuerungsverfahren besteht in Werkstattfertigungen sowie flexiblen Fließfertigungen (Philipp, 2014). Das Hauptmerkmal einer Werkstattfertigung ist die Anordnung der Maschinen nach dem Funktionsprinzip, d. h. funktionsgleiche oder funktionsähnliche Maschinen werden räumlich zu einer Werkstatt zusammengefasst (Wiendahl, 2014). Dieses Fertigungsprinzip ist im Allgemeinen durch hohe Flexibilität hinsichtlich der fertigbaren Produktvarianten, allerdings auch hohe Durchlaufzeiten und geringe Produktivität gekennzeichnet (van Brackel, 2009; Wiendahl, 2014). Die flexible Fließfertigung kann als Spezialfall der Werkstattfertigung ohne Rückflüsse definiert werden, d. h. ein Produkt wird anders als in Werkstattfertigungen im Fertigungsprozess nur einmal in einer Werkstatt bearbeitet (Wiendahl, 2014). Das Anwendungspotential selbststeuernder Fertigungssteuerungsverfahren hinsichtlich Fertigungen dieses Fertigungsprinzips resultiert aus der hohen Zahl an Entscheidungsalternativen, die die Ablaufplanung dieser Fertigungen erschweren (van Brackel, 2009). Algorithmische Verfahren der Ablaufplanung und der Um-/Neuplanung im Fall von auftretenden Störungen sind seit Jahrzehnten Gegenstand der Forschung (Graves, 1981; Mönch, Fowler, Dauzère-Pérès, Mason & Rose, 2011; Vieira, Herrmann & Lin, 2003). Diese geraten allerdings bei der hohen Dynamik und Komplexität realer Produktionssysteme rasch an ihre Leistungsgrenzen (Scholz-Reiter et al., 2010), insbesondere da die Grundannahmen dieser Verfahren Produktionssysteme stark vereinfachen (Mönch, 2007). Komplexe Werkstattfertigungen sind u. a. charakterisiert durch eine Vielzahl gefertigter Produkttypen mit einem sich ändernden Produkttypenmix, reihenfolgeabhängigen Rüstzeiten sowie unterschiedlichen internen und externen Störungen (Mönch, 2007).
Im Gegensatz zu zentralen werden bei selbststeuernden Verfahren Entscheidungen, z. B. hinsichtlich der Maschinenbelegung, dezentral in heterarchischen Strukturen getroffen, statt in einer zentralen Instanz der Ablaufplanung (Windt & Hülsmann, 2007). Die Forschung zu selbststeuernden Fertigungssteuerungsverfahren fokussierte Themengebiete wie die erforderliche Infrastruktur (Sowade, Rippel & Scholz-Reiter, 2012), Vorgehensmodelle (Kolditz, 2009) und insbesondere Verfahren der Arbeitsverteilung und Reihenfolgebildung (Hamann, 2008; Pach, Bekrar, Zbib, Sallez & Trentesaux, 2012; Pannequin, Morel & Thomas, 2009; Scholz-Reiter, Görges, Jagalski & Naujok, 2010; Sudo & Matsuda, 2013). Die existierenden selbststeuernden Verfahren der Arbeitsverteilung und Reihenfolgebildung folgen tendenziell eher einfachen Entscheidungsmechanismen und berücksichtigen praxisrelevante Nebenbedingungen wie reihenfolgeabhängige Rüstzeiten nicht oder nicht explizit. Hinsichtlich der erweiterten Aufgaben der Fertigungssteuerung wurden die Auftragsfreigabe und die Kapazitätssteuerung weitestgehend gänzlich vernachlässigt (Grundstein, Schukraft, Scholz-Reiter & Freitag, 2015). Die integrierte Betrachtung dieser Aufgaben rückt vermehrt in den Fokus der Forschungsaktivitäten, wobei vor allem die integrierte Betrachtung von Verfahren der Auftragsfreigabe und eher einfachen Prioritätsregeln im Fokus steht (Land, Stevenson & Thürer, 2014; Lu, Huang & Yang, 2011; Zozom, Hodgson, King, Weintraub & Cormier, 2003).
Eine integrierte, d. h. alle Aufgaben der Fertigungssteuerung umfassende, und auf Selbststeuerung basierende Fertigungssteuerungsmethode, die die Anforderungen komplexer Werkstattfertigungen berücksichtigt, ist derzeit im Stand der Forschung nicht gegeben. Dies ist vor allem daher bemerkenswert, da erst die Berücksichtigung der Wechselwirkungen zwischen diesen Aufgaben eine sehr gute bis optimale Fertigungssteuerung ermöglicht. Für die bisherige isolierte Betrachtung sind mindestens drei Gründe verantwortlich. Erstens ist es Forschern möglich, wesentlich komplexere Verfahren zu entwickeln, falls einzelne Aufgaben isoliert betrachtet werden (Lödding, 2013). Zweitens ist der Aufwand, insbesondere zur Modellierung und Simulation bei größerem Betrachtungsumfang, ebenfalls deutlich höher. Drittens ist der Aufgabenumfang der Fertigungssteuerung in den letzten Jahren gestiegen (Lödding, 2013), sodass der Bedarf einer integrierten Betrachtung der Aufgaben vergleichsweise neu ist.
Eine integrierte Methode kann nicht nur das Potential einer derartigen umfassenden Fertigungssteuerung aufzeigen, sondern auch dazu dienen, den Gedanken der Selbststeuerung auf den betrieblichen Hallenboden zu transferieren.
1.2 Zielstellung
Im Rahmen dieses Dissertationsvorhabens soll eine neue Methode der selbststeuernden Fertigungssteuerung entwickelt und evaluiert werden. Diese soll die veränderte Rolle und das erweiterte Aufgabenspektrum der Fertigungssteuerung in einem Cyber-Physischen Produktionssystem berücksichtigen und an Anwendungsfällen der flexiblen Fließfertigung und der Werkstattfertigung im Vergleich mit konventionellen Verfahren der Fertigungssteuerung evaluiert werden.
Die grundlegenden Anforderungen an die zu entwickelnde Methode sind entsprechend der Motivation:
- Integrierte Betrachtung der Aufgaben der Fertigungssteuerung: Auftragsfreigabe, Arbeitsverteilung, Reihenfolgebildung und Kapazitätssteuerung
- Berücksichtigung der Anforderungen komplexer Werkstattfertigungen: Reihenfolgeabhängige Rüstzeiten, Vielzahl gefertigter Produkttypen mit einem sich ändernden Produkttypenmix, zahlreiche interne und externe Störungen
- Berücksichtigung der steigenden Bedeutung der Termintreue
- Orientierung an Planvorgaben der Produktionsplanung
Abbildung 1 gibt einen Überblick über den Umfang der Methode. Die Methode arbeitet mit einer Liste an bekannten Aufträgen, die für die Auftragsfreigabe zur Verfügung stehen. Diese Liste ist sortiert nach Dringlichkeit, d. h. nach einem Freigabedatum, das von der zentralen Produktionsplanung auf Basis einer Normalkapazität errechnet wird. Aufträge, d. h. die Produkte agieren selbststeuernd auf Basis von Planvorgaben der zentralen Produktionsplanung und treffen eigenständig die Entscheidungen über die Auftragsfreigabe, die Arbeitsverteilung und Reihenfolgebildung sowie über die Anpassung der Kapazitäten.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Überblick über den Umfang der Methode
1.3 Wissenschaftstheoretische Einordnung
Das Ziel jeder Forschungstätigkeit ist der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn. Zu Beginn des Forschungsprozesses muss eine übergeordnete Methodik gewählt werden, die festlegt, wie diese Erkenntnisse gewonnen werden (Kieser & Kubicek, 1992). Die Wissenschaftstheorie ist der Teilbereich der Philosophie, der sich mit den Voraussetzungen, Methoden und Zielen der Wissenschaft selbst sowie der Form wissenschaftlicher Erkenntnisse befasst (Schanz, 1988). Sie beschäftigt sich insbesondere mit Entscheidungen zur grundlegenden Problemstellung sowie der Auswahl einer geeigneten Methodik entsprechend der Methodologie. Zu diesen Zwecken existieren zahlreiche und teilweise gegensätzliche Ansätze in der Literatur. Oder anders formuliert: es gibt keine allgemein akzeptierte überragende Methode. Eine Diskussion wissenschaftstheoretischer Methoden der Erkenntnisgewinnung ist im Rahmen dieser Dissertation nur insoweit sinnvoll, dass eine Methode zur Erkenntnisgewinnung entsprechend der Methodologie nachvollziehbar und sinnvoll ausgewählt wird. (Gierth, 2009)
Die Wissenschaft als solche wird wie in Abbildung 2 dargestellt im Allgemeinen in die Formalwissenschaften und Realwissenschaften unterschieden. Formalwissenschaften identifizieren Zeichensysteme und Regeln zur formal korrekten Anwendung dieser Symbole und Regeln. Beispieldisziplinen dieser Wissenschaften sind die Philosophie, Logik oder Mathematik. Die Realwissenschaften fokussieren die Beschreibung, Erklärung und Gestaltung von empirisch beobachtbaren und überprüfbaren Ausschnitten der Wirklichkeit. Diese werden weiter differenziert in „reine“ Grundlagenwissenschaften und „angewandte“ Handlungswissenschaften. Die Differenzierung dieser beiden Wissenschaftsbereiche erfolgt anhand des Begründungszusammenhangs, der insbesondere in den Grundlagenwissenschaften von fundamentaler Bedeutung ist. Ausgangssituation für wissenschaftliche Erkenntnisse sind Problemstellungen, die durch die Falsifizierung von Theorien, Hypothesen oder Erklärungen in ihrem Begründungszusammenhang entstehen. Grundlagenwissenschaften zielen auf das Verständnis und ggf. die Prognose empirischer Modelle der Realität. Der Bezug zu praktischen Problemen ist dabei akzessorisch, d. h. zulässig, aber für den Erkenntnisgewinn nicht notwendig. Im Gegensatz dazu verfolgen Handlungswissenschaften eine vergleichsweise pragmatische Zielstellung, indem Schlussfolgerungen und Empfehlungen für die Gestaltung sozio-technischer Systeme abgeleitet werden, insbesondere durch die Analyse menschlicher Handlungsalternativen. Problemstellungen entstehen in dieser Forschungsdisziplin aus praktischen Problemen, deren Lösung ein Wissens- bzw. Erkenntnisdefizit im Wege steht. Daher ist der Bezug zu praktischen Problemen in dieser Forschungsdisziplin nicht akzessorisch, sondern konstituierend. Die Realität ist folglich Untersuchungsgegenstand der Grundlagenwissenschaften, während sie für die Handlungswissenschaften der Ausgangspunkt der Forschungsaktivitäten ist. Naturwissenschaften wie Biologie oder Chemie und Sozialwissenschaften wie die Wirtschaftswissenschaften oder Jura können je nach Schwerpunkt der Forschung sowohl den Grundlagenwissenschaften als auch den Handlungswissenschaften zugeordnet werden. Diese Dissertation ist Teil der Ingenieurwissenschaften, welche sowohl Elemente der Naturwissenschaften als auch der Handlungswissenschaften vereint und je nach Betrachtungsschwerpunkt einer der beiden Disziplinen zuzuordnen ist. Wie die gestrichelten Linien in der Abbildung andeuten, stellen die Formalwissenschaften im Allgemeinen die Basis zur Verfügung, aus der die Grundlagenwissenschaften Erkenntnisse gewinnen, die wiederum die Grundlage für die Handlungswissenschaften darstellen. (Hill, Fehlbaum & Ulrich, 1994; Ulrich & Hill, 1979)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2: Einordnung dieser Arbeit in die Wissenschaftssystematik nach Ulrich & Hill (1979)
Die vorliegende Dissertation ist entsprechend obiger Systematik den Realwissenschaften zuzuordnen, da Modelle der Realität, d. h. Modelle der Fertigung produzierender Unternehmen zur Erkenntnisgewinnung verwendet werden. Innerhalb der Realwissenschaften ist die Dissertation den Grundlagenwissenschaften zugehörig, da das Verständnis theoretischer Zusammenhänge im Fokus der Untersuchung steht. Im Gegensatz zu den Handlungswissenschaften allerdings werden nachfolgende Forschungsfragen ohne einen Bezug zu einer konkreten praktischen Problemstellung definiert. Allerdings wird eine grundlegende Problemstellung in Abschnitt 3 definiert, die den Untersuchungsgegenstand eingrenzt. Darüber hinaus wird der Begründungszusammenhang dieser Dissertation aus einer Analyse der wissenschaftlichen Literatur konstruiert (Abschnitt 4). Aufgrund dieses Vorgehens ist die vorliegende Dissertation der Grundlagenwissenschaft zugeordnet, innerhalb dieser der problemorientierten Grundlagenwissenschaft. Diese Teildisziplin der Grundlagenwissenschaften untersucht Problemstellungen, die sich aus der Analyse der wissenschaftlichen Literatur ergeben. Diese Dissertation fokussiert die flexible Fließ- und Werkstattfertigung mit zahlreichen Nebenbedingungen, die aus der Literaturanalyse abgeleitet werden.
Hinsichtlich der Methodologie gibt es in der Literatur auch grundlegend andere Theorien. Beispielsweise negiert der kritische Rationalismus jegliche logisch-rationale Begründung von Theorien. Die logisch-rationale Begründung erfolgt durch einen induktiven Beweis der generellen Evidenz auf Basis gültiger Einzelbeweise. Dies erfordert in der Theorie eine unendliche Menge an Untersuchungen zur Verifizierung dieser induktiven Beweisführung (Anzenbacher, 1992). Im Gegensatz zu dieser induktiven Verifizierung steht die Methode der Falsifikation zur Erkenntnisgewinnung, die den kritischen Rationalismus charakterisiert. Die Grundidee der Falsifikation ist, dass Theorien falsifizierbar sein müssen und - trivial formuliert - bis zur Falsifikation Gültigkeit besitzen. Daher bevorzugt der kritische Rationalismus häufig die begrenzte Induktion, d. h. die Falsifikation als Mittel zur Erkenntnisgewinnung. (Gierth, 2009; Hill et al., 1994; Popper, 2002)
In dieser Dissertation wird auf Grundlage der Literaturanalyse und eines Grundproblems eine neue Methode entwickelt und evaluiert. Dieser Ansatz stellt eine induktive Vorgehensweise dar. Um die Validität der Ergebnisse zu verbessern, werden zwei Anwendungsfälle betrachtet, d. h. sowohl ein generischer als auch ein aus der Unternehmenspraxis abgeleiteter Anwendungsfall. Darüber hinaus beinhaltet diese Dissertation sämtliche Daten, um beide Anwendungsfälle zu reproduzieren, sodass eine Falsifikation der Erkenntnisse ermöglicht wird.
1.4 Forschungsfragen
Diese Arbeit verfolgt drei grundlegende Forschungsfragen und die daraus resultierenden Forschungsaufgaben:
I. Gibt es geeignete Methoden oder geeignete Elemente existierender Methoden hinsichtlich der grundlegenden Problemstellung zur Auftragsfreigabe, Reihenfolgebildung oder Kapazitätssteuerung?
➔ Es erfolgt eine detaillierte Analyse des Stands der Forschung, v.a. von Methoden der Auftragsfreigabe, Reihenfolgebildung und Kapazitätssteuerung.
II. Inwiefern ist eine Integration von Auftragsfreigabe, Reihenfolgebildung und Kapazitätssteuerung hinsichtlich des Grundproblems möglich?
➔ Auf Grundlage der Ergebnisse der ersten Forschungsaufgabe wird eine integrierte Methode erarbeitet, die sämtliche zuvor definierten Anforderungen erfüllt.
III. Erbringt die integrierte Methode eine höhere logistische Leistung als konventionelle Steuerungsmethoden bzw. Kombinationen konventioneller Steuerungsmethoden …
- …in einem generischen Anwendungsfall?
- …in einem realen Anwendungsfall?
➔ Die Erarbeitung der integrierten Methode in der Theorie ist notwendig, allerdings nicht hinreichend. Daher wird die logistische Leistung der integrierten Methode anhand zweier Anwendungsfälle mittels ereignisorientierten Simulationen untersucht und mit der Leistung konventioneller Methoden(-kombinationen) verglichen. Das generische Szenario ist ein Szenario mit reduzierter Komplexität, das die Funktionsweise der Methode veranschaulicht. Der reale Anwendungsfall basiert auf einem Modell einer realen Fertigung. Die Vergleichsmethoden werden auf Grundlage der Ergebnisse der Methodendiskussion im Rahmen der ersten Forschungsaufgabe ausgewählt.
