1. Einleitung
Wir befinden uns heute in einer Welt der zunehmenden intra- und interkulturellen Vernetzungen. Dies bedeutet, dass eine individuelle Identifikation mit verschiedensten Einflüssen stattfindet und auch die Mainstream- Kultur als solche nicht mehr in "reiner Form" zu existieren scheint. Für die Literaturwissenschaft stellt sich hier die Frage nach neuen theoretischen Ansätzen, um die Vielfalt kultureller Einflüsse, aber auch um anhand von literarischen Repräsentationsfiguren die sich daraus ergebenden Spannungsfelder und Entwicklungsspielräume zu beleuchten. Die vorliegende Arbeit soll dazu dienen, einen "postkolonialen" Blickwinkel auf die im Werk von Rudolfo Anaya beschriebene Welt der Chicanos anzuwenden. Der Gegenstand der Untersuchung, Anayas Romantrilogie, umfasst die Werke Bless me, Ultima (1972), Heart of Aztlán (1976) und Tortuga (1979). Anhand der vorliegenden Arbeit soll, mittels Textanalysen vor dem Hintergrund der Theorien von Clifford, Anzaldúa und Bhabha der Blick weggelenkt werden vom kolonialen Diskurs, der traditionelles Denken in (meist in asymmetrischen Beziehungen zueinander stehenden) Dichotomien, wie farbig- weiss, Zentrum- Peripherie, reich- arm bedeutet, hin zu einem erweiterten Blickwinkel, der neue Spannungsfelder und Entwicklungsspielräume gestattet.
[...]
INHALTSVERZEICHNIS
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Aufbau und Zielsetzung der Arbeit
1.2 Einordnung des Autors in den historischen Zusammenhang
1.3 Terminologische Bemerkungen zum "Chicano Movement"
2. Theoretische und definitorische Prämissen
2.1 Was bedeutet "postkolonial"?
2.2 James Clifford: Traveling Cultures - das Selbst als Reise(nder)
2.3 Gloria Anzaldúa: Borderlands - der Kultur- Raum der Grenze
2.4 Homi Bhabha: The Location of Culture: Kulturelle Hybridisierung als Aufbruch in die Zukunft
2.5 Zusammenfassung: Literarische Anwendungsmöglichkeiten der Begrifflichkeiten
3. Postkoloniale Blicke auf das Werk von Rudolfo Anaya
3.1 Bless me, Ultima
3.1.1 Die Figur Antonio und ihr Selbstfindungsprozess
3.1.2 Die Familie Márez und die Familie Luna - Gegensätze vereinigen sich
3.1.3 Die Titelfigur Ultima: Heilerin und Wegweiser
3.1.4 Zwischenfazit
3.2 Heart of Aztlán
3.2.1 Clemente Chávez - der gebrochene Held
3.2.2 Jason - Bindeglied der Trilogie
3.2.3 Zwischenfazit
3.3 Tortuga
3.3.1 Tortuga: Heilung aus der Erstarrung
3.3.2 Salomón - der Mythenerzähler
3.3.3 Zwischenfazit
4. Zusammenfassung
5. Anhang
6. Literaturverzeichnis
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
Wir befinden uns heute in einer Welt der zunehmenden intra- und interkulturellen Vernetzungen. Dies bedeutet, dass eine individuelle Identifikation mit verschiedensten Einflüssen stattfindet und auch die Mainstream- Kultur als solche nicht mehr in "reiner Form" zu existieren scheint. Für die Literaturwissenschaft stellt sich hier die Frage nach neuen theoretischen Ansätzen, um die Vielfalt kultureller Einflüsse, aber auch um anhand von literarischen Repräsentationsfiguren die sich daraus ergebenden Spannungsfelder und Entwicklungsspielräume zu beleuchten. Die vorliegende Arbeit soll dazu dienen, einen "postkolonialen" Blickwinkel auf die im Werk von Rudolfo Anaya beschriebene Welt der Chicanos anzuwenden. Der Gegenstand der Untersuchung, Anayas Romantrilogie, umfasst die Werke Bless me, Ultima (1972), Heart of Aztlán (1976) und Tortuga (1979). Anhand der vorliegenden Arbeit soll, mittels Textanalysen vor dem Hintergrund der Theorien von Clifford, Anzaldúa und Bhabha der Blick weggelenkt werden vom kolonialen Diskurs, der traditionelles Denken in (meist in asymmetrischen Beziehungen zueinander stehenden) Dichotomien, wie farbig- weiss, Zentrum- Peripherie, reich- arm bedeutet, hin zu einem erweiterten Blickwinkel, der neue Spannungsfelder und Entwicklungsspielräume gestattet.
