Kant hat großes Lob für Hume, weil dieser ihn aus dem "dogmatischen Schlummer" der geltenden Schulphilosophie geweckt habe. Humes Skeptizismus verschafft Kant die neue Ausgangslage einer tabula rasa. Das philosophische Wörterbuch nimmt ausführlich zu Hume Stellung. Er sei "der bedeutendste Philosoph der englischen Aufklärung". Maßgeblich sei für ihn die Sinneserfahrung des Menschen. "Ursächliche Erkenntnis aus Vernunft beziehungsweise apriori gibt es nicht, sondern nur aus wiederholter Erfahrung derselben Art. Die Vernunft belehrt nur über Wahr und Falsch, Natürlich und Verderblich." Kant dagegen will angebliche Gewissheiten der Erkenntnis schaffen, die unabhängig von der jeweiligen Sinneserfahrung a priori feststehen. Schopenhauer wie Karl Löwith bezweifeln Kants Erkenntniswege und im besonderen seinen vorausgesetzten Glauben an einen christlichen Gott.
Kant konfrontiert mit David Hume: Entsinnlichung der natürlichen Welt
Kant selber hat vorgegeben, wie man sich seinem Denken über den skeptischen Empirismus eines David Hume durchaus nähern kann, und wie er sich andererseits durch seine metaphysischen „Postulate der reinen Vernunft“ von diesem meilenweit entfernt: Da gibt es vor allem Kants vielzitiertes Bekenntnis aus den Prolegomena: „Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen auf dem Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab.“[1] Hier meint er den Leibniz-Wolffschen Schulrationalismus, der bekanntlich lehrte, dass allein aus den angeborenen Maximen der Vernunft eine wahre Metaphysik zu entwickeln sei. Hume beansprucht nur den gewöhnlichen Lauf der Welt zu beobachten. Noch in seiner Kritik der reinen Vernunft hat Kant viel Lob für Humes Empirismus und seinen „wohldenkenden“, „gut gesinnten“, „sittlichen“, „untadelhaften“ Charakter[2]. Gleichzeitig erkennt er in dem „Skeptiker, eine Art Nomaden, die allen beständigen Anbau des Bodens verabscheuen“[3]. Auf Dauer muss er Humes Wundermedizin aus metaphysischen Gründen loswerden: „Wenn man den kaltblütigen, zum Gleichgewichte des Urteils eigentlich geschaffenen David Hume fragen sollte: was bewog euch, durch mühsam ergrübelte Bedenklichkeiten, die für den Menschen so tröstliche und nützliche Überredung, daß ihre Vernunfteinsicht zur Behauptung und zum bestimmten Begriff eines höchsten Wesens zulange, zu untergraben?“[4] Dazu könnte Hume nur sagen: Dem Menschen helfen zwar in seinem Alltag Fiktionen; der Philosoph kann sie aber als empirisches Wissen und objektive Gewissheit nicht bestätigen. Es gibt zwar den rechten Weg weisende Gefühle und vernünftige Gewohnheiten, aber kein ethisches Wissen. Für Kant ist das aber ein Skandal, der nicht nur der Moral, sondern auch der Naturwissenschaft den Boden unter den Füßen wegzieht.
Dennoch bleibt für Kant „Hume vielleicht der geistreichste unter allen Skeptikern, und ohne Widerrede der vorzüglichste in Ansehung des Einflusses ..., den das skeptische Verfahren auf die Erweckung einer gründlichen Vernunftprüfung haben kann“[5]. Kants positive Hume-Rezeption konzentriert sich auf dessen Kausalitätstheorie. Hume bezweifelt nämlich das Kausalitätsprinzip. Diese selbstverständlich gewordene Sichtweise beruhe nur auf Behauptungen aus Gewohnheit, da wir nur ein Aufeinanderfolgen beobachten. Kant gibt Hume insofern recht, da das Kausalitätsprinzip nicht aus der Wahrnehmung abzuleiten sei. Es sei aber keineswegs psychologisch zu erklären, sondern vielmehr aus dem logischen Verstand notwendig, da sich schließlich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis zu richten hätten. „Dass bei der Erkenntnis von kausalen Zusammenhängen subjektive Projektionen eine maßgebliche Rolle spielen, ist diejenige Ansicht Humes, die bei Kant wie ein Katalysator für seine eigenen Überlegungen gewirkt hat. Hume ist der Anstoß zu der sogenannten ‚kopernikanischen Wende‘ Kants, der zufolge sich die Welt im Vorgang des Erkennens nach dem Subjekt richtet.“[6] Dieser Kommentar von Lambert Wiesing ist allerdings insofern anzuzweifeln, als Hume wohl nicht Hauptgrund für Kants kopernikanische Wende war.
