Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Persistenz von Interesse und möglichen Vollzügen von Lernprozessen in Besuchen der Münsteraner Kinder-Uni und des Berliner UniLabs als Beispiele außerschulischer Lernorte. Es stellt sich die Frage, ob diese Lernorte Interesse für Wissenschaft wecken und sich in ihren Durchführungen Lernprozesse vollziehen. Dazu wird der Hypothese nachgegangen, dass ein interessiertes Auseinandersetzen mit einem Gegenstand den Beginn von Lernprozessen begünstigt. Die Erläuterung der phänomenologischen Lerntheorie endet in der Darstellung von Aufmerksamkeitshorizonten.
Nach der Vorstellung von vier Interessentheorien kommt in der Zusammenführung von Lernen und Interesse heraus, dass Interesse als Teil von Aufmerksamkeit fungiert. Durch den personalen Interessenhorizont werden Interessenhandlungen vollzogen, die durch einen vertieften Umgang mit dem Gegenstand theoretisch Lernprozesse wahrscheinlicher machen.
In der Begleitstudie der Münsteraner Kinder-Uni wird deutlich, dass einmalige Besuche des außerschulischen Lernortes das Interesse der Kinder für Wissenschaft nicht wecken. Die Begleitstudie des UniLabs zeigt, dass mehrmalige, in den Unterricht eingebundene Besuche hingegen für ein stabiles Interesse sorgen. Einer solchen Einbindung bedarf es der Kinder-Uni noch. Eine Aussage zu den Vollzügen von Lernprozessen konnten beide Begleitstudien nicht bieten.
Im Ergebnis kann im Ergebnis vermutet werden, dass sich in der Kinder-Uni eher Lernprozesse zu den vorgestellten Themen ereignen, wenn die Durchführung auf ein stabiles Interesse ausgelegt ist. Um in Zukunft mögliche Lernprozesse in außerschulischen Lernorten zu erforschen, bietet sich ein Ausblick zum Forschungskonzept der Innsbrucker Vignettenforschung an, in dessen Durchführung eigene Erzählungen der Probanden im Forscherplenum intersubjektiv interpretiert werden.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
THEORIE
2 Theorien des Lernens
2.1 Kritik an Lerntheorien
2.2 Phänomenologie
2.3 Phänomenologie des Lernens
2.3.1 Der Subjektbegriff bei Käte Meyer-Drawe
2.3.2 Zur Prozessualität des Lernens
2.3.3 Lernen ist Erfahrungslernen
2.3.3.1 Lernen bedeutet Umlernen
2.3.4 Zur Auffassung von Zeit
2.3.5 Anfänge des Lernens
2.3.5.1 Die Lehrperson als Lernperson
2.3.6 Alterität - Die »Anderen« im Lernen
2.3.6.1 Die Leiblichkeit im Lernen - Die Person
2.3.7 Aufmerksamkeit
2.4 Zwischenfazit
3 Theorien von Lernmotivation und Interesse
3.1 Das Wirkungsmodell nach Prenzel
3.2 Die Selbstbestimmungstheorie von Deci & Ryan
3.3 Die flow -Theorie von Csikszentmihalyi
3.4 Die Person-Gegenstands-Theorie des Interesses nach Krapp
3.5 Zwischenfazit
4 Zusammenführung: Lernen und Interesse
GEGENSTAND
5 Außerschulische Lernorte
5.1 Außerschulisches Lernen
5.2 Begleitstudie zur Münsteraner Kinder-Uni: »Die Uni in der Kinder-Uni«
5.2.1 Erste Begleitstudie
5.2.2 Zweite Begleitstudie
5.2.3 Resümee der Autorinnen
5.3 Evaluationsstudie zum Berliner UniLab: »In den Unterricht eingebundene Schülerlaborbesuche und deren Einfluss auf das aktuelle Interesse an Physik«
5.3.1 Das UniLab Adlershof
5.3.2 Curriculum in der Studie
5.3.3 Durchführung
5.3.4 Diskussion
6 Fazit
7 Ausblick: Vignettenforschung
Literaturverzeichnis
Gender-Erklärung
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in Teilen dieser Diplomarbeit die Sprachform des generischen Maskulinums angewendet. Es wird an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die einzelnen Verwendungen der ausschließlich männlichen Form geschlechtsunabhängig verstanden werden soll.
Abstract
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Persistenz von Interesse und möglichen Vollzügen von Lernprozessen in Besuchen der Münsteraner Kinder-Uni und des Berliner UniLabs als Beispiele außerschulischer Lernorte. Es stellt sich die Frage, ob diese Lernorte Interesse für Wissenschaft wecken und sich in ihren Durchführungen Lernprozesse vollziehen. Dazu wird der Hypothese nachgegangen, dass ein interessiertes Auseinandersetzen mit einem Gegenstand den Beginn von Lernprozessen begünstigt. Die Erläuterung der phänomenologischen Lerntheorie endet in der Darstellung von Aufmerksamkeitshorizonten. Nach der Vorstellung von vier Interessentheorien kommt in der Zusammenführung von Lernen und Interesse heraus, dass Interesse als Teil von Aufmerksamkeit fungiert. Durch den personalen Interessenhorizont werden Interessenhandlungen vollzogen, die durch einen vertieften Umgang mit dem Gegenstand theoretisch Lernprozesse wahrscheinlicher machen.
In der Begleitstudie der Münsteraner Kinder-Uni wird deutlich, dass einmalige Besuche des außerschulischen Lernortes das Interesse der Kinder für Wissenschaft nicht wecken. Die Begleitstudie des UniLabs zeigt, dass mehrmalige, in den Unterricht eingebundene Besuche hingegen für ein stabiles Interesse sorgen. Einer solchen Einbindung bedarf es der Kinder-Uni noch. Eine Aussage zu den Vollzügen von Lernprozessen konnten beide Begleitstudien nicht bieten. Im Ergebnis kann im Ergebnis vermutet werden, dass sich in der Kinder-Uni eher Lernprozesse zu den vorgestellten Themen ereignen, wenn die Durchführung auf ein stabiles Interesse ausgelegt ist. Um in Zukunft mögliche Lernprozesse in außerschulischen Lernorten zu erforschen, bietet sich ein Ausblick zum Forschungskonzept der Innsbrucker Vignettenforschung an, in dessen Durchführung eigene Erzählungen der Probanden im Forscherplenum intersubjektiv interpretiert werden.
1 Einleitung
»Event schafft Aufmerksamkeit - Prozess schafft Nachhaltigkeit« (Pansegrau 2008, S. 40) beendete Petra Pansegrau 2008 den Artikel, in dem sie sich mit dem Phänomen Erlebnis-Wissenschaft befasst. Damit beschreibt sie einen Trend, Wissenschaft multimedial u.a. durch TV-Formate massengesellschaftlich einzubeziehen. Die Elfenbeintürme der Wissenschaft ständen nun weit geöffnet, sodass jeder mit ihr in Kontakt treten könne. Negativ sieht Pansegrau jedoch den allein stehenden Event-Charakter der Darstellung in den Formaten. Dabei gehe es in der allgemeinen öffentlichen Darstellung von Wissenschaft um mehr als Aufmerksamkeit für sie zu gewinnen. Vielmehr versuchen Instanzen aus dem Bereich der Wissenschaftskommunikation gesamtgesellschaftliche Akzeptanz für Wissenschaft zu erreichen und einen gesellschaftlichen Dialog mit ihr zu bewirken. Gesamt -gesellschaftlich bedeutet dabei vor allem auch bislang wissenschaftsferne Mitglieder zu kontaktieren und für wissenschaftliche Arbeit zu sensibilisieren (vgl. ebd.).
Genau in diesem Punkt sitzt die erziehungswissenschaftliche Relevanz. Denn in sogenannten außerschulischen Lernorten, wie z.B. Kinder-Unis und Schülerlaboren, wird durch Vorführung sowie eigene Durchführung von Experimenten bereits der Versuch unternommen, Wissenschaft und wissenschaftliches Arbeiten Kindern verschiedenen Altersgruppen näher zu bringen. Dabei stellen sich grundlegende Fragen, ob solche Projekte nicht nur auf Wissenschaft aufmerksam machen, sondern in ihrer Durchführung (1) lerntheoretische Bedingungen berücksichtigen und gleichsam (2) eigenes Interesse der Schülerinnen und Schüler am wissenschaftlichen Lerngegenstand aufrechterhalten. Erstens steht dabei der externe Einfluss der Umwelt auf Lernvorgänge der Schülerinnen und Schüler im Fokus. Welche Rolle spielt die Umgebung in Lernprozessen und kann eine Lehrperson einen Lernprozess extern inszenieren? Oder können Schülerinnen und Schüler ihr Lernen selbst steuern? Wie gewinnt die Lehrperson die Aufmerksamkeit einzelner Schülerinnen und Schüler auf einen Lerngegenstand? Wie ist es ihr daraufhin möglich, Wissen zu vermitteln?
