Die SPD als „Volkspartei“ – Parteistruktur, Soziale Basis, Image und Wahlkampfstil
„Geh mit der Zeit, geh mit der SPD“. Mit diesem Slogan startete die SPD 1959 eine verstärkte Mitgliederwerbeaktion. Dahinter verbarg sich der eigene Anspruch im Rahmen des Wandels von einer Klassen- zu einer Volkspartei Modernität zu signalisieren. Nachdem die SPD bei den ersten drei Bundestagswahlen in der Bundesrepublik vor allem von Mitgliedern der gewerkschaftlich geprägten Industriearbeiterschaft gewählt worden war und aufgrund der mangelnden Attraktivität bei den katholisch geprägten Arbeitern und den Angestellten im 30 %-Turm gefangen schien, war spätestens seit der erneuten Wahlniederlage 19531 ein innerer Druck mit der Forderung nach einer grundlegenden Parteireform artikuliert worden. Den Abschluss fand dieser Prozess als Antwort auf die gesellschaftlichen Veränderungen in dem Grundsatzprogramm von Bad Godesberg 1959. Über die innerparteiliche Erneuerung hinaus wollte sich die Sozialdemokratie den ihr bis dahin nicht nahestehenden Schichten öffnen. Dies war gleichbedeutend mit dem Eingeständnis des Scheiterns des Versuchs, den Charakter einer Klassenorganisation beizubehalten, gleichzeitig aber die soziale Basis um, der Partei traditionell fernstehende, Arbeitnehmergruppen zu erweitern. Durch das Abwerfen des alten ideologischen Ballasts und dem Friedensschluss mit der Bundesrepublik konnte der Wandel zur Volkspartei vollzogen werden. Im Rahmen dieser Analyse wird der Weg der SPD zu einer modernen Volkspartei dargestellt, ein Weg, der schließlich zur Regierungsbeteiligung ab 1966 und drei Jahre später zur ersten sozial-liberalen Koalition unter dem Bundeskanzler Willy Brandt führte.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Die SPD als Volkspartei.
1. Godesberg als Aufbruch oder Abschluss eines Wandlungsprozesses?
1.1. Die Veränderungen durch das Grundsatzprogramm von Bad Godesberg
2. Beispiele für den Wandel zur Volkspartei
2.1. Die Entwicklung des Verhältnisses zur katholischen Kirche
2.1.1. Wandel durch Annäherung: Das Verhältnis SPD – Katholische Kirche im Spannungsfeld des Godesberger Grundsatzprogramms
2.1.2. Die 60er Jahre: Auf dem Weg zu einer begrenzten Partnerschaft
2.2. Das Aufbrechen hierarchischer Strukturen: Die Veränderung der Organisationsstruktur
2.2.1. Die Reform der Organisationsstruktur und ihre Auswirkungen
2.3. Die Entwicklung der Mitgliederstruktur
2.3.1. Konsequenzen der Entwicklung zu einer heterogenen Mitgliederschaft
2.4. Die Entwicklung der Wählerstruktur
2.4.1. Änderung des Wahlkampfstils: Welches Image will die SPD erreichen?
2.4.2. Vom Stammwähler zum Wechselwähler: Ursachen der Wahlerfolge der SPD Ende der sechziger Jahre
2.5. Die Rolle der Großen Koalition
2.5.1. Die SPD erweist sich als regierungsfähig: Sozialdemokratische Politik in der Großen Koalition
3. Indikator für Demokratiedefizite? Das Erstarken der Jusos als innerparteiliche Opposition
III. Fazit
IV. Literaturverzeichnis
I. Einleitung
„Geh mit der Zeit, geh mit der SPD“. Mit diesem Slogan startete die SPD 1959 eine verstärkte Mitgliederwerbeaktion. Dahinter verbarg sich der eigene Anspruch im Rahmen des Wandels von einer Klassen- zu einer Volkspartei Modernität zu signalisieren. Nachdem die SPD bei den ersten drei Bundestagswahlen in der Bundesrepublik vor allem von Mitgliedern der gewerkschaftlich geprägten Industriearbeiterschaft gewählt worden war und aufgrund der mangelnden Attraktivität bei den katholisch geprägten Arbeitern und den Angestellten im 30 %-Turm gefangen schien, war spätestens seit der erneuten Wahlniederlage 1953[1] ein innerer Druck mit der Forderung nach einer grundlegenden Parteireform artikuliert worden. Den Abschluss fand dieser Prozess als Antwort auf die gesellschaftlichen Veränderungen in dem Grundsatzprogramm von Bad Godesberg 1959.