Hume lässt von der als metaphysisch gedachten Trinität Gott, Welt und Mensch nur den Menschen übrig. Aus seiner Sicht stellt die Physis ohne jegliche Metaphysik alles zur Verfügung, was er zum Leben und Handeln benötigt. Kants Grundüberzeugung, die dem Menschen Metaphysik als „Naturanlage“[7] zuschreibt, kann er nicht teilen. Kants gesamtes Denkgebäude ist geprägt von theologischen Implikationen, die durch seinen einzig anerkannten moralischen Gottesbeweis – nach Löwith der schwächste aller möglichen – zu moralischen Verflechtungen geworden sind. Das angenommene Faktum eines gottgewollten Sittengesetzes ist der dünne Faden, an dem der Gedanke von Freiheit, Unsterblichkeit und Gott hängt. Alle Motive Kants sind in unbedingter Moralität zu suchen. Daher kann im Vergleich zwischen Hume und Kant die Moral zum Prüfstein für ein gutes Leben dienen.
In seinen Essays Vom schwachen Trost der Philosophie urteilt Hume über Maximen: „Jeder vorurteilslose Betrachter menschlichen Handelns wird feststellen, dass die Menschen fast vollständig durch Wesensart und Temperament geleitet werden und dass allgemeine Maximen nur geringen Einfluss haben, wenn sie nicht unseren Geschmack oder unser Gefühl ansprechen. Wenn jemand moderate Leidenschaften und einen wachen Sinn für Ehre und Tugend hat, wird sein Verhalten stets den Regeln der Moral entsprechen, oder er wird, sollte er von ihnen abweichen, ohne Mühe und schnell zu ihnen zurückkehren.“[8] Es gibt demnach auch ohne kategorischen Imperativ verallgemeinbare Handlungsnormen, d.h. ein praktisches Kriterium einer rechten Moral, die in der Gleichartigkeit und Neutralität der Gefühle aller unparteiischen Beobachter begründet ist. Bekanntlich lässt jedoch der strenge Pflichtbegriff Kants Gefühle nicht zu.
Ich zitiere noch eine weitere Äußerung aus Humes Untersuchungen über den menschlichen Verstand, in welcher er die „religiöse Hypothese“ miteinbezieht: „Ich leugne, so sagt ihr, eine Vorsehung und einen obersten Lenker der Welt, der den Lauf der Ereignisse leitet, die Lasterhaften mit Schande und Enttäuschung straft, die Tugendhaften mit Ehre und Erfolg belohnt in allen ihren Unternehmungen. Aber sicherlich leugne ich doch nicht den Ablauf der Ereignisse selbst, der ja jedermanns Untersuchung und Prüfung offensteht. Ich erkenne an, dass in der gegenwärtigen Ordnung der Dinge die Tugend mehr Seelenfrieden im Gefolge hat als das Laster und in der Welt eine günstigere Aufnahme findet. Mir ist bewusst, dass nach den Erfahrungen, die die Menschheit bisher gesammelt, die Freundschaft der Hauptgenuss des Lebens ist und Mäßigkeit der Gefühle der einzige Quell der Ruhe (tranquillity) und des Glücks (happiness). Ich schwanke nie zwischen einem tugendhaften und lasterhaften Lebenswandel, sondern weiß, dass für einen wohlgearteten Geist alle Vorteile auf der Seite des ersteren liegen.“[9] Hier wird eine unfragliche Moral beschrieben, die man als „Konsensethik“ bezeichnen könnte gegenüber der „Gesinnungsethik“ Kants.