Zweitens gilt es herauszustellen, in welchen Momenten Interesse auftritt bzw. welche Voraussetzungen Interesse einfordert. Lässt sich Interesse extern veranlassen und steuern? Und wie bleibt Interesse an einen Gegenstand konstant?
Hypothetisch gesprochen lässt sich ein Lernprozess weder extern von der Lehrperson weder intern von Schülern steuern. Jedoch könnte ein interessierter Umgang mit einem Gegenstand eher dazu führen, dass Lernprozesse beginnen. Dazu wird in der vorliegenden Arbeit untersucht, wo sich theoretische Verbindungen oder Annäherungen zwischen Lernen und Interesse herstellen lassen und wo sich beide Felder uneinig sind.
Dazu wird in Kapitel 2 eine phänomenologische Lerntheorie vorgestellt, da sie aufgrund der phänomenologisch-philosophischen Tradition ihre Punkte wissenschaftsorientierter ansetzt. Nach einer allgemeinen Kritik an gängigen Lerntheorien (2.1) wird zunächst der Gedanke der Phänomenologie nach Husserl und Merleau-Ponty dargestellt (2.2). Daraufhin wird umfangreich eine, vor allem nach Meyer-Drawe orientierte, phänomenologische Lerntheorie vorgestellt (2.3). Nach der Erläuterung von Meyer-Drawes Sujet-Subjekt (2.3.1) wird das grundlegende Verständnis von Lernen als Prozess beschrieben (2.3.2) und daraufhin als Erfahrungslernen vorgestellt (2.3.3). Die gelebte und gedachte Zeit (2.3.4) findet sich teilweise in den Anfängen von Lernen wieder (2.3.5). Den Einfluss der Anderen im Lernen wird gleichsam durch den menschlichen Leib bestimmt (2.3.6), über den der Mensch seiner Umgebung und den Dingen gegenüber aufmerksam ist (2.3.7). Abschließend werden die wichtigsten Punkte des Kapitels vorläufig resümiert (2.4).
In Kapitel 3 werden vier Interessentheorien vorgestellt. Prenzels Wirkungsmodell bezieht sich dabei auf die Persistenz von Interesse (3.1), wobei Deci und Ryan gezielt die Selbstbestimmung von Interesse und daher eher extrinsische Motivation fokussieren (3.2). Durch seinen Begriffs des flow -Erlebens beschreibt Csikszentmihalyi intrinsisch motivierte Handlungen von Interesse (3.3). Krapp nimmt u.a. diese drei Theorien auf und integriert sie zu einer Person-Gegenstands-Theorie, in der er die Beziehung zum Gegenstand hervorhebt (3.4). Ebenso werden am Ende des dritten Kapitels die wichtigsten Punkte kurz zusammengefasst (3.5).
In Kapitel 4 werden in einer Zusammenführung die lerntheoretischen Annahmen des zweiten Kapitels mit den interessentheoretischen des dritten Kapitels gegenüber gestellt um mögliche Zusammenhänge oder Reibungen herauszuarbeiten.
Das fünfte Kapitel stellt nach vorgängiger Theorie den Gegenstand der vorliegenden Arbeit dar. Nachdem zunächst außerschulisches Lernen kurz umrissen wird (5.1) wird eine jeweilige Evaluation der Münsteraner Kinder-Uni (5.2) und des Berliner Schülerlabores UniLab Adlershof vorgestellt (5.3).
Das Kapitel 6 bildet das Schlussfazit, in dem die im vierten Kapitel erarbeiteten Prinzipien auf ausgewählte Ergebnisse des fünften Kapitels angewandt werden. Mit anderen Worten werden aus lern- und interessentheoretischer Sicht außerschulische Lernorte betrachtet, die eine gesellschaftliche Heranführung an Wissenschaft erreichen wollen. Leitziel wird dabei die Frage sein, ob und wie die Konzepte die herausgestellten lern- und interessenbezogenen Eigenheiten berücksichtigen. Wo liegen Möglichkeiten, durch eine gegebene Situation intrinsischen Interesses in außerschulischen Lernorten das Auftreten von Lernprozessen zu begünstigen? So ist das grundsätzliche Fazit dieser Arbeit auf Kapitel 4 und 6 aufgeteilt.
In Kapitel 7 wird ein Ausblick gegeben, welche neuen Fragen sich durch die Erarbeitung gebildet haben und zudem, wie durch Vignettenforschung eine annähernde Evaluation von Lernprozessen möglich sein kann.
THEORIE
2 Theorien des Lernens
2.1 Kritik an Lerntheorien
Es gibt verschiedene Ansätze von Lerntheorien. Um einen kurzen Einblick in die gängige Auffassung von Lernen zu geben, seien hier die behavioristische und die kognitivistische Theorie kurz angeschnitten (vgl. Dinkelaker 2011, S. 135f).
Die behavioristische Theorie fokussiert sich auf die Veränderung von langfristigen Verhaltensweisen in Abhängigkeit mit äußeren Reizen. Dabei arbeitet das Konzept der operanten Konditionierung beispielsweise mit der Ausgabe von Ereignissen bzw. Verstärkern, wenn ein Verhalten aufgetreten ist. Ein erwünschtes Verhalten wird dann mit einer Belohnung, ein unerwünschtes Verhalten mit einer Strafe besetzt. So werde ein positiv verstärktes Verhalten erwartbar und ein negativ verstärktes Verhalten vermieden. Diese Theorie wurde aufgrund ihrer Striktheit in der mechanischen Auffassung und Umsetzung vielfach kritisiert. Ebenso ließen sich empirische Beobachtungen mit dieser Theorie nicht erklären.
Eine weitere weit verbreitete Theorie des Lernens ist der kognitivistische Ansatz. Hier geht es nicht mehr um eine Veränderung der Verhaltensweisen durch äußere Reize, sondern den Umgang mit Informationen. Dabei geht es darum, wie sie aufgenommen, verarbeitet, gespeichert und genutzt werden. Es wird untersucht, wie Wissen kognitiv repräsentiert wird. Wichtige Faktoren sind dabei das bestehende Vorwissen, die Darstellung neuen Wissens, sowie die mentalen Prozesse von Verarbeitung und Speichern des Wissens (vgl. ebd., S. 136).
Allerdings wird Wissen in kognitivistischer Sicht als ein Speicher dargestellt, der stets angereichert wird. Aufgrund von Vorwissen würde hier lediglich neues Wissen angeknüpft. Daraus entstehen Annahmen, dass Wissen - wie in Piagets Stufenmodell - vorgeordnet sei. Der Lerner müsste demnach in seinem Leben bestimmte Stufen erreichen und dazu bestimmte Wissen erlangt haben. Ein zweiter grundlegender Kritikpunkt an der kognitivistischen Sichtweise des Lernens ist, dass die Bedeutung des Lerngegenstandes ausschließlich von der Logik des Fachgebietes abhinge, in dem geforscht wurde. Wie der Lerner den Gegenstand interpretiert steht dabei außen vor. So hat Piaget in seinen Untersuchungen den Verlauf kognitiver Operationen innerhalb von ihm vorgegebener Formen untersucht statt informell darauf zu achten, wie die Probanden den jeweiligen Gegenstand interpretieren und mit ihm umgehen. Weder Lerner noch Gegenstand stehen in seinem Konzept im Mittelpunkt, sondern die Vorgabe einer Struktur, auf welchem kognitiven Level jemand zu einem bestimmten Zeitpunkt zu stehen hat (vgl. Rösler 1983, S. 950f). Einfach und provokant formuliert ist damit eine zu überwindende Kluft formuliert, welche sich auftut sobald kognitive Möglichkeiten von Kindern an denen von Erwachsenen gemessen wird.
Zusammenfassend sind für die Bearbeitung der Frage nach einer Aufmerksamkeit des Menschen behavioristische Konzepte in ihrer Anthropologie zu maschinell: Der Mensch wird auf ein Reiz-Empfänger und Verhaltens-Geber reduziert.
Kognitivistische Ansätze sind für die vorliegende Arbeit aus ähnlichen Gründen der Reduktion unzureichend: Der lernende Mensch hat vorgeschriebene Wissensziele zu erfüllen, dessen Weg strukturell vorgegeben ist. Er sammelt Wissen in seinem mentalen Speicher um es bei Bedarf abzurufen. Lernen wird dadurch statisch und seine (eigen-)dynamischen Merkmale bleiben unberücksichtigt.
Als erweiternde Alternative dieser alltäglichen Auffassungen wird in den nächsten Kapiteln ein phänomenologisch orientierter Ansatz von Lernen vorgestellt. Dazu ist es nötig, die für den Ansatz relevante phänomenologische Strömung der Philosophie kurz zu erläutern.