Über die innerparteiliche Erneuerung hinaus wollte sich die Sozialdemokratie den ihr bis dahin nicht nahestehenden Schichten öffnen. Dies war gleichbedeutend mit dem Eingeständnis des Scheiterns des Versuchs, den Charakter einer Klassenorganisation beizubehalten, gleichzeitig aber die soziale Basis um, der Partei traditionell fernstehende, Arbeitnehmergruppen zu erweitern. Durch das Abwerfen des alten ideologischen Ballasts und dem Friedensschluss mit der Bundesrepublik konnte der Wandel zur Volkspartei vollzogen werden.
Die vielfältige wissenschaftliche Diskussion um den Begriff „Volkspartei“[2] lässt sich so zusammenfassen, dass die Beschreibung Volkspartei für eine politische Organisation von Bürgern steht, die in der sozialen Zusammensetzung ihrer Mitglieder, Funktionäre und Wähler nicht auf eine Schicht oder Klasse beschränkt bleibt, sondern prinzipiell versucht, alle Schichten und Gruppen zu umfassen und somit sozial heterogen ist.[3] Diesen Anspruch versuchte die SPD im Godesberger Programm umzusetzen, indem sie Kooperationsangebote an der Partei bisher fernstehende Schichten wie die Angestellten, Beamten und die Anhänger der katholischen Kirche machte sowie den Marxismus als Kernquelle ihrer Politik aus dem Programm strich. Es ist im folgenden zu klären, inwieweit das neue Grundsatzprogramm einen neuen Aufbruch oder den Abschluss eines langen Wandlungsprozesses darstellt. Dabei gilt es vor allem die Veränderungen in der Arbeiterschaft, die verstärkte soziale Mobilität und Vermischung von Milieus sowie die Veränderung der Erwerbsstruktur zu berücksichtigen.
In Anknüpfung an die massiven gesellschaftlichen Veränderungen wollte die SPD nun durch ihren programmatischen Wandel eine Partei des Interessenpluralismus mit heterogenen Ausprägungen sein, die gerade durch die Differenzierung und die gesellschaftliche Heterogenität die reale Gesellschaft wiederspiegelt. Als Abschluss dieses Prozesses wurde die Übernahme der Regierungsverantwortung gesehen. Um dieses Ziel zu erreichen, war man fortan auf die Eroberung möglichst hoher Stimmenanteile bei den Wahlen eingestellt und in diesem Zusammenhang trat die vorher geltende Fixierung auf die geistig-moralische Bindung von Anhängern in den Hintergrund. An die Stelle eines integrativen Mediators zwischen den verschiedenen Milieus trat nun die Konsensbildung, die Übernahme einer Schlichtungs- und Ausgleichsinstanz zwischen den heterogenen gesellschaftlichen Gruppen. Im Gegensatz zur altem Selbstverständnis als Massenintegrationspartei sollte eine tiefere ideologische Durchdringung zugunsten eines neuen möglichst viele Schichten ansprechenden Image und einem schnellen Wahlerfolg in den Hintergrund treten.
Der Wandel der SPD in einer Phase, wo die ideologische Auseinandersetzung des Ost-West-Konflikts ihren Höhepunkt überschritt, lässt sich mit dem Konzept der Volkspartei/Allerweltspartei von Otto Kirchheimer erklären.[4] Sie ist seiner nach Meinung ein Phänomen des Wettbewerbs, das in einer Phase der sich abschwächenden Klassengegensätze und des wirtschaftlichen Aufschwungs auftritt. Je weniger die Bevölkerung das Bedürfnis nach umwälzenden politischen Veränderungen verspürt, umso mehr müssen sich Parteien, die viele Schichten erreichen wollen, die auf eine politische Umwälzung abzielenden Punkte aus ihren Parteiprogrammen streichen.
Die SPD tat sich lange Zeit mit dem Begriff der Volkspartei aufgrund seiner bürgerlichen Herkunft schwer, vielmehr sah sich die SPD als eine Volkspartei mit Arbeiterstamm. Begleitet wurde der Wandel, der über die Zwischenetappe der Großen Koalition in die sozial-liberale Koalition 1969 mündete, von dem Aufstieg charismatischer Persönlichkeiten.