1.1 Aufbau und Zielsetzung der Arbeit
Die umfangreiche Einleitung der Arbeit beinhaltet bereits Informationen über den Autor und den historischen Zusammenhang, in dem der Untersuchungsgegenstand zu sehen ist. Zu Beginn des zweiten Teils der Arbeit soll zunächst der Titelbegriff "postkolonial" erläutert werden, um eine Einordnung des Blickwinkels als einen in die Zukunft Weisenden, die kolonialen Dichotomien Überwindenden, zu vollziehen.
Nach einer kurzen Einführung in die verschiedenen Kulturtheorien soll im dritten Teil die Anwendung der drei in Bereichen überlappenden, aber auch divergierenden Blickwinkel oder auch der "kulturtheoretischen Brillen" auf die drei Romane Rudolfo Anayas erfolgen. Aufgrund der Komplexität der drei verwendeten kulturtheoretischen Ansätze sollen diese in zusammengefasster Form wiedergegeben werden. Hierbei ist sicher nicht vermeidbar, dass vielleicht in anderem Zusammenhang wichtige Teilbereiche der Theorien nicht erwähnt werden, da für den Untersuchungsgegenstand möglichst relevante Bereiche hervorgehoben werden.
Schließlich soll anhand einer Auswahl der in den Werken vertretenen literarischen Repräsentanten untersucht werden, ob im Werk Anayas noch eine Verhaftung in alten, kolonialen Diskursen stattfindet, oder ob die Figuren in der Lage sind, einen Aufbruch aufzuzeigen in eine neue Welt, in der das Individuum der Raum ist, in dem verschiedene, manchmal auch divergierende, Einflüsse wirksam werden und somit ein Emanzipationsvorgang von kolonialen Dichotomien stattgefunden hat. Hierbei steht zunächst eine Herausstellung der Besonderheiten einzelner Protagonisten im Vordergrund, aber es soll auch abschließend eine synthetische Gesamtschau der Romantrilogie gegeben werden.
1.2 Einordnung des Autors in den historischen Zusammenhang
Der Autor, Rudolfo Anaya, geboren am 30. Oktober 1937, wird als Vater der modernen Chicano- Literatur gesehen. Seine Bücher gelten als die am weitesten Verbreiteten und Gelesenen innerhalb der Hispano Community der USA, so wurde Bless me, Ultima über 360000 mal verkauft, obwohl der Roman nicht von den großen New Yorker Verlagshäusern publiziert wurde.
His works are standard texts in Chicano studies and literature courses around the world, and he has done more than perhaps any other single person to promote publication of books by Hispanic authors in this country. With the publication of his novel, Albuquerque (1992), Newsweek has proclaimed him a front-runner in "what is better called not the new multicultural writing, but the new American writing."[1]
Anaya wurde in New Mexiko geboren und trotz vieler Reisen, die ihn auch nach Europa führten, kehrte er in seine Heimat zurück, mit der er sich verwurzelt fühlt.[2] Diese Tatsache spiegelt sich auch in der ausgewählten Romantrilogie wieder, besonders und stärker als bei anderen Autoren, wie Barrio und Riveira, in seinem stark autobiographisch geprägten Roman Bl ess me, Ultima.[3] Auch war er sehr aktiv im Chicano Movement, dessen Ausdruck die sog. Chicano Renaissance auf literarischer Ebene war. Trotzdem sagt er von sich selbst:
I fit easily and completely into the Chicano community- that´s where I was born and raised, that´s where my family resides- and the Movement, because I was active in it and have seen its different areas of development. I think that in part I fit into the mainstream society, what you call U.S. society. I know it´s fashionable for many Chicano writers to say that they do not belong to this society that has oppressed minorities. Nonetheless, the fact exists that we are a part of that society. I have no trouble at all relating to writers and artists in that society. There are many of its values that I abhor, stay away from, have nothing to do with. But nevertheless, there is a relationship with the creative part of that society that is very valuable for me. I meet its writers, its artists, teachers, and find that we often have a common core of views, goals, and ideas, through broad spectrums that flow from political to sociological to aesthetic.[4]