Kant hat den Beweis, dass es einen Gott gibt, auf das moralische Bewusstsein des menschlichen Subjektes reduziert. Damit muss eine „Entsinnlichung“ der natürlichen (Außen-)Welt einhergehen. Durch seine innere Einsicht bringt sich der Mensch, wie er sein soll, selber hervor. In Hume könnte man dagegen auf den ersten Blick einen weltlichen Weisen bzw. Weltweisen vermuten, der nur von dem ausgeht, was ist.
Löwith, der sich nicht mit ihm befasst hat und ihn meines Wissens sogar völlig unerwähnt lässt, müsste dies wohl bestreiten, weil Humes menschlichem Wissen und seinem Philosophieren die Welt fehlt. Nicht genug damit, dass er den Menschen völlig in den Mittelpunkt seines Denkens stellt. Er leugnet sogar die Existenz einer äußeren Welt. Jedenfalls ist diese durch Wahrnehmung nicht zu beweisen. Die Sinne sind kein empirisches Kriterium für die Wahrheit behaupteter Tatsachen: „Durch welche Begründung lässt sich beweisen, dass die Perzeptionen des Geistes durch äußere Gegenstände verursacht sein müssen ... Dem Geiste ist nie etwas anderes gegenwärtig als Perzeptionen, und er kann unmöglich eine Erfahrung über ihre Verknüpfung mit Gegenständen gewinnen.“[10] Bereits zu Humes Lebzeiten herrschte die Auffassung, Humes Skeptizismus sei für Wahrheitsansprüche völlig destruktiv. 1935 geht Russell gar so weit, Hume als denjenigen darzustellen, der in den „Tempel der Vernunft“ eine Mine gelegt habe, „die schließlich das ganze Gebäude in die Luft sprengen sollte“[11]. Später urteilt Russell sachlicher: „David Hume ist einer der bedeutendsten Philosophen, weil er die empirische Philosophie Lockes und Berkeleys bis zu ihrem logischen Ende fortentwickelt hat und sie unglaubhaft machte, indem er alle Inkonsequenzen innerhalb des Systems ausmerzte. Er führt uns gleichsam in eine Sackgasse: In der von ihm eingeschlagenen Richtung kommt man keinen Schritt weiter.“[12] Dieses Urteil mag für einen Agnostiker wie Russell und sicherlich auch für Löwith gelten. Kant dagegen entdeckt in Humes Skeptizismus positive Ansätze, die er aufgreift und verwertet: Hinsichtlich der Vernunft ergab sich der „berühmte Locke“ der „Schwärmerei“. Hume dagegen „ergab sich gänzlich dem Skeptizismus, da er einmal eine so allgemeine für Vernunft gehaltene Täuschung unseres Erkenntnisvermögens glaubte entdeckt zu haben. – Wir sind jetzt im Begriffe einen Versuch zu machen, ob man nicht die menschliche Vernunft zwischen diesen beiden Klippen glücklich durchbringen, ihr bestimmte Grenzen anweisen, und dennoch das ganze Feld ihrer zweckmäßigen Tätigkeit für sie geöffnet erhalten können.“[13] Der Ausweg aus der Sackgasse ist m.E. so zu finden: Wenn die Existenz einer (Außen-)Welt weder empirisch noch logisch zu beweisen ist, erkläre ich die Welt zur regulativen Idee. Dies bedeutet, dass die Welt nicht als objektiv vorhanden angesehen werden darf, nicht konsistent und konstitutiv existiert, aber als Prinzip der Vernunft das Fortschreiten des Denkens regelt und zu Erkenntnissen hinleitet.
