Unter der hypothetischen Annahme, dass die aus grönländischen Eisbohrkernen ermittelten Temperaturschwankungen zumindest näherungsweise auch für Europa und benachbarte Gebiete des Erdballs angenommen werden können, liefert der darin gespeicherte Temperaturverlauf einen deutlichen Hinweis darauf, dass "Ötzi", der Mann vom Tisenjoch, durch natürliche Vorgänge relativ plötzlich stark eingeschneit worden sein konnte und anschließend vereiste.
Auch in den folgenden Jahrtausenden stieg die Temperatur nicht so stark an, dass sie die um die Lebenszeit von "Ötzi" aktuellen Werte zu irgendeiner Zeit erreichte. Das erklärt die Tatsache, dass "Ötzi" bis 1991 im Eise (nicht in einem Gletscher!) eingeschlossen war und uns damit erhalten geblieben ist. Die Ursache ist möglicherweise in zwei Ereignissen zu suchen, die zufällig etwa im gleichen Zeitraum wie der Tod von "Ötzi" eingetreten sein müssen. Zum Einen war dies die Explosion eines Meteoriten im Alpenraum, der mit Sicherheit plötzliche Zerstörungen und ungewöhnliche klimatische Veränderungen hervorgerufen hat. Zum Anderen scheint ein nachfolgender gewaltiger Ausbruch des Vulkans Tambora östlich von Java in Indonesien einen zusätzlichen Impuls für eine lange Zeit nachwirkende Temperaturabsenkung der Erdatmosphäre zumindest in Europa und einigen angrenzenden Gebieten gegeben zu haben.
INHALT:
1. Einführung
2. Was rettete uns "Ötzi" über die Jahrtausende?
3. Das Dorf Tschierv und der Fluch des Bettlers
4. Mögliche natürliche Ursachen für die Vereisung von "Ötzi"
5. Das grönländische Inlandeis - Speicher für das Klima der Vergangenheit
6. Gab es eine Meteoriten-Explosion in den Alpen?
7. Der Ausbruch des Tambora östlich von Java
8. Fazit
9. Literaturverzeichnis
Dresden, den 15.04.2017
"Ötzi"und das Klima
Wie konnte uns der Mann vom Tisenjoch über Jahrtausende erhalten bleiben?
von Dr. Bernd Hofmann, Dresden
1. Einführung
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bild 1: Ungefähre Lage der Fundstelle von "Ötzi" am Tisenjoch, Blick nach Norden[1]
(1-Tisenjoch (3210m), 2-Hauslabjoch (3290m), 3-Finailspitze (3516m), 4-Tisental)
Im Jahre 1991 wurde in unmittelbarer Nähe zum Alpenhauptkamm im Grenzgebiet zwischen Österreich und Italien am Tisenjoch auf mehr als 3200 Meter über dem Meere (m NHN) ein ausgeaperter[2] menschlicher Leichnam entdeckt (Bilder 1 und 2). Diese Entdeckung, die Freilegung, Bergung, Konservierung und wissenschaftliche Untersuchung des von Journalisten "Ötzi" genannten prähistorischen Menschen war eine archäologische und prähistorische Sensation, die bis heute neue und teilweise überraschende, ja unglaubliche Erkenntnisse zur Ausrüstung, zur Tätigkeit sowie zum Leben und Sterben des Mannes aus der sog. Kupfersteinzeit erbringt. Seine Tätowierungen und die am Fundort der Leiche aufgefundenen Ausrüstungs-Gegenstände lassen darauf schließen, dass an deren Herstellung bzw. Erwerb eine Vielzahl von „Gewerken“ mit umfangreichen technologischen Kenntnissen und Fertigkeiten beteiligt gewesen sein müssen. Allein der Aufwand für die Schaffung der damit verbundenen materiellen und organisatorischen Strukturen lässt es unwahrscheinlich erscheinen, dass dies alles in ein- und derselben Person vereinigt war. Die technologische Analyse der Hinterlassenschaften des Mannes vom Tisenjoch gibt somit deutliche Hinweise darauf, dass es bereits in der Gesellungsstruktur der Kupfersteinzeit eine relativ starke Differenzierung von Kenntnissen und Fertigkeiten und eine sich daraus ergebende Arbeitsteilung in unterschiedliche „Berufe“ gegeben zu haben scheint[3]. Vieles spricht jedoch dafür, dass "Ötzi" selbst auf die Jagd von Hochgebirgswild spezialisiert war[4].