Seine Romane sind durchsetzt von magischen Elementen, so dass man sie, wenn man es Genre nennen darf, dem des Magischen Realismus[5] zu-ordnen kann. Es fließen realistische Beschreibungen der Wirklichkeit zusammen mit Traumsequenzen, in denen ein holistisches, ja fast expressionistisch- wunderbares Wirklichkeitsbild präsentiert wird. In dieser Arbeit soll das Thema Magischer Realismus nicht in seiner Gesamtheit nachvollzogen werden, es böte sich hier jedoch ein interessantes Thema für weitere Arbeiten. Für die vorliegende Arbeit wäre allerdings z.B. die Klärung der Frage interessant, ob die Verschmelzung von realistischen und mythisch- magischen Elementen in
die Interpretation z.B. vor dem Hintergrund der Theorien Bhabhas sinnvoll zu integrieren ist, vielleicht sogar dieselbe stützt.[6]
1.3 Terminologische Bemerkungen zum "Chicano Movement"
Die Chicano- Literatur entwickelte sich unter besonderem Erstarken der Bürgerrechts- und Emanzipationsbewegungen in den 60er und 70er Jahren in den USA und gilt als eigene künstlerische Ausdrucksform der Amerikaner mexikanischer Abstammung. Der Begriff entstammt der historischen Aussprache des Wortes "Mexicano" und birgt in sich eine Rückbesinnung auf ein gemeinsames kulturelles Erbe, sowie die Bewusstheit eines Gruppenschicksals.[7] Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass in den USA ca. 12 Mio. aus Mexiko stammende Hispanics leben, kann die Chicano- Literatur als Minderheiten- Literatur, die aber nicht nur von Minderheiten rezipiert wird, betrachtet werden.
Schon die Begrifflichkeit "Chicano" inkluiert einen Moment der Abgrenzung von Begriffen, wie "Mexican- American" und "Hispano" auf der einen Seite und "Latino" and "Hispanics" auf der anderen. Während
"Latino" Menschen bezeichnet, die lateinamerikanisches Erbe haben, wobei die heterogene, multinationale Zusammensetzung der lateinamerikanischen Gesellschaft berücksichtigt wird sowie romanische Sprachen (Spanisch, Portugiesisch, Französisch) als Erstsprache, wird als "Hispanics" kollektiv auf Spanisch- Sprecher verwiesen. Der Begriff beinhaltet jedoch auch den Aspekt des spanischen kulturellen Erbes. Problematisch ist hier, dass spanisch- sprachige Amerikaner, sowie Brasilianer durch den Terminus nicht abgedeckt werden. Somit bleibt der Begriff etwas ungenau. Mit "Mexican- American" verweist man auf US- Staatsbürger mexikanischer Abstammung, gemäss anderer ethnischer Begriffe, wie Afro- American. Es wird eher Bezug genommen auf ein mexikanisches, als ein spanisches Erbe (s. "Hispano"). Problematisch scheint der Begriff bei solchen Menschen zu werden, die sich nicht als Wahl- Amerikaner sehen. Er beinhaltet den Aspekt einer letztlich ungeklärten Identität, eines "zwischen zwei gegenläufigen Einflüssen Stehens". Das daraus entstehende Selbstkonzept setzt sich aus einer Mischung zusammen, die stärker, reicher und dynamischer ist, als ihre Ursprünge.
"Hispano" bezeichnet eine im Südwesten der USA lebende Minderheit, die sich mit spanischen, nicht mit mexikanischen Siedlern (d.h. Creole Spanisch- Native Americans) identifiziert. Sie leben heute zurückgezogen zwischen Rio Grande und Sangre de Christo Mountain in New Mexiko und gehen auf aus dem Spanien des 16./17. Jh. geflohene Juden zurück. Sie werden von Historikern auch "Cryptic Jews" genannt.