Wenn Kant in seiner Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft schreibt: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“[14], trifft dies auch diesen von mir beschriebenen Sachverhalt. Für meine Interpretation kann auch sprechen, dass im Fall des David Hume sogleich der übliche selbsternannte Glaubensretter Heinrich Jacobi zur Stelle ist. Lambert Wiesing kommentiert das: „So unterschiedlich die Positionen von Kant und Friedrich Heinrich Jacobi auch sein mögen, letztlich sind beide von demselben Gedanken bei Hume fasziniert. Auch Jacobi rezipiert Hume als den Philosophen, der durch seinen Skeptizismus in der Philosophie eine fruchtbare Wende zur Subjektivität einleitet.“[15]
Mit Hume ist der Denkweg Kants am besten zu verstehen. Gleichzeitig werden die fundamentalen Differenzen zu Löwith klarer. Humes Perspektive ist auf den Menschen verengt. Der Philosoph sollte in seinem Denken den Endzustand einer tabula rasa zu erreichen suchen. Sorge wie Hoffnung sind umsonst: „Eine kleine Zeitspanne noch, und diese Menschen werden nicht mehr sein. Wir werden sein, als wenn wir nie gewesen wären. Nichts auf der Erde wird an uns erinnern. Und auch die ausgedachten Schatten der Unterwelt werden uns keinen Aufenthalt gewähren ... Leider werden unsere Fragen, die uns jetzt beschäftigen, Fragen nach der ersten Ursache aller Dinge niemals beantwortet werden.“[16]
Hume ist allerdings viel später als Kant, erst 200 Jahre nach seinem eigenen Tode, bedeutsam geworden. Wenn er die persönliche Freiheit zugunsten einer naturgesetzlichen Notwendigkeit bestreitet, ist er ganz modern, glaubt doch die moderne Gehirnforschung , dass die Lehre von einer Willensfreiheit nur eine Art Implantat im geschichtlichen Gedächtnis der Menschheit wie im individuellen Gedächtnis des menschlichen Individuums ist. Es ist nicht so , dass der Mensch tut, was er will. Vielmehr will er (einen Tic später), was er tut.
Von seiner Freiheitsmoralität her muss Kant notwendigerweise an den Fortschritt des Menschengeschlechts in der tatsächlichen Geschichte glauben, den er sogar in der Französischen Revolution konkretisiert. „Die Menschen sind in allen Zeiten und Orten so sehr dieselben, daß uns die Geschichte auf diesem Gebiete nichts Neues oder Fremdartiges berichtet.“[17] Diese Erkenntnis entspricht einer Grundüberzeugung Löwiths von der immer gleichen Natur des Menschen, die sein Werk durchzieht. Von Hume muss dieser grundsätzliche Zweifel am geschichtlichen Fortschritt ein besonderes Gewicht erhalten, da dieser, wenn auch zu Lebzeiten als Philosoph verpönt, doch als Historiker und Autor der sechsbändigen History of England berühmt gewesen ist.