2.2 Phänomenologie
Zum Verständnis der phänomenologischen Denkweise werden im Folgenden phänomenologische Grundzüge nach Edmund Husserl grob umrissen. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf dem Erkenntnisprozess, den Husserl erläutert und seine Beweggründe dazu.
Dazu fasst Bojan Godina (2012) zusammen, dass Husserls Arbeit von zwei Strömungen geprägt war: (1) Als Reaktion auf die Annahme, Philosophie sei keine Wissenschaft, sondern eine Weltanschauung und (2) er reagierte auf den vorherrschenden Psychologismus (ebd., S. 20f). Um dem entgegenzutreten wollte Husserl zunächst eine Methode entwickeln, um - wie weitere Philosophen - eine Kritik der logischen, praktischen und wertenden Vernunft zu formulieren (ebd., S. 13f).
Nach Werner Marx (1987) prägte sich mit dem damaligen Aufstieg der Naturwissenschaften eine Wertschätzung ihrer Forschungsergebnisse und ein äquivalentes Bild, wie Wissenschaft zu sein hatte. Dadurch verblasste zunehmend die Philosophie und ihr Stellenwert. Husserl versuchte darum, den Naturwissenschaften ein standhaftes philosophisches Konzept gegenüber zu stellen. Dazu versuchte er, zwei Gesichtspunkte aufzuzeigen:
(1) Er musste dazu ein Konzept entwickeln, das der Exaktheit der Wissenschaften entsprach, ohne diese jedoch zu kopieren. Dazu war es wichtig, Bedingungen hinzuzunehmen, unter denen sich diese Exaktheit in europäischen Philosophien überhaupt herausbildet.
(2) Außerdem musste Husserl überzeugend darstellen, wie Einzelwissenschaften einen je eigenen Platz in einem übergreifenden Gesamten einnehmen (vgl. ebd., S. 12). Anders als Philosophen wie Kant, Descartes und Hume blieb Husserl in seiner Kritik an die Naturwissenschaften standhaft bei den Phänomenen und analysierte sie bis zum Kern. Damit habe er »die Philosophie zu einem Korrektiv der naturwissenschaftlichen Einseitigkeit gesetzt« (Godina 2012, S. 15).
Husserl ordnete die Wissenschaften ontologisch nach seiner eigenen Methode: die eidetische Methode. Als Ontologie der Wissenschaften versuchte Husserl eine Struktur des Erkennens für die Philosophie und einzelne Wissenschaften aufzustellen. Daraufhin kategorisierte er die Wissenschaften anhand von Regionalontologien. Dabei kann es vorkommen, dass eine Wissenschaft mehrere ontologische Kategorien erfüllt.
Eine Regionalontologie soll den Umfang und Inhalt eines Gegenstandbereiches bestimmen, indem es sein Eigenwesen bestimmt. Damit ist der Sinn gemeint, der dem Bereich zukommt. Dazu benötigt der Ontologe eine eigene Methode (vgl. Marx 1987, S. 12f).
Mit Blick auf die Wissenschaft der Psychologie hebe Husserl die Tendenz hervor, innerhalb der Forschung Gegenstandsbereiche zu überschreiten. Diese Tendenz tritt bei allen Wissenschaften auf, »solange die eidetische Grundlegung ihres Gegenstandsbereiches nicht erfolgt ist« (ebd., S. 13).
Die resultierende Besinnung auf regionale Wesen kann dann herausstellen, dass alles Seelische anders als das Raumkörperliche beschaffen ist. Demnach könne es mit quantitativen Methoden nicht erforscht werden (vgl. ebd., S. 12f).
Aus wissenschaftstheoretischer Sicht stellt Wilhelm Szilasi (1959) zwei Dinge auf, die für das Erkennen wichtig sind: »der Erkennende, der Wissenschaft betreibende Mensch als Subjekt, und das Erkennbare, der Gegenstand oder das Objekt der Wissenschaft« (ebd., S. 7). D.h. es muss ein betrachtendes Wesen geben, sowie etwas, das es zu betrachten gilt.
Erkenntnis würde dann entstehen, wenn der Mensch mit der Sache selbst aus Perspektive der ersten Person konfrontiert ist - im Gegensatz zum »Meinen«, in dem der Mensch der Sache fern ist (vgl. Godina 2012, S. 17). Wahre Erkenntnis geschieht nach Husserl aber dann, wenn sie außerhalb der jeweiligen Erlebnissituation auftritt. »So entsteht, wenn man wahres Erkennen durch Abgrenzung vom Meinen bestimmt, eine gewisse Spannung zwischen den Ansprüchen der Objektivität und der Sachnähe« (Szilasi 1959, S. 14). Allerdings steht chronologisch die situative Sachnähe vor der Objektivität, denn wir »könnten nie objektiv über eine Sache reden, wenn es prinzipiell keine Möglichkeit gäbe, diese 'anschaulich' und 'leibhaft' zu erleben« (Godina 2012, S. 19).
Eine gewichtige philosophische Wende gelang Husserl durch die Widerlegung des Psychologismus. Dieser besagt, dass das Bewusstsein sich ausnahmslos durch empirische Experimente nachweisen ließe. Husserl beschrieb, dass die Logik universal gültig sei und nicht induktiv von einem bestimmten Sachverhalt aufs Universelle bezogen würde. Wobei der Psychologismus die Spannung zwischen Objektivität und Sachnähe zugunsten subjektiv-situativer Vollzüge - und damit der Sachnähe - auflöst setzt Husserl die Frage nach einer reinen Mathematik entgegen. Durch die Evidenz einer reinen universellen Mathematik wäre die Spannung zur Objektivität wieder hergestellt (vgl. ebd., S. 19f).
Der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty griff Husserls Gedanken auf und entwarf eine ästhetisch-künstlerische Phänomenologie. Dazu resümiert Gerhard Danzer (2011) zunächst Merleau-Pontys Ansatz einer Erkenntnistheorie einschließlich dessen Fokus auf das Verhalten, die Wahrnehmung und den Leib des Menschen.
Demzufolge stelle Merleau-Ponty klar, dass Philosophen unweigerlich einen Sinn für Evidenz und Ambiguität besitzen. Man kann jedoch den Sinn der Ambiguität im Umgang mit ihr erschließen. Dabei favorisierte Merleau-Ponty den Terminus doppeldeutig und grenzte ihn von zweideutig ab um die dem Philosophen konfrontierte Pluralität hervorzuheben. Der Forscher thematisiert und bekennt sich zur Mehrdeutigkeit der Welt und ihrer Dinge. Merleau-Ponty spreche hierbei von einer dritten Dimension. Man stelle sich als Denkender darum einen weiteren Raum vor, in dem neue Forschungsstandpunkte und Beobachtungspunkte eingenommen und genauso wieder verlassen werden (vgl. ebd., S. 175).
Eine solche Dimension könnte sich öffnen, wenn zwei Fragen untersucht werden: Kann man den Menschen einfach zum Objekt reduzieren? Und darf man ihn aufgrund reflexiver, philosophischer Einstellung als unbedingtes und zeitloses Subjekt bestimmen? Beides würde einen widerspruchsfreien Raum der Ambiguität ergeben (vgl. Waldenfels 1983, S. 149).
Am menschlichen Verhalten versuchte Merleau-Ponty, die Tugenden und Qualitäten der Ambiguität überzeugend demonstrieren zu können. Zwei Punkte handelte er dazu ab: den szientistischen Naturalismus und den intellektualistischen Kritizismus. Wobei der Naturalismus die Wirklichkeit aus Elementen der Materie aufbaut und sie daher nach Ursachen klären will besteht die Welt für den angesprochenen Kritizismus aus Bewusstseinsprodukten. Für eine Wahrheitsfindung dürften beide Punkte aber nicht radikal betrachtet werden, sondern verbunden in der Doppeldeutigkeit der Dinge (vgl. Danzer 2011, S. 176).
Um menschliches Verhalten angemessen zu beschreiben, benutzte Merleau-Ponty zum einen den Begriff der Gestalt, sowie den der Struktur. Um Struktur zu beschreiben nimmt zieht er Wilhem Diltheys These des psychischen Lebensprozesses heran, der bis zum Lebensende eine Einheit bilde. Diese Einheit beinhalte zwar seelische Funktionen. Durch ihren Zusammenhang bilden sie jedoch Strukturen (vgl. ebd., S. 177).
Für Merleau-Ponty sei menschliches Verhalten eine »strukturierte, gestalthafte, ganzheitliche und sinnvolle Antwort des Individuums auf die Bedeutung einer Situation« (ebd.). In Situationen würden demnach Sinn oder Wert angeboten, dessen situative Bedeutungsmöglichkeiten ergreift oder verfehlt würden (vgl. ebd.).