Die Anziehungskraft die Karl Schiller mit seiner Wirtschaftspolitik auf die bis dato der SPD fernstehenden „white-collar“ Wählerschichten, wie z.B. Unternehmer und höhere Angestellte, ausübte oder die Ausstrahlung Willy Brandts, hatten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung bei dem Durchbruch zur Volkspartei und der Übernahme der Regierungsverantwortung. Hinzu kam durch die Überwindung des Höhepunktes des Ost-West-Konfliktes und der zunehmenden Unbrauchbarkeit der Hallstein-Doktrin die Notwendigkeit einer Neujustierung der Außen- und Deutschlandpolitik.
Durch neue wegweisende Konzepte in diesem Bereich, der Öffnung gegenüber bisher fernstehenden Schichten, einer modernen Wirtschaftspolitik und dem Beweis, dass das neue Volksparteiprofil nicht nur ein Manöver für den Bundestagswahlkampf 1961 gewesen ist, gelang es der SPD neue Wähler und Mitglieder zu gewinnen.
Im Folgenden ist beispielhaft zu analysieren, wie die SPD konkret ihren Wandel zur Volkspartei vollzog und ob Veränderungen, zum Beispiel im Verhältnis zur katholischen Kirche von Dauer waren oder nur als Mittel zum Zweck, dem Prinzip der Stimmenmaximierung angesehen wurden. Auf der Ebene der innerparteilichen Veränderungen ist zu untersuchen, welcher Wandel durch die neuen Mitglieder und insbesondere durch den Rückgang des Arbeiteranteils in der Partei eintrat. Abschließend wird zu untersuchen sein, welche innerparteilichen Auswirkungen die zunehmende Entideologisierung und Indifferenz hatte und ob sich die alte Vergangenheit so einfach abstreifen ließ. Dabei soll sich die Arbeit an der Ausgangsthese orientieren, dass die SPD mit ihrem Wandel zur Volkspartei den notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen Tribut zollte, dadurch aber ein völlig verändertes Gesicht erhielt. Eine zunehmende Entideologisierung und die Marginalisierung der Arbeiterschaft waren Charakteristika der innerparteilichen Entwicklung. Jedoch wurde die SPD nicht zu einer profillosen Partei, sondern zu einer pluralistischen, von der neuen Heterogenität durch Diversifizierung des Fachwissens in vielen Politikfeldern profitierenden und letztlich die Regierungsfähigkeit ermöglichenden Partei.
II. Die SPD als Volkspartei
1. Godesberg als Aufbruch oder Abschluss eines Wandlungsprozesses?
„Die Sozialdemokratische Partei ist aus einer Partei der Arbeiterklasse zu einer Partei des Volkes geworden.“[5] Mit diesen Worten beschrieb die SPD den grundlegenden Wandel, der durch das Godesberger Grundsatzprogramm von 1959 eine Neuausrichtung der Sozialdemokratie festlegte. In der Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik hatte sie den Anspruch erhoben, eine Klassenpartei zu sein, die aber schon damals nicht die Klasse der Lohnabhängigen, sondern nur etwa die Hälfte der gewerblich-industriellen Arbeiter für sich gewinnen konnte.[6] In der Verbindung von Klassenlage und nationaler Diskriminierung der Sozialisten, Katholiken und Minderheiten hatten mehrere Faktoren zu einer Abschottung der verschiedenen Milieus geführt: Jedes Milieu hatte für sich analoge Institutionen und Organisationen herausgebildet, die Teilgruppen der Arbeiterschaft dauerhaft banden. Gerade im sozialdemokratischen Milieu entstand im Kaiserreich durch die Vielzahl eigener Vereine eine „alltagsweltlich begründete Gesinnungsgemeinschaft“.[7] Durch den Krieg und die Novemberrevolution kam es zwar zu einer Polarisierung zwischen den Organisationsführungen und der Arbeiterschaft, jedoch kam es trotz der für viele Teile der Arbeiterschichten enttäuschenden Regierungspolitik der SPD und den sich bis fast zu einem Bürgerkrieg entwickelnden Arbeiterprotestbewegungen verbunden mit einem Konkurrenzdruck von „linken“ Parteien wie der USPD und der KPD nicht zu einem Bruch der Autorität der SPD für große Teile der Arbeiterschaft. Um die Arbeiter weiter zu binden, wurde das System der Subkultur weiter ausgebaut. Das sozialdemokratische Vereinswesen wuchs sowohl in der Breite als auch in der Tiefe. Weiter vorherrschend blieb wie schon zu Zeiten der polarisierten Gesellschaft des Kaiserreichs das Klassengefühl „wir und die anderen“.[8]
Der Nationalsozialismus zerstörte zwar durch Gleichschaltung und Verbot die Arbeiterbewegung und löste die Verbindung zwischen den Arbeitern und ihren Organisationen auf, er setzte aber auch Traditionen fort und veränderte dabei ihren Gehalt.[9] Dabei änderten sich Grundseinstellungen: Die Armut im stalinistischen Russland, der Krieg im Osten mit der ideologischen Kriegsführung gegen den „Bolschewismus“ diskreditierte für viele Arbeiter endgültig den Marxismus beziehungsweise den Kommunismus. Das Schicksal der Vertriebenen und die sowjetische Nachkriegspolitik vertieften diese Einstellung, die Spaltung der Weimarer Zeit zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten blieb deshalb auch nach 1945 stabil.