Löwiths Skepsis dient dazu, seine Gewissheiten zu verteidigen. Der totale Skeptizismus Humes, der nach Meinung Schopenhauers „durchaus als Kants Vorläufer erscheint“[18], betrachtet die Welt als Konstrukt und alles bisherige Wissen über sie als perspektivenabhängige Interpretation. Für Hume wird es dabei bleiben. Was aber für Hume Endpunkt, ist für Kant Ausgangslage. Löwith schöpft aus einer Gewissheit, wenn er Kants Ausgang beschreibt: „Für Kant ist ‚das Heilige und Unverletzliche‘, das die frühgriechische Philosophie am unerschütterlichen Sein des in sich gerundeten Kosmos erblickte, ein moralischer Abglanz des biblischen Gottes.“[19]
Kant selber schreibt „ Gott und die andere Welt ist das einzige Ziel aller unserer philosophischen Untersuchungen“[20]. Sich selber sieht er als Erfüller „eines der Welt transzendenten schöpferischen Prinzips. Und wenn Kant in der allgemeinen Naturgeschichte sagt: gebt mir Materie und ich will eine Welt daraus machen, so nimmt er de facto schon in dieser vorkritischen Schrift den transzendenten Standpunkt ein, der Gottes Weltentwurf nachmacht. In analoger Weise läßt sich Kant noch 40 Jahre später, in der Einleitung zur Religionsschrift, den ‚schwerlich vermeidbaren‘ Gedanken beifallen, welche moralische Welt er durch praktische Vernunft erschaffen würde, wenn dies in seinem Vermögen stünde.“[21] Kant reflektiert sich hier als Schöpfer in der imitatio dei, obwohl oder gar weil er die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte gar nicht glaubt. Vielmehr „behauptet er, dass die Urmaterie von Gott geschaffen und die künftige Weltentwicklung darin von ihm angelegt sei.“[22]
Sein für die Öffentlichkeit bestimmtes Philosophieren hat Kant durchaus einer Selbstzensur unterworfen. In einem frühen Brief vom 8. April 1766 schreibt Kant an Moses Mendelssohn, derselbe, der ihn später den „Alleszermalmer“ nannte: „Zwar dencke ich vieles mit der allerklaresten Überzeugung und zu meiner großen Zufriedenheit was ich niemals den Muth haben werde zu sagen; niemals aber werde ich etwas sagen was ich nicht dencke.“[23] Kant ist sich demnach der Gewalt seines Denkens bzw. Lehrens durchaus schon früh bewusst. Seine Bedenken gelten aber wohl vordringlich einem Konflikt mit dem christlichen Kirchenglauben. Nicht unberechtigt, wird er doch „1794 durch eine königliche Kabinettsorder wegen ‚Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums‘ verwarnt.“[24]
Die Frage, ob Kant selber ein gläubiger Christ gewesen ist, ist m.E. bedeutsam, bleibt aber im Dunkel. Erhebliche Zweifel kann ein Brief an Fichte vom 2. Februar 1792 stützen, nachdem dieser ihn gebeten hatte, eine „Remedur“ zu finden, angesichts der Tatsache, dass ihm für seinen „Versuch einer Critik aller Offenbarung“ die Druckerlaubnis verweigert worden war. In der Tat sieht der gefällige Lehrer für den Schüler einen Weg wie „der auf Wunderglauben durch moralisch gute Gesinnung gepfropfte Religionsglaube“ gerettet sei, nämlich durch eine Versicherung „den moralischen Glauben in Ansehung alles dessen, was ich aus der Wundergeschichtserzählung zu innerer Besserung für Nutzen ziehen kann, habe ich und wünsche auch den historischen, sofern dieser gleichfalls dazu beitragen könnte zu besitzen. Mein unvorsätzlicher Nichtglaube ist kein vorsätzlicher Unglaube. Allein Sie werden diesen Mittelweg schwerlich einem Censor gefällig machen, der, wie zu vermuten ist, das historische Credo zur unnachläßlichen Religionspflicht macht.“[25]
Auch die praktische Vernunft des Alltags beweist also: „Remedur“ kann nur der „moralische Glaube“ bringen. Hier kommt, wie nicht anders zu erwarten, Kants philosophisches Glaubensbekenntnis, gewissermaßen sein Ur-Noumenon zur Anwendung. Das moralische Glaubensbekenntnis genügt, selbst wenn der populäre Glaube zu einer bloßen Verfügungsmasse herabgewürdigt wird. Kant bedingt sich allerdings aus: „Mit diesen meinen in der Eile hingelegten, ob zwar nicht unüberlegten Ideen können Sie nun machen, was Ihnen gut däucht, ohne jedoch auf den, der sie mittheilt, weder ausdrücklich noch verdeckt Anspielung zu machen“[26].
Nach dieser notwendigen Abzweigung kehre ich wieder zum Ausgangspunkt zurück. Dieser war: Kant reflektiert sich als Schöpfer einer moralischen Welt. Fraglich war: Lässt Gott diese in der von ihm geschaffenen Urmaterie beginnen oder im erschaffenen Menschen?