Der Terminus "Chicano" ist schließlich ein relativ neuer Begriff, der die Einzigartigkeit der mexikanischen Wurzeln betont, ursprünglich aber abwertend gebraucht wurde. Die Ursprünge gehen auf die 30er und 40er Jahre zurück, in denen Teile der armen mexikanischen Landbevölkerung, oft auch Indios, zur billigen Feldarbeit in die USA transportiert wurden. Dies fand unter einem von beiden Ländern akzeptierten Abkommen statt. Die meist indianischstämmigen Arbeiter konnten den amerikanischen
Begriff "Mexicanos" aufgrund der phonetischen Regeln ihrer indigenen Sprache Nahuatl nicht korrekt aussprechen. Es entstand der Begriff "Chicano", der von den am Brown Power Movement der 60er und 70er Jahre teilnehmenden Mexican- Americans bewusst als sich von der Mainstream Kultur abgrenzender Begriff wieder aufgenommen wurde und die Suche nach einer neuen, frischen Identität betont.[8]
While recognizing that Chicano literature has roots in both Mexican and Anglo- American literatures, we have tried to imply that its own cultural sources and development patterns are identical with neither.[9]
2. Theoretische und definitorische Prämissen
2.1 Was bedeutet "postkolonial"?
Das deutsche Wort "postkolonial" leitet sich vom englischen postcolonialism oder auch synonym gebraucht postcoloniality ab.
Es bezeichnet eine weltweit noch nicht abgeschlossene Periode, die als Zielsetzung die "Emanzipation vom Kolonialerbe"[10] hat. Dabei beinhaltet der Begriff eine programmatische Konnotation und reicht über die Periode des Kolonialismus hinaus, was durch das Präfix "post" gekennzeichnet wird, ihn aber nicht vor Beeinflussung durch denselben bewahrt, ja sogar manchmal eine Wiederbelebung desselben bewirken kann. Es handelt sich um eine kontroverse Auseinandersetzung, die problematisch wird durch ideologische Überlagerungen und durch den Wegfall von eindeutig zum kolonialen Diskurs gehörigen, klaren Dichotomien.
Postkoloniale Literaturtheorie entwickelte sich seit den 70er Jahren aus den Neuerungen der Literaturen der aus den Kolonien hervorgegangenen Nationen und beschäftigt sich mit Literaturen, die vom Kolonialismus beeinflußt sind, bzw. sich bewußt gegen diesen wenden. Meist wird der imperiale Diskurs subversiv verweigert und ein indigener Diskurs angenommen. Hierdurch
[...]entsteht eine dialektisch dynamische Hybridität, die in der fortwährenden Auseinandersetzung mit der "aufgepfropften" Kultur kreative Energien freisetzt, wobei den Methoden des umdeutenden rereading und neuschaffenden rewriting eine wichtige Funktion zukommt. Die literarische Entkolonialisierung beginnt bei der Sprache, die dem privilegierten Standart [...] eigene Varietäten entgegensetzt.[11]
2.2 James Clifford: Traveling Cultures - das Selbst als Reise(nder)
Der Augangspunkt für Cliffords Theorien entstammt dem ethnographischen Kontext. Seine Vorlesung Traveling Cultures, welche aus dem Grenzbereich zwischen einer "Anthropologie in der Krise" und den neu entstehenden "Transnationalen Kulturellen Studien" hervorging, wurde auf einer Konferenz im Jahre 1990 präsentiert. Clifford geht von der Annahme einer ständigen Bewegung aus, so dass Reisen und Kontakte zu einer Determinante einer in der Entwicklung begriffenen Modernität werden. Das bedeutet für den Menschen selbst, dass seine Verortung sowohl Dislokation als auch Stasis beinhaltet. Die Welt wird gesehen als zunehmend vernetzt, aber nicht homogen, was zu einer Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kultur führt. "Practices of displacement might emerge as constitutive of cultural meanings rather than as their simple transfer to extension."[12]
"Reisen" steht als Metapher für Bewegung und die damit verbundene temporäre Okkupation verschiedener (kultureller) Räume. "As I began to consider diverse forms of "travel", the term became a figure for routes through a heterogenous modernity."[13] Dadurch entsteht letztendlich auch die Frage nach den Voraussetzungen für Reiseerfahrungen: "...raises important general questions about men and women, their specific, culturally mediated experiences of dwelling and traveling,"[14] und als Schlussfolgerung: "These brief examples begin to suggest how specific histories of freedom and danger in movement need to be articulated along gender lines."[15] Hier wird der Blick auf die subjektive, geschlechtsspezifische Erfahrungsebene gelenkt. Nicht nur das Durchbrechen historisch konstituierter Grenzen, sondern auch die Neuschaffung und Re- Definition von Kultur werden hier in ihrer
gesellschaftlichen Bedeutung, wie auch in der Geschichte des Individuums berücksichtigt.