Indem ein Ding einem Menschen erscheine, und sich in seinen intelligiblen Zusammenhängen verfasse, wirke es auf dessen Geist ein. Merleau-Ponty bezeichnete diese Zusammenhänge ebenfalls als Strukturen. Die Verbindung zwischen Idee und Existenz arrangiert sich zufällig und nimmt dadurch vor dem menschlichen Auge einen Sinn an. Dabei unterscheidet Merleau-Ponty zwischen (1) den Strukturen, die der Materie anhaften und (2) von Menschen zugeordneten intelligiblen Bedeutungen der Dinge (vgl. ebd., S. 177f).
Damit Individualität sich ausbilden kann, muss sich zunächst ein Prozess vollziehen, in dem die Komponenten Materie, Leben und Geist »auf ungleiche Art an der Natur der Gestalt partizipieren, verschiedene Integrationsstufen darstellen und schließlich eine Hierarchie bilden« (ebd., S.178, zit. n. Merleau-Ponty 1976, S. 151).
Dabei siedelt sich die Materie hierarchisch auf der untersten Strukturebene an. Darüber folgen die Ebenen von Leben und menschlichem Dasein. Alle Ebenen sind unterschiedlich miteinander integriert und bilden so eine Struktur. Das menschliche Verhalten zeichne sich nach Merleau-Ponty dadurch aus, dass es einzelne Strukturen übersteigt und neue schaffen kann.
Wurde mit dem Verhalten der Mensch von außen betrachtet, tut Merleau-Ponty dies nun von innen, indem er die Wahrnehmung untersucht. Vorher wird festgehalten, was Wahrnehmung nicht ist: Sie ist weder eine Ansammlung von Daten und Empfindungen noch beinhaltet das ihr fungierende Bewusstsein fertige Schablonen, anhand derer es die Wirklichkeit konstituiert (vgl. ebd., S. 178). Die Bedeutungen der Dinge ergeben sich immer wieder neu indem man sich mit ihnen beschäftigt.
Hier wird die Dynamik in der Begegnung der Dinge sichtbar, da sich ihr Sinn in der Situation schafft. Sie folgen keinem Modell oder immer gleichen Regelmäßigkeiten. Die Gestalt sei demnach »nicht Bedingung der Möglichkeit der Welt, sondern Erscheinung der Welt selbst, nicht Erfüllung, sondern Entstehung einer Norm, nicht Projektion eines Inneren ins Äußere, sondern Identität des Inneren und Äußeren« (Merleau-Ponty 1966, S. 85). Es wird nie etwas vorher existentes ent-deckt oder vorgefertigte Fähigkeiten er-zogen. Daraus ergeben sich immer wieder neu konstituierende Auffassungen, sowie immer wieder neu erscheinende Merkmale von Dingen. Jede Situation bildet sich also neu und kann nicht vorhergesagt oder wiederholt werden.
Bevor wir etwas glauben, wollen wir stets wahrnehmen. Das bedeutet, dass wir erst verifizieren, sobald sich die Wahrnehmung vollzogen hat. Erst durch die Wahrnehmung der Dinge entstehen ihre Bedeutungen und erhalten einen Index, der sie erst für unsere Realität von belang macht. Die Bewegung lässt die Dinge erst erscheinen und sie ist es auch, die »uns über die Subjektivität hinausträgt, die uns vor aller Wissenschaft und vor aller Verifikation in einer Welt begründet - durch eine Art 'Urglauben' oder 'ursprüngliche Meinung', oder aber in unseren privaten Erscheinungen gleichsam versandet« (ebd., S. 395).
Als Bindeglied zwischen Bewusstsein und den Dingen fungiert der Leib. In Merleau- Pontys Bild über den Körper spiegelt sich die eingangs erwähnte Doppeldeutigkeit einmal mehr wieder. So sei der Körper einerseits Teil der Welt und damit Teil der Dinge. Andererseits zeigt sich an ihm auch ein Verlangen, sich dem umgebenden Anderen zu nähern und ihn in entsprechenden Körpern als Ausdruck des Geistes zu finden (vgl. Danzer 2011, S.179).
Die hierarchische Struktur rekapitulierend geben höhere Verhaltensweisen dem organischen Leben einen Sinn. Interessant ist hier Merleau-Pontys Anmerkung, dass der Geist nur eine Freiheit genießt, die überwacht sei. Eine vollkommen selbstbestimmte Autonomie des Geistes wäre so nicht gegeben. Damit der Geist sich als Institution im
Organismus stabilisieren und verwirklichen könne, benötige er zudem einfache Aktivitäten (vgl. ebd., S. 180).
Der Leib ist das Medium, mit dem das Bewusstsein mit der Welt verbunden ist. Der Leib ist Voraussetzung, überhaupt eine Welt zu haben. Dieses Prinzip beruht allerdings auf Gegenseitigkeit: Der einzelne Mensch habe durch seinen Leib die Welt und die Welt habe den einzelnen Menschen durch seinen Leib. Diese Wechselseitigkeit ist bedeutsam, um die Rolle des Menschen und seine Umgebung in menschlichen Wandlungsprozessen ansatzweise auszumachen (vgl. ebd.).
Die umgebenden Dinge sind bereits in ihrem Kern Teil des menschlichen Körpers und dadurch, dass dieser die Dinge sieht, hält er sie in seinem Umfeld. Merleau-Ponty ist ebenso der Auffassung, dass das Sehen aus den Dingen heraus geschehe. Das Sichtbare beginne selbst zu sehen und das Empfindende stehe in einheitlicher Verbindung zu dem was es empfindet: dem Empfundenen (vgl. Merleau-Ponty 2003, S. 16f).
Der Leib trete als »Quelle einer uneigentlichen Intentionalität« auf. Dabei wirkt er ambig aktiv und passiv, was ihn zu mehr mache als eine Ansammlung von Organen (Danzer 2011, S. 182).
Allgemein wird der Leib als eine Verlängerung in die Welt dargestellt. Es steht kein unabhängiges Subjekt alleine und einseitig handelnd im Raum. Es nimmt reziprok an der Welt Teil und konstituiert nicht alleine umgebende Mitmenschen, Kultur und Kosmos. Sowie den Dingen Bedeutungen anhaften, so haften dem menschlichen Leib Seele Geist und Bewusstsein an (vgl. ebd.).
Merleau-Ponty hatte in seinen Arbeiten stets die Kunst einbezogen um Intentionalität und Ausdruck erkennen. Diesbezüglich vergleicht er den menschlichen Leib mit dem Kunstwerk, da (1) der Sinn von Kunstwerken nur im unmittelbaren Kontakt zugänglich sei und (2) Kunstwerke ihre Bedeutung ausstrahlen ohne den zeitlich-räumlichen Ort zu verlassen (vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 181f).
Es lässt sich resümieren, dass Husserl in seiner Ontologie etwas Übergreifendes darstellen wollte, das die Wissenschaften als jeweilige Teilgebiete umfasst. Mit den Regionalontologien benannte er immanente Eigenwesen der Wissenschaftsgegenstände, um diese einzuordnen. Husserl enthüllte jeweilige Seiensmerkmale der Gegenstände und damit ihren Sinn. Denn er war der Annahme, dass jedem Gegenstand ein Wesen gegeben ist. Durch seine Methode sollten die Wesen erkannt werden.
Maurice Merleau-Ponty war der Auffassung, dass sich der Sinn der Dinge immer wieder neu ergebe. Dazu vollzieht sich ein doppeldeutiges Zusammenspiel von den Strukturen der Dinge und den Zuschreibungen der Menschen gegenüber den Dingen. Der Leib fungiert dabei als ebenfalls doppeldeutige Verbindung zwischen Mensch und Welt, da er einerseits selbst Ding in der Welt ist und andererseits dem Verlangen nachkommt, sich anderen zu nähern.
So lässt sich für den weiteren Verlauf festhalten, dass den Gegenständen ein Sinn inhärent ist, der sich aufgrund unterschiedlicher Zuschreibungen der Menschen ständig verändert und erneuert wird.
2.3 Phänomenologie des Lernens
Auf dieser phänomenologischen Basis formuliert Käte Meyer-Drawe eine Theorie des Lernens, die das durchgängige Auftreten von Ambiguitäten und Doppeldeutigkeiten gewichtet thematisiert. Um einen Eindruck des Lernenden im Kontext der Theorie zu bekommen, wird im Folgenden ihr Subjektbegriff erläutert.
2.3.1 Der Subjektbegriff bei Käte Meyer-Drawe
Die Doppeldeutigkeit des Subjekts sieht Meyer-Drawe (2003) in seinem Auftreten als Untertan einerseits und Souverän andererseits. Die leibliche Existenz ist dem Menschen »zugleich als spezifischen Ordnungen unterworfen und Perspektiven zugrundeliegend« (ebd., S. 43).