Dadurch verlor die marxistische Tradition in der Arbeiterschaft zunehmend an Bedeutung, wobei dies vor allem durch die fundamentale Verbesserung der sozialen Lage forciert wurde.[10] Allerdings setzte sich die Spaltung zwischen sozialdemokratisch geprägten und Christlichen Gewerkschaften fort, 1955 kam es zu einer Neugründung der Christlichen Gewerkschaften. Dies war das Resultat auf die Hoffnung des DGB auf einen SPD-Wahlsieg 1953 und die laizistische Schulpolitik der Sozialdemokraten. Die Wiederheranführung der Christlichen Arbeiter an die SPD war eines der Ziele des Godesberger Parteiprogramms und letztlich der Schlüssel zum Durchbruch zur Volkspartei. Trotz der Politik von nationaler und sozialer Integration der SPD und des DGB war bis in die 60er Jahre eine Stagnation und Kontinuität in ihren traditionellen Rekrutierungsfeldern festzustellen, die SPD blieb in der Zusammensetzung der Mitglieder und Wähler zu 60 % eine Arbeiterpartei, die kaum neue Schichten erreichte. Ab den 60er Jahren geriet aber das Milieu der Arbeiterschaft zunehmend in Bewegung. Dass Provisorium Bundesrepublik etablierte sich politisch, gesellschaftlich und vor allem wirtschaftlich. Dadurch stieg die individuelle Zufriedenheit der Arbeiter auch mit der kapitalistischen Industriegesellschaft.[11] Durch die schwindende schichten- und milieuspezifischen Bindungen früherer Zeit war auch die SPD gezwungen, auf die veränderten Bedingungen zu reagieren. Sie konnte nicht mehr die Integrationspartei einer Klasse sein, die durch die soziale Mobilität zunehmend ihre Konturen verlor und als Milieu ausgehöhlt wurde, sondern konnte nur durch den Versuch, möglichst viele gesellschaftliche Schichten in der Partei und im politischen System zu integrieren, dauerhaft konkurrenzfähig werden.
1.1. Die Veränderungen durch das Grundsatzprogramm von Bad Godesberg
Aufgrund der aufgezeigten Entwicklung in der Arbeiterschaft und dem seit den Wahlniederlagen bei Bundestagswahlen einsetzenden inneren Reformprozess kann das Godesberger Programm nur als Abschluss eines langen Wandlungsprozesses verstanden werden. Es resultierte aus dem großen Veränderungsdruck, den die gesellschaftlichen Veränderungen, das Auflösen der traditionellen Arbeitermilieus und das Verharren im 30 %-Turm bei Bundestagswahlen auslöste.