The present book [...] tracks the worldly, historical routes which both constrain and empower movements across borders and between cultures. It is concerned with diverse practices of crossing, tactics of translation, experiences of double or multiple attachment. These instances of crossing reflect complex regional and transregional histories, which, since 1900, have been powerfully inflected by three connected global forces: The continuing legacies of empire, the effects of unprecedented world wars, and the global consequences of industrial capitalism´s disruptive, restructuring activity.[16]
Clifford beschreibt hier den postkolonialen Aspekt seiner Theorien. Weiterhin behauptet er, dass "such acts of control, maintaining coherent insides and outsides, are always tactical."[17] Er grenzt sich bewusst von älteren kulturtheoretischen Konzepten, wie Akkulturation und Synkretismus[18] ab, ja, beschreibt die Quelle von Kultur als einen ursprünglich als "Grenze" bezeichneten Raum.
Cultural action, the making and remaking of identities, takes place in the contact zones, along the policed and transgressive intercultural frontiers of nations, peoples, locales. Stasis and purity are asserted- creatively and violently- against historical forces of movement and contamination.
When borders gain a paradoxical centrality, margins, edges, and lines of communication emerge as complex maps and histories.[19]
Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch die Diaspora- Kulturen, die das Konzept der Nationalität subversiv unterlaufen, indem sie Verbindungen zu mehreren Orten aufrechterhalten und
nichtabsolutistische Gesellschaftsformen praktizieren.[20] Hierbei muss bemerkt werden, dass Cliffords Ziel es nicht sein kann, die Existenz von Nationen oder kulturellen Gruppenstrukturen zu negieren oder sogar abzuschaffen, vielmehr geht es um das kreative Potential, das ein "Reisen in Grenzbereichen" ermöglichen kann.
2.3 Gloria Anzaldúa: Borderlands - der Kultur- Raum der Grenze
In ihrem 1987 erstmals erschienenen Buch Borderlands/La Frontera: The New Mestiza beschäftigt sich G. Anzaldúa mit dem Thema Grenzen aus einem spezifisch weiblichen Chicana- Tejana- Blickwinkel. Hierbei ist ihr nicht nur regionsspezifische Prägung und Geschlecht, sondern auch ihre sexuelle Orientierung als lesbische Autorin wichtig. Sie lässt sich selbst nicht allein der Kategorie feministisch unterordnen.
[...],was my sweeping back against that kind of "All of us are women so you are all included and were all equal." Their idea was that we all were cultureless because we were feminists; we didn´t have any other culture,"[21]
Sie betont radikale Subjektivität, wenn es um Selbstdefinition im Borderland, im Raum zwischen gegensätzlichen (kulturellen) Einflußbereichen geht. Trotz allem ist Borderlands eine Neueinschreibung der Geschichte der Region an der Grenze zwischen Texas und Mexiko, die aus der Perspektive einer "woman- identified woman"[22] geschieht und mit dem neuen Begriff autohistoria[23] konnotiert ist. Die Geschichte wird von ihr nicht als lineare Anordnung von
Ereignissen gesehen, vielmehr erfasst sie die Geschichte in ihrer Fragmentarität. Dies entspricht dem Aufbau von Borderlands.
Indeed, the Borderlands genre continually refuses stasis. Shifting from Mexico - tejana History, to personal testimonial, the text moves restlessly onward to a history of a larger political family.[24]
Anzaldúa nennt diesen Grenzbereich zwischen Mexiko und den USA auch "third country" oder "closed country"[25].