Als Subjekt steht das Ich des Menschen allem gegenüber, das Nicht-Ich ist. Es schließt sich aus dem Anderen aus, woraus das Ich als eigene Instanz beschrieben wird. Das Problem im Anfang sieht Meyer-Drawe im eigenen Weisungsdrang des Ichs: Die Auffassung, durch die persönliche, geistige Instanz sich als Mensch lenken zu können (vgl. ebd). Um das Problem »Zur Doppeldeutigkeit des Subjekts« (ebd.) zu erörtern, begibt sie sich auf einen Streifzug durch subjekttheoretische Ansätze.
Neben dem Foucaultschen Subjektivitätsbegriff, demnach sich im umgebenden Machtgefüge Subjektivität durch Unterwerfung und Befreiung herausbildet, gewichtet sie Hegels Annahme, der Geist stehe als bestimmende Instanz über alles. Etwas abgeschwächt sieht Descartes, dass der Mensch immer dem unterworfen sei, was ihm umgibt. Er ist dem ausgeliefert, was ihm erscheint und kann nur so zu einem Denkenden werden. Kant unternimmt eine Trennung in zwei Ichs: Das Ich, das der Mensch an sich selbst denkt und anschaut, ist die eigene Persönlichkeit. Das zweite Ich ist das Ich, welches der Mensch als Objekt im Anderen sieht (vgl. ebd., S. 44f).
Der Mensch befindet sich im Spannungsverhältnis zwischen dem Seinigen und dem Selbst: Das Seinige ist bei Platon, als auch im christlichen Dualismus, der Leib, der als Begleiter des Selbst fungiert. Das Selbst ist der geistige Teil, der den Körper lenkt. Einen dazu konträren Punkt bringt Meyer-Drawe durch Nietzsches Umkehrung ein: Demnach sei der Leib das Selbst und der Geist das Seinige. Denn der Leib ist der Sinnesapparat, der Schmerz spürt und Lust fühlt. Der Geist - das Seinige - ist »zweit-wichtig« und reflektiert die Eindrücke des Leibes. Damit sei die Spannung des Subjekts zwischen Selbstbestimmung und Unterworfen-sein wieder hergestellt (vgl. ebd., S. 46f).
Mit Anlehnung an Plessner resümiert Meyer-Drawe das Subjekt als »doppeldeutig in der konflikthaften Beziehung von Selbstgebung und Selbstentzug« (ebd., S. 48). Demnach bestimme der Mensch sein Leben nicht, sondern er führe es. Er stehe in Beziehung zu einer weiteren Beziehung, nämlich der zwischen Leibsein und Körpersein (vgl. ebd.).
Aus den »Illusionen von Autonomie« beschreibt Meyer-Drawe (1990) ein Sujet- Subjekt. Damit ist ein Zusammenschluss der Begriffe Sujet und Subjekt gemeint, die je tragende Positionen in Situationen meinen, jedoch in ihrer Interpretation unterschiedlich behaftet sind. Das französische Wort Sujet bedeutet u.a. Untertan, wobei Subjekt als handelnde Instanz beschrieben wird. Mit der Verbindung beider Begriffe hebt Meyer- Drawe hervor, dass der Mensch immer gleichzeitig einen Gegenstand darstellt, als auch eine Handlungsposition einnimmt. So sind Menschen als leibliche Wesen stets Subjekt und Objekt (vgl. ebd., S. 151f). Deutlich wird dies durch Meyer-Drawes Verweis auf G.H. Meads englische Begrifflichkeit des Ichs. Das Ich als I sei unbestimmt und ein Erinnerungsbild. Wenn das Ich sich zu sich selbst wendet, wird es zum me. Demnach könne sich der Mensch durch seine Selbst-Zuwendung ausschließlich als Objekt begegnen (vgl. ebd., S. 154).
Freiheit und Bestimmung als Alternative zur Unterwerfung ist unrealistisch. Der Mensch existiere als Wesen innerhalb von Anordnungen, in die er geboren wird. MeyerDrawes Subjekt - also Sujet-Subjekt - konstituiert sich darum über Praktiken der Unterwerfung und der Befreiung. Autonomie tritt als Illusion einer souveränen Machthabung auf (vgl. ebd., S. 155f).
Der Mensch wiederholt also die vorgefundenen Ordnungen, wobei er sie nicht identisch wiederholt. Durch seinen Drang nach Selbstbestimmung und Freiheit ändert er die aufgenommene Ordnung um, bringe die Vorherbestimmungen seiner Existenz durcheinander (vgl. ebd., S. 24).
Das doppeldeutige Sujet-Subjekt beschreibt den Menschen in einer Position zwischen Souveränität und Unterworfenheit. Er muss ihm gegebene gesellschaftliche Konstitutionen aufnehmen und drängt dort heraus zu Neuem. Dieses Neue kann er jedoch nur anhand dessen erarbeiten, was er vorfindet. Somit entsteht in der Regel eine verändernde Reproduktion des Vorherigen. Ein wesentliches Merkmal dieses Prozesses ist seine Irreversibilität, die im nächsten Punkt kurz metaphorisch erörtert wird
2.3.2 Zur Prozessualität des Lernens
Lernen beginne nach Meyer-Drawe (2008) dort, wo »das Vertraute brüchig und das Neue noch nicht zu Hand ist« (ebd., S. 213). Sie bringt hier Waldenfels' Metapher einer Schwelle an, die überschritten wird und nur in einer Richtung überschritten werden kann. Dieses Überschreiten bezeichnet eine Transformation von einem Zustand zum Neuen, lässt aber keine Synthese zweier Zustände zu. Hat man die Schwelle einmal überschritten, lässt sich dieser Schritt nicht mehr rückgängig machen. Der Zustand des Menschen hat sich geändert, sodass der Mensch ein anderer ist als vorher. Bezüglich der Untersuchung des Lernprozesses ist es wichtig zu sagen, dass diese Schwelle einen hoch-subjektiven Charakter hat: Die Veränderung lässt sich von außen nicht betrachten und ist somit nicht objektivierbar. Es lassen sich extern lediglich die Zustände vor und nach dem Schritt ermitteln (vgl. ebd.). Der Schwellenschritt an sich muss aber vom Individuum selbst berichtet werden. Oft lässt sich dies schwer umsetzen, da sich der Mensch nur bedingt oder gar nicht an den Prozess des Lernens erinnern kann. Qualitative Methoden der Vignettenforschung, sowie Reflexions- und Biografieübungen können dabei sehr hilfreich sein. (Diese werden im am Ende dieser Arbeit im Ausblick kurz vorgestellt.) Die phänomenologische Lerntheorie von Meyer-Drawe ist dadurch gekennzeichnet, dass sie für den Lernprozess bereits ein Etwas voraussetzt. Zum einen ist damit eine Vorerfahrung anhand eines entstandenen Erfahrungshorizontes gemeint. Anhand dessen werden neue Eindrücke reflektiert und die bestehende Interpretationen umgelernt. Darauf wird im Kapitel 2.3.3 Lernen ist Erfahrungslernen eingegangen.
Zum anderen ist damit der auf den Menschen einwirkende Gegenstand gemeint. Durch den Einfluss auf den Menschen wird der Gegenstand zum Phänomen. Dass somit Lernen nur durch Einbezug der Umgebung möglich ist, wird in Kapitel 2.3.6 zu den »Anderen« im Lernen beleuchtet.
Lernen wird folglich zum Überschreiten einer Schwelle von einem ErfahrungsBewusstseinszustand in einen anderen. Hier wird der prozessuale Charakter von Lernen deutlich: Im Sinne eines fortschreitenden Ablaufs ist ein Rückschritt zum vorherigen Zustand unmöglich. Zwar bedingt der bestehende Zustand den nächsten. Eine synthetische, gleichwertige Verbindung, in denen beide Zustände aktuell bleiben, schließt der hier benutzte Prozess-Begriff jedoch aus.
Für die Erforschung von Lernprozessen ist festzuhalten, dass Lernprozesse sich nicht von außen objektiv beobachten lassen. Der Ablauf eines solchen Prozesses vollzieht sich im Menschen selbst und ist höchstens aus subjektiver Perspektive sichtbar. Dabei lässt sich am ehesten der Erfahrungszustand vor und jener nach dem Lernprozess ausmachen. Der prozessuale Schwellenschritt selbst bleibt jedoch verschwommen. Das heißt, es ist nicht gewährleistet sondern bloß wahrscheinlich, dass ein Mensch sich an einen Lernprozess erinnern wird.
Der bisherige Erfahrungszustand wird in einem nächsten Schritt zur Vorerfahrung, anhand dessen der Mensch den ihm erscheinen Gegenstand interpretiert und erneut Erfahrungen macht.