2. Was rettete uns "Ötzi" über die Jahrtausende?
Trotz einer nur noch schwer überschaubaren Anzahl von Veröffentlichungen[5] zu "Ötzi" wurde bisher allerdings die erstaunliche Tatsache kaum thematisiert, dass er nach einem tödlichen Pfeilschuss sein Leben zwar in einer zu seiner Zeit offenbar eisfreien Felsmulde in der Nähe des Alpenhauptkammes verlor, aber seine vermutlich vollständige und damals teilweise recht wertvolle Ausrüstung größtenteils geordnet an den umgebenden Felsblöcken in seiner Nähe deponierte. Warum aber hat sein Todesschütze nicht zumindest das Kupferbeil und die Pelzbekleidung, eine hervorragende Kürschner-Arbeit (Bild 3), an sich genommen? Dieser wie auch "Ötzi" selbst hielten sich unzweifelhaft in derselben Hochgebirgsregion am Alpenhauptkamm auf und kannte sich sicher in diesem seinerzeit vermutlich weitgehend eisfreien Gelände einigermaßen gut aus.
Irgendetwas scheint den Schützen jedoch daran gehindert zu haben, nach dem Pfeilschuss auf "Ötzi" zu diesem vorzudringen. Die reine Entfernung dürfte es nicht gewesen sein, da der Schütze, einen ähnlichen Jagdbogen wie "Ötzi" vorausgesetzt, im besten Falle auf etwa 100m Distanz treffsichere Pfeilschüsse abgeben konnte[6]. Diese Entfernung hätte er im relativ unschwer begehbaren Gelände am Tisenjoch in relativ kurzer Zeit, vermutlich in höchstens etwa einer halben Stunde zurücklegen können. Möglicherweise konnte er aber deshalb nicht bis zu seinem Opfer vordringen, weil etwa zeitgleich massiver Schneefall eingesetzt haben muss: denn "Ötzi" wurde, kurz nachdem er sein Leben in der Bergeinsamkeit der Hochalpen verlor, offenbar vollkommen eingeschneit!
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bild 2: "Ötzi", der Mann vom Tisenjoch, Auffinde-Situation 1991[7]
Aber nicht nur das: er muss anschließend über Jahrtausende bis etwa zum Jahre 1991 vollkommen vom Eis eingeschlossen gewesen und in dieser ganzen Zeit niemals ausgeapert sein! Hierauf deutet die Tatsache hin, dass sein Körper bei seiner Auffindung weder Tierfrass-Stellen noch Verwesungserscheinungen aufwies[8]. Was aber könnte diese merkwürdigen und teilweise scheinbar widersprüchlichen Befunde erklären?
3. Das Dorf Tschierv und der Fluch des Bettlers
Da die Lebensumstände der vorwiegend bäuerlichen Bevölkerung südlich des Alpenhauptkammes zu allen Zeiten schwierig und gefahrvoll waren, ist es verständlich, dass sich zu besonderen Ereignissen ihres harten Daseins im Laufe der Zeit Sagen und Legenden gebildet haben. Dies gilt auch für das Pfossental (Val di Fosse), ein Nebental des Schnalstales (Val Senales), dessen hinterer Abschnitt unmittelbar unter dem Alpenhauptkamm in Südtirol verläuft. Dort soll sich in grauer Vorzeit folgendes zugetragen haben:
"Im Pfossental gibt es einen Gletscher, Grafferner genannt [9] . Man sagt, dass an dessen Stelle einst das Dorf Tschierv [10] stand. Die Bewohner ... und deren Grafen lebten im Wohlstand, den ihnen der auf Mauleselrücken durchziehende Warentransport einbrachte. Sie wurden reich und hochmütig und jagten eines Tages einen Bettler, der an das Tor klopfte, davon. Der arme Teufel verfluchte im Davongehen dieses Dorf: es solle zu schneien beginnen, und es solle schneien, solange bis auch der höchste Turm dieses Dorfes unter der weißen Decke verschwunden wäre; und so geschah es. Der Schnee verwandelte sich in Eis und vom Dorf blieb keine Spur übrig." [11]
Ob sich hinter dieser Sage ein Körnchen Wahrheit aus uralten mündlichen Überlieferungen verbirgt oder ob es sich nur um eine bitterböse Legende handelt, sei dahingestellt. Auf jeden Fall wirft sie ein Schlaglicht auf einen möglichen ungewöhnlichen Temperatursturz am Alpenhauptkamm in grauer Vorzeit, der zu plötzlichem intensivem Schneefall mit anschließender Vereisung des Geländes führte. Ein solches Klimaereignis könnte auch die Ursache für die Vereisung von "Ötzi" gewesen sein, denn der Fundort seiner Leiche am Tisenjoch liegt nur etwa 5km Luftlinie von besagtem Grafferner[12] entfernt.