Borders are set up to define the places that are safe and unsafe, to distinguish us from them. A border is a dividing line, a narrow strip along a steep edge. A borderland is a vague and undetermined place created by the emotional residue of an unnatural boundary. It is a constant state of transition. The prohibited and forbidden are its inhabitants.[26]
Somit lebt für Anzaldúa alles Ausgestoßene, das Unbewußte auf der psychischen Ebene, in einer dynamischen Übergangszone zwischen unnatürlichen, willkürlich gezogenen Grenzen, die das Ich vom Anderen trennen. Wobei hier die koloniale Perspektive teilweise verlassen wird, indem das Andere je nach Standpunkt in den Borderlands selbst aus der Nähe betrachtet werden kann bzw. eine Auflösung fester Grenzen erfolgt. Der koloniale Diskurs wird durch die dynamische Struktur der Borderlands subversiv unterlaufen.
In ihrer rebellischen Art ist sie es, eine aus dem Spannungsfeld der Borderlands hervorgegangene Persönlichkeit, die dieses "dritte Land" und seine verwobene Geschichte neu einschreibt, indem sie die Werte der "Anderen", der dominanten Kultur, aufnimmt und aus dem "internal exile"[27] etwas Neues schafft.
Dies wird vor allem im folgenden Zitat deutlich, indem sie die Werte der Mainstream- Kultur aufnimmt, beleuchtet und eine eigene individuell gültige Neu- Bewertung vornimmt.
So, don´t give me your tenets and your laws. Don´t give me your lukewarm gods. What I want is an accounting with all three cultures - white, Mexican, Indian. I want the freedom to carve and chisel my own face, to staunch the bleeding with ashes, to fashion my own gods out of my entrails. And if going home is denied me then I will have to stand and claim my space, making a new culture - una cultura mestiza - with my own lumber, my own bricks and mortar and my own feminist architecture.[28]
2.4 Homi Bhabha: The Location of Culture:
Kulturelle Hybridisierung als Aufbruch in die Zukunft
Homi Bhabha sieht als Ausgangspunkt für die Durchbrechung kolonialer Strukturen die Kultur ethnischer Minderheiten. Er macht dies an "Denkfiguren, wie "Zwischenräumen", "Spalten", "Spaltungen" oder "Doppelungen""[29] fest, die "die Frage der kulturellen Differenz als produktive Desorientierung und nicht als Festschreibung einer vereinnehmbaren Andersartigkeit"[30] gestalten.
The social articulation of difference, from the minority perspecive, is a complex, on- going negotiation that seeks to authorize cultural hybridities that emerge in moments of historical transformation. The "right" to signify from the periphery of authorized power and privilege does not depend on the persistence of tradition; it is resourced by the power of tradition to be reinscribed through the conditions of contingency and contradictoriness that attend upon the lives of those who are "in the minority".[31]
Bhabha beschreibt die Grenzerfahrung kultureller Differenzen als manchmal mehrheitlich akzeptiert, manchmal aber auch konfliktreich und daher in einem ständigen Prozess des Neu- Aushandelns. Hierbei wird nicht nur Kultur als solche in Frage gestellt, sondern auch Begriffe wie Modernität, Tradition, Privates und Öffentliches, sprich die kolonialen Dichotomien. Die Idee der "reinen Kultur" wird damit verworfen, auch eine Rückbesinnung auf Wurzeln scheint sinnlos zu werden, da Identitäten im Hier und Jetzt neu ausgehandelt werden, mit allen Einflüssen, die subjektiv wichtig erscheinen.
The present can no longer be simply envisaged as a break or a bonding with the past and the future, no longer as a synchronic presence: our proximate self- presence, our public image, comes to be revealed for its discontinuities, its inequalities, its minorities.[32]
Bei dem Versuch, Metaphern aus dem medizinischen Bereich zu gebrauchen, scheint es, als fände eine Bewegung weg von den Extremata statt, hin zum Berührungspunkt eben dieser scheinbaren Gegensätze, hin zu einer Wunde, die klafft, um die Spannung, den Schmerz, der ihr inhärent ist, auszuhalten und zu heilen, indem eine Weiterentwicklung, ein Wachstum, eine Integrierung der scheinbaren Gegensätze erfolgt, wie dies auch bei jeder Krankheit der Fall ist.
Neutraler betrachtet, könnte man es auch als "Brücke" zwischen den Extremen verstehen, auf der das Subjekt verschiedene, ihm adäquat erscheinende Positionen einnehmen kann.