2.3.3 Lernen ist Erfahrungslernen
Eine grundlegende Auffassung der vorliegenden Arbeit ist, dass Erfahrung immer auch Lernen bedeutet und Lernen immer Erfahrung beinhaltet. Daher wird in diesem Kapitel zunächst ein grober Überblick über verschiedene Auffassungen von Erfahrungen als Lernen gegeben, woraufhin im hierauf folgenden Unterkapitel Lernen vertieft als Umlernen beschrieben wird..
Erfahrungslernen bedeutet nicht die Substitution einer Erfahrung durch eine andere, sondern die Umgestaltung eines Erfahrungshorizontes, der zunächst gebildet und im Laufe seines Lebens stetig erneuert wird (vgl. Meyer-Drawe 1996, S. 90).
Meyer-Drawe unterscheidet zwischen zwei Ordnungen von Erfahrungslernen:
(1) Innerhalb der ersten Ordnung wird ein Verständnis- und Handlungshorizont eröffnet. Dieser ist die Basis für weitere Erfahrungen.
(2) Im Lernen zweiter Ordnung geschehen durch plötzliche Ereignisse Diskontinuitäten und Unstetigkeiten. Das routinierte Fungieren des Wissens wird hier durch arhythmisch auftretende Ereignisse unterbrochen und aufgebrochen. Dabei bleibt Lernen immer ein fragiler Prozess. Die Evidenz von lebensweltlichen und wissenschaftlichen Erfahrungen wird ständig gebrochen. Im Lernen zweiter Ordnung werden Antizipationen erfüllt, aber auch enttäuscht und damit der Erfahrungshorizont weiter ausdifferenziert (vgl. ebd., S. 91).
Zum Verständnis: Streng genommen folgert sich daraus, dass der Mensch den Beginn seines Lebens nicht erfährt, da er in dem Moment einen Erfahrungshorizont augenblicklich eröffnet (vgl. Meyer-Drawe 2005, S. 28).
Das bedeutet, dass alte Erfahrungen durch neue nicht ersetzt, sondern durchgestrichen werden. Sie werden nicht getilgt, sondern neu indiziert. Damit bleiben sie im Gedächtnis bzw. im Horizont, der zu einer Art Katalog wird. Sobald sich Erfahrungen vollzogen haben und reflektiert wurden, sind sie in der theoretisch-praktischen Kombination mit einer Situation und einer Konklusion behaftet. Spricht Meyer-Drawe also davon, dass die Erfahrungen indiziert sind, werden sie mithilfe von gezielter Erinnerung abrufbar. Dadurch begeben sich Lernender und Lehrer auf eine Suche nach den abzurufenden Erfahrungen.
Wissenschaftliches Wissen bedeutet, aufgrund von Erfahrungen regelmäßige Merkmale zu bestimmen und diese mit bereits vorhandenem Wissen über diese Dinge abzugleichen. Das bereits vorhandene Wissen steht dabei in der Gefahr, revidiert werden zu können. Es muss möglich bleiben, durch neue Erfahrungen sowohl bestätigt als auch revidiert zu werden. Das Wissen muss angreifbar bleiben, damit das jeweilige Individuum mit neuen Eindrücken und vollziehenden Erfahrungen umgehen und sich auf Neues einlassen kann. Alte Erfahrungen, die negiert wurden, sind nicht mehr wissenschaftliches Wissen, sondern bleiben als lebensweltliches Meinen - wenn auch revidiert - im Erfahrungshorizont. Man kann sich nur schwer an sie erinnern (vgl. Meyer-Drawe 1996, S. 89).
Die Lerntheorie von Meyer-Drawe stützt sich auf diese Auffassung eines sich beständig neu erschaffenden Horizontes, auf dem der Mensch im Vollzug von Erfahrungen zurück greift. Bereits Günther Buck vertrat in Lernen und Erfahrung (1967) die Überzeugung eines Horizontes, durch den und mit dem stetig neue Erfahrungen durchlebt werden. Buck gibt dem Begriff Erfahrung eine doppelte Bedeutung.
Zunächst ist mit einer einzelnen Erfahrung die erste Erkenntnis gemeint, die sich einem Menschen widerfährt. Mit ihr beginnt sein Wissen. Weitere Erfahrungen stellen einen Prozess dar, während dem Menschen immer Neues zuwächst und das Wissen sich horizontal erweitert und erneuert. »Erfahrung bedeutet hier nicht nur die erste Belehrung, sondern auch den Zuwachs an Belehrung« (Buck 1967, S. 9).
Zum zweiten stellt die Erfahrung nach Buck eine »innere Rückbezüglichkeit« dar. Damit bezieht sich jede Erfahrung auf vorherige Erfahrung. Damit ist nicht der Inhalt der ersten Erfahrung gemeint, sondern die Konsequenz der ersten Erfahrung für die Erfahrungen, die darauf folgen. Einen weiteren Rückbezug sieht Buck in der Selbsterfahrung, durch die der Mensch Erfahrungen über sein ihm bekanntes Verhalten macht. »Erst in dieser Rückwendung der Erfahrung auf sich selbst, die zugleich ein Wandel unseres Erfahrenkönnens ist, liegt die eigentlich belehrende Kraft der Erfahrung« (ebd.).
Der Verstehenshorizont bleibt im Prozess der Rückbezüglichkeit auf das Vorverständnis uneinholbar. So ist das Erste, quasi Fundamentale des Lern-Erfahrungs- Prozess nicht lernbar, da ihm alles Lernen zugrunde liegt, an ihm gelernt wird und durch ihn Lernen und Erfahren bedingt werden. »Alles Lernen ist faktisch immer schon von seinem eigenen Prius überholt, auf Grund dessen es Lernen ist. Dieses prinzipiell endliche Verhältnis der Epagoge zu ihren Voraussetzungen scheint auf eine absolut apriorische, allen Antizipationen ebenso wie ihrer regressiven Bewusstwerdung zugrundeliegende Intimität mit dem Seienden hinzuweisen, die unlernbar ist« (ebd., S. 81).
Der epagogische Weg meint das Lernen und Erfahrung im Laufe des menschlichen Lebens durch Induktion einzelner Eindrücke. Damit wird von Eindrücken der Umwelt per Lern- und Erfahrungsprozess auf bedeutsame Prinzipien geschlossen, mit denen der Erfahrungshorizont bearbeitet wird. Gegenüber dem deduktiven Schließen des Prinzipiellen auf empirische Gegebenheiten zieht Günther Buck im Zuge des Lernweges die induktive Epagoge vor. Dabei setzt er in seinem Begriff der Epagoge den Blick auf das vage allgemein Theoretische, welches sich im Lernvollzug entweder bewährt oder revidiert wird. »Vom Lernenden her gesehen ist es zunächst ein Allgemeines, und erst im weiteren Verlauf des Lernens kann sich herausstellen, ob wir von dem wahrhaft Allgemeinen ausgegangen sind oder bloß von einem Besonderen« (ebd., S. 37f).
Zum einen kritisiert Buck den aristotelischen Begriff der Epagoge, da der Mensch nicht auf das Allgemeine schließe, sondern stets vom Allgemeinen ausgehe. Zum anderen missfällt Buck die Idee einer positiven Erwerbung allgemeiner Schlüsse in der aristotelischen Epagoge. Eher seien Lernen und Erfahrung - nach Buck - durch Negationen charakterisiert und statt Dazulernen ein Umlernen. So erneuert er den Begriff der Epagoge, indem er dessen negativen Charakter herausarbeitet.
»Man lernt, wie man sagt, 'aus seinen Irrtümern'. Lernen ist nicht nur die bruchlose Folge einander bedingender Erwerbungen, sondern vorzüglich eine Umlernen […]. Kraft dieser prinzipiellen Negativität ist das Geschehen des Lernens die Geschichte des Lernenden selbst« (ebd., S. 44, Hervorheb. im Orig.).
Ähnlich sieht auch John Dewey in der Erfahrung eine grundlegende Negativität. Dabei unterscheidet er zwischen zwei Methoden: Zum einen eine trial and error- Methode und zum anderen eine reflective experience. Die erste Methode ist als einfache Erfahrung der Versuch, aus reinem Zufall heraus etwas neues auszuprobieren und die Konsequenzen abzuwarten. Der Lernende merkt hier nur, ob der Versuch nun glückt oder nicht. Er weiß jedoch nicht, worin sein Erfolg oder Misserfolg mündet. Bei der zweiten Methode der reflektierenden Erfahrung wird die Negativität der einfachen Erfahrung versucht, theoretisch zu erklären und der eigene Standpunkt zwischen Nicht-Wissen und Wissen bearbeitet bis der Lernende neue prognostische Ideen seiner Handlung aufstellt, die er daraufhin vollzieht (vgl. English 2005, S. 56).