1.5 Aufbau der Arbeit
Der Aufbau der Dissertation orientiert sich wie in Abbildung 3 dargestellt an den formulierten Forschungsfragen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 3: Aufbau der Dissertation und Beziehung zu Forschungsfragen
Nach dieser Einleitung befasst sich Kapitel 2 mit den wissenschaftlichen Grundlagen dieser Arbeit. Vorgestellt werden die Grundlagen der systemtheoretischen Betrachtungsweise von Produktionssystemen (2.1), der Produktionsplanung und -steuerung (2.2), der Selbststeuerung (2.3), der Klassifikation von Produktionssystemen zur Auswahl von Methoden der Produktionsplanung und -steuerung (2.4) sowie die Grundlagen der Modellierung und Simulation von Produktionssystemen (2.5). In Kapitel 3 wird das Grundproblem dieser Arbeit formuliert. Mit der Beschränkung auf flexible Fließ- und Werkstattfertigungen im Titel dieser Arbeit wurde bereits ein Teil der Definition des Grundproblems vorweggenommen. Weitere notwendige Eingrenzungen des Untersuchungsgegenstandes werden in diesem Kapitel vorgenommen. Aufbauend auf dem Grundproblem werden in Kapitel 4 konkrete Methoden der Fertigungssteuerung, die prinzipiell hinsichtlich des Grundproblems anwendbar sind, vorgestellt und diskutiert. Dieses Kapitel umfasst Methoden der Auftragsfreigabe (4.1), der Kapazitätssteuerung (4.2) sowie der Arbeitsverteilung und Reihenfolgebildung (4.3). Im Ergebnis werden aus dieser Diskussion Anforderungen an das zu entwickelnde Verfahren abgeleitet (4.4), die in die Entwicklung der Methode zur autonomen Fertigungsregelung (AFR) einfließen. Die AFR wird in Kapitel 5 im Detail beschrieben. Zunächst wird das Gesamtkonzept vorgestellt (5.1), bevor das Verfahren detailliert erörtert wird (5.2) und die Verfahrensparameter diskutiert werden (5.3). Eine theoretische Bewertung der AFR hinsichtlich der definierten Anforderungen und des Grundproblems (5.4) leitet zur simulationsbasierten Evaluation über. In Kapitel 0 wird zunächst die Funktionalität der AFR an einem vereinfachten Szenario der flexiblen Fließfertigung untersucht und mit konventionellen Methoden der Fertigungssteuerung verglichen. Anschließend erfolgen analoge Untersuchungen und Vergleiche in Kapitel 0 am Szenario einer realen Werkstattfertigung. Die Arbeit endet mit einer Zusammenfassung sowie einem Ausblick hinsichtlich des Einsatzes der AFR in der Praxis und weiterer Forschungsaktivitäten in Kapitel 7.
2 Grundlagen
2.1 Systemtheoretische Betrachtung von Produktionssystemen
2.1.1 Definition und Eigenschaften eines Systems
Die allgemeine Systemtheorie hat sich als geeignete Betrachtungsweise zur Untersuchung von Produktionssystemen etabliert (Wiendahl, 2014) und wird daher auch dieser Arbeit zugrunde gelegt. Nach Ropohl (1999) ist ein System ein Modell einer Ganzheit, welche Beziehungen zwischen Elementen aufweist, die aus miteinander verknüpften Teilen bzw. Subsystemen besteht, und von ihrer Umgebung abgegrenzt ist. Diese Begriffe werden nachfolgend anhand Abbildung 4 erläutert. Ein System umfasst eine Menge an Elementen und Beziehungen zwischen diesen. Eine Struktur besteht aus einer Gruppe an Elementen, die über Beziehungen verbunden werden. Ein jedes System kann in Subsysteme untergliedert werden. Teilsysteme bestehen aus Elementen, die nach einer anderen Beziehung zusammengefasst werden. Eine Systemhierarchie entsteht, wenn Teilsysteme zu einem größeren System zusammengefasst werden. Ein jedes Element, Subsystem als auch das System an sich ist durch eine Systemgrenze von der Umwelt abgegrenzt. Ein System wird als offen charakterisiert, wenn es durch eine Funktion beschrieben werden kann, die Input und Output eines Systems in Beziehung zu einander setzt. Der Output eines Systems bestimmt den Einfluss eines Systems auf die Umwelt, während der Input den Einfluss der Umwelt auf das System beschreibt. Ein geschlossenes System hingegen ist dadurch charakterisiert, dass keine Interaktion zwischen System und Umwelt stattfindet. Übertragen auf die Produktion sind die Elemente eines Produktionssystems die Betriebsmittel, die zur Produktion benötigt werden. Die grundlegenden Beziehungen sind Material- und Informationsflüsse sowie Energie und eingesetztes Kapital. (Krallmann, 2007; Ropohl, 1999; Wiendahl, 2014)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 4: Grundlegende Begriffe der allgemeinen Systemtheorie
(Wiendahl, 2014)
2.1.2 Komplexität als Herausforderung aus Sicht der Systemtheorie
Eine wesentliche Herausforderung bei der Planung und Steuerung von Produktionssystemen aus der Perspektive der Systemtheorie ist die Komplexität des Produktionssystems, charakterisiert durch die Dimensionen Dynamik, Kompliziertheit und Unsicherheit (Westphal, 2001).
Dynamik
Der Begriff der Dynamik wird im Rahmen dieser Arbeit auf Grundlage der Systemtheorie definiert. Dabei liegt der Fokus auf der internen Systemdynamik, unabhängig davon, ob die Quelle der Dynamik sich innerhalb oder außerhalb des Systems befindet:
„Dynamik charakterisiert Veränderungen des Systemzustands im Zeitverlauf. Der Systemzustand umfasst die Eigenschaften, Hierarchie und Anzahl an Elementen, deren Beziehungen sowie die resultierende Struktur innerhalb der Systemgrenze.“
Diese Definition ist kongruent mit der Definition anderer Autoren, beispielsweise der zeitbezogenen Komplexität in Windt, Philipp & Böse (2008). Sie umfasst außerdem die dynamische Komplexität und teilweise die Verbindungskomplexität nach Scherer & Dobberstein (1996). Wenn die Veränderungen des Systemzustandes geplant sind, wird von Dynamik gesprochen. Sind die Veränderungen hingegen ungeplant, werden sie als Störungen bezeichnet, für die Maßnahmen des Störungsmanagements veranlasst werden sollten (Yu & Qi, 2004). Dieses Verständnis ist ähnlich zu Westphal (2001), der Dynamik definiert als Veränderlichkeit koordinationsrelevanter Größen. Die obige Definition ist ebenfalls nahe an der Definition von de Beer (2008), demzufolge Dynamik die Veränderung des Systemzustandes oder einzelner Variablen im Zeitverlauf beschreibt.
Der Grad der Dynamik eines Systems hängt im Wesentlichen davon ab, ob das System offen oder geschlossen gegenüber der Umwelt ist (Hill et al., 1994). In offenen Systemen bezeichnet der Begriff Dynamik primär die Reaktion eines Systems auf Umwelteinflüsse durch Veränderungen des Systemzustands, beispielsweise die Neuplanung der Maschinenbelegung aufgrund von stornierten Kundenaufträgen. In geschlossenen Systemen treten Veränderungen des Systemzustands ohne externe Einflüsse auf. Die PPS eines Unternehmens stellt dabei die Schnittstelle zwischen externer Umweltdynamik und interner Systemdynamik dar (Freitag, 2005).
Der Grad der Dynamik kann durch dessen Intensität und Erscheinungsform beschrieben werden. Während die Intensität der Dynamik als Ordinalzahl quantifiziert werden kann, wird die Erscheinungsform unterschieden in stochastisches Verhalten, deterministisches Verhalten, periodisches Verhalten, quasi-periodisches Verhalten und chaotisches Verhalten (Argyris, Faust & Haase, 1994; de Beer, 2008).
Beeinflusst wird das dynamische Verhalten eines Produktionssystems durch zahlreiche Variablen. Scholz-Reiter, Freitag & Schmieder (2002) unterscheiden fünf Gruppen von Variablen, die das dynamische Verhalten eines Produktionssystems determinieren:
- Struktur
- Kapazität
- Betriebliche Regeln
- Auftragsfreigabe
- Reihenfolgeregeln
Die Struktur umfasst Informationen hinsichtlich der Arbeitsstationen, Puffer, wie auch des generellen Materialflusses. Die Kapazität beschreibt die räumliche Kapazität, Arbeitszeit, als auch die Fertigungskapazität, z. B. hinsichtlich der Produktvielfalt oder Ausbringungsmenge. Betriebliche Regeln beziehen sich auf den allgemeinen Umgang mit Dynamik oder Störungen, beispielsweise falls eine Arbeitsstation keine Aufträge zur Bearbeitung hat, während sich bei einer identischen Station zahlreiche Aufträge in der Warteschlange befinden. Die Auftragsfreigabe beeinflusst die Dynamik, indem Aufträge vorgezogen oder zurückgehalten werden, sodass das gesamte Arbeitsvolumen in der Fertigung beeinflusst wird. Reihenfolgeregeln determinieren die Bearbeitungsreihenfolge an Arbeitsstationen und beeinflussen dadurch die Dynamik, falls die Entscheidungslogik dynamische Variablen berücksichtigt. (Scholz-Reiter et al., 2002)
Kompliziertheit
Kompliziertheit wird in dieser Arbeit nach Klaus (1969) und Westphal (2001) wie folgt definiert:
“Kompliziertheit ist eine Messgröße für die Anzahl der möglichen Systemzustände. Sie umfasst die Menge und Vielfalt der Elemente sowie der Beziehungen zwischen den Elementen.“
Dieses Verständnis entspricht der Definition der Elementkomplexität und der strukturellen Komplexität nach Scherer & Dobberstein (1996). Dem Gesetz der erforderlichen Varietät zufolge korrespondiert die erforderliche Varietät, d. h. die erforderliche Anzahl möglicher Systemzustände, und damit der Grad der Kompliziertheit mit der Varietät der Störgrößen (Ashby, 1957). Windt, Philipp & Böse (2008) hingegen unterscheiden zwischen zeitbezogener, organisationaler und systemischer Komplexität. Die zugrundeliegende Definition entspricht dabei der Definition der organisationalen Komplexität. Übertragen auf ein Produktionssystem beschreibt der Begriff der Kompliziertheit entsprechend obiger Definition beispielsweise die Anzahl der Puffer/Lager und Arbeitsstationen als Elemente sowie die Materialflüsse als Relationen.
Häufig werden Produktionssysteme lediglich mittels der Charakteristika „Dynamik“ und „Komplexität“ im Sinne der „Kompliziertheit“ beschrieben. Für diese Arbeit ist allerdings der Begriff der „Unsicherheit“ eine weitere wichtige Charakteristik.
Unsicherheit
In der Produktionsplanung und -steuerung werden Entscheidungen auf Grundlage der Informationen zu einem Zeitpunkt getroffen, wobei gegebenenfalls zukünftige Ereignisse vorweggenommen und berücksichtigt werden (Kolditz, 2009). Unsicherheit in Produktionssystemen zeigt sich in zwei Dimensionen. Erstens gibt es in konventionellen PPS-Systemen in der Regel eine Lücke zwischen notwendigen und verfügbaren Informationen über den aktuellen Systemzustand (Leisten, 1996). Da auf Grundlage dieser - häufig inkorrekten oder lückenhaften - Informationen Entscheidungen getroffen werden, sind auch die getroffenen Entscheidungen im Regelfall falsch. Zweitens herrscht Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung des Systemzustands und das Auftreten zukünftiger Ereignisse (Kolditz, 2009). Beispielsweise hängt die Effizienz des Einsatzes von Maßnahmen der Kapazitätssteuerung davon ab, inwieweit zukünftige Systemzustände (und damit Kapazitätsbedarfe) antizipiert werden können. Eine Erscheinungsform dieser zukünftigen Ereignisse sind Störungen. Störungen sind Ereignisse, die ungeplant auftreten und Abweichungen zwischen Plan-Werten und Ist-Werten verursachen (Patig, 2001; van Brackel, 2009; Yu & Qi, 2004). Obwohl in der Literatur weitestgehend Konsens über die Definition von Unsicherheiten und Störungen existiert, gibt es aufgrund der Vielfalt realer Produktionssysteme keine allgemein anerkannte Systematisierung von Unsicherheiten und Störungen (Schubert, 2013). Insbesondere wissenschaftliche Ansätze beschäftigen sich häufig lediglich mit einer kleinen Auswahl an Störungen und reduzierter Komplexität (Wiers, 1997). Daher konzentrieren sich Forscher entweder auf eine kleine Auswahl an Unsicherheiten und Störungen oder legen ein stark vereinfachtes Modell eines Produktionssystems für ihre Arbeit zugrunde (Schubert, 2013). Die Ablaufplanung realer Produktionssysteme hingegen stellt ein stochastisches und schwer lösbares mathematisches Problem dar, das insbesondere durch fehlende Informationen gekennzeichnet ist, die erforderlich wären, um einen optimalen Plan zu erzeugen und durch Störungen erschwert wird (Yu & Qi, 2004). Unsicherheit wird daher folgt definiert:
„Unsicherheit kennzeichnet die Differenz zwischen erforderlichen und verfügbaren Informationen über den aktuellen und künftigen Systemzustand. Störungen sind ebenfalls Unsicherheiten, da es sich bei Störungen um ungeplante und nicht vorhersagbare Ereignisse handelt, die eine Abweichung des Systemzustands vom geplanten Systemzustand verursachen.“
Schubert (2013) gibt einen Überblick über dynamische und stochastische Modelle von Produktionssystemen und möglicher Unsicherheiten, wobei er auch auf die Unvollständigkeit seines Überblicks hinweist. Patig (2001) entwickelte ein Klassifikationsschema zum Umgang mit Störungen im Rahmen des Störungsmanagements. Einen Überblick zum Umgang mit Störungen im Rahmen der Ablaufplanung geben Aytug et al. (2005). Im Detail analysieren Unsicherheiten und Ansätze zum Umgang mit Unsicherheiten und Störungen beispielsweise Chong, Gay & Sivakumar (2003), Jain & ElMaraghy (1997) und Lee & Malone (2001).
Transfer der Komplexitätsdimensionen auf reale Produktionssysteme
Abbildung 5 veranschaulicht den Transfer der obigen Definitionen anhand beispielhafter Fragestellungen in realen Produktionssystemen. Dargestellt ist ein Teilsystem einer Fertigung mit zwei Werkstätten. Eine Werkstatt als Subsystem beinhaltet wie dargestellt Arbeitsstationen, Puffer und ggf. Aufträge und ist gegenüber anderen Werkstätten durch die Subsystemgrenze abgegrenzt. Der potentielle Materialfluss zwischen den Stationen und Werkstätten ist durch Beziehungen abgebildet. Am oberen Rand sind die zuvor getroffenen Definitionen aufgegriffen und exemplarische Fragestellungen abgebildet. Die Kompliziertheit des betrachteten Systems ist beispielsweise durch die Anzahl der Arbeitsstationen determiniert. Die Dynamik wird z. B. durch die Bearbeitungsgeschwindigkeit der Arbeitsstationen charakterisiert. Die Unsicherheit wiederum hängt u. a. vom Kenntnisstand über die Verfügbarkeit der Arbeitsstationen ab.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 5: Beispiele der Dimensionen der Komplexität in realen Produktionssystemen
2.1.3 Kapazität eines Produktionssystems
Definition
Der Begriff der Kapazität bezeichnet in dieser Arbeit das potentielle Leistungsvermögen einer Kapazitätseinheit in einer definierten Zeitspanne. Eine Kapazitätseinheit kann eine einzelne Arbeitsstation darstellen, einzelne Fertigungsbereiche, z. B. eine Werkstatt, bis hin zu einer Fabrik. Das Leistungsvermögen einer Kapazitätseinheit wird von mehreren Faktoren beeinflusst, den sog. Kapazitätsdeterminanten (Kern, 1962), die in Abbildung 6 veranschaulicht werden. Die primären Kapazitätsdeterminanten sind die Mitarbeiter und die Betriebsmittel (Maschinen). Meist stehen die primären Kapazitätsdeterminanten im Fokus von Maßnahmen der Kapazitätsanpassung, da sie die Kapazität einer Kapazitätseinheit im Wesentlichen definieren. Die sekundären Kapazitätsdeterminanten hingegen weisen kein eigenes Leistungsvermögen auf, können jedoch einen negativen Einfluss auf das Leistungsvermögen einer Kapazitätseinheit ausüben. Beispiele sind die Energieversorgung, Rohmaterial, Hilfs- und Betriebsstoffe sowie Informationen. Daten des PPS-Systems sind in diesem Zusammenhang ebenfalls sekundäre Kapazitätsdeterminanten. Eine falsche oder suboptimale Bearbeitungsreihenfolge von Aufträgen beispielsweise kann die Rüstzeiten erhöhen und dadurch die Kapazität einer Arbeitsstation negativ beeinflussen. (Gottschalk, 2005)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 6: Kapazitätsdeterminanten nach Gottschalk (2005) und Kern (1962)
Kapazitätsanpassung
Wie in der Motivation dieser Arbeit (1.1) dargestellt, führt die zunehmende Marktdynamik auch zu Nachfrageschwankungen hinsichtlich Menge und Mix der nachgefragten Produkte (Abele & Reinhart, 2011). Diese Nachfrageschwankungen führen auch zu Schwankungen der benötigten Kapazität. Die verfügbare Kapazität wird darüber hinaus durch Störungen im Betriebsablauf wie Maschinenausfälle oder Krankheit von Mitarbeitern reduziert (Gottschalk, 2005). Sekundäre Kapazitätsdeterminanten haben ebenfalls einen negativen Einfluss auf die vorhandene Kapazität, beispielsweise im Fall von Lieferverzögerungen von Rohmaterial. Produzierende Unternehmen müssen diese temporären Kapazitätsschwankungen kompensieren, die hinsichtlich des Zeitpunkts des Auftretens, Dauer und Häufigkeit nicht vorhersagbar sind. Die häufigsten Maßnahmen zur Einhaltung der Fertigstellungstermine sind in diesem Kontext die Bereitstellung von Überkapazitäten, d. h. eines „Sicherheitsbestandes“ an Kapazität und die Erhöhung der Kapazitätsflexibilität. Zunehmende Aufmerksamkeit erhalten Maßnahmen der kurzfristigen Kapazitätsanpassung (Lappe, 2015), insbesondere im Zusammenhang mit dem Einsatz in CPPS (Bauer, Hämmerle, Gerlach & Stölin, 2014a; Bauer, Hämmerle, Gerlach & Stölin, 2014b). Vor allem das Vorhalten von Überkapazitäten stellt eine Form von Verschwendung dar, sodass eine nachfrageorientierte Kapazitätsanpassung zahlreiche ökonomische Vorteile bietet. (Nyhuis, Klemke & Wagner, 2010)
Die Kapazitätsanpassung erfolgt stets in einem Spannungsfeld: Einerseits wird zur Kostenminimierung eine hohe Auslastung dieser Kapazitätseinheiten angestrebt (Nyhuis et al., 2010), andererseits verursacht eine hohe Auslastung der Kapazitätseinheiten hohe Durchlaufzeiten und gefährdet die Termintreue (Gottschalk, 2005). Daher müssen Maßnahmen der Kapazitätsanpassung gezielt und auf Grundlage einer erkennbaren Abweichung zwischen Kapazitätsangebot und -bedarf veranlasst werden (Lödding, 2013). Der Kapazitätsbedarf kann mit Hilfe von sog. Kapazitätsprofilen veranschaulicht und errechnet werden (Wiendahl, 2014). Ein exemplarisches Kapazitätsprofil einer Kapazitätseinheit ist in Abbildung 7 veranschaulicht. Darin werden je Periode der Kapazitätsbedarf als auch die (im Mittel) verfügbare Normalkapazität abgebildet. Die Periode kann je nach Anwendungsfall gewählt werden, da die Kapazität einer Kapazitätseinheit als maximale Ausbringung innerhalb einer Periode definiert ist (Schneeweiß, 2002). Das exemplarische Kapazitätsprofil veranschaulicht mehrere Zeiträume mit zu geringer Kapazität als auch einen Zeitraum mit verfügbarer Kapazität. Die Aufgabe der Kapazitätsanpassung ist in diesem Zusammenhang die Kompensation dieser Abweichungen durch geeignete Maßnahmen.