Weil der Weg zu einer Volkspartei nur über eine Öffnung für neue Schichten führen konnte, wurden im Godesberger Programm[12] Friedens- und Kooperationsangebote an die katholische Kirche, die Selbständigen und die Unternehmer formuliert und der Marxismus als frühere Kernquelle sozialdemokratischer Politik fand keine Erwähnung mehr. Infolge der relativ beliebig und flexibel gehaltenen Grundsätze bot das Godesberger Programm für die künftige Politik einen größeren Handlungsspielraum und eine größere Flexibilität. Dies war gleichbedeutend mit einer zunehmenden Entideologisierung als Antwort auf die gesellschaftlichen und sozialen Veränderungen. So verlor die alte Arbeiterklasse neben den aufgezeigten sozialen Veränderungen und der geringeren Bindekraft an die SPD durch die massive Schrumpfung des primären Sektors an Bedeutung.[13] Die zunehmende soziale Durchmischung von Wohnquartieren und die anwachsende Mobilität von Stadt und Land, die Tertiärisierung der Gesellschaft, die eine Verbesserung der Bildungschancen für Arbeiterkinder einhergehend mit beruflichem Aufstieg und einer stärkeren Distanzierung von den Herkunftsgebieten bedeutete, und die Lockerung der Bindungen an Sozialmilieus, führten letztlich zu einer Abschwächung alter Klassengegensätze.[14] Durch die sozialen Wandlungen hatte sich die Rolle der SPD als traditionelle Integrationspartei weitgehend erledigt, der Industriearbeiter war mittlerweile weitgehend in die Gesellschaft integriert.
Um den Teilen der Öffentlichkeit, die dem Wandel der Partei noch kritisch gegenüberstand, zu beweisen, dass es sich nicht um ein taktisches Manöver zu einem größeren Erfolg bei Bundestagswahlen handelte, wurden grundsätzliche Richtungswechsel in der politischen Praxis vollzogen: Die Wehrpflicht wurde nach einem Parteitagsbeschluss 1960 in Hannover nicht mehr strikt abgelehnt, ebenso wurde die atomare Aufrüstung nicht mehr kategorisch ausgeschlossen, man bekannte sich im Godesberger Programm zur Landesverteidigung und Herbert Wehner legte in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag im Juli 1960 eine Revision der sozialdemokratischen Deutschlandpolitik dar, die SPD bekannte sich nun zu einer gemeinsamen Außenpolitik von Regierung und Opposition auf der Grundlage der bestehenden Bündnisverpflichtungen.[15]
„Damit beendete die SPD eine Deutschlandpolitik, die in der Verhinderung insbesondere der militärischen
Westintegration die Voraussetzung für eine aktive Wiedervereinigungspolitik gesehen hatte.“[16]
Dadurch konnte sich die SPD als systemimmanente gesellschaftspolitische Reformalternative zur mehr und mehr an konservative Beharrungsstrategien gebundenen CDU/CSU etablieren.[17]
In der Folgezeit versuchte man das Bild einer marxistischen Partei zu revidieren und im Volk weiter fortbestehende Glaubwürdigkeitsdefizite durch eine Abgrenzung zum linken Spektrum zu beseitigen. Die Gefahr links von der SPD Wähler zu verlieren, war nach dem Verbot der KPD ungleich geringer, als weiterhin die Wähler aus den Mittelschichten nicht zu erreichen.
Am 6. November 1961 kam es zur Trennung von dem traditionellen Studentenbund der SPD, dem SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund). Auslöser dafür waren die Kritik seitens des SDS am Volksparteikurs der SPD und eine verstärkte marxistische Ausrichtung.
„Die SPD konnte sich zudem keinen Jugendverband leisten, der sich gerade zu dem Zeitpunkt zum
Marxismus zu bekennen begann, als die SPD in diesem Marxismus die Hauptbelastung für ihre
Machterwerbsstrategie sah.“[18]
Bad Godesberg sollte durch die zum Großteil einstimmig getroffenen Entscheidungen und die aufgezeigten Abgrenzungen vom Marxismus und klassengeleiteten Politikansätzen den Aufbruch zu einer neuen Politik als Antwort auf den langen Wandlungsprozess manifestieren. Es wurde das Bild einer homogenen und modernen Partei suggeriert, die angemessen auf die Veränderungen in der Bundesrepublik reagierte und so regierungsfähig werden kann.
2. Beispiele für den Wandel zur Volkspartei
Neben diesen ersten, direkt auf die Schaffung eines anderen Image in der Öffentlichkeit abzielenden Handlungen ist im Folgenden untersuchen, wie man sich konkret an die Katholische Kirche annäherte, welche Veränderungen es in der Organisationsstruktur, der Mitglieder- und Wählerschaft gab und welche Rolle der Eintritt in die Große Koalition für den Durchbruch zur Volkspartei spielte.