Dewey und Buck sehen beide die Erfahrung als etwas, das sich am Menschen vollzieht. Der Mensch kann höchstens versuchen, seine Erfahrungen theoriegeleitet zu reflektieren, jedoch kann er nicht frei entscheiden, wann sich eine Erfahrung vollzieht.
Kristin Westphal spricht in diesem Zusammenhang von Erfahrung, die »sich vielmehr in einer großen Breite und Fülle an Nuancierungen und Schattierungen zwischen Anwesenheiten und Abwesenheiten vermittelt« (Westphal 2013, S. 130). An Walter Benjamins Gedanken zur Fotografie will sie illustrieren, dass es immer die gleiche Welt sei, in der dem Menschen die Erfahrungen widerfahren. Unterschiede liegen in den Arten von Erfahrung. Zum einen als gelebte Ähnlichkeiten, zum anderen als arme Erfahrungen:
In Benjamins kritischen Äußerungen vollziehen sich an dem Menschen innerhalb seiner Welt Erfahrungen durch die ihn umgebenden Dinge. Er kann direkt mit ihnen interagieren und sich mit vollem Leib mit ihnen auseinandersetzen. Die Momentaufnahme des Fotos hingegen zeigt den Moment - den Bruchteil einer Sekunde - eines Ortes, der sich dem Betrachter niemals so erschließen kann, als wäre er vor Ort. Das Foto stellt lediglich die Repräsentation des Ortes dar. Mit anderen Worten: Durch die Betrachtung der Fotografie widerfahren sich dem Mensch sehr wohl Erfahrungen. Immerhin ist sie Repräsentant und Phänomen in einem. Der Mensch erfährt leiblich jedoch nur die Eindrücke des abbildenden Mediums. Die Dinge in der Abbildung wird der Mensch leiblich nicht erfahren (vgl. Benjamin 1980, S. 371).
In diesem Beispiel sehe Benjamin laut Westphal die gelebte Ähnlichkeit in der Teilnahme des Betrachters an der Situation. Seine Erfahrungen sind gelebte Ähnlichkeiten der Dinge, mit denen er sich auseinander gesetzt hat. Wer nur das Foto betrachtet, dem vollzieht sich eine arme Erfahrung mit den dort abgelichteten Dingen.
Hinzu kommt, dass Erfahrung stets mit einer Umstrukturierung des Vorwissens einhergeht. So zeige sie sich nach Westphal als »'Widriges', wenn wir etwa entgegen unseren Erwartungen in Situationen geraten, die wir nicht in der Hand haben und denen wir ausgesetzt sind. Erfahrungen machen wir in der Weise, dass sie uns und unsere Welt einerseits verändern und uns in der Folge zu einem anderen Verhalten, zum Umlernen zwingen oder nötigen, in abgemilderter Form führen sie dazu, unsere Vorannahmen zu bestätigen oder zu entkräften« (Westphal 2013, S. 136f).
So sieht auch Meyer-Drawe (2008) das Angreifbare durch die Erfahrung und die passive Rolle des Menschen in der Konfrontation mit ihr. Darum haben Erfahrungen aufgrund ihrer Unvorhersehbarkeit etwas dogmatisches: Sie werden vom Individuum induktiv auf alles angewendet und wollen bewährt werden. Sie wirken zum einen sicher und stabil als Erklärung der Welt und sind zum anderen - hier zeigt sich ihre Ambiguität - äußerst invalide und angreifbar (vgl. ebd., S. 190f). Für Meyer-Drawe (1996) zeichnet eine wahre Erfahrung aus, dass sie den alten Erfolg nicht bekräftige. Die Evidenz des bisherigen Erfolges von Annahmen wird angegriffen und zerrüttet. Erst durch dieses Scheitern der zuvor erfolgreichen Annahme hat sich eine Erfahrung vollzogen (vgl. ebd., S. 89).
Erfahrungen hat man nicht nur, sondern man macht sie zunächst. Damit ist aber die passive Rolle des Menschen im Vollzug der Erfahrung nicht aufgehoben. Das Machen erscheint hier als ein Machen-Müssen, in dem der Mensch der Welt ausgesetzt ist. Er entscheidet nicht autonom, ob er die Erfahrung machen will. Er hat keine Wahl und muss sich dem Vollzug der Erfahrung hingeben. Der Mensch wird zu einem anderen Menschen, sowie das Ding durch die Erfahrung für den Menschen zu einem anderen Ding wird. Es zeigt sich ein Unterschied zwischen aktuellem und vormaligen Wissen über den Gegenstand (vgl. Meyer-Drawe 2008, S. 213).
Zusammenfassend werden Erfahrungen als ein Ergebnis von Interpretationen der Umwelt verstanden. Dabei wirken Phänomene der Umgebung auf den Menschen ein, indem er diese erst einmal wahrnimmt. Anhand seines bestehenden Erfahrungshorizontes deutet der Mensch die wahrgenommenen Phänomene und verändert anhand neuer Erkenntnisse den Horizont. Dadurch entsteht immer wieder ein neuer Erfahrungshorizont, der sich ebenso auf den vorherigen bezieht und als Fundament neuer Erkenntnisse dient. Das Fundament aller Erfahrungen ist nach phänomenologischem Standpunkt nicht lernbar, da es sich auf keine Vorerfahrung beziehen kann.
In ihrer Rückbezüglichkeit bezieht die Erfahrung sich nicht auf den Inhalt der vorherigen, sondern alle Erfahrungen sind jeweils abhängig von der Konsequenz der jeweils vorherigen Erfahrung. Dazu gehört eine gewisse konsequente Selbsterfahrung des Menschen als Erfahrung, die er auf sich selbst bezieht. Gegenstand der Erfahrung ist hierbei das eigene Verhalten.
Deweys Unterscheidung zwischen Trial and Error und Reflexive Experience können hier als verschiedene Handhabungen mit Erfahrung verstanden werden. In der ersten Methode wird durch eigenes Handeln versucht, eine bestimmte Konsequenz herbeizuführen. Wenn das Vorhaben scheitert, d.h. die erwartete Konsequenz ausbleibt, wird ein neuer Versuch gestartet. Der entscheidende Unterschied zu einer reflexiven Erfahrung der zweiten Methode liegt in der Analyse des Versuchs. Diese findet in der ersten Methode nicht statt, da unbedacht ein neuer Versuch unternommen wird. In der zweiten Methode richtet die handelnde Person einen Fokus auf das Scheitern der Vorannahmen. Sie analysiert den Versuch ebenso wie die sich vollzogene Konsequenz. Unerwartete Aspekte in der Konsequenz werden herausgestellt und Annahmen dementsprechend umformuliert. Anhand dieser Erkenntnis wird der Versuch verändert und neu durchgeführt.
Die Erkenntnisse aller Erfahrungen manifestieren sich in Prinzipien und dadurch in Antizipationen gegenüber der Welt. Diese Antizipationen werden in Interaktion des Menschen mit der Welt entweder bestätigt oder widerlegt. Darin zeigt sich die Ambiguität der Erfahrung: Sie dient als fundamentaler Index, neue Eindrücke zu interpretieren und ist gleichzeitig angreifbar. Ist die Vorannahme revidiert, wird sie zur Meinung, worin sich die Unsicherheit und fehlende Evidenz derselben impliziert. Bestätigt sich die Annahme, wird sie zu wissenschaftlichem Wissen, welches aber nicht absolut ist, sondern angreifbar und revidierbar bleibt. Es ist hervorzuheben, dass Wissen nicht mit Erfahrung gleichzusetzen ist: Wissen entsteht in der Bestätigung einer Annahme; Erfahrung ist der Prozess, in dem Annahmen nicht bestätigt werden sondern anhand unerwarteter Phänomene scheitern.
Erfahrungen erklären die Phänomene der Welt immer temporär. Hat man also in einem Moment etwas erfahren, so wirkt die Erkenntnis einer Erfahrung solange bis über das Phänomen ein neuer Eindruck entstanden ist. Berührt man zum Beispiel eine Herdplatte außer Betrieb, so fühlt sie sich kalt an. Die temporäre Interpretation als Normalzustand der Herdplatte ist: Sie ist kalt. Wird die Herdplatte in Betrieb genommen und daraufhin im heißen Zustand berührt, greift der überraschende Schmerz die bisherige Interpretation an. Der neue Eindruck irritiert das Vorwissen. Bisher war normal, dass eine Herdplatte kalt ist. Das jetzt erlebte Phänomen rüttelt an dieser Normalität, sodass der bestehende Erfahrungshorizont sich durch die neue Erkenntnis wandelt, die so simpel sein kann: Eine Herdplatte kann kalt und heiß sein. Beides ist jeweils nur eine Behauptung bis der Beweis im Phänomen erscheint.