In dieser Arbeit werden wie in Gottschalk (2005) lediglich primäre Kapazitätsdeterminanten betrachtet und die Annahme getroffen, dass sekundäre Kapazitätsdeterminanten keinen negative Einfluss ausüben (vgl. 3). Unter Voraussetzung dieser Annahme können Maßnahmen der Kapazitätsanpassung in Bezug auf die primären Kapazitätsdeterminanten Mitarbeiter und Maschinen nach Gottschalk (2005) in drei Kategorien unterteilt werden:
- Anpassung der Intensität des Produktionsprozesses
- Erhöhung oder Absenkung der Arbeits- bzw. Betriebszeit der Kapazitätseinheit
- Erhöhung oder Absenkung der Anzahl der Mitarbeiter / Maschinen.
Die erste Gruppe an Maßnahmen beeinflusst die Geschwindigkeit des Produktionsprozesses. Beispielsweise kann die Fertigungsdauer durch Rationalisierung der Arbeitsschritte oder zusätzliche Qualifikation der Mitarbeiter beschleunigt werden. Die zweite Gruppe beinhaltet Maßnahmen wie Überstunden oder Zusatzschichten. Auch der Abbau von Überstunden ist beispielsweise mittels Arbeitszeitkonten möglich. Die dritte Gruppe umfasst Maßnahmen wie das Leasing von Maschinen oder den Einsatz von Leiharbeitern. (Gottschalk, 2005)
Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal von Maßnahmen der Kapazitätsanpassung ist die notwendige Reaktionszeit bzw. Vorlaufzeit. Grundmann (2007) unterscheidet Maßnahmen mit langer, mittlerer und kurzer Reaktionszeit. Maßnahmen mit langer Reaktionszeit sind beispielsweise die Anschaffung und Inbetriebnahme neuer Maschinen oder die Einstellung und Schulung neuer Mitarbeiter. Eine mittlere Reaktionszeit erfordert beispielsweise die Veranlassung einer Zusatzschicht, Kurzarbeit oder die Wiederinbetriebnahme von Maschinen. Maßnahmen mit kurzer Reaktionszeit fokussieren nur die Flexibilität der Mitarbeiter. Darunter fallen z. B. Überstunden oder Abbau von Überstunden, der Austausch von Arbeitern innerhalb eines Werks oder die Anstellung und Freisetzung von Leiharbeitern. (Grundmann, 2007)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 7: Beispiel eines Kapazitätsprofils einer Kapazitätseinheit (Wiendahl, 2014)
Diese Maßnahmen stellen nur eine kleine Auswahl dar, die in der Theorie zur Verfügung stehen[1], sind allerdings von besonderer Bedeutung im Rahmen der PPS. Da die Fertigungssteuerung einen eher kurzfristigen Zeithorizont verfolgt, sind für diese Arbeit nur kurzfristige Maßnahmen der Kapazitätsanpassung relevant. Neben den spezifischen Anforderungen jedes Produktionssystems sind auch rechtliche Aspekte zu berücksichtigen. In Deutschland zählen dazu u. a. die Gesetzgebung zur Arbeitszeit, das Betriebsverfassungsgesetz und firmenspezifische Betriebsvereinbarungen z. B. zu Arbeitszeitkonten oder dem Einsatz von Leiharbeitern. Beispielsweise ist gesetzlich vorgeschrieben, dass die tägliche Arbeitszeit 10 Stunden nicht überschreiten darf, und dies auch nur, sofern die durchschnittliche Arbeitszeit binnen 6 Monaten 8 Stunden nicht überschreitet (Richardi, 2014). (Bundesministerium für Justiz, 2013; Grundmann, 2007; Richardi, 2014)
Diese und weitere rechtliche Rahmenbedingungen werden im Rahmen der entwickelten Methode und des Versuchsaufbaus berücksichtigt (Abschnitt 5 ff.). Zunächst wird allerdings im nächsten Abschnitt auf die Definition des Begriffs „Produktionssystem“ und die Entwicklung hin zu Cyber-Physischen Produktionssystemen eingegangen.
2.1.4 (Cyber-Physische) Produktionssysteme
Ein Produktionssystem ist nach Wiendahl (2014 S. 10) im Allgemeinen ein System mit der Gesamtfunktion der „Produktion industrieller Erzeugnisse, die zum Absatz bestimmt sind“. Dabei kann das Produktionssystem ein gesamtes Unternehmen umfassen oder sich auf Subsysteme des Unternehmens beziehen, bis hin zu einer einzelnen Maschine (Dyckhoff & Spengler, 2010). Abbildung 8 zeigt das systemtechnische Modell eines Produktionsunternehmens nach Wiendahl (2014). Das dargestellte Produktionsunternehmen ist ein offenes System, das mit Beschaffungs- und Absatzmärkten in Beziehung steht. Der Begriff des „Produktionssystems“ bezieht sich in der engeren systemtheoretischen Betrachtungsweise nach Wiendahl (2014) auf das Subsystem Produktion, das wiederum in Konstruktion, Arbeitsvorbereitung, Fertigung und Montage unterteilt wird. Im Rahmen dieser Arbeit werden unter dem Begriff des „Produktionssystems“ lediglich die Fertigung und Montage gefasst.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 8: Systemtechnisches Modell eines Produktionsunternehmens
nach Wiendahl (2014)
Das Verständnis und die Ausprägung von Produktionssystemen wandelten sich aufgrund der Fortschritte in der Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) in den letzten Jahrzehnten erheblich. Ende der 1980er Jahre begann die Digitalisierung von Produktion und Logistik in erster Instanz unter dem Begriff des „CIM - Computer Integrated Manufacturing“ (Scheer, 1990). Die Begeisterung mündete 1991 in der Vision des Ubiquituous Computing, der Rechnerallgegenwart (Weiser, 1999). Auf diese Visionen folgte die Ernüchterung im praktischen Einsatz. Die Lean-Production-Welle ab den 1990er Jahren bildete bis in die Mitte 2000er den Gegenpol, indem einfachste Produktionsprinzipien statt komplexer IT-Lösungen zum Paradigma erklärt wurden (Womack, Jones & Ross, 1991). Ab Mitte der 2000er Jahre wurde als erneuter Paradigmenwechsel die Selbststeuerung intelligenter logistischer Objekte untersucht (Freitag, Herzog & Scholz-Reiter, 2004), die z. T. auch als „intelligent/ smart products“ (Meyer, Främling & Holmström, 2009) oder „aware objects“ (Arnold, 2006) in unterschiedlichsten Anwendungsdomänen im Fokus der Forschung standen und durch die Fortschritte in der IKT möglich wurden. Ausgehend von IT-getriebenen Visionen wie dem „Internet der Dinge“ besteht in der Produktionstechnik die Vision der „Fabrik der Dinge“, häufig „smart factory“ genannt (Zuehlke, 2010). Derzeit dominiert der Begriff Industrie 4.0 die Forschungslandschaft, wobei sog. Cyber-Physische Systeme (CPS) die technologische Grundlage bilden (Bauernhansl, Ten Hompel, & Vogel-Heuser, 2014). Bei CPS handelt es sich um logistische Objekte, die eingebettete Systeme enthalten, über das Internet kommunizieren und Internetdienste nutzen können. CPS können ihre Umwelt mit entsprechender Sensorik erfassen, sie mit Hilfe verfügbarer Daten und Dienste auswerten, speichern und mit Hilfe von Aktoren auf die physikalische Welt einwirken (Bauernhansl et al., 2014). Durch die Vernetzung von CPS entstehen je nach Anwendungsdomäne sog. CPPS, Cyber-Physische Produktionssysteme (Reinhart et al., 2013), oder CPLS, Cyber-Physische Logistiksysteme, (Veigt, Lappe, Franke, Thoben, & Freitag, 2015), die in der Lage sind, sich selbst autonom zu organisieren bzw. zu steuern. Cyber-Physische Produktionssysteme (CPPS) unterscheiden sich von konventionellen Produktionssystemen dadurch, dass sie Eigenschaften wie Ad-hoc-Vernetzbarkeit, Selbstkonfiguration und dezentrale, intelligente Datenverarbeitung aufweisen (Broy, 2010; Reinhart et al., 2013). Grundlage eines CPPS bilden vernetzte und digital veredelte („intelligente“) Produkte und Produktionsanlagen (Reinhart et al., 2013). Der Begriff der CPPS entstand im Kontext des Zukunftsprojekts „Industrie 4.0“ der deutschen Bundesregierung, welches als die Summe der Integration verschiedener intelligenter Technologien in die industrielle Produktion und deren Vernetzung gesehen wird (Kagermann, Wahlster & Helbig, 2013). Eine zentrale Charakteristik Cyber-Physischer Produktionssysteme ist dabei die Fähigkeit der Selbststeuerung (Rehder & Schatz, 2014), die in Abschnitt 2.3 erläutert wird. Zuvor werden allerdings die Grundlagen der Produktionsplanung und -steuerung vorgestellt, die zur Einordnung und dem Verständnis der Selbststeuerung erforderlich sind.
2.2 Produktionsplanung und -steuerung (PPS)
2.2.1 Übergeordnete Aufgaben und Ziele der PPS
Die Produktionsplanung erstellt in regelmäßigen Zeitabständen ein Produktionsprogramm für mehrere Planungsperioden im Voraus. Das Produktionsprogramm dient als Entscheidungsbasis zur Material- und Ressourcenbeschaffung. Aus Sicht der Fertigungssteuerung[2] dienen die Planungsergebnisse in Form eines Produktionsplans als Eingangsgröße für die Fertigungssteuerung. Die primäre Aufgabe der Fertigungssteuerung ist die Umsetzung des Produktionsplans trotz möglicher Störungen wie krank gemeldeter Mitarbeiter, Lieferverzögerungen von Material oder Auftragsstornierungen. (Wiendahl, 2014)
In der Literatur existieren einige Modelle der Aufgaben der Produktionsplanung und -steuerung. Das wohl bekannteste Modell des „Material Requirements Planning“ (MRP) nach Vollmann et al. (2005) unterscheidet Aufgaben der PPS je nachdem, ob sie im Front-End, in der Engine oder im Back-End des PPS-Systems verortet sind. Das Front-End stellt die Verknüpfung von PPS-System und der Kundennachfrage dar. Das Ergebnis ist ein Produktionsplan, der von der Engine verarbeitet wird. Diese errechnet die Sekundärbedarfe der Teile und die benötigten Kapazitäten. Die Fertigungssteuerung ist Teil des Back-Ends. Dieses Modell steht in der Tradition von Holstein (1968), der als einer der Ersten für eine Integration dieser Bereiche warb. Maxwell et al. (1983) erweitern das Modell der PPS um Puffer, die zur Kompensation von Störungen genutzt werden und detaillieren die Aufgaben der Werkstattsteuerung in der Phase der Ressourcenallokation. Hopp & Spearman (1996) entwickeln ein umfassendes Planungsgerüst und unterscheiden in eine strategische Planungsebene, eine taktische Planungsebene und eine Steuerungsebene. Der Fokus dieses Modells liegt auf dem Prinzip der Bestandsregelung. Die Aufgaben der Werkstattsteuerung sind demzufolge die Bestandsverfolgung, Durchsatzverfolgung, Arbeitsprognose, Qualitätssicherung, Kapazitätsrückmeldung und das Status-Monitoring. Thürer et al. (2011) befasst sich mit der Workload Control (im Detail siehe 4). In diesem Zusammenhang definiert er die Aufgaben der Auftragsannahme, der Auftragsfreigabe und der Arbeitsverteilung als Teil der Fertigungssteuerung. (Lödding, 2012)
Im deutschsprachigen Raum hat sich das sog. Aachener PPS-Modell weitgehend durchgesetzt, das nachfolgend im Detail erläutert wird. Die Aufgaben der PPS entsprechend des Aachener PPS-Modells werden, wie in Abbildung 9 dargestellt, in Kernaufgaben und Querschnittsaufgaben unterteilt. Die Kernaufgaben umfassen die Produktionsprogrammplanung, die Produktionsbedarfsplanung, die Eigenfertigungsplanung und -steuerung (mit der Ablaufplanung als Unteraufgabe) und die Fremdbezugsplanung und -steuerung. Die Produktionsprogrammplanung erstellt auf Grundlage von Markt- und Vertriebsprognosen ein Produktionsprogramm, das die Primärbedarfe je Produkt und Planungsperiode angibt. Die nachfolgende Produktionsbedarfsplanung errechnet die Sekundärbedarfe aus dem Produktionsprogramm, z. B. erforderliches Material und benötigte Ressourcen. Dazu werden Produktionsaufträge erstellt, grob terminiert und die erforderlichen Kapazitäten errechnet und angepasst. Auf Basis dieser Planungsergebnisse erfolgt i. d. R. die „make-or-buy“-Entscheidung, die festlegt, welche Teile extern beschafft und welche Teile in Eigenfertigung hergestellt werden. Die Fremdvergabe ist beispielsweise in Hochkonjunktur von besonderer Bedeutung, wenn die Nachfrage nicht mit den Kapazitäten der Eigenfertigung erfüllt werden kann. Im Fall der Eigenfertigung legt die Eigenfertigungsplanung Losgrößen fest und führt eine detaillierte Ablaufplanung der Produktionsaufträge sowie die Verfügbarkeitsprüfung benötigter Ressourcen durch. Die Querschnittsaufgaben umfassen das Auftragsmanagement, beispielsweise die Koordination von Produktionsaufträgen über verschiedene Bereiche der Produktion hinweg, das Lagermanagement und das Controlling der PPS. Sowohl die Kernaufgaben als auch die Querschnittsaufgaben erfordern eine funktionierende Datenverwaltung. (Lödding, 2013; Luczak & Eversheim, 1999)
Entsprechend dieses Modells ist die Fertigungssteuerung Teil der Eigenfertigungsplanung und -steuerung. Die Eigenfertigungsplanung wird häufig auch als Ablaufplanung[3] bezeichnet. In diesem Schritt wird ein Produktionsplan erstellt, der i. d. R. exakte Zeitpunkte für Bearbeitungsbeginn oder -ende von Bearbeitungsvorgängen errechnet und damit auch die Reihenfolge der Produktionsaufträge determiniert. Die detaillierte Ressourcenallokation ist ebenfalls Aufgabe der Ablaufplanung. Die Ergebnisse dieser Ablaufplanung können in der Praxis aufgrund von diversen Störungen nicht umgesetzt werden, sodass die Ziele der PPS nicht erreicht werden und die Fertigungssteuerung Planabweichungen kompensieren muss. (Pinedo, 2012)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 9: Aachener Modell der PPS nach Luczak & Eversheim (1999)
Alle diese Modelle legen den Betrachtungsfokus auf die Produktionsplanung. Deren Verständnis zufolge ist die Produktionssteuerung nur für kurzfristige Anpassungen zuständig, um Planabweichungen zu korrigieren (Lödding, 2012). Im Gegensatz dazu wird dieser Arbeit der systematische Ansatz von Lödding (2013) zugrunde gelegt, der die Fertigungssteuerung als Anpassung von Stellgrößen auffasst um mittels Regelgrößen Planwerte einzuhalten und somit eine hohe logistische Leistung zu erzielen. Dieser wird im späteren Abschnitt 2.2.3 im Detail erläutert. Zunächst wird aber auf die Bedeutung von Planabweichungen und deren Auswirkungen auf die Ziele der PPS eingegangen.