4. Mögliche natürliche Ursachen für die Vereisung von "Ötzi"
Seit einigen Jahrzehnten beschäftigt sich die Wissenschaft verstärkt mit den Ursachen von Klimaänderungen bzw. -schwankungen auf der Erde. Anstöße hierzu kamen u.a. von der verstärkten Eis- und Gletscherschmelze im Hochgebirge und an den Polkappen, der Erwärmung der Ozeane sowie dem Wetterphänomen "El Niño". Auf Grund der Komplexität der Wettererscheinungen und der Vielzahl von Einflussgrößen, die das Klima auf der Erde bestimmen, sind die Forschungsansätze schwierig und die Ergebnisse z.T. widersprüchlich. Zum Verständnis der Vorgänge sind Erkenntnisse zur Klimaentwicklung in der Vergangenheit von Bedeutung. Hiermit beschäftigt sich die sog. Paläo-Klimatologie.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Bild 3: "Ötzi", der Mann vom Tisenjoch, in Pelzkleidung und mit Kupferbeil[13]
[...]
[1] Quelle: Spindler K.: Der Mann im Eis. Bertelsmann, München 1993, Foto: J. Tappeiner (Ausschnitt); graphische Ergänzungen: B. Hofmann
[2] ausapern: svw. schnee- und eisfrei werden (Quelle: Duden)
[3] Hofmann B.: Der Mann vom Tisenjoch – Multitalent oder Spezialist? In: Der Schlern / Monatszeitschrift für Südtiroler Landeskunde, Athesia-Verlag Bozen, 86. Jgg. (2012), Heft 1, S. 62-65
[4] Hofmann B.: Ötzi, Der Mann vom Tisenjoch - Hirte oder Jäger? In: Der Schlern / Monatszeitschrift für Südtiroler Landeskunde, Athesia-Verlag Bozen, 85. Jgg. (2011), Heft 9, S. 52-55
[5] Allein 105 Veröffentlichungen angegeben unter https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%96tzi#Literatur
[6] Hofmann B.: Ötzi, Der Mann vom Tisenjoch - Hirte oder Jäger? In: Der Schlern / Monatszeitschrift für Südtiroler Landeskunde, Athesia-Verlag Bozen, 85. Jgg. (2011), Heft 9, S.55
[7] Quelle: Spindler K.: Der Mann im Eis. Bertelsmann, München 1993; © Anton Koler (Ausschnitt)
[8] Nicht geklärt scheint bis heute die Ursache des Fehlens eines Stückes der Kopfhaut (Hautläsion) am Hinterhaupt von "Ötzi", siehe Bild 2; Spindler K.: Der Mann im Eis. C. Bertelsmann Verlag, München 1993, S. 65. ISBN 3-570-12028-7
[9] Gemeint ist wohl der Grafferner unmittelbar südöstlich unterhalb des Similaun (3597m) am Alpenhauptkamm. Er entwässert über den Grafbach, der vorbei an der Grafalm dem vorderen Pfossental zufließt und dieses am sog. Vorderkaser (ca. 1670m) erreicht.
[10] Nicht zu verwechseln mit dem Dorf Tschierv im Münstertal (Schweiz)
[11] Bodini G., Rainer J.: Die geschlossenen Höfe des Schnalstales. Tourismusverein Schnals (1993), S.41
[12] Ein anderer Grafferner befindet sich unter der Grafspitze (3147m) etwa 2km östlich des sog. Eisjöchls, das den östlichen Abschluß des Pfossentales bildet.
[13] Quelle: Ausstellungsflyer des Landesamtes für Archäologie, Dresden 1997 (Reko-Versuch, Detail)
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