2.1. Die Entwicklung des Verhältnisses zur katholischen Kirche
Mit dem Angebot einer freien Partnerschaft an die katholische Kirche im Godesberger Programm versuchte die SPD einerseits ihrem Volksparteiprofil mit der Öffnung hin zu bisher unerreichten Schichten gerecht zu werden und trug andererseits im Rahmen ihres Stimmenmaximierungsziel dem vermuteten Automatismus zwischen einer kirchenfreundlichen Politik der SPD und einem in Reaktion darauf abnehmenden katholischen Engagement für die Union, Rechnung.
[...]
[1] Bundestagswahl vom 6.09.1953: SPD: 28,8 %, CDU/CSU: 45,2 %, FDP: 9,5 %. Quelle: http://www.bundeswahlleiter.de/ergebalt/d/t/bt-int53.htm. Auch die Bundestagswahl 1957 brachte für die SPD keine signifikanten Veränderungen, sie blieb im 30 %-Turm gefangen, diese Rolle als Oppositionspartei im deutschen Parteiensystem schien sich zu zementieren. Die Union hingegen errang erstmals die absolute Mehrheit. Ergebnisse der Wahl vom 15.09.1957: SPD: 31,8 %, CDU/CSU: 50,2 %, FDP: 7,7 %. Quelle: http://www.bundeswahlleiter.de/ergebalt/d/t/bt-int57.htm.
[2] Der Gebrauch des Ausdrucks Volkspartei wird in der Wissenschaft zunehmend kritisch beurteilt. Problematisch ist der Begriff wegen der Verknüpfung von „Volk“, das für eine Gesamtheit steht und „Partei“ als Teil dessen. Dies suggeriert auch, dass es in einem Staat nur eine Volkspartei geben kann und eine Opposition eher schwach ausgeprägt ist. Der Begriff beinhaltet so gesehen einen gewissen Totalitätsanspruch. Autoren wie Alf Mintzel plädieren deshalb dafür, den Ausdruck „Großpartei“ zu benutzen. Auch wenn der Begriff Volkspartei deshalb nicht unproblematisch ist, gebrauchen ihn die meisten Autoren, weshalb er auch hier trotz seiner Mängel benutzt wird.
[3] Vgl. dazu auch Bouvier, Beatrix W.: Auf der Woge des Zeitgeistes? Die SPD seit den 60er Jahren, in: Dieter Dowe (Hrsg.): Partei und soziale Bewegung. Kritische Beiträge zur Entwicklung der SPD seit 1945, Bonn 1993, S.82. Bezogen auf die SPD und ihr Verständnis des Begriffs Volkspartei sagte Klaus Schütz auf dem Karlsruher Parteitag 1964, dass die SPD kein Staat mehr im Staate sein wolle, sondern sie gebe Hunderttausenden, die aus den unterschiedlichsten Schichten kämen, eine geistige Heimat. Sie biete so ein Abbild der verschiedenen beruflichen und soziologischen Schichten des Volks. Aus diesem Grunde sei sie eine Volkspartei. Lösche, Peter und Walter, Franz: Die SPD, Darmstadt 1992, S.149.
[4] Charakteristika dieses 1965 publizierten Konzepts sind unter anderem:
grundsätzliche Anerkennung der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung / prinzipiell antirevolutionär, lediglich sozialreformerische Orientierung / Massenintegration nicht mehr auf klassenmäßiger oder konfessioneller Basis, sondern Wähler aus allen Schichten und Gruppen / Stimmenmaximierungsprinzip / Vage und allgemein formuliertes Parteiprogramm, lediglich Ausarbeitung von Ziel- und Aktionspräferenzen / Grundsätzlich und häufig um Kompromiss bemüht, um mehrheitsfähig zu sein / Entideologisierung, geringe Bedeutung von Ideologie / Volksparteien und die ihnen nahestehenden Interessenverbände sind relativ unabhängig voneinander / Instrumentalisierung und Nutzung verschiedener Interessenverbände als beständiges Wähler- und Massenreservoir / Nominierung von Kandidaten; Führerauslese. / Stärkung der Parteispitze / Wenig loyale Mitgliederschaft / Entwertung der Rolle des einzelnen Parteimitglieds / mehr differenzierte Organisation / lose Beziehung zur Wählerschaft, begrenzte Integration. Vgl. dazu Mintzel, Alf: Die Volkspartei. Typus und Wirklichkeit. Ein Lehrbuch, Opladen 1977, S.99-102.