Planabweichungen werden in drei Dimensionen erfasst: Termintreue, Reihenfolgegüte und Güte der Anlagenzuordnung (Neuhaus, 2008). Termintreue bewertet dabei die Übereinstimmung zwischen geplanten und realisierten Fertigstellungsterminen. Ein häufig gewähltes Bewertungskriterium ist in diesem Zusammenhang die Abweichung von der geplanten Bearbeitungsstartzeit (Subramaniam, Raheja & Reddy, 2005). Im Gegensatz zur Liefertreue ist die Termintreue eine interne Kennzahl (Kuyumku, 2013). Die Reihenfolgegüte bewertet die Abweichung von geplanter und realisierter Auftragsreihenfolge (Meißner, 2009). Eine hohe Reihenfolgegüte hat tendenziell auch einen positiven Einfluss auf die Termintreue (Kuyumku, 2013). Die Güte der Anlagenzuordnung erfasst den Anteil der Produktionsaufträge an den gesamten Produktionsaufträgen, die auf der geplanten Arbeitsstation bearbeitet wurden. Abweichungen der Anlagenzuordnung erschweren nicht nur die Koordination von Aufträgen, sondern insbesondere auch unterstützende Tätigkeiten wie die Materialbereitstellung, die im Vorfeld oft nicht exakt geplant werden (Curry & Peters, 2005). (Schukraft, Grundstein, Freitag & Scholz-Reiter, 2015)
Planabweichungen beeinflussen folglich die Zielerreichung der PPS, deren übergeordnete Ziele nach Wiendahl (2014) in Abbildung 10 dargestellt werden. Die Ziele werden unterteilt in Ziele der Logistikleistung und Ziele der Logistikkosten. Die Logistikleistung als marktorientierte Zielkategorie umfasst Lieferzeit und Liefertreue. Dabei wird eine kurze Lieferzeit durch kurze Durchlaufzeiten erreicht, während eine hohe Liefertreue durch hohe interne Termintreue erreicht wird. Im Gegensatz zur Logistikleistung stellt die Kategorie der Logistikkosten die unternehmensbezogene Zielkategorie dar. Sie umfasst sowohl die Prozesskosten als auch die Kosten des gebundenen Kapitals. Geringe Bestände reduzieren die Kapitalkosten, während Prozesskosten durch hohe Auslastung der vorhandenen Kapazitäten gesenkt werden können. Die Wechselwirkungen zwischen diesen Zielen erfordern eine Abwägung um ein ausreichendes Maß an Wirtschaftlichkeit zu erreichen. Beispielsweise führen höhere Bestände im Allgemeinen sowohl zu höheren Durchlaufzeiten, aber auch zu höherer Auslastung. Dieser immanente Zielkonflikt ist bekannt als „Dilemma der Ablaufplanung“(Gutenberg, 1976) oder als „Dilemma der Fertigungssteuerung“ (Wiendahl, 2014), da der Zielkonflikt sowohl in der Ablaufplanung als auch in der Fertigungssteuerung besteht. (Wiendahl, 2014)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 10: Übergeordnete Ziele der PPS nach Wiendahl (2014)
Jedes Unternehmen muss sich innerhalb dieses Dilemmas positionieren. Zu dieser Entscheidung gibt es Ansätze wie die logistischen Kennlinien, die diese Positionierungsentscheidung unterstützen (Nyhuis & Wiendahl, 2008). Ein Trend, der seit den 1970er Jahren anhält, ist die steigende Bedeutung der marktorientierten Ziele aufgrund des Wandels von Verkäufermarkten zu Käufermarkten (Wiendahl, 2014).
Das Verhalten von Produktionssystemen und der daraus resultierende Grad der Erreichung logistischer Ziele kann anhand des Trichter-Modells, das in Abbildung 11 dargestellt ist, veranschaulicht werden. Das Trichter-Modell basiert auf der Analogie einer Kapazitätseinheit einer Fertigung (z. B. einer Arbeitsstation) zu einem Trichter, da sie mit den Werten (Arbeits-)Inhalt, Zugangsrate und Ausgangsrate beschrieben werden kann. Eine Kapazitätseinheit in diesem Sinne kann eine Arbeitsstation sein, eine Werkstatt aus mehreren Arbeitsstationen oder eine gesamte Fertigung. In der Abbildung ist ein Prozess von der Beschaffung bis zur Lieferung als eine Verkettung von Trichtern dargestellt, die verschiedene Kapazitätseinheiten darstellen. (Bechte, 1980; Wiendahl, 2014)
Darüber hinaus werden die nachfolgend in Abschnitt 2.2.1 näher erläuterten Aufgaben der Fertigungssteuerung in der Terminologie des Modells dargestellt: Die Auftragsfreigabe bestimmt für den ersten Trichter zu Beginn der Fertigung, wann dieser Trichter geöffnet oder geschlossen ist. Die Kapazitätssteuerung beeinflusst die Ausgangsrate, während die Reihenfolgebildung die Reihenfolge der Aufträge bestimmt.
Das dargestellte Durchlaufdiagramm wird errechnet, indem Zu- und Abgang eines Trichters gemessen und kumulativ über die Zeit mit dem entsprechenden Bestand geplottet wird. Der Bestand resultiert aus dem horizontalen Abstand zwischen Zugangsverlauf und Abgangsverlauf. Der horizontale Abstand definiert die Reichweite, d. h. die Zeitspanne, die der Auftrag voraussichtlich in der betrachteten Kapazitätseinheit verbleibt.
Nyhuis &Wiendahl (2003) verdichten die Werte des Durchlaufdiagramms zu Produktionskennlinien. Diese bilden das zeitliche Verhalten der Ziele der Auslastung, Durchlaufzeit, relative Verspätung und Termintreue als Funktion des Bestandes ab. Eine der bedeutendsten Erkenntnisse dieses Modells ist, dass die Leistung einer Kapazitätseinheit nicht mehr weiter gesteigert werden kann sobald ein bestimmter Bestand überschritten wird. In diesem Fall steigt die Reichweite mit höherem Bestand dennoch kontinuierlich an. Produktionskennlinien ermöglichen darüber hinaus die Identifikation des optimalen Betriebspunktes, d. h. der optimalen Bestandshöhe. Allerdings basieren Produktionskennlinien auf Mittelwertbildung und Linearisierung. Produktionskennlinien leisten zwar einen Beitrag zum Verständnis des Verhaltens eines Produktionssystems[4], ermöglichen allerdings nur Schlussfolgerungen zur grundlegenden Positionierung. (Freitag, 2005; Nyhuis & Wiendahl, 2003)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 11: Trichter-Modell, Durchlaufdiagramm und Produktionskennlinie nach Bechte (1980) und Wiendahl (2014)
Während Methoden der Fertigungssteuerung sich in der Regel an den klassischen Zielen der PPS orientieren (Abbildung 10), sind insbesondere in der Ablaufplanung weitere Ziele bei der Erstellung der Produktionspläne von Bedeutung. In dynamischen Produktionsumgebungen beispielsweise sind hohe Stabilität (d. h. geringe Plannervosität) und hohe Robustheit gegenüber Störungen wichtige Ziele (Vieira et al., 2003). Auch die Flexibilität eines Ablaufplans gegenüber dynamischen Einflüssen ist ein mögliches Ziel (Branke & Mattfeld, 2005). Allerdings sind diese Ziele in der Literatur nicht einheitlich definiert (Schubert, 2013). Zum besseren Verständnis werden die Ansätze der Produktionsplanung im nächsten Abschnitt genauer erläutert.
2.2.2 Klassifikation von Methoden der Produktionsplanung
Methoden der Produktionsplanung zielen in der Regel auf die Optimierung einer definierten Zielfunktion, welche einzelne oder mehrere übergeordnete Ziele in Form einzelner Kennzahlen einschließt (Jungwattanakita, Reodechaa, Chaovalitwongsea & Werner, 2009; Kim & Bobrowski, 1994). Methoden der Produktionsplanung können hinsichtlich ihrer Strategie in prädikative, reaktive, prädikativ-reaktive sowie proaktive Methoden unterteilt werden (van Brackel, 2009). Prädikative Methoden erstellen einen Produktionsplan vor Beginn des Produktionsprozesses, meist unter Annahme eines deterministischen Produktionssystems (Scholz-Reiter & Scharke, 2000). Im Gegensatz dazu verzichten reaktive Methoden auf die Erstellung eines Produktionsplans und steuern den Prozess lediglich, meist mit Hilfe lokaler Prioritätsregeln (O’Donovan, Uzsoy & McKay, 1999; Sabuncuoglu & Karabuk, 1999). Diese Methoden adressieren ebenfalls definierte Ziele der PPS, allerdings im Allgemeinen in Form einer stark vereinfachten Zielfunktion im Vergleich zu konventionellen Methoden der Ablaufplanung, um rasch auf auftretende Störungen reagieren zu können (Scholz-Reiter et al., 2010; Wang & Lin, 2009; Xiang & Lee, 2008). Prädikativ-reaktive Methoden erstellen einen initialen Produktionsplan, der in nachfolgenden Iterationen an auftretende Störungen angepasst wird (O’Donovan et al., 1999). Proaktive Methoden versuchen Umplanungen durch die Erstellung sog. robuster Produktionspläne zu vermeiden, indem Störungen antizipiert oder gezielt Wartezeiten eingefügt werden (Szelke & Monostori, 1999).
Neben dem Kriterium der Strategie können Methoden der Produktionsplanung auch hinsichtlich des Lösungsansatzes des zugrundeliegenden mathematischen Problems differenziert werden (Aardal, van Hoesel, Lenstra & Stougie, 1997):
- Optimale Lösungsansätze garantieren, dass eine vordefinierte Zielfunktion optimal erfüllt, d. h. ein mathematisches globales Extremum gefunden wird. Beispiele hierzu sind Ansätze der dynamischen Programmierung, der vollständigen Enumeration oder der Verzweigen-und-Begrenzen-Suche (engl. „branch and bound“).
- Im Gegensatz dazu versuchen Näherungslösungen keine optimale Lösung zu finden, sondern eine Lösung, die sich innerhalb einer definierten Abweichungsgrenze der optimalen Lösung annähert.
- Heuristische Lösungen garantieren ebenfalls keine optimale Lösung, erzielen aber ein häufig akzeptables Ergebnis in einer als angemessen betrachteten Zeitspanne. Die meisten dieser Heuristiken wurden gezielt auf definierte Problemstellungen entwickelt und nutzen daher problemspezifisches Wissen um den möglichen Lösungsraum einzugrenzen. Im Gegensatz zu diesen problemspezifischen Heuristiken arbeiten Metaheuristiken (z. B. Tabu-Suche, Genetische Algorithmen, Simulierte Abkühlung) ohne problemspezifisches Wissen. Diese nutzen existierende Heuristiken oder Prioritätsregeln zur Errechnung einer Initiallösung bzw. einer Initialpopulation in Kombination mit entsprechenden Verbesserungsprozeduren. (Allahverdi, Ng, Cheng & Kovalyov, 2008; Barnes, Laguna & Glover, 1995; Jungwattanakita et al., 2009)
Bei der Auswahl eines grundlegenden Lösungsansatzes ist eine Abwägung zwischen den Vorteilen einer besseren Lösung des Problems der Produktionsplanung und den Nachteilen eines höheren Rechenaufwandes erforderlich. Reale Produktionsplanungsprobleme sind in der Regel NP-schwere mathematische Probleme, sodass optimale Lösungsansätze nicht anwendbar sind und mehrheitlich Heuristiken angewandt werden. Van Brackel (2009) betont, dass in der Praxis das Finden einer gültigen Lösung, d. h. einer Lösung die sämtliche Nebenbedingungen und Restriktionen erfüllt, wichtiger ist als das Finden einer optimalen Lösung. (van Brackel, 2009)
Insbesondere da Produktionssysteme in der Realität dynamischen und stochastischen Einflüssen und Störungen unterliegen (siehe 2.1), beispielsweise ändernder Kundennachfrage oder Krankmeldungen von Mitarbeitern, erfordern Planabweichungen neben der Kompensation durch die Fertigungssteuerung auch Änderungen am Produktionsplan. Hierzu gibt es Methoden der Neuplanung, die nach Art des erstellten Produktionsplans und des Korrekturmechanismus unterschieden werden, wie in Abbildung 12 dargestellt ist.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 12: Methoden der Neuplanung nach Vieira, Herrmann & Lin (2003)
Während nominale Pläne Produktionspläne im üblichen Sinne darstellen, versuchen robuste Pläne mit kleinen Anpassungen des nominalen Produktionsplans den negativen Einfluss von Störungen zu reduzieren. Plankorrigierende Methoden werden in drei Arten unterschieden. Eine „Right-shift“-Neuplanung[5] verschiebt Aufträge in die Zukunft, um die Ausführbarkeit eines Produktionsplans herzustellen. Eine partielle Neuplanung zielt darauf ab, den initialen Plan möglichst beizubehalten und möglichst geringe Umfänge neu zu planen. Die vollständige Neuplanung ist die rechenaufwändigste Form der Plankorrektur, bei der der gesamte Auftragsumfang neu geplant wird (Vieira et al., 2003). Ein Nachteil jeder Form der Neuplanung in der Praxis ist die sinkende Akzeptanz der Planungsmethode durch die Mitarbeiter, je häufiger Neuplanungen durchgeführt werden (van Brackel, 2009).
Die Auswahl einer geeigneten Planungsmethode für ein Praxisproblem ist eine große Herausforderung, da einzelne Studien kaum vergleichbar sind, sodass es nahezu unmöglich ist, eine fundierte Empfehlung abzuleiten (Schubert, 2013). Hierfür sind mehrere Gründe verantwortlich:
- Produktionsplanung ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld, an dem Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen seit Jahren eher isoliert voneinander forschten (Schubert, 2013; Wiers, 1997).
- Insbesondere für dynamische (stochastische) Produktionsumgebungen (vgl. 2.4.1) fehlen allgemein akzeptierte Benchmark-Probleme, die detaillierte und reproduzierbare Vergleiche ermöglichen würden (Schubert, 2013). Überblicksstudien vergleichen daher durchgeführte Untersuchungen hinsichtlich der Berücksichtigung einzelner Aspekte, beispielsweise von Rüstzeiten, z. B. Allahverdi et al. (2008), Ouelhadj & Petrovic, (2009) oder Pickardt & Branke, (2012).
- Jede Studie basiert auf einer grundlegenden Problemformulierung, Annahmen und gewählten Modellparametern, die einen signifikanten Einfluss auf die Leistung der untersuchten Methoden ausüben. Die Annahmen betreffen u. a. die Eigenschaften des Produktionssystems, dessen Komplexität und dynamische Einflüsse, davon insbesondere Störungen (vgl. Abschnitt 2.1 ff.). Daher können Studien, die identische Methoden mit leicht veränderten Modellparametern untersuchen, selbst gegensätzliche Ergebnisse hervorbringen. (Schubert, 2013)
- Ein Kriterium zur Auswahl von Planungsmethoden ist der Grad an Unsicherheit hinsichtlich zukünftiger Ereignisse. Im Allgemeinen werden prädikative Methoden bei geringer Unsicherheit, prädikativ-reaktive Methoden für mittlere Unsicherheit und reaktive Methoden für hohe Unsicherheit empfohlen (Byeon, Wu & Storer, 1998; Gan & Wirth, 2005; Lawrence & Sewell, 1997; Sabuncuoglu & Karabuk, 1999). Letzt genannter hoher Grad an Unsicherheit ist der häufigste Fall in der industriellen Praxis (Schubert, 2013). Das Problem dieses Kriteriums ist allerdings, dass in der Literatur keine Quantifizierung des Grads an Unsicherheit erfolgt, die eine eindeutige Kategorisierung ermöglichen würde, sondern lediglich qualitative Einflussfaktoren genannt werden (Schubert, 2013).
Ein weiteres Problem der Unternehmenspraxis sind die Abweichungen zwischen den Daten des IT-Systems zur PPS und der Realität, die u. a. durch Störungen verursacht werden. Konventionelle Systeme der Maschinen- und Betriebsdatenerfassung (MDE/BDE) erheben diese Abweichungen nicht automatisiert oder geben diese nicht unverzüglich an das PPS-System weiter, sodass die Informationen auf deren Grundlage das PPS-System den Produktionsplan erstellt häufig bereits veraltet ist noch bevor mit der Planausführung begonnen wurde (van Brackel, 2009). Die Entwicklung in Richtung Cyber-Physischer Systeme (im Detail siehe Abschnitt 2.1.2) versucht u. a. die Vernetzung zwischen operativer Fertigung und IT zu verbessern (Thoben et al., 2014) um dieses Problem zu lösen. Gleichzeitig steigt auch die Bedeutung der Fertigungssteuerung, deren Methoden im folgenden Abschnitt erläutert werden.