Im Umwandlungsprozess zeigt das Lernen seinen negativen Charakter. Statt einer Anhäufung von Wissen ist es von Umstrukturierungen geprägt. Dabei wird dem bisherigen Wissen weder etwas entnommen noch quantitativ hinzugefügt. Die Metapher eines Wissensspeichers - ähnlich eines aufzufüllenden Wasserspeichers - entfällt und an die Stelle tritt eine Struktur von miteinander verwobenen Erkenntnissen, die der Struktur erhalten bleiben und durchgängig aktualisiert werden.
2.3.3.1 Lernen bedeutet Umlernen
Die Negativität von Lernen erklärt sich durch die Erläuterung des Dialoges zwischen Sokrates und Menon. In diesem Dialog steht die Frage im Raum, ob Tugenden lehrbar seien. Menon glaubt sich als Wissender über dieses Thema, da er bereits öfter darüber geredet hat. Sokrates bohrt Menon mit weiteren Frage, die Menon verwirren. Sein Wissen wurde durch die Fragen von Sokrates angegriffen, ins Rütteln gebracht und lassen Wissenslücken entstehen. Dabei beginnt Menon, an seiner Überzeugung zu zweifeln und denkt nun, weniger zu dem Thema zu wissen als er vorher annahm. Er weiß nicht auf die Fragen zu antworten. Vor den Fragen sah Menon sich vermeintlich als Wissender zu dem Thema, ob Tugenden lehrbar seien. Die Fragen von Sokrates sind ihm jedoch neu. Kurz gesagt: Er wusste vorher nicht, was er nicht weiß. Erst mit den neuen Fragen fällt Menon auf, was er nicht weiß. Er wird vom nichtwissenden Nichtwissenden zum wissenden Nichtwissenden. Charakteristisch an der lehrenden Rolle des Sokrates ist, dass er ebenso keine eindeutige Antwort weiß - sich eben nicht als Lehrer sieht, der die wahre Antwort weiß. Er ist sich allerdings bereits über sein Nichtwissen bewusst und stellt daher lediglich Fragen, die Menon in die Irritation lenken sollen (vgl. Meyer-Drawe 2008, S. 202f).
Wissenserwerb ist schon immer mit Lust und Lustbefriedigung verbunden. Darum ist in Sokrates' Lernprogramm die zweite Stufe als Erkennen des Nichtwissens darauf ausgelegt, dieses Nichtwissen zu kompensieren (vgl. ebd., S. 136).
In der Enttäuschung der Erwartungen durch das sich vollziehende Fremde führt Konstantin Mitgutsch (2008) - durch die Arbeiten von Buck, Meyer-Drawe und vor allem Waldenfels (2002) - Bruchlinien an. Diese entstehen, indem das Erfahrene sich nicht ohne Widerstand in den Erfahrungshorizont einfügt. »In eben diesen Bruchlinien dringt Fremdes in Eigenes und Eigenes in Fremdes ein, wobei der Urheber des Erfahrens namenlos bleibt« (Mitgutsch 2008, S. 272).
Durch den Widerstand des Erfahrenen ergeben sich Sinnüberschüsse innerhalb gebrochener Vorerfahrungen. Die Erfahrung vollzieht sich den entstandenen Brüchen entlang. So ist das, was dem Menschen widerfährt eine Antwort auf die gebrochenen Vorerfahrungen (vgl. ebd., S. 273).
Der Erfahrungshorizont wird bei Meyer-Drawe (1982) als ein plastisches, von Dynamiken durchzogenes Gebilde dargestellt, das sich mit den Erfahrungen immer wieder neu formiert.
»Lernen in dieser Bedeutung ist kein linearer Prozeß der Integration von Wissenselementen, sondern ein Prozeß der Konfrontation zwischen unausdrücklich leitendem Vorwissen und neuer Sicht, neuer Erfahrung- und Handlungsmöglichkeit, d.h. die Produktivität des Lernprozesses liegt in seiner Negativität: Lernen ist Umlernen « (ebd., S. 34, Hervorheb. im Orig.).
Die grundlegende Bedingung des Umlernens ist »eine aporetische Situation als Enttäuschung sicher geglaubter Erwartung« (Meyer-Drawe 1996, S. 89). Damit ist eine Situation gemeint, in der die Enttäuschung der Erwartung als Problem gesehen wird ohne direkt an eine Lösung zu denken. Aufgrund des Problems werden Vormeinungen umgedacht. Die Aporie der Situation erschüttert »das routinierte Fungieren des unthematischen Vorverständnisses« (ebd.). Das Vorverständnis wirkt in einer gewohnten Weise stets in die Erwartungshaltung bzgl. einer neuen Situation ein. So wirken Antizipation und Aporie laut Meyer-Drawe teils entgegengesetzt, teils sich gegenseitig bedingend:
(1) Entgegengesetzt, weil einerseits eine aporetische Offenheit des Zufalls wirkt und andererseits antizipatorische Erwartungshaltungen eine eindeutige vorhersehbare Situation schaffen wollen.
(2) Gegenseitig bedingend, weil antizipatorische Erwartungen den Möglichkeitsraum bestimmen. Denn nur durch das antizipatorische Vorwissen können sich durch Umlernen Erfahrungen vollziehen. Das unthematische Vorverständnis, d.h. nicht-behaftete, uninterpretierte Annahmen, werden durch schmerzvolle Enttäuschung der Erwartungen als Widerstand erkennbar und als solcher thematisiert. Durch diesen Konflikt und der entstehenden Thematisierung werden einem die routiniert wirkenden Antizipationen des Vorverständnisses erst bewusst (vgl. ebd., S. 89f).
Allerdings ist es falsch, anzunehmen, dass solche Irritationserlebnisse neue Betrachtungsweisen etablieren. Es entsteht nicht zwangsläufig oder automatisch Neues, sondern man fällt auf alte lebensweltliche Erklärungsmuster zurück, mit denen die Erinnerungen der neuen Situation behaftet werden. Dies geschieht nach Meyer-Drawe auch dort, wo professionell Wissenschaft betrieben wird. Erstens würde man aufgrund einer Irritation nicht direkt eine neue Betrachtungsweise etablieren, sondern eher eine alte, gängige bevorzugen. Zweitens könne es bedeuten, dass durch die Irritation neues Wissen über einen Gegenstand entsteht ohne lebensweltliche Überzeugung der jeweiligen Person zu sein (vgl. ebd., S. 91).
Lernen ist umstrukturierendes Erfahrungslernen und bedeutet immer Umlernen: Um Phänomene zu interpretieren bezieht sich der Mensch auf bestehende Vorannahmen und wandelt sie um, womit dem Lernen folglich eine Negativität zugrunde liegt. Die Erwartung gegenüber eines Phänomens wird enttäuscht und es entstehen Brüche im bisherigen Erfahrungshorizont. Durch diese Brüche widerfährt sich dem Menschen responsiv ein Sinn des Phänomens, der an den Brüchen Erfahrungen vollziehen lässt. So werden Vorerfahrungen durch neue Eindrücke irritiert, gebrochen und an den Bruchstellen vollziehen sich zudem neue Erkenntnisse. Umgekehrt wäre eine Bestätigung von Vorannahmen demnach kein Erfahrungsprozess und somit kein Lernprozess.
Ein so verstandener Lernprozess bedarf einer situativen Aporie. Das heißt grob formuliert: situativ einem Problem gegenüber zu stehen, dessen Lösungsversuch ausweglos erscheint.
Das aporetische Prinzip wird im oben beschriebenen Dialog zwischen Sokrates und Menon exemplarisch dargestellt. Darin stellt Sokrates Menon die Frage, ob Tugenden lehrbar seien. Menon glaubt sich seinen Vorannahmen sicher, wird jedoch daraufhin von Fragen des Sokrates verwirrt. Er wird sich seinen Vorannahmen vermehrt unsicher und überdenkt sie. Die Aporie dieser Situation zeigt sich in ihrer Ausweglosigkeit. Solange Sokrates seine irritierenden Fragen stellt, wird Menon keine Antwort formulieren können. Die Lösung des Problems wird zunehmend unmöglicher. Seine Antizipationen aufgrund seiner Vorannahmen erkennt Menon erst im Moment ihrer Enttäuschung: Er weiß, dass er nicht weiß.
Es kann andererseits in aporetischen bzw. ausweglosen Situationen geschehen, dass der Mensch auf alte Erklärungsmuster zurückfällt. Dabei würde der Mensch nach Irritationserlebnissen (1) seine gängigen Interpretationsmuster weiterhin bevorzugen oder (2) neues Wissen zwar entstehen lassen, ohne davon überzeugt zu sein. Rückfälle in bekannte Muster und Stagnationen in vertrauten Wissensstrukturen erhöhen die Schwierigkeit, aporetische Situationen zu inszenieren, in denen sich Lernprozesse vollziehen.
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