[5] SPD-Grundsatzprogramm von Bad Godesberg 1959, S.27. Weiter heißt es dort: „Sie will die Kräfte, die durch die industrielle Revolution und durch die Technisierung aller Lebensbereiche entbunden wurden, in den Dienst von Freiheit und Gerechtigkeit für alle stellen. (...) Darum ist die Hoffnung der Welt eine Ordnung, die auf den Grundwerten des demokratischen Sozialismus aufbaut, der eine menschenwürdige Gesellschaft, frei von Not und Furcht, frei von Krieg und Unterdrückung schaffen will, in Gemeinschaft mit allen, die guten Willens sind. (...) Auf deutschem Boden sammeln sich die Sozialisten in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die jeden in ihren Reihen willkommen heißt, der sich zu den Grundwerten und Grundforderungen des demokratischen Sozialismus bekennt.“
[6] Mooser, Josef: Arbeiterleben in Deutschland 1900-1970. Frankfurt/Main 1984, S. 181.
[7] Ebd. S.184.
[8] Mooser, S.194.
[9] Ebd., S.198. Die Subkultur reduzierte sich fortan auf private Freundschaftskreise. Gleichzeitig gab es aber auch zahlreiche Integrationsversuche wie die unklare Aufwertung der Arbeit zur „Ehre“ oder der Übernahme und Einführung des 1. Mai als staatlichem Feiertag. Noch 1955 glaubten 40 % der Bevölkerung, dass unter dem Nationalsozialismus die Arbeiter mehr gegolten hätten als schließlich in der Bundesrepublik, 1960 waren es noch 20 %.
[10] Mooser, S.204.
[11] Mooser, S.210. Dadurch änderten sich auch die Forderungen. An die Stelle früherer Klassenauseinandersetzungen traten nun die Forderungen nach Teilhabe am Wirtschaftswachstum, die Abfederung allgemeiner Lebenssicherungen und Konjunkturkrisen durch den Aufbau eines funktionierenden Sozialstaats. Schlüsselwörter gerade für die Arbeiterschaft wurden „gerechter“ Lohn, Vollbeschäftigung und „soziales Netz“.
[12] Das Programm löste das bis dahin gültige Heidelberger Programm der SPD von 1925 ab, wo die demokratische Republik noch als „günstigster Boden für den Befreiungskampf der Arbeiterklasse und damit für die Verwirklichung des Sozialismus“ gesehen wurde. Vgl. dazu Miller, Susanne und Potthoff, Heinrich: Kleine Gesichte der SPD, Bonn 1991, S.363.
[13] Dieser Wandel der Erwerbsstruktur wird an einigen Zahlen des Statistischen Bundesamts deutlich: Von je 100 Erwerbstätigen waren 1895: 25 Selbständige, 19 mithelfende Familienangehörige, 8 Angestellte und Beamte, 57 Arbeiter. 1950 waren 16 Selbständige, 15 mithelfende Familienangehörige, 20 Angestellte und Beamte, 49 Arbeiter. Die Zahlen von 1987 verdeutlichen zum Abschluss des Wandels eine völlig veränderte Berufswelt: 8 waren Selbständige, 2 mithelfende Familienangehörige, 50 Angestellte und Beamte, 40 Arbeiter. Miller/Potthoff, S.315.
[14] vgl. dazu auch Schönhoven, Klaus: Aufbruch in die sozialliberale Ära. Zur Bedeutung der 60er Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Werner Abelshauser u.a (Hrsg.), Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, 25. Jahrgang 1999, S. 125-145, S.137.
[15] Müller, Peter.: Das „Volkspartei“-Konzept der SPD, in: Ebbinghausen, Rolf und Tiemann, Friedrich (Hrsg.): Das Ende der Arbeiterbewegung in Deutschland? Ein Diskussionsabend für Theo Pirker. Schriften des Zentralinstituts für sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universität Berlin, Band 43, S.386- 406, Opladen 1984, S. 396f.
[16] Müller, Peter, S.396.
[17] Klotzbach, Kurt: Die moderne SPD: Entwicklungslinien und Hauptprobleme von 1945 bis zur Gegenwart. In: Kämpfe, Krisen, Kompromisse, hrsg. von: Dieter Dowe und Kurt Klotzbach, Bonn 1989, S. 113.
[18] Ebd.
- Arbeit zitieren
- Georg Ismar (Autor:in), 2003, Die SPD als "Volkspartei": Parteistruktur, soziale Basis, Image und Wahlkampfstil, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36420
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