2.2.3 Klassifikation von Methoden der Fertigungssteuerung
Abbildung 13 veranschaulicht das Modell der Fertigungssteuerung nach Lödding (2013), das u. a. eine Klassifikation von Methoden der Fertigungssteuerung ermöglicht. Die wichtigsten dargestellten Elemente sind die Aufgaben der Fertigungssteuerung, die Stellgrößen, die Regelgrößen sowie die Zielgrößen. Die Verbindungen zwischen den Elementen stellen kausale Zusammenhänge her. Aufgaben determinieren die Stellgrößen entsprechend der angegebenen Wirkrichtung. Regelgrößen resultieren aus der Abweichung zweier Stellgrößen. Die Zielgrößen schließlich beeinflussen den Grad der Zielerreichung. Demzufolge beeinflussen die vier Aufgaben - Auftragserzeugung, Auftragsfreigabe, Reihenfolgebildung und Kapazitätssteuerung - direkt den Grad der Zielerreichung. Die letzten drei davon sind wie dargestellt der Fertigungssteuerung zuzuordnen, während die Auftragserzeugung Teil der Produktionsplanung ist, da Planvorgaben als Eingangswerte der Fertigungssteuerung festgelegt werden. (Lödding, 2013)
Die Aufgabe der Auftragsfreigabe legt den Zeitpunkt fest, ab dem die Fertigung autorisiert ist mit der Bearbeitung eines Auftrags zu beginnen. Anders als Lödding (2013) ordnet z. B. Kurbel (2005) die Auftragsfreigabe als Schnittstellenaufgabe zwischen Produktionsplanung und Fertigungssteuerung ein. Wiendahl (1996) ordnete die Auftragsfreigabe noch der Produktionsplanung zu. Im dargestellten Modell ist die Auftragsfreigabe Aufgabe der Fertigungssteuerung. Die Kapazitätssteuerung beeinflusst die Abgangsrate der Produktion, indem u. a. die Arbeitszeit der Arbeiter und Maschinen, d. h. der Arbeitsstationen, festgelegt wird. Die Aufgabe der Reihenfolgebildung legt die Reihenfolge der Bearbeitung der Aufträge an den Stationen (und damit auch die Zuordnung zu Stationen) fest. Konkrete Methoden zur Erfüllung dieser Aufgaben werden detailliert in Abschnitt 4 hinsichtlich der grundlegenden Problemstellung diskutiert. Stellgrößen des Modells sind Zu- und Abgang von Aufträgen sowie die Reihenfolge der Abarbeitung. Der Zugang bezeichnet den Arbeitsinhalt der Produktionsaufträge mit ihren entsprechenden Bearbeitungszeiten. Der Abgang repräsentiert entsprechend den Arbeitsinhalt bearbeiteter Aufträge. Die Reihenfolge bezeichnet die Bearbeitungsabfolge der Aufträge in der Fertigung. Regelgrößen resultieren aus der Abweichung zweier Stellgrößen. Die Startabweichung resultiert beispielsweise aus einer verzögerten Auftragsfreigabe, die eine Differenz aus Plan-Zugang und Ist-Zugang verursacht. Der Bestand der Fertigung wird durch Ist-Zugang und Ist-Abgang der Fertigung determiniert. Durchlaufzeit und Auslastung werden durch die Höhe des Bestandes beeinflusst. Ein Rückstand stellt eine Abweichung zwischen Ist-Abgang und Plan-Abgang dar. Die Reihenfolgeabweichung resultiert aus einer Abweichung zwischen Plan-Reihenfolge und Ist-Reihenfolge. Diese Regelgrößen beeinflussen wiederum die Erreichung der Zielgrößen. Das Modell greift die vier wesentlichen Zielgrößen der PPS (2.2.1) auf: Bestand, Auslastung, Durchlaufzeit und Termintreue. Der Bestand umfasst Aufträge, die bereits zur Fertigung freigegeben, aber noch nicht fertig gestellt wurden. Die Auslastung ist abhängig von diesem Bestand und definiert als Verhältnis von mittlerer zu maximaler Abgangsrate. Die Durchlaufzeit ist definiert als Zeitspanne zwischen Auftragsfreigabe und Fertigstellung. Die Termintreue misst den Anteil der Aufträge, die innerhalb einer definierten Toleranz um einen vorgegebenen Termin fertiggestellt werden. (Lödding, 2013)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 13: Modell der Fertigungssteuerung nach Lödding (2013)
Das Modell unterstützt das Verständnis der theoretischen Zusammenhänge von Aufgaben der Produktionsplanung und der Fertigungssteuerung sowie deren Auswirkungen auf Zielgrößen der PPS. In der betrieblichen Praxis hingegen gibt es Umsetzungslücken, auf die im nächsten Abschnitt eingegangen wird.
2.2.4 Klassifikation von PPS-Systemen in der Praxis
Die Umsetzung von Methoden der Produktionsplanung und Fertigungssteuerung erfolgt rechnergestützt und eingebunden in betriebliche Informationssysteme. Der Begriff „PPS-System“ bezeichnet dabei i. d. R. die eingesetzte Software zur Planung und Steuerung der Fertigung. Bornhäuser (2009) klassifiziert diese PPS-Systeme in der Praxis hinsichtlich ihres Reifegrads (Abbildung 14), der u. a. die Anwendbarkeit von Methoden der Produktionsplanung und Fertigungssteuerung begrenzt:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 14: Entwicklungsstufen im Betrieb von Planungs- und Steuerungssystemen (Bornhäuser, 2009)
1) PPS-Systeme der Reifegradstufe 1 führen faktisch keine vorausschauende Planung durch. Sie verlassen sich in hohem Maße auf die Fähigkeiten der ausführenden Mitarbeiter, die großen Freiraum genießen, aber auch ein hohes Maß an Verantwortung tragen. Die sofortige Auftragsfreigabe eines Kundenauftrags ist typisch für PPS- Systeme dieser Reifegradstufe.
2) Eine Grobplanung, beispielsweise der Termine wesentlicher Meilensteine der Fertigung, ist charakteristisch für PPS-Systeme der Reifegradstufe 2. Auch hier bestehen große Freiräume in der Durchführung der Fertigung.
3) Die mittelwertbasierte Planung auf Reifegradstufe 3 berücksichtigt zumindest statische Engpässe (z. B. den materialflusstechnischen Engpass einer Lackieranlage). Auf längere Sicht werden Kapazitätsangebote und -bedarfe zur Übereinstimmung gebracht, sodass es „im Mittel passt“, vgl. Abbildung 14b.
4) Auf Reifegradstufe 4 werden komplexere Planungsheuristiken eingesetzt, die auch dynamisch wechselnde Engpässe berücksichtigen, sodass auch temporäre Überlast oder Unterlast berücksichtigt wird.
5) Der höchste Reifegrad beinhaltet die Anwendung von Optimierungsalgorithmen im Rahmen der Planung, beispielsweise in Form des Einsatzes von Advanced Planning and Scheduling-Software. (Bornhäuser, 2009)
Die Anwendbarkeit der Methoden der PPS ist in der Praxis folglich durch den Reifegrad der PPS-Software begrenzt. Während Abbildung 14 den Schluss nahelegt, dass ein hoher Reifegrad erstrebenswert ist, besteht jedoch in der Praxis der Konflikt zwischen den Vorteilen durch die Anwendung verbesserter Methoden der PPS und den Nachteilen des Aufwandes der Pflege des PPS-Systems, insb. der zugrundeliegenden Daten, wie Abbildung 15 veranschaulicht.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 15: Skizze des Spannungsfeldes zwischen dem Aufwand für Daten-/ Systempflege und manuellem Planungs- und Steuerungsaufwand nach Bornhäuser (2009)
In der Regel erfordern komplexere Verfahren der PPS zahleiche Stamm- und Bewegungsdaten, die die Datenkomplexität erhöhen, wodurch der Aufwand für die Daten- bzw. Systempflege ansteigt (Wiendahl, Wiendahl & Cieminski, 2005). Die Ursachen hierfür sind technische Defizite (z. B. mangelnde Vernetzung der IT-Systeme) und organisatorische Defizite wie die mangelnde Rückführung von Statusinformationen (Bornhäuser, 2009). Eine Position auf der Y-Achse der obigen Abbildung repräsentiert eine vollständig manuelle Auftragsabwicklung (Reifegrad 1), während eine Position am rechten Rand eine vollständig automatisierte Auftragsabwicklung (Reifegrad 5) repräsentiert (Bornhäuser, 2009). Die Positionierung der später entwickelten Methode innerhalb dieses Spannungsfeldes wird im Rahmen der Formulierung des Grundproblems (Abschnitt 3) vorgenommen.
Einschränkend ist allerdings anzumerken, dass Abbildung 15 keine Schlussfolgerung der Geeignetheit eines Reifegrades bezüglich einer Problemstellung zulässt. Je geringer die Reifegradstufe ist, desto mehr Entscheidungsregeln haben die Mitarbeiter der Produktionsplanung und -steuerung „in ihren Köpfen“, die nicht von der PPS-Software abgebildet werden oder auch abgebildet werden kann. McKay et al. (1995) geben einige Beispiele der Unternehmenspraxis, die schwer oder kaum informationstechnisch abzubilden sind:
- Ein Produkttyp, der über einen langen Zeitraum (z. B. 6 Monate) nicht gefertigt wurde, sollte in einem besonderen Anlauf mit geringer Fertigungsmenge einige Wochen im Voraus gestartet werden, damit die Fertigung zum notwendigen Zeitpunkt voll leistungsfähig ist. Ansonsten drohen Kapazitätsverluste durch veraltete Dokumentationen, veränderte Maschinen oder andere ggf. untrainierte Maschinenbediener.
- Falls eine Maschine nach einer Reparatur oder einem Upgrade wieder in Betrieb genommen wird, sollte nach dem Anlauf das komplexeste Produkt mit kleiner Stückzahl eingeplant werden, da der zuständige Techniker dann noch vor Ort ist.
- Die Leistung einiger Maschinenbediener bei der Fertigung eines bestimmten Produkts ist sehr schlecht. Als Folge daraus sollte dieses Produkt gerade in Stresssituationen keinen von diesen Mitarbeitern bedienten Arbeitsstationen zugewiesen werden. (McKay et al., 1995)
Daher gibt es in einem Unternehmen verschiedene Ablaufpläne: politisch korrekte Ablaufpläne, private Ablaufpläne, idealisierte Ablaufpläne und optimistische Ablaufpläne, die den Produktionsmitarbeitern kommuniziert werden (McKay et al., 1995). Die Fortschritte der IKT im Rahmen der Entwicklung zu Cyber-Physischen Systemen ermöglichen eine zunehmende Softwareunterstützung und insbesondere die stärkere informationstechnische Vernetzung (Thoben et al., 2014). Eine Eingriffsmöglichkeit der für die PPS zuständigen Mitarbeiter sollte allerdings dennoch gegeben sein, wie obige Beispiele zeigen.
Da im Titel dieser Arbeit der Begriff der Fertigungsregelung anstelle der Fertigungssteuerung sowie der Begriff der Integration verwendet wird, dient das folgende Kapitel der Begriffsklärung dieser beiden Begriffe im Kontext der PPS.
2.2.5 Regelung und Integration im Kontext der PPS
Regelung im Kontext der PPS
In Abbildung 16 wird die Grundstruktur eines Regelkreises veranschaulicht. Die dargestellte Regelstrecke repräsentiert ein dynamisches System (d. h. ein System, dessen Zustand sich im Zeitverlauf ändert), das von außen durch eine Stellgröße beeinflusst wird und dessen Verhalten anhand einer Regelgröße gemessen werden kann. Das Ziel der Regelung wird in Form einer Führungsgröße vorgegeben. Die Regeleinrichtung bzw. der Regler muss auf Grundlage einer gemessenen Regelabweichung zwischen Regelgröße und Führungsgröße eine Stellgröße derart vorgeben, dass das Regelungsziel erreicht wird. Der wesentliche Unterschied der Regelung zur Steuerung ist die Rückkopplung der gemessenen Regelgröße, der Vergleich mit der Führungsgröße und die Reaktion auf eine gemessene Abweichung durch eine Veränderung der Stellgröße. (Lunze, 2013)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 16: Grundstruktur eines Regelkreises
(Lunze, 2013)
Wiendahl (2014) zieht einen Analogieschluss aus dieser Grundstruktur eines Regelkreises in Form eines Regelkreises der PPS, der in Abbildung 17 dargestellt ist. Die Parallele zur Führungsgröße ist eine Zielvereinbarung hinsichtlich der strategischen Positionierung und Kundenbedarfen. Die PPS stellt die Regeleinrichtung dar, die Plan-Werte für die Durchführung vorgibt. Aus der Betriebsdatenerfassung werden die Ist-Werte gewonnen und in Form von Kennzahlen aufbereitet, die wiederum die Grundlage für die Regelung durch die PPS bilden. Störungen und Änderungen, die eine Regelung erfordern, können in der PPS selbst als auch in der Durchführung auftreten. (Wiendahl, 2014)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 17: Regelkreis der PPS
nach Wiendahl (2014)
Entsprechend dieses Verständnisses ist auch die in dieser Arbeit entwickelte Methode eine Regelung, worauf in Abschnitt 5 im Detail eingegangen wird[6]. Zunächst konkretisiert der nächste Abschnitt den Begriff der Integration im Kontext der PPS.
Integration im Kontext der PPS
Im Allgemeinen bezeichnet der Begriff der Integration die „Einbeziehung, Eingliederung in ein größeres Ganzes“ (Duden Online, 2015). Abhängig von der Definition dieses „größeren Ganzen“ wird der Begriff der Integration im Kontext der PPS auch in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet.
Zahlreiche Arbeiten verwenden den Begriff der Integration im Rahmen des Konzepts des Computer Integrated Manufacturing (CIM), das auf die Computerunterstützung aller mit der Fertigung zusammenhängender Bereiche abzielt und die Verknüpfung vorher getrennter Softwarelösungen beinhaltet. Braun (1990) beispielsweise beschäftigt sich mit Konzepten zur Kopplung von CAD und PPS durch die Integration dieser Systeme. Marciniak (1997) untersuchte die Koordinationsmöglichkeiten zur Integration der rechnergestützten PPS in ein CIM-System im Rahmen eines prozessorientierten Ansatzes. Höppner (2003) befasste sich mit der Integration von PPS- und CAQ-Systemen. Integration bedeutet in diesen Arbeiten im Kern eine Integration zuvor gekapselter Softwaresysteme.
Im Bereich der Produktionsplanung findet der Begriff der Integration ebenfalls häufige Verwendung, insbesondere in der betriebswissenschaftlichen Literatur. Dabei wird der Begriff im Sinne einer integrierten hierarchischen Produktionsplanung (IHPP) verwendet, die im Rahmen der Festlegung mittelfristiger Kapazitäten die Kapazitätsnutzung in der kurzfristigen Produktionsplanung berücksichtigt (Schneeweiß, 2003). Hauth (1998) gibt u. a. einen Überblick über integrierte Planungsansätze in der Prozessfertigung und verwendet den Begriff der Integration im Sinne der Berücksichtigung kurzfristiger Planungsaspekte in der mittelfristigen Produktionsplanung. Kleindienst (2004) befasst sich mit dem Problem der Aggregation und Allokation in hierarchisch integrierten Planungssystemen. Gebhard (2009) erweitert die Betrachtungsweise zusätzlich um den Faktor der Unsicherheit (vgl. 2.1.2). Integration bedeutet in diesen Arbeiten im Wesentlichen die Berücksichtigung der Auswirkungen von Entscheidungen im Rahmen eines hierarchischen, d. h. sukzessiven Produktionsplanungsprozesses auf die nachfolgenden Planungsstufen und ggf. vice versa.
Die integrierte Betrachtung von Produktionsplanung und -steuerung ist ebenfalls seit Jahrzehnten Gegenstand der Forschung, vgl. Dinner (1971), war allerdings in den letzten Jahren weniger im Fokus der Forschungsarbeiten. Söhner (1995) beispielsweise befasst sich mit der hierarchisch integrierten Produktionsplanung und bezieht die Werkstattsteuerung darin mit ein. Steuerung definiert der Autor allerdings als Ausführung des Produktionsplans. Daran erkennt man das Grundproblem der Vergleichbarkeit in diesem Themenfeld, da unterschiedliche Definitionen von Produktionsplanung und Fertigungssteuerung existieren, die aus der unterschiedlichen Sprache von Betriebswirten und Ingenieuren, die sich mit diesen Themen befassen, resultieren (Adam, 1987). Auch der Begriff der Integration ist wie veranschaulicht nicht eindeutig. Maßow & Haskamp (1996) fokussieren eine anwendungsfallspezifische Integration der PPS, wobei die informationstechnische Integration im Sinne des CIM-Gedankens im Vordergrund steht. Warnken (1998) entwickelt ein Softwarewerkzeug zur integrierten PPS. Auch der Softwarehersteller SAP verwendet den Begriff der Integration in Zusammenhang mit dem Produkt SAP R/3 seit 1997, das die PPS „integriert“ in einem Softwarewerkzeug unterstützt (SAP, 1997). Der Begriff der Integration fokussiert in diesem Kontext die Werkzeug- bzw. Softwareunterstützung von Aufgaben der PPS in einem Werkzeug bzw. einem Tool.
Im Bereich der Fertigungssteuerung wird der Begriff der „integrierten Fertigungssteuerung“ (engl. integrated manufacturing control) kaum verwendet. Neben der Integration in IT-Systeme bezieht sich Integration in diesem Zusammenhang auch auf die integrierte Betrachtung der Fertigungssteuerung und weiterer Aufgaben der Logistik. Wie beispielsweise bei Drießel (2011) wir häufig die Fertigungs- und innerbetriebliche Transportsteuerung integriert als eine Problemstellung betrachtet.
„Integriert“ bedeutet im Kontext dieser Arbeit, dass eine Methode entwickelt wird, die alle Aufgaben der Fertigungssteuerung adressiert, statt sich nur isoliert auf einzelne Aufgaben zu fokussieren. Dies ist auch eine elementare Forderung von Lödding (2013). Dieser konzentriert sich auf die Konfiguration der Fertigungssteuerung, d. h. der anwendungsfallspezifischen Auswahl und Kombination von Verfahren der Fertigungssteuerung, die jeweils einzelne Aufgaben der Fertigungssteuerung isoliert adressieren. Lödding (2013) betont dabei die Notwendigkeit einer Fertigungssteuerung, die die Aufgaben aufeinander abgestimmt adressiert. Die im Rahmen dieser Arbeit entwickelte Methode (vgl. Abschnitt 5) folgt dieser Forderung und wird hinsichtlich der logistischen Leistung mit Kombinationen anderer (isolierter) Fertigungsteuerungsverfahren verglichen (Abschnitt 0). Diese Vergleiche erfolgen zwischen konventionellen Verfahren und Verfahren der Selbststeuerung, deren Grundlagen nachfolgend erläutert werden.
