Hadithe zur Steinigung (Radjm) und ihre Beziehung zur jüdischen Halacha


Hausarbeit, 2008

35 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Einleitung

Zur Zeit der beginnenden Kodifizierung des islamischen Rechts im 8. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung hatte das jüdische Recht, die Halacha (hebr. „Das Wandeln“, der Weg) bereits über 1000 Jahre der Entwicklung hinter sich, die wir nachvollziehen können (und darüber hinaus mehrere weitere Jahrhunderte, über die nur indirektere Schlussfolgerungen möglich sind).

Es kann davon ausgegangen werden, dass die biblischen Gesetze, die in den Büchern Exodus, Leviticus, Numeri und Deuteronomium enthalten sind, Rechts- und Moralvorstellungen aus der Königszeit widerspiegeln [1], die in einigen Fällen (so dem Talionsgesetz [2] für Körperverletzung und Mord) auch auf Regelungen der vorstaatlichen Richterzeit [3] zurückgehen mögen.

Die Gesetze aus den Büchern Exodus bis Numeri werden überwiegend der Quellenschicht der sog. Priesterschrift zugeordnet, die des Buches Deuteronomium der deuteronomistischen Schicht. Letztere wird häufig mit der Zeit des Königs Jo˘šijahu (Josia) in Verbindung gebracht, zu dessen Zeit laut dem Zeugnis von II Könige 22 eine Rolle des Gesetzes (hebr. Sefer ha-Tora) im Tempel aufgefunden wurde. Es wird zwar angenommen, dass die Redaktion der Priesterschrift erst gegen Ende der Exilszeit stattfand, doch schließt das nicht die Aufnahme älteren Traditionsmaterials betreffs der Rechtsvorschriften aus.

Der Standpunkt des Orthodoxen Judentums zu dieser Frage ist selbstredend ein anderer: Für dieses steht außer Frage, dass der Konsonantentext der heutigen Thora (in althebräischer Schrift) von Mose etwa im 13. Jhdt. vor der Zeitrechnung niedergeschrieben worden sei. Über eine ununterbrochene Traditionslinie (u.a. über Josua, [1]Eli, Samuel, David, Achija, Elija, Eliša und viele der Schriftpropheten) soll dieser Text bis zu Ezra überliefert worden sein, der ihn in die aramäische Quadratschrift umgesetzt habe. Dieser Text soll wiederum über eine ununterbrochene Traditionslinie – zu der viele im Talmud erwähnte große Gelehrte zählen – bis in die Zeit der Masoreten überliefert worden sein, von deren Standardtext sich unsere heutigen hebräischen Textausgaben herleiten. Die volle Auflistung der Glieder dieser Überlieferungskette ist – anspielend auf den Anfang des Traktats Avot (Väter) der Mischna – in der Einleitung (Haqdama) von Maimonides‘ Mischne Tora wiedergegeben.

Gleichlaufend mit dieser Überlieferung des Textes sollen über dieselbe Traditionslinie auch die „Erläuterungen“ (aramäisch Perušan) dazu, d.h. die Ausführungsbestimmungen, die später durch Rabbi Jehuda Ha-Nasi in Gestalt der Mischna niedergeschrieben wurden, seit Mose von Generation zu Generation mündlich weitergegeben worden sein. Es ist dies der Korpus der sog. Mündlichen Thora, die nach traditioneller jüdischer Auffassung mit etwa demselben Status als Rechtsquelle neben der Schriftlichen Thora steht, wie ihn im islamischen Recht die Sunna neben dem Quran einnimmt:

„Mit allen Gesetzen [Miwot] wurden Moses auf dem Berge Sinai auch deren Erläuterungen übergeben; […]. Er befahl uns also, die Thora nach deren Erläuterungen auszulegen. Diese aber bilden ist die Tradition, oder die Mündliche Überlieferung (Mündliche Thora)]. Unser Lehrer Moses hat die ganze Thora noch bei seinen Lebzeiten mit eigener Hand niedergeschrieben, […]. Die Gebote aber, nämlich die Erläuterung derselben, hat er nicht schriftlich, sondern mündlich den Ältesten und dem Josua mitgeteilt, […] usw. Moses empfing alles von der Allmacht Gottes [wörtl.: aus dem Mund der Allmacht], – und also haben wir Dasselbige vom Gotte Israels überliefert bekommen.“ (Mischne Tora, Einleitung)

Im mittelalterlichen Judentum wurden (letztlich bis zum Aufkommen des Reformjudentums seit der Aufklärung, deren jüdische Variante Haskala genannt wird) diese traditionellen Anschauungen über die Entstehung und Überlieferung von Schriftlicher und Mündlicher Thora nicht in Frage gestellt.

Gemäß einer heutigen wissenschaftlichen Sicht müssen diese Anschauungen zwar als ein Mythos angesehen werden – wie größtenteils die Inhalte der heiligen Schriften auch. Das bedeutet jedoch nicht eine „wissenschaftliche“ Bestätigung von apologetischen religiösen Positionen [4], die der jüdischen Religion unterstellen, eine „Fälschung“ zu sein. Aus einer Sichtweise als Mythos folgt vielmehr, dass in der Realität komplizierter abgelaufene Entwicklungen subjektiv ehrlich in einer bildlichen Form wahrgenommen wurden, welche wörtlich gesehen nicht zutreffen mag, den Ablauf aber durchaus „treffend“ darzustellen vermag, wenn man die bildliche Ausdrucksweise einmal verstanden hat.