This interstitial passage between fixed identifications opens up the possibility of a cultural hybridity that entertains difference without an assumed or imposed hierarchy.[33]
Der postkoloniale Aspekt kommt zum Ausdruck, indem das Präfix "post", wie in Post- Kolonialismus, Post- Feminismus, Post- Moderne[34] laut Bhabha nicht rückbezüglich ist, also auf die abgeschlossene Vergangenheit schaut, sondern vielmehr einen Aufbruch in eine nicht- lineare, hybride Zukunft darstellt.
It is in this sense that the boundary becomes the place from which something begins its presencing in a movement not dissimilar to the ambulant, ambivalent articulation of the beyond that I have drawn out.[35]
Der post- koloniale Diskurs soll dazu dienen, Geschichte neu einzuschreiben, um gerade die Entwicklungen aus den Grenzbereichen zu
dokumentieren, wobei nicht vergessen werden darf, dass dadurch auch ständig neue Grenzbereiche geschaffen werden. Die Geschichte wird somit zu einem Fluidum.
2.5 Zusammenfassung: Literarische Anwendungsmöglichkeiten der Begrifflichkeiten
Die drei vorgestellten und in dieser Arbeit zu verwendenden Kulturtheorien gehen von Grenzsituationen aus. Hierbei werden Grenzen immer als nicht- natürlich, willkürlich und meist mit dem Interesse eines Machterhalts[36] gesetzt gesehen. Durch Grenzziehung wird bewusst ein System aufrechterhalten und damit erfolgt die Geschichtsschreibung aus der Perspektive des Konstruktes einer Mehrheitskultur. Demgegenüber
stehen die natürlichen Prozesse der Transgression, der Verunreinigung[37] von Kultur. Dies wird bei Clifford einerseits durch die "Reisemetapher" verdeutlicht, andererseits, bei Anzaldúa, durch die Schaffung einer eigenen, subjektiven "Cultura Mestiza" im Sinne einer Selbst- Definition und bei Bhabha schließlich durch den Begriff der "Hybridität". In allen drei Theorien wird Abschied genommen von einer "reinen" Kultur.
Vor allem bei Anzaldúa tritt eine facettenhafte Vermischung von festgeschriebener Geschichte einer Mehrheitenkultur, von Mythen, persönlicher Erfahrung in einer unterdrückten Minderheit zu einer Neu- Einschreibung von Geschichte auf einem lokalen, persönlichen Niveau zutage. Aber auch bei Bhabha und Clifford wird Geschichte zu etwas immer wieder neu Auszuhandelndem, zu einem radikal auf das Subjekt verweisenden Ganzen und gleichzeitig zu einem Ein- Druck von Kultur im Hier und Jetzt. Kultur wird somit zu einem fließenden Mosaik, die Schreibung von Geschichte zu einem sehr persönlich- bewußten Prozess, wobei das Subjekt auch immer nur Subjekt aufgrund seiner Lokalisation in einer Umgebung (Bezugs- Gruppe) ist[38].
Die drei Theorien fordern somit zu einer aktiven, verantwortlichen Auseinandersetzung mit sich/dem Selbst und dem Anderen auf, in der stereotype Grenzen und Projektionen durchbrochen werden können.
Im Folgenden sollen die drei zeitgenössischen Romane BU, HA und TO auf der Grundlage dieser Ausführungen analysiert werden. Schwerpunkt sind hierbei die im Titel der Arbeit beschriebenen Spannungsfelder zwischen verschiedenen kulturellen Einflüssen und die Protagonisten, die sich in ihnen und zwischen ihnen bewegen. Gemäß der in der Einleitung
beschriebenen Zielvorgaben soll erläutert werden, inwiefern sie die Spannungen (er-) leben und sich aus den Dichotomien lösen können, bzw. sie in ihnen verhaftet bleiben.
[...]
[1] http://www.unm.edu/~wrtgsw/anaya.html vom 26.07.2004
[2] Vgl. Bruce- Novoa, Juan. Chicano Authors. Inquiry by Interview. (Austin: University of Texas Press, 1980) 186 und Tonn, Horst. Zeitgenössische Chicano- Erzählliteratur in englischer Sprache: Autobiographie und Roman (Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris: Verlag Peter Lang, 1988). Mainzer Studien zur Amerikanistik; Bd. 22. 138.
[3] Vgl. Zapf, Hubert. Amerikanische Literaturgeschichte (Stuttgart, Weimar: Metzler, 1996) 444.