2.3 Selbststeuerung Cyber-Physischer Produktionssysteme
2.3.1 Einordnung der Selbststeuerung aus Sicht der Systemtheorie
Die ursprüngliche Idee der Selbststeuerung ist verwandt mit dem Bereich der Selbstorganisation (Windt & Hülsmann, 2007). Diese beschreibt generell die spontane und autonom erzeugte Emergenz neuer Strukturen in dynamischen Systemen, die durch die Kooperation von Teilsystemen und/ oder Elementen verursacht werden (Holland, 2002; Wycisk, 2009). Das Aggregationsniveau der gewählten Betrachtungsperspektive determiniert den Grad der Selbstorganisation und ermöglicht die Unterscheidung der Begrifflichkeiten. Die Taxonomie der Begrifflichkeiten wird in Abbildung 18 dargestellt.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 18: Taxonomie des Selbstorganisationsbegriffs nach Wycisk (2009)
Das umfassendste Konzept ist das Selbstmanagement, das Selbstorganisation und Selbststeuerung umfasst und ein vollständig autonomes Systemverhalten beinhaltet. Das System trifft beispielsweise Entscheidungen hinsichtlich Ziele, Planung, Organisation und Einsatz von Ressourcen eigenständig (Manz & Sims, 1980). Das Kernziel ist dabei das Überleben, d. h. die Fortexistenz des Systems. Subsysteme benötigen dazu die Fähigkeit der Selbstführung, beispielsweise zur eigenständigen Vorbereitung, Findung und Ausführung von Entscheidungen. Auf Elementebene wird der Begriff der Selbstverwirklichung verwendet, der stark mit den individuellen Motiven der Systemelemente, d. h. der Motivation der Mitarbeiter verbunden ist. (Wycisk, 2009)
Die Selbstorganisation auf Systemebene ist durch die Fähigkeit der Selbstgestaltung charakterisiert. Demzufolge ist die Struktur eines Systems das Ergebnis von Anpassungsprozessen auf Subsystemebene. Daher ist die Charakteristik der Selbstorganisation auf Subsystemebene die Anpassungsfähigkeit gegenüber externen Einflüssen. Um diese Anpassungen durchzuführen, müssen Systemelemente autonom handeln (können). (Holland, 2002; Wycisk, 2009)
Selbststeuerung ist charakterisiert durch die dezentrale Entscheidungsfähigkeit auf Systemebene (Windt & Hülsmann, 2007). Dies wird ermöglicht durch die partielle Selbstregelung auf Subsystemebene, sodass Entscheidungen innerhalb definierter Grenzen autonom getroffen und ausgeführt werden. Systemelemente müssen daher in der Lage sein, definierte Probleme eigenständig zu lösen. (Wycisk, 2009)
Die ausführliche Definition der Selbststeuerung erfolgt darauf aufbauend im nächsten Abschnitt.
2.3.2 Verständnis und Definition von Selbststeuerung
Windt & Hülsmann (2007) definieren Selbststeuerung als Prozesse der dezentralen Entscheidungsfindung in heterarchischen Strukturen. Voraussetzung sind miteinander interagierende Elemente in nicht-deterministischen Systemen, die die Fähigkeit und Möglichkeit besitzen, Entscheidungen eigenständig zu treffen und auszuführen.
Daraus leiten sich fünf wesentliche Charakteristika der Selbststeuerung ab (Windt & Hülsmann, 2007):
- Dezentrale Entscheidungsfindung
- Autonomie
- Interaktion
- Heterarchie
- Nicht-Determinismus
Dezentrale Entscheidungsfindung beinhaltet die Delegation der Entscheidungsbefugnis auf Subsysteme und Systemelemente, denen es gestattet und ermöglicht wird, Entscheidungen eigenständig zu treffen und auszuführen. Autonomie bzw. dessen Grad ist definiert als der Umfang der eigenständigen Entscheidungsfindung. Interaktion ist charakterisiert als Kommunikation zwischen Elementen, Subsystemen oder Systemen, die eine entsprechende Reaktion hervorruft (Staehle, 1999). Die Charakteristik der Heterarchie deutet ein hohes Maß an Unabhängigkeit zwischen einzelnen Systemelementen und der zentralen Koordinationseinheit an. Nicht-Determinismus bedeutet, dass das Systemverhalten nicht über einen längeren Zeitraum vorhergesagt werden kann, selbst wenn alle Systemzustände bekannt sind (Flämig, 1998). (Windt & Hülsmann, 2007; Wycisk, 2009)
In der Literatur gibt es zahlreiche Ansätze, die den Grundgedanken der Selbststeuerung oder einzelne Charakteristika auf Produktionssysteme übertragen.
2.3.3 Transfer von Charakteristika der Selbststeuerung auf Produktionssysteme
Einzelne Charakteristika der Selbststeuerung werden auch in anderen Konzepten der Organisation eines Produktionssystems aufgegriffen. Dabei sind insbesondere Analogien zu Systemen der Natur häufig zu finden, wie folgender Überblick veranschaulicht:
- Das Bionic Manufacturing Konzept betrachtet Produktionssysteme als einen Organismus, der auf Einflüsse der Umgebung des Systems durch Anpassungen z. B. des Produkts reagiert. Das Produkt selbst wird ebenfalls als Organismus betrachtet, der im Wettbewerb mit anderen Produkten/ Organismen steht. Ein Produkt beinhaltet genetische Informationen, die wiederum Selbstorganisation und die Evolution des Produkts zu einem verbesserten Produkt ermöglichen. (Tharumarajah, 1996; Ueda, Hatono, Fujii & Vaario, 2000)
- Das Genetic Manufacturing Konzept zieht ebenfalls Analogieschlüsse zwischen lebenden Organismen und Produktionssystemen. Der Fokus liegt dabei auf der Analogie zwischen der DNS eines lebenden Organismus und Produktinformationen. Auch entsprechend dieses Konzepts agieren Produkte autonom auf Basis ihrer DNS. (Ueda, 1993)
- Systeme des Holonic Manufacturing bestehen aus autonomen, kooperativen und intelligenten Holonen. Holonen stellen sowohl reale Systemelemente (z. B. Arbeitsstationen, Produkte) als auch virtuelle Elemente (z. B. Kundenaufträge) dar. Holone können miteinander interagieren und besitzen einen definierten Grad an Autonomie. (Winkler & Mey, 1994)
- Ein Multi-Agenten-System besteht aus einer Gemeinschaft miteinander interagierender Agenten. Agenten sind in der Lage autonom Entscheidungen zu treffen und ggf. auch auszuführen. Die Begriffe Agenten und Holone werden aufgrund ihrer Ähnlichkeit oft synonym verwendet, obwohl konzeptionelle Unterschiede bestehen. Beispielsweise können Holone Bestandteile anderer Holone sein, während Agenten nicht aus Agenten bestehen können. (Di Marzo Serugendo, Gleizes & Karageorgos, 2005; Monostori et al., 2006)
- Das Random Manufacturing Konzept basiert auf der Idee, den Produktmix nicht bereits vor Produktionsbeginn festzulegen, sondern erst während des Produktionsprozesses. Dadurch soll die Flexibilität und die Fähigkeit zur Reaktion auf Störungen erhöht werden. (Iwata & Onosato, 1994)
- Die Fraktale Fabrik wird als ein offenes System definiert, das autonome und hinsichtlich ihrer Zielstellung ähnliche Elemente („Fraktale“) beinhaltet. Die dynamische Struktur der Fraktale bildet eine Analogie zu einem lebenden Organismus, da auch hier Anpassungen an Umwelteinflüsse erfolgen. (Warnecke, 1993a)
- Cyber-Physische Produktionssysteme (CPPS) basieren auf dem Grundgedanken der Vernetzung intelligenter Produkte und Produktionsanlagen in der industriellen Produktion und des Einsatzes intelligenter Technologien (Kagermann et al., 2013). Dieser Ansatz stellt ein übergeordnetes Konzept dar, das einzelne Ansätze wie Multi-Agenten-Systeme beinhalten kann.
Jedes dieser Konzepte erfüllt die zuvor definierten Charakteristika der Selbststeuerung zu einem gewissen Grad, wie Abbildung 19 veranschaulicht. Der Überblick bewertet diese Konzepte hinsichtlich der Erfüllung der Charakteristika der Selbststeuerung in Anlehnung an Grote & Feldhusen (2014).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 19: Organisationskonzepte der Produktion in Anlehnung an Grote & Feldhusen (2014)
Der Überblick veranschaulicht, dass zahlreiche Organisationskonzepte der Produktion gewisse Charakteristika der Selbststeuerung aufweisen, die Umsetzung der Selbststeuerung allerdings erst durch CPPS möglich ist. Bei der Umsetzung von Methoden der Selbststeuerung sind allerdings nicht nur deren Potentiale, sondern auch deren Grenzen zu berücksichtigen, die im nächsten Abschnitt diskutiert werden.
2.3.4 Potentiale und Grenzen der Selbststeuerung
Die Potentiale und Grenzen der Selbststeuerung werden in Abbildung 20 zusammengefasst. Dieser Abbildung sind drei grundlegende Thesen inhärent, die Philipp (2014) erstellte und validierte:
- Bei geringer Komplexität eines Produktionssystems ist der Grad der Zielerreichung nicht-selbststeuernder Methoden höher oder mindestens genauso hoch wie bei Methoden der Selbststeuerung. Dieser Zusammenhang basiert darauf, dass konventionelle Planungsmethoden bei geringer Komplexität gute oder optimale Lösungen in kurzer Zeit finden. (Philipp, 2014)
- Der Grad der logistischen Zielerreichung sinkt bei geringem Selbststeuerungsgrad mit zunehmender Komplexität (Philipp, 2014).
- Der Grad der logistischen Zielerreichung steigt mit zunehmendem Selbststeuerungsgrad für eine definierte Komplexität des Produktionssystems, erreicht dann ein Maximum und sinkt daraufhin wieder. Dieser Effekt kann damit erklärt werden, dass Methoden der Selbststeuerung bei hoher Komplexität die Zielerreichung verbessern, allerdings bei einem höheren Grad an Selbststeuerung die Gefahr eines chaotischen Systemverhaltens zunimmt. (Philipp, 2014)
Philipp (2014) leitet aus seinen Untersuchungen mehrere Schlussfolgerungen ab. Unter anderem folgert er, dass aufgrund der Vielfalt realer Produktionssysteme weitere spezifische Selbststeuerungsmethoden entwickelt werden müssen und deren Integration in PPS-Systeme zu evaluieren ist. Darüber hinaus benennt er die technologische Umsetzung in der industriellen Praxis als Hürde. (Philipp, 2014)
Diese technologischen Anforderungen werden im nächsten Abschnitt erläutert.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 20: Potentiale und Grenzen der Selbststeuerung nach Philipp, Böse & Windt (2006)
2.3.5 Technologische Anforderungen der Selbststeuerung
Die technologischen Anforderungen an intelligente Objekte als Elemente in selbststeuernden Produktionssystemen sind in Abbildung 21 nach Schuldt (2010) dargestellt. Ein Objekt muss eindeutig identifizierbar und lokalisierbar sein („Tracking & Tracing“). Dazu können Technologien wie Barcode, die Radiofrequenz-Identifikation (RFID) oder auch Ortungsverfahren mit Hilfe globaler Navigationssatellitensysteme (GNSS) im Außenbereich und Drahtlosnetzwerke (WLAN) im Innenbereich verwendet werden. Um Informationen über das Objekt, mögliche Inhalte und seine Umgebung zu erhalten, ist eine Sensoreinheit erforderlich. Die Kommunikationseinheit ermöglicht die Interaktion mit anderen intelligenten Objekten bzw. Entitäten. Die Datenverarbeitungseinheit erfüllt die Aufgaben der Koordination und Datenintegration. (Schuldt, 2010)
Diese Definition ist nahezu deckungsgleich mit der eines Cyber-Physischen Systems (CPS) nach Lee & Seshia (2011) und dem Verständnis von Broy (2010). Lediglich der Aktor eines CPS ist in obiger Darstellung nicht abgebildet, der entsprechend der Umwelteinflüsse Aktionen veranlasst, die wiederum die Umwelt beeinflussen (Lee & Seshia, 2011). Technologische Anforderungen werden im Rahmen dieser Arbeit nur insofern beachtet, dass die resultierenden Anforderungen an die Methodenentwicklung berücksichtigt werden.
Eine Anforderung resultiert aus der Rechenkapazität verteilter Intelligenz auf kleinen Objekten wie Produkten oder Paletten. Die Rechen- und Speicherkapazitäten sind in diesem Fall begrenzt, insbesondere falls der Energieverbrauch relevant wird. Bei einer aktiven Energieversorgung auf Basis von Batterien/ Akkumulatoren ist die Ressource „Energie“ eine kritische Ressource, sodass der Rechenaufwand in Summe gering gehalten werden muss. Folglich muss die Kommunikation und Interaktion auf ein wirtschaftliches Maß reduziert werden, da Koordination und Kommunikation den höchsten Energieverbrauch verursachen (Akyildiz, Su, Sankarasubramaniam & Cayirci, 2002). Alternativ muss entweder der Grad der Selbststeuerung reduziert werden, indem eine stationäre Energieversorgung mit Anschluss an das Stromnetz verwendet wird oder andere Technologien wie passive RFID-Tags eingesetzt werden. Eine weitere Anforderung betrifft die Komplexität der Interaktion und Entscheidungsfindung. Mit höherem Grad an Selbststeuerung steigt auch der Koordinationsaufwand. Dies erhöht nicht nur den Rechenaufwand und den Energieverbrauch, sondern auch den Aufwand zur Integration neuer Objekte, beispielsweise im Fall einer Fabrikerweiterung, und dadurch die Komplexität. Aus ökonomischer Perspektive sind die Kosten für die erforderlichen technischen Komponenten zu berücksichtigen. Diese erfordern eine Abwägung zwischen dem Nutzen für eine stärkere Dezentralisierung der Intelligenz und den Kosten für zusätzliche technologische Komponenten. Als Maxime gilt, dass der Grad der Dezentralisierung der Intelligenz lediglich so dezentral wie notwendig gewählt werden sollte. (Schuldt, 2010)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 21: Technologiefelder der Selbststeuerung nach Schuldt (2010)
Die ersten Umsetzungen bestätigen diese Maxime. Engelhardt & Reinhart (2012) beispielsweise implementieren ein RFID-System zur Produktdatenerfassung und aufbauenden Steuerung der Fertigung von Automobilsitzen. Lappe et al. (2014) beschränken sich auf die Einführung eines Barcode-Systems zur Logistiksteuerung in der Fertigung.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die technologischen Anforderungen bei der Entwicklung von Methoden der Selbststeuerung berücksichtigt werden müssen. Vor allem muss der Kommunikations- und Koordinationsaufwand auf ein effizientes Maß reduziert werden und der Grad der Dezentralisierung der Intelligenz lediglich so dezentral wie notwendig gewählt werden.
Abschließend zum Thema der Produktionssysteme befasst sich der nächste Abschnitt mit unterschiedlichen Betrachtungsweisen von Produktionssystemen, anhand derer die grundlegende Auswahl von potentiell geeigneten Verfahren der PPS getroffen wird.
2.4 Klassifikation von Produktionssystemen zur Auswahl von Methoden der PPS
Methoden der Produktionsplanung und -steuerung werden häufig gezielt für die Anwendung in Produktionssystemen mit spezifischen Charakteristika entwickelt. Daher müssen diese Charakteristika in Betracht gezogen werden, um die Eignung einer Methode der PPS zu bestimmen. Aufgrund der hohen Komplexität von Produktionssystemen gibt es zahlreiche Charakteristika und Ansätze zur Klassifikation von Produktionssystemen anhand dieser. Beispiele hierzu werden in den nächsten Abschnitten gegeben und dahin gehend unterschieden, ob sie primär dem Feld der Produktionsplanung (2.4.1) oder dem Feld der Fertigungssteuerung (2.4.2) entstammen. Diese Unterscheidung ist notwendig, da die Betrachtungsweisen durch die Vielzahl der Forschungsdisziplinen, die sich mit den Themen befassen, eine hohe Varianz aufweisen.
2.4.1 Klassifikation von Produktionssystemen zur Auswahl von Methoden der Produktionsplanung
Die einflussreichste Forschungsdisziplin zur Produktionsplanung ist die Operations Research (OR), welche eine mathematische Problemformulierung der Ablaufplanung zugrunde legt (Law & Kelton, 2000). Nahezu allen Ansätzen der OR gemein ist die Abstraktion der Elemente eines Produktionssystems auf (Arbeits-)Stationen und Aufträge („jobs“). Eine Arbeitsstation ist die Kapazitätseinheit (vgl. Definition in 2.1.3), an der Aufträge bearbeitet werden. Der Begriff Arbeitsstation kann je nach Spezifikation eine einzelne Maschine mit dem Maschinenbediener bis hin zu ganzen Fabriken bezeichnen. Aufträge sind Produktionsaufträge, die identisch mit Kundenaufträgen sind oder daraus abgeleitet werden. Grundlage jedes Ansatzes ist eine Problemformulierung und diverse Annahmen zum Produktionssystem. (Schubert, 2013)
Der weitest verbreitete Ansatz zur Klassifikation von Produktionssystemen stammt von Graham et al. (1979). Sie unterscheiden hinsichtlich der Maschinenumgebung (α), der Auftragscharakteristika (β) sowie den Optimalitätskriterien der Zielfunktion (γ). Diese (α, β, γ)-Notation ermöglicht die initiale Beschreibung eines Produktionssystems und die Bildung von Problemklassen. Zur Auswahl eines geeigneten Algorithmus zur Produktionsplanung sind allerdings weitere Angaben in Form sog. Annahmen erforderlich. Annahmen beziehen sich beispielweise darauf, ob mehrere Aufträge gleichzeitig auf einer Maschine bearbeitet werden können, ob die Bearbeitung unterbrochen und wiederaufgenommen werden kann, oder inwieweit Restriktionen in der Reihenfolge der Abarbeitung der Aufträge bestehen (Schubert, 2013). Einen Überblick über häufig getroffene Annahmen geben u. a. Baker (1974), Blackstone, Phillips und Hogg (1982), Haupt (1989), Blazewicz et al. (1996), Pinedo (2012) und Schubert (2013). Conway, Maxwell & Miller (2003) erweitern die (α, β, γ)-Notation um den Auftragszugang und entwickelten eine (A/B/C/D)-Notation. Der Parameter A beschreibt den Auftragszugangsprozess, B die Anzahl und Art der Maschinen in der Fertigung, C spezifiziert den Materialfluss und D beschreibt die Bewertungskriterien der Zielfunktion. Ein weiteres Differenzierungskriterium unterscheidet die Maschinenanordnung zwischen Einzelmaschinen, identischen parallelen Maschinen und nicht-identischen parallelen Maschinen (Quadt & Kuhn, 2007). Anhand der Anordnung und des resultierenden Materialflusses werden die Grundprobleme u. a. in Flow-Shop, flexible Flow-Shop, Job-Shop, Flexible-shop und Open-Shop unterschieden (Domschke, Scholl & Voß, 1997; Pinedo, 2012). Die Charakteristika dieser Grundprobleme werden in Abbildung 22 erläutert. Ein weiteres Kriterium unterscheidet, wie oft ein Auftrag auf derselben Station bzw. in derselben Werkstatt bearbeitet wird (Baker, 1974; French, 1982; Seelbach, 1975). Ein weiteres wichtiges Kriterium ist die Unterscheidung zwischen statischen und dynamischen Problemen. Bei statischen Problemen wird die Annahme getroffen, dass sämtliche zu planende Aufträge zu Beginn einer Planungsperiode bekannt sind, während bei dynamischen Problemen - die eher der Realität entsprechen - Aufträge noch nach Beginn der Planungsperiode eintreffen (Baker, 1974; French, 1982; Seelbach, 1975). Weitere wichtige Kriterien betreffen Ankunftszeitpunkte der Aufträge, Bearbeitungs- und Rüstzeiten sowie Störungen. Sofern all diese Daten zu Beginn der Planungsperiode bekannt sind, handelt es sich um ein deterministisches Problem (French, 1982). Anderenfalls, beispielsweise falls eine Wahrscheinlichkeitsverteilung zugrunde liegt, handelt es sich um ein stochastisches Problem (French, 1982).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 22: Abgrenzung der Grundprobleme der Produktionsplanung
Im Gegensatz zu diesen Ansätzen werden zur Auswahl von Methoden der Fertigungssteuerung andere Klassifikationen verwendet.