In Bezug auf das jüdische Recht bedeutet diese mythische Ausdrucksform, dass durch die traditionelle Sichtweise anscheinend der Wahrnehmung Ausdruck verliehen werden soll, dass die Rechtsentwicklung hin zu immer milderen und humaneren Regelungen – von den Talionsgesetzen der Stammeszeit über die harten gerichtlichen Strafen zur Zeit des 1. und 2. Tempels bis hin zur praktischen Abschaffung der Todesstrafe in talmudischer Zeit – eine legitime Entwicklung darstelle, die mit dem Geist der Thora in voller Übereinstimmung stehe.

In direkter Form hätte man zur damaligen Zeit diesen Gedanken nicht ausdrücken können, da er angesichts der formalen Abweichungen zwischen dem Text der biblischen Gesetze und den tatsächlich zur Ausführung gelangenden Regelungen das Verständnis der Menschen mit Sicherheit überfordert hätte (wahrscheinlich auch das der rabbinischen Autoritäten selbst).

[Mit diesem Punkt sind wir damit beim Anknüpfungspunkt an das Problem angelangt, das ich in dieser Arbeit besprechen möchte: das offensichtliche Unverständnis für den erwähnten Prozess der jüdischen Rechtsentwicklung in denjenigen Kreisen, aus denen die Hadite zum Thema der Steinigung bei Ehebruch sowie auch der außerkoranische sog. „Vers der Steinigung“ stammen. Mehrere der erwähnten Hadite setzten sich nämlich polemisch mit der damaligen jüdischen Rechtspraxis auseinander, der sie „Verfälschung“ im Vergleich zur ursprünglichen Thora vorwerfen.

Zunächst werde ich die Texte aus Thora und jüdischer Halacha zu diesem Thema vorstellen und besprechen und danach die diesbezüglichen aus dem Qur’an und den Haditen. Dann werde ich die möglichen Beziehungen zwischen den jeweiligen Texten der beiden Religionen besprechen und letztendlich mögliche Schlussfolgerungen und Ergebnisse diskutieren. –

Ich werde die entsprechenden Texte jeweils aus dem Urtext noch einmal neu ins Deutsche übersetzen; nur die hebräischen bzw. arabischen Zeilen sind also wörtliche Zitate aus den Quellentexten, die deutschen Sätze dagegen nicht, sondern meine eigenen (möglichst wortgetreuen) Übertragungen.

Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine Untersuchung der Primärquellen, und welche hypothetischen Schlüsse aus deren Analyse gezogen werden können, weitgehend ohne Heranziehung bzw. Berücksichtigung von Sekundärliteratur.

Die Umschrift der arabischen und hebräischen Wörter entspricht weitgehend den Regeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG), mit Ausnahme im deutschen Wortschatz bereits eingebürgerter Begriffe wie Thora, Islam, Halacha etc.

[…]


[1] D.h. aus dem 8.-6. Jahrhundert vor der Zeitrechnung.

[2] In seiner wörtlichen Anwendung (d.h. Blutrache statt Geldentschädigung); Lev 24,20 bzw.[1]Ex 21,˙23. Vgl. auch Ri 19-21.

[3] Das wäre der Zeitraum des 11. Jhdts. vor der Zeitrechnung. Es ist dies der Zeitraum, in dem ein ungeschriebenes Stammesrecht der israelitischen Stämme zur Anwendung kam. Es ist nicht auszuschließen, dass in ländlichen, weit von städtischer Gerichtsbarkeit entfernten Regionen solche Regelungen auch noch länger angewendet wurden. Eine bis zu einem gewissen Grad vergleichbare Analogie dazu aus der heutigen Zeit würde etwa das Stammesrecht des Paschtunwli der paschtunischen Stämme des heutigen Afghanistan und Pakistan darstellen.

[4] Solche apologetischen Standpunkte existier(t)en christlicherseits (in Bezug auf den Talmud) und bei muslimischen Polemikern (gegen die jüdischen Schriften insgesamt).

Ende der Leseprobe aus 35 Seiten

Details

Titel
Hadithe zur Steinigung (Radjm) und ihre Beziehung zur jüdischen Halacha
Hochschule
Universität Hamburg  (Asien-Afrika-Istitut)
Veranstaltung
Hauptseminar
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
35
Katalognummer
V357906
ISBN (eBook)
9783668428102
ISBN (Buch)
9783668428119
Dateigröße
690 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Eine Untersuchung dreier polemischer antjüdischer Hadithe. Ihr Vergleich mit Regeln der jüdischen Halacha und der Beleg, dass diese Hadithe nicht "authentisch" sein können. Das älteste könnte aus der Zeit von Malik ibn Anas, dem Autor d. Muwatta' stammen.
Schlagworte
Hadith, Islam, Judentum, Halacha, Vorwurf des Tahrif
Arbeit zitieren
Magister Artium Matthias Stumpf (Autor:in), 2008, Hadithe zur Steinigung (Radjm) und ihre Beziehung zur jüdischen Halacha, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/357906

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