[4] Bruce- Novoa, Juan, 190.
[5] Für eine genaue Bestimmung des Begriffs empfehle ich sehr folgende Dissertation: Scheffel, Michael. Magischer Realismus. Die Geschichte eines Begriffes und ein Versuch seiner Bestimmung (Tübingen: Stauffenburg Verlag, 1990). Hier wird der Begriff in seinem Facettenreichtum aufgeschlüsselt und trotz zahlreicher Divergenzen im Verständnis für den Leser greifbar.
[6] Siehe hierzu auch die Ausführungen zu den einzelnen Romanen, besonders S. 48.
[7] Vgl. Zapf, Hubert, 437.
[8] vgl. http:// www.azteca.net/aztec/index.shtml vom 26.07.2004
[9] Sommers, Joseph; Ybarra- Frausto, Tomás . Modern Chicano Writers. A Collection of Critical Essays (Englewood Cliffs, New Jersey: Prentice- Hall, 1979) 3.
[10] Nünning, Ansgar (Hg.). Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (Stuttgart, Weimar: Metzler, 2001) 521.
[11] Ibid, 520.
[12] Clifford, James. Routes. Travel and Translation in the late Twentieth Century (Cambridge, London: Harvard University Press, 1997) 3.
[13] Ibid, 3.
[14] Ibid, 5.
[15] Ibid, 6.
[16] Clifford, James. Routes. 6-7.
[17] Ibid, 7.
[18] Für eine Klärung der Begriffe "Akkulturation" und "Synkretismus" empfehle ich Nünning, Ansgar (Hg.). Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (Stuttgart, Weimar: Metzler, 2001) 642 unter dem Begriff "Transkulturation", und Microsoft Encarta 99 Enzyklopädie "Synkretismus".
[19] Clifford, James. Routes. 7.
[20] Vgl. Clifford, James. Routes. 9.
[21] Anzaldúa, Gloria. Borderlands/ La Frontera: The New Mestiza (San Francisco: Aunt Lute Books, 1987) 231.
[22] Ibid, introduction.
[23] Hiermit wird ein visuelles Geschichtsschreiben bezeichnet, das über das traditionelle Selbstportrait oder die Autobiographie hinausgeht, die persönliche Geschichte des Autors beinhaltet, aber auch seine kulturelle Geschichte.
[24] Anzaldúa, Gloria, introduction.
[25] Ibid, introduction und 33.
[26] Ibid, 25.
[27] Ibid, 244.
[28] Anzaldúa, Gloria, Borderlands. 44.
[29] Bronfen, Elisabeth. Vorwort zu: Bhabha, Homi. Die Verortung der Kultur (Tübingen:
Stauffenburg Verlag, 2000)
[30] Ibid, Vorwort.
[31] Bhabha, Homi. The Location of Culture (London: Routledge, 1994) 2.
[32] Bhabha, Homi. The Location of Culture, 4.
[33] Ibid, 4.
[34] Es muss beachtet werden, dass in der Schreibweise mit Bindestrich bereits politische Einstellungen verschlüsselt sind. So weist G. Anzaldúa in Borderlands auf S. 243 darauf hin, dass der Bindestrich einerseits Austausch zwischen den getrennten Begriffen, aber auch die Trennung selbst symbolisieren kann.
[35] Bhabha, The Location of Culture. 5
[36] Sowohl Anzaldúa, Bhabha, als auch Clifford beschreiben hier koloniale Machtstrukturen bzw. Beeinflussung durch das kapitalistische Weltsystem und die aus dessen Expansionsstreben entstandenen (Welt)kriege.
[37] Der Begriff soll in diesem Zusammenhang nicht in seiner allgemein gebräuchlichen negativen Konnotation, sondern neutral gebraucht werden.
[38] Nach Bhabha bleibt der Kolonisierte aufgrund der "psychodynamischen Komplexität" des ggs. Verhältnisses trotz Emanzipationsstreben immer von Kolonisator abhängig, s. Nünning, Ansgar (Hg.). Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (Stuttgart, Weimar: Metzler, 2001) 60.
- Quote paper
- Claudia Haase (Author), 2004, Postkoloniale Blicke auf das Werk von Rudolfo Anaya: Protagonisten im Spannungsfeld zwischen Kulturen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36171
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