2.4.2 Klassifikation von Produktionssystemen zur Auswahl von Methoden der Fertigungssteuerung
Wiendahl (1996) erarbeitete ein morphologisches Klassifikationsschema mit zwölf qualitativen Kriterien, anhand derer Unternehmen im Kontext der PPS charakterisiert werden können. Dieses Schema wird von Lödding (2013) aufgegriffen und zur Auswahl von Methoden der Fertigungssteuerung anhand von sechs Kriterien angepasst. Schönsleben (2007) erstellte mehrere qualitative morphologische Schemata u. a. für die Charakterisierung der Ressourcen in Produktion in Logistik, für den Produktions- und Beschaffungsauftrag als auch die Produktstruktur. Kern (1990) differenziert nach seinem Klassifikationsschema hinsichtlich Produkt-/Programmtypen, Potentialfaktoren und Prozesstypen. Günther & Tempelmeier (2009) unterscheiden in Kernkategorien des Produktionsprogramms, der Prozesse und der Input-Faktoren. Weit verbreitet ist das Klassifikationsschema nach Luczak & Eversheim (1999), das in Abbildung 23 dargestellt ist. Es greift die Klassifikation von Fertigungsart und Fertigungsprinzip nach Hackstein (1989) auf, um davon abhängig auf die Eignung von Methoden der PPS zu schließen. Das Fertigungsprinzip beschreibt dabei die Anordnung der Maschinen, während die Fertigungsart die Wiederholhäufigkeit der gefertigten Produkte beschreibt. Dargestellt sind außerdem die Einsatzgebiete der Selbststeuerung nach Philipp (2014).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 23: Klassifikation von Produktionssystemen zur Auswahl von Methoden der PPS (Luczak & Eversheim, 1999; Philipp, 2014)
Die meisten der vorgestellten Ansätze unterscheiden jedoch nicht strikt zwischen Methoden der Produktionsplanung und Methoden der Fertigungssteuerung. So ist beispielsweise die oben dargestellte CONWIP-Methode (siehe 4.1) eine Fertigungssteuerungsmethode, während MRP2 einen übergeordneten Planungsansatz darstellt, innerhalb dessen verschiedenste Methoden der Ablaufplanung realisiert werden können.
Die Einsatzgebiete der Selbststeuerung wurden in Abbildung 23 angedeutet. Hinsichtlich der Klassifikation von Produktionssystemen zur Auswahl einer Methode der Selbststeuerung wurde ein Framework von Scholz-Reiter et al. (2007) erarbeitet. Dieses unterscheidet die Eignung von Methoden der Selbststeuerung für ein Produktionssystem anhand von zwei Kriterien - der Anzahl der Fertigungsstufen und des Vorhandenseins von Rüstzeiten.
Während die zuvor vorgestellten Ansätze eine Entscheidungshilfe bieten, systematisiert Zülch (1990) den Entscheidungsprozess und gliedert ihn in die in Abbildung 24 veranschaulichten fünf Schritte. Er orientiert sich zunächst an der Fertigungsstruktur, die identisch zum Fertigungsprinzip nach Luczak & Eversheim (1999) ist. Die Fertigungsstruktur beinhaltet ein bestimmtes Ablaufprinzip, beispielsweise die Fließfertigung. Abhängig vom Ablaufprinzip kann ein Steuerungsprinzip gewählt werden, das wiederum die Auswahl der Steuerungsstrategie einschränkt. Letzter Auswahlschritt ist dann die Umsetzung in einer konkreten Fertigungssteuerungsmethode.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 24: Auswahlprozess von Methoden der Fertigungssteuerung (Zülch, 1990)
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Ansätze aus dem Bereich der Fertigungssteuerung eher qualitativen und pragmatischen Charakter haben, während die Ansätze der Produktionsplanung (2.4.1) eine offenkundige Nähe zum mathematisch fundierten OR aufweisen.
Als Methode zum Vergleich der Ansätze der Fertigungssteuerung wird in dieser Arbeit die Modellierung und Simulation herangezogen. Daher werden nachfolgend die Grundlagen dazu erläutert.
2.5 Modellierung und Simulation zur Bewertung von Verfahren der PPS
2.5.1 Klassifikation der Simulationsmodelle von Produktionssystemen
Die Simulation ist allgemein definiert als „Nachbildung eines Systems mit seinen dynamischen Prozessen in einem experimentierfähigen Modell, um zu Erkenntnissen zu gelangen, die auf die Wirklichkeit übertragbar sind“ (VDI, 2013). Das zugrundeliegende Modell ist selbst ein System, das eine zweckorientierte, abstrakte Abbildung darstellt und durch die Merkmale der Abbildung, Verkürzung und Pragmatismus gekennzeichnet ist (Krallmann, 2007; Stachowiak, 1973). Abbildung bedeutet, dass das Modell ein Original repräsentiert, welches selbst ein Modell sein kann. Das Merkmal der Verkürzung deutet an, dass nicht alle Merkmale des Originals abgebildet werden, sondern nur die Merkmale, die zum Erkenntnisgewinn relevant erscheinen. Pragmatismus schließlich bedeutet, dass ein Modell seinem Original nicht per se zugeordnet ist, sondern alle Originale mit identischen abgebildeten Merkmalen repräsentiert. (Krallmann, 2007; Stachowiak, 1973)
Da reale Produktionssysteme durch ihre hohe Komplexität gekennzeichnet sind, ist ein hoher Grad an Verkürzung erforderlich, um die Leistung von Verfahren der PPS mit vertretbarem Aufwand zu untersuchen und dabei übertragbare Erkenntnisse zu gewinnen (Schmidt, 2001). Die Modellierung erfolgt in einem Spannungsfeld zwischen einem hohen Detaillierungsgrad, der die Untersuchung von Detailfragen ermöglicht und einem niedrigen Detaillierungsgrad, der eher das Finden allgemein gültiger Erkenntnisse ermöglicht. Insbesondere in der Forschung im Rahmen der Produktionsplanung werden häufig sehr stark verkürzte, d. h. vereinfachte Modelle zugrunde gelegt (Schubert, 2013).
Die nachfolgende Abbildung 25 bildet eine Klassifikation der Ansätze zur Modellierung von Produktionssystemen in Form eines morphologischen Kastens ab. Die Merkmalsausprägungen der in dieser Arbeit nachfolgend verwendeten Simulationsmodelle werden darin farblich hervorgehoben. Das Wesen des morphologischen Kastens besteht darin, dass eine beliebige Kombination von Merkmalsausprägungen möglich ist. Diese Merkmalsausprägungen werden nachfolgend zunächst beschrieben[7] und hinsichtlich der Eignung zum Einsatz im Rahmen dieser Arbeit bewertet, um einen Modellierungsansatz für diese Arbeit zu spezifizieren. Anschließend werden allgemeine Anforderungen an die Modellierung definiert, die bei dieser zu beachten sind.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 25: Klassifikation der Ansätze zur Modellierung von Produktionssystemen (de Beer, 2008; Page, 1991; Zeigler, 1984)
Die Art der Untersuchungsmethode unterscheidet, ob die Untersuchung vollständig analytisch durch das Lösen von Gleichungssystemen erfolgt, numerisch durch die Berechnung einer Näherungslösung oder durch Simulation. Da es sich bei Produktionssystemen um Systeme hoher Komplexität handelt, ist eine analytische Untersuchungsmethode fast immer ausgeschlossen. Aufgrund der Vielzahl der Untersuchungsszenarien ist die Simulation für diese Arbeit die geeignetste Untersuchungsmethode. (de Beer, 2008)
Der Verwendungszweck wird aus den Modellierungszielen abgeleitet. Beschreibende Modelle bilden den aktuellen Systemzustand ab, während Prognosemodelle aus Vergangenheitsdaten Schlüsse auf das zukünftige Verhalten ziehen. Erklärungsmodelle zielen auf die Bestimmung der kausalen Beziehungen und darauf basierend einer Erklärung des Systemverhaltens. (de Beer, 2008) Da in der vorliegenden Arbeit die Leistungsfähigkeit einer Methode untersucht werden soll, ist der Verwendungszweck der Modelle in dieser Arbeit die Erklärung relevanter Kausalzusammenhänge.
Hinsichtlich der Art des Abbildungsmediums wird zunächst zwischen materiellen (d. h. physischen) und immateriellen Modellen unterschieden. Materielle Modelle als gegenständliche Abbildungen scheiden zur Untersuchung von Verfahren der PPS aus, da der Nachbau einer Fertigung erforderlich wäre. Eine informale immaterielle Abbildung kann in verbaler oder graphisch-deskriptiver Form erfolgen, beispielsweise als Skizze. Formale immaterielle Abbildungen umfassen rein mathematische und graphisch-mathematische Abbildungen. (de Beer, 2008; Page, 1991) Da in der vorliegenden Arbeit kein vollständiges Gleichungssystem aufgestellt und gelöst werden kann, wird ein graphisch-mathematisches Abbildungsmedium gewählt, das ausreichend formalisiert ist (vgl. 5.2) um reproduziert zu werden.
Die Eintrittsart von Ereignissen wurde bereits im Rahmen der Grundlagen der Produktionsplanung eingeführt, da auch Methoden der Produktionsplanung anhand dessen differenziert werden (vgl. 2.2.2). Dabei wird unterschieden, ob mindestens eine Variable des Systems dynamisches, nicht vorhersagbares Verhalten aufweist. (de Beer, 2008) In Abgrenzung zu Arbeiten im Bereich der Produktionsplanung, in denen häufig deterministische Modelle verwendet werden (vgl. 2.2.2), werden dieser Arbeit vorwiegend stochastische Modelle zugrunde gelegt und deterministische Modelle lediglich zu Vergleichszwecken herangezogen.
Darüber hinaus können Modelle hinsichtlich ihres Zeitverhaltens in statische und dynamische Modelle unterschieden werden. Während statische Modelle ein konstantes Verhalten im Zeitverlauf aufzeigen, ist dieses bei dynamischen Modellen veränderlich. Weiter wird hinsichtlich der Systemzusammenhänge differenziert, ob die Zusammenhänge zwischen Systemelementen ausschließlich durch lineare oder auch nichtlineare Zusammenhänge charakterisiert sind. Die Stabilität des Modells bezieht sich ebenfalls auf das Zeitverhalten. Dabei ist ein instabiles Verhalten (d. h. unbeschränkter Parameterverlauf) per Definition nur bei dynamischen Modellen möglich. Statische Modelle sind stets sowohl stabil als auch stationär, d. h. nach einer potentiellen Einschwingphase stellt sich ein stabiles Systemverhalten ein. Transiente Modelle können im Gegensatz dazu auch nach der Einschwingphase ein instabiles Verhalten aufweisen. (de Beer, 2008; Forrester, 1961) Da in dieser Arbeit ein Modell eines realen Produktionssystems verwendet wird, handelt es sich definitiv um ein dynamisches Modell und dem Verhalten nach mit hoher Wahrscheinlichkeit auch um ein instabiles und transientes Modell, was allerdings erst ex-post nach Analyse der Simulation festgestellt werden kann.
Das letzte Merkmal unterscheidet Modelle hinsichtlich der Art der Zustandsübergänge. Kontinuierliche Modelle sind dadurch gekennzeichnet, dass die Veränderung von Variablen im Zeitverlauf als Funktion der Zeit beschrieben werden kann. Im Gegensatz dazu zeigen Modelle mit diskreten Zustandsübergängen sprunghafte Variablenänderungen zu diskreten Zeitpunkten aufgrund von Ereignissen auf („ereignis-diskret“). Hybride Modelle versuchen die Vorteile beider Ansätze zu kombinieren, indem sowohl kontinuierliche als auch diskrete Zustandsübergänge in diesen Modellen stattfinden. (de Beer, 2008) Zur Modellierung von Produktionssystemen und insbesondere Verfahren der PPS sind ereignisdiskrete Modelle am besten geeignet, da Verfahren der PPS darin exakt der Realität entsprechend implementiert werden können.
Nach der Eingrenzung der Art der erstellenden Modelle werden im nächsten Abschnitt die Grundsätze ordnungsmäßiger Modellierung (GoM) vorgestellt, die beim Prozess der Modellierung zu beachten sind.
2.5.2 Grundsätze ordnungsmäßiger Modellierung
Die Grundsätze ordnungsmäßiger Modellierung stellen Richtlinien der Modellierung dar und gehen auf Becker, Rosemann & Schütte (1995) zurück:
- Richtigkeit: Das Modell muss den zu untersuchenden Sachverhalt korrekt wiedergeben (semantische Richtigkeit). Die Richtigkeit des Modells kann zwar nicht bewiesen werden, die Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit allerdings durch den Einsatz von Methoden der Verifikation und Validierung (V&V) deutlich erhöht werden (siehe 2.5.3). Für diese Arbeit wird die Software „Technomatix Plant Simulation“ eingesetzt, die bereits zahlreiche V&V-Methoden unterstützt.
- Relevanz: Die Modellierung sollte sich auf die Sachverhalte beschränken, die für den Modellierungszweck relevant sind. Dieser geht aus der Problemstellung (Abschnitt 3) hervor und wird in den Versuchsplänen (6.1) konkretisiert.
- Wirtschaftlichkeit: Die Modellierung muss ein angemessenes Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen. Um diesem Grundsatz gerecht zu werden wird die Simulation als einzig wirtschaftliche Untersuchungsmethode für die Problemstellung herangezogen. Dieser Grundsatz hat auch zur Konsequenz, dass die Modellkomplexität ausreichend sein muss, um die Erkenntnisse auf reale Produktionssysteme transferieren zu können, aber auch möglichst vereinfacht, um unnötigen Modellierungsaufwand zu sparen.
- Systematischer Aufbau: Ein systematischer Aufbau dient der Komplexitätsreduktion in Form von unterschiedlichen Sichten auf einen Sachverhalt. Diesem Grundsatz wird durch eine systematische Programmierung als auch objekt-orientierter Programmierung gerecht, die von der eingesetzten Software unterstützt wird. Auch strukturierte Versuchspläne tragen zur Einhaltung dieses Grundsatzes bei (6.1).
- Klarheit: Ein Modell muss von der Zielgruppe verstanden werden können, um einen Nutzen zu bieten. Diesem Grundsatz wird in dieser Arbeit durch die strukturierte Programmierung und die Software „Plant Simulation“ gerecht, die neben der graphischen Benutzeroberfläche auch eine Echtzeit-Visualisierung der Materialflüsse unterstützt.
- Vergleichbarkeit: Das Modell muss mit anderen Modellen vergleichbar sein, auch mit solchen, die mit anderen Modellierungstechniken erstellt wurden. Die Konsequenz für diese Arbeit ist, dass das zugrunde gelegte Modell detailliert genug beschrieben werden muss um reproduziert werden zu können. Dies beinhaltet auch die Anwendung und Umsetzung von Planungs- und Steuerungsverfahren. (Becker et al., 1995)
Diese Grundsätze werden als Anforderungen bei der Modellierung berücksichtigt. Zusätzlich werden im Modellierungsprozess Methoden der Modellverifikation und -validierung angewandt, die nachfolgend erläutert werden.
2.5.3 Modellverifikation und -validierung
Die Modellverifikation und -validierung sind elementare Aufgaben zur Vermeidung von Fehlern bei der Erstellung von Simulationsmodellen von Produktionssystemen. Rabe, Spiekermann & Wenzel (2008) definieren Verifikation als Untersuchung, ob ein Modell korrekt von einer Beschreibungsform in eine andere transformiert wurde. In einfachen Worten ausgedrückt wird überprüft, ob ein Modell wahr und korrekt, d. h. fehlerfrei ist. Im Gegensatz stellt die Validierung eine kontinuierliche Überprüfung dar, ob das Modellverhalten das Verhalten des Produktionssystems ausreichend präzise abbildet. Im Falle eines generischen Simulationsszenarios (Abschnitt 0) bedeutet die Validierung die Überprüfung der Übereinstimmung mit dem theoretischen Versuchsplan.
Abbildung 26 veranschaulicht die V&V-Techniken, die für diese Arbeit anwendbar sind und in welchen Modellen sie angewandt werden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 26: In dieser Arbeit angewandte V&V-Techniken
Der Dimensionstest dient zur Identifikation konzeptioneller Fehler in mathematischen Formeln (Shannon, 1981). Fehler können aufgedeckt werden, indem die Dimensionen beider Seiten einer Formel nachgerechnet und verglichen werden (Rabe et al., 2008). Diese Methode wird vorrangig im Rahmen der mathematischen Problemformulierung (5.2) angewandt, während der Fokus bei der nachfolgenden Modellierung auf der korrekten Umsetzung liegt.
Die Animation eines Simulationsmodells ist nicht nur eine häufige V&V-Technik, sondern auch eine Standardfunktionalität der Software Siemens (Tecnomatix) Plant Simulation. Die Animation von Ereignissen des Simulationsmodells ermöglicht das leichte Aufdecken von ungültigen Ereignissen oder Unterschieden zum realen Produktionssystem (Law & Kelton, 2000). Allerdings werden Fehler, die nur selten im Modell auftreten, mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht erkannt, da in der Regel nur kurze Zeitspannen in angemessener Animationsgeschwindigkeit betrachtet werden können (Kleijnen, 1995). Die besondere Stärke dieser V&V-Technik liegt darin, dass das Modellverhalten in einem kurzen Zeitraum detailliert in einzelnen Abschnitten überprüft werden kann (Carson, 2002). (Rabe et al., 2008)
Das Monitoring ermöglicht die kontinuierliche Überprüfung des Modells anhand der graphischen Visualisierung von Zustandsgrößen und Variablen des Systems (Sargent, 2005). Dabei wird allgemein differenziert, ob die beobachteten Werte zu jedem Zeitpunkt oder im Zeitverlauf als Zeitreihe visualisiert werden. Diese Technik ist wie die Animation nur eingeschränkt zur Verifikation und Validierung eines Modells geeignet, da lediglich einzelne Modellausschnitte visualisiert werden. Dennoch ermöglicht beispielsweise das Monitoring von Zeitreihen die Identifikation von Auffälligkeiten („Ausreißer“) und dadurch das Aufdecken von Fehlern. (Rabe et al., 2008)
Der Schreibtischtest beinhaltet die sorgfältige Überprüfung der eigenen Arbeit in Bezug auf Vollständigkeit, Korrektheit, Konsistenz und Eindeutigkeit (Balci, 1998). Das Grundproblem dieser Technik ist, dass eigene Fehler häufig auch beim wiederholten Durchgehen nicht erkannt werden. Verwandt mit dieser Technik ist die Technik des Strukturierten Durchgehens. Dabei wird der Programmcode sukzessive durch ein Team überprüft, um Fehler, Unklarheiten und Probleme aufzudecken. Aufgrund des hohen Zeitaufwands wird diese Technik oft nur für kritische Teile des Modells angewandt. Beide Methoden müssen - wie die Animation und das Monitoring - mit weiteren V&V-Techniken kombiniert werden, da sie alleine noch nicht genügen, um eine ausreichende Fehlervermeidung sicherzustellen. (Rabe et al., 2008)
Der Festwerttest dient der Untersuchung des deterministischen Modellverhaltens. Dabei werden im Rahmen der Simulation nur konstante Werte ohne Störungen implementiert. Mittels dieser Methode können die deterministischen Eigenschaften des Modells überprüft und grundlegende Fehler aufgezeigt werden. Allerdings sind Schlussfolgerungen auf das stochastische Modellverhalten nur eingeschränkt möglich. (Rabe et al., 2008) Aufgrund der hohen Dynamik und Unsicherheit in der vorliegenden Arbeit wird diese Methode nur initial bei der Modellerstellung verwendet.
Grenzwerttest und Sensitivitätsanalyse sind V&V-Techniken, die im Rahmen dieser Arbeit nur von begrenztem Nutzen sind. Der Grenzwerttest basiert auf der Forderung, dass Simulationsergebnisse auch bei Extremwerten plausibel sein müssen (Sargent, 1994). Ein Problem bei der Anwendung dieser V&V-Technik ist, dass das Verhalten eines Produktionssystems im Rahmen dieser Arbeit nicht bereits ex-ante bekannt ist. Daher ist die Plausibilitätsprüfung nur bedingt möglich. Bei der Sensitivitätsanalyse werden die Auswirkungen der Variation von Eingangsparametern auf die Simulationsergebnisse untersucht. Dabei werden besonders kritische („sensitive“) Parameter herangezogen, bei denen bereits kleine Parameteränderungen bereits große Veränderungen an den Ergebnissen bewirken (Balci, 1989). Darüber hinaus müssen Parameterkombinationen berücksichtigt werden, deren Auswirkungen sich bei gleichzeitiger Veränderung noch verstärken. (Rabe et al., 2008) Die Sensitivitätsanalyse ist indirekt in die Versuchspläne integriert (6.1).
Bei der Trace-Analyse werden die Ereignisse des Modells aufgezeichnet und relevante Ereignisse ausgewertet, um die Plausibilität des Modells zu überprüfen. Beispielsweise können Ankunftszeiten von Aufträgen an Stationen erfasst und ausgewertet werden. (Rabe et al., 2008) Die Trace-Analyse wird in dieser Arbeit mindestens indirekt angewandt, da die Aufzeichnung und Auswertung der Ereignisse auch erfolgt, um erforderliche Kennzahlen zu errechnen.
Der Test der internen Validität ist von besonderer Bedeutung für diese Arbeit aufgrund der zahlreichen stochastischen Einflüsse. Diese Technik basiert darauf, dass mehrere Instanzen (Replikationen) mit unveränderten Parametern und anderen Zufallszahlen simuliert werden, um die stochastischen Einflüsse zu untersuchen. Hohe Abweichungen einzelner Instanzen können entweder auf Fehler oder auf ein chaotisches Systemverhalten hinweisen. (Rabe et al., 2008) Nichtsdestotrotz ist in beiden Fällen eine ausreichende Zahl an Simulationsläufen erforderlich um trotz stochastischer Einflüsse gültige Schlussfolgerungen zu ziehen.
Der Ereignisvaliditätstest ist eine V&V-Technik, die nur bei Modellen realer Produktionssysteme eingesetzt werden kann. Dabei wird überprüft, ob das Auftreten von Ereignissen im Simulationsmodell mit der Realität übereinstimmt. Die Gültigkeit von Ereignissen ist gegeben, sofern eine ausreichende Übereinstimmung hinsichtlich der Anzahl und zeitlichen Abfolge von Ereignissen mit der Realität erreicht wird. (Rabe et al., 2008)
2.5.4 Modellierung der Kapazität eines Produktionssystems
Wie in Abschnitt 2.1.3 erläutert liegt der Fokus der Kapazitätssteuerung in dieser Arbeit auf Maßnahmen kurz- und mittelfristiger Kapazitätsflexibilität der Mitarbeiter, die auch die größte Praxisrelevanz haben (Lödding, 2013). In der praktischen Anwendung sind dabei neben gesetzlichen Rahmenbedingungen auch Betriebsvereinbarungen zu beachten. Diese führen dazu, dass die Kapazität nicht im Sinne eines regelungstheoretischen Ansatzes gesteuert oder geregelt werden kann, sondern Restriktionen hinsichtlich Reaktionszeiten und Höhe der Kapazitätsflexibilität zu berücksichtigen sind. Abbildung 27 veranschaulicht exemplarisch ein Schichtmodell auf Grundlage einer realen Betriebsvereinbarung, die beiden Anwendungsfällen in Abschnitt 0 zugrunde gelegt wird.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 27: Exemplarische und dieser Arbeit zugrunde gelegte Schichtmodelle eines Produktionsunternehmens
Die Produktion kann demzufolge in drei verschiedenen Schichtmodellen, d. h. einschichtig, zweischichtig und dreischichtig erfolgen. Innerhalb des Schichtmodells kann die Arbeitszeit je Schicht wie abgebildet vereinbart werden. Im Regelfall erfolgt eine Kapazitätsanpassung für einen gesamten Fertigungsbereich. Die vorliegende Betriebsvereinbarung lässt allerdings eine individuelle Kapazitätsanpassung innerhalb des o. g. Rahmens für jede Arbeitsstation zu. Die Arbeitszeit je Schicht muss zu Schichtbeginn festgelegt werden. Diese Einschränkung steht im Widerspruch zu der häufigen Annahme regelungstechnischer Ansätze oder auch der terminorientierten Kapazitätssteuerung (vgl. 4.2), dass die Kapazität auch während einer Schicht verändert werden kann. Eine zusätzliche Schicht einzuführen oder eine Schicht auszusetzen erfordert eine Reaktionszeit von 5 Arbeitstagen, der Wechsel vom 1-Schicht-Betrieb zum 3-Schichtbetrieb demzufolge 10 Arbeitstage Vorlauf.
Eine Methode zur Modellierung der Kapazitätsflexibilität ist der Ansatz der Kapazitätshüllkurven, der in Abbildung 28 nach Wiendahl & Breithaupt (2000) auf Grundlage der obigen Schichtmodelle dargestellt ist. Die Kapazitätsflexibilität ist darin ausgehend von einem 2-Schicht-Modell mit einer Normalarbeitszeit von 8 Stunden Arbeitszeit visualisiert. Die Reaktionszeit der Kapazitätsveränderungen ist ebenfalls entsprechend abgebildet. In einem 2-Schichtmodell können entsprechend Abbildung 27 je Schicht 0,5 Überstunden und jeweils 2 Stunden Kurzarbeit veranlasst werden. Eine zusätzliche Schicht mit einer Nettokapazitätsveränderung von 8 Stunden kann mit 5 Arbeitstagen Reaktionszeit veranlasst werden. Ebenso kann mit 5 Tagen Reaktionszeit auf ein 1-Schichtmodell mit einer Nettokapazitätsveränderung von -10 Stunden gewechselt werden. Auch die letzte Schicht zu streichen erfordert 5 weitere Arbeitstage Reaktionszeit. Daraus ergibt sich im Beispielfall die dargestellte Kapazitätshüllkurve.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 28: Kapazitätshüllkurve bezogen auf obige Schichtmodelle nach Wiendahl & Breithaupt (2000)
Die Zugrundelegung realer Schichtmodelle statt der Möglichkeit der kontinuierlichen Kapazitätsregelung stellt bereits einen Aspekt des Grundproblems dar, dem an dieser Stelle vorgegriffen wurde. Dieses wird im nächsten Abschnitt im Detail erläutert.
3 Formulierung des Grundproblems
Das Grundproblem dieser Arbeit orientiert sich an den Charakteristika komplexer Werkstattfertigungen nach Mönch (2007), geht allerdings in einigen Details darüber hinaus. Die Problembeschreibung gliedert sich nach Annahmen zum PPS-System (P), zum Produktionssystem (S), zur Produktionsumgebung (E) sowie variierender Einflussgrößen (V), die im Zeitverlauf je nach Ausprägung unterschiedlich stark auf das Produktionssystem einwirken.
P1
Das PPS-System weist einen mittleren Reifegrad auf. Dies umfasst die Entwicklungsstufen 2, 3 und 4 in Abbildung 14 .
Diese Annahme berücksichtigt vorrangig die Anforderungen der Selbststeuerung. Zum erfolgreichen Einsatz von Methoden der Selbststeuerung wird ein ausreichender Entscheidungsfreiraum benötigt, der allerdings nicht unbeschränkt sein darf, da das Produktionssystem ansonsten ein chaotisches Systemverhalten entwickelt (vgl. 2.3). Dies spiegelt sich in den Anforderungen hinsichtlich der Entwicklungsstufen wieder. In PPS-Systemen der Entwicklungsstufe 5 ist die Anwendung von detaillierten Planungsheuristiken und Optimierungsverfahren möglich. Diese Verfahren erstellen einen detaillierten und nahezu optimalen Produktionsplan, der nur wenig Entscheidungsraum für die Fertigungssteuerung lässt. Ab diesem Reifegrad ist eine zentrale Umplanung oder Neuplanung wahrscheinlicher als der Einsatz von Selbststeuerung, sofern die Komplexität des Anwendungsfalls dies zulässt. Im Gegensatz dazu sind PPS-Systeme der Entwicklungsstufe 1 eher in kleinen und mittleren Unternehmen vorzufinden, die sehr wenige Ressourcen für die PPS aufwenden können. Ohne jegliche zentrale Planung ist allerdings auch kein sinnvoller Einsatz der Selbststeuerung möglich, da sich ein chaotisches Verhalten des Produktionssystems einzustellen droht.
P2
Vereinfachende Annahmen hinsichtlich des Produktionssystems werden weitestgehend vermieden.
Dieser Punkt dient vor allem zur Abgrenzung von Ansätzen der Produktionsplanung, die oft sehr starke Vereinfachungen vornehmen (vgl. 2.2.2). In der Regel werden vereinfachende Annahmen zu Produktionssystemen oft damit gerechtfertigt, dass der mathematische Fehler durch die Vereinfachung eine definierte Grenze nicht überschreitet und daher akzeptabel ist. Um eine hohe Validität der Ergebnisse zu erzielen und dadurch die Übertragbarkeit dieser zu gewährleisten, werden im Rahmen dieser Arbeit vereinfachende Annahmen soweit möglich vermieden.
P3
Die Daten aus Arbeitsplänen sowie der BDE/MDE sind in Echtzeit verfügbar und korrekt.
Diese Annahme ist von hoher Bedeutung für den effizienten Einsatz von PPS-Methoden und insbesondere der Selbststeuerung. Falls Stammdaten wie Bearbeitungszeiten falsch eingetragen sind und Entscheidungen der Planung und Steuerung auf Grundlage falscher Daten getroffen werden, verringert sich das Potential von Methoden der Selbststeuerung, da Entscheidungen ggf. durch Mitarbeiter manuell korrigiert werden müssen. Daher wird diese Annahme getroffen, die durch die Fortschritte der IKT zunehmend realitätsnäher wird (vgl. 2.1.4). Nichtsdestotrotz ist ein gewisser Aufwand zur Datenpflege erforderlich (vgl. 2.2.4), der bei der Methodenkonzeption berücksichtigt werden muss (Abschnitt 4).
S1
Im Fokus stehen Werkstattfertigungen und flexible Fließfertigungen mit mehr als zwei Werkstätten bzw. Produktionsstufen und mindestens einer Werkstatt/Produktionsstufe mit parallelen Maschinen.
Die Anforderung bezieht sich auf die Struktur des Produktionssystems. Zahlreiche Forschungsarbeiten beschäftigen sich mit der Ablaufplanung einzelner Maschinen oder Fließlinien (Domschke et al., 1997). Komplexere Strukturen wie Werkstattfertigungen hingegen stellen in der Praxis meist NP-schwere oder NP-vollständige mathematische Probleme dar (Pinedo, 2012). Da diese sowohl in der Praxis sehr häufig vorkommen, als auch aufgrund der mathematischen Problemlage für Selbststeuerungsansätze besonders geeignet sind, liegt der Fokus der vorliegenden Arbeit auf diesen Fertigungsstrukturen.
S2
Bearbeitungszeiten sind heterogen, d. h. sie variieren je Auftrag und Arbeitsstation.
In der Produktionsplanung wird häufig die Annahme getroffen, dass Bearbeitungszeiten bei parallelen Maschinen identisch sind oder dass die Maschinen an sich identisch sind (Graham et al., 1979; Pinedo, 2012). Da dies eine erhebliche Vereinfachung der Realität darstellt, wird diese Annahme in dieser Arbeit nicht getroffen.
[...]
[1] Ein detaillierter Überblick der Maßnahmen kann Gottschalk (2005) entnommen werden.
[2] Die Begriffe Produktionssteuerung und Fertigungssteuerung werden häufig synonym verwendet. In der engen Definition umfasst die Produktion Fertigung und Montage (Warnecke, 1993b). Da Montageprozesse nicht explizit in dieser Dissertation betrachtet werden und der Begriff der Fertigungsteuerung im deutschsprachigen Raum etabliert ist, werden in dieser Arbeit nachfolgend stets die Begriffe Produktionsplanung und Fertigungssteuerung verwendet.
[3] Nachfolgend wird mit dem Begriff „Produktionsplanung“ lediglich die Ablaufplanung im Rahmen der Eigenfertigungsplanung bezeichnet.
[4] Zum Begriff des Produktionssystems siehe Abschnitt 2.1.
[5] Der Begriff „Right-Shift“ beschreibt bildlich das Verschieben von Vorgängen „nach rechts“ auf einem Gantt-Diagramm an (Vieira et al., 2003).
[6] Einen Überblick zu Anwendungen der Regelungstheorie in der Produktion gibt z. B. Hamann (2008). Aufgrund der Realitätsferne dieser regelungstechnischen Ansätze werden nur auf dem Trichtermodell basierende Ansätze in dieser Arbeit berücksichtigt (vgl. Hamann (2008), Ortega & Lin (2004)).
[7] Die Erläuterung der Abbildung erfolgt größtenteils als Paraphrase von de Beer (2008) und ist an den jeweiligen Absätzen auch als solche gekennzeichnet, was allerdings aufgrund des Umfangs an dieser Stelle ausdrücklich erwähnt werden soll.
- Quote paper
- Sebastian Grundstein (Author), 2017, Fertigungsregelung flexibler Fließfertigungen und Werkstattfertigungen zur Einhaltung von Lieferterminen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/364639
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