Göttliche Schöpfung oder natürliche Evolution? Löwith beschreibt Kants Ausweg und seine Folgen für die sinnliche Welt des ‚id quod substat‘: „Der einzige Ausweg aus der Alternative der möglichen Herkunft des Menschen: entweder durch göttliche Schöpfung oder durch natürliche Evolution, wäre die dritte Möglichkeit, daß er sich selber hervorbringt, d.h. sich selbst zu dem macht, was er eigentlich ist und sein soll. Das ist in der Tat Kants praktisch-moralische Lösung. Es ist dem Menschen aufgegeben, sich selbst als Person zu schaffen. Er soll und kann sich selber dazu machen, denn er ist autonom, indem er sich an das Pflichtgesetz bindet. Daß der Mensch und nur er, als ein übersinnliches Sinnenwesen sich selbst dem Ideal der Person, d.i. Gott, anmessen und sich aus der Sphäre seiner und aller Natur unendlich heraussetzen kann, diese Möglichkeit ist aber ein Rätsel.“[27] Die rätselhafte Selbstschöpfung des Menschen zu einer gottähnlichen, übersinnlichen Person kann aber nur gelingen, wenn der durch Freiheit und Unsterblichkeit definierten Personhaftigkeit jegliche Naturwüchsigkeit abgesprochen wird. Dies gelingt am besten, wenn erklärt wird, diese den Sinnen erscheinende Welt habe gar kein wahres Sein. Löwith streift an dieser Stelle das Wort „Glaubensbekenntnis“. Zu einem Mehr an Objektivierung zwischen Kant und Löwith kann hier als dritte Lehrmeinung auf Schopenhauers mehrere Hundert Seiten starke scharfsinnige, überwiegend lobende Kantkritik zurückgegriffen werden. (Nach Schopenhauer hat Kant lediglich das Ding an sich fehlerhaft abgeleitet und nicht als Wille – zum Leben – erkannt; außerdem habe er das Moralgesetz verkannt und nicht als Mitleidsgebot gegenüber aller Kreatur, wie auch den Tieren, gesehen.) In Bezug auf Trug oder Substanzhaftigkeit der Welt interpretiert Schopenhauer: „Kant zeigte ... die Welt selbst, als durch die Erkenntnisweise des Subjekts bedingt“. Nach wenigen Zeilen mit gefälligen erzählerischen Metaphern zum Lobe Kants folgt lakonisch der ebenso monumentale wie eindeutig vieldeutige Satz: „Auch kann man sagen, Kants Lehre gebe die Einsicht, daß der Welt Ende und Anfang nicht außer, sondern in uns zu suchen sei.“[28] Schopenhauers Wortwahl „der Welt Ende und Anfang“ ist nicht von Ungefähr, sondern Anspielung auf die christliche Glaubenslehre, die für Kant außerhalb des Kopfes nicht existiere. Außerdem wird Anspruch erhoben, dass Kant formal mit Schopenhauers Lehre in Bezug auf das Ding an sich übereinstimme, da Schopenhauers Welt als Wille keine zeitliche Kategorie wie Anfang und Ende haben kann, sondern vielmehr als Ding an sich anfanglos, endlos, zeitlos, grundlos ewig ist.
Der geschichtliche Verlauf, der zu Schopenhauers vieldeutigem Satz hinführt, ist so zu beschreiben: Das für die Antike als undenkbar Ungedachte – Anfang und Ende der Welt – verlässt den für ihn genuinen Horizont des christlichen Weltbildes und findet sich als nur Gedachtes, als cerebrale Phantasmagorie des kantischen Menschen; die sinnlich erlebte Ewigkeit wird zum Zeitpunkt eines Gedachten.
Hier sei die Frage eingeschoben, ob der Satz Schopenhauers auch für Humes Lehre gelten könnte? Im Prinzip – und wortwörtlich genommen – könnte dies zutreffen. In concreto aber keineswegs: Auch Hume geht es um die Beweisbarkeit der sinnlichen Welt. Er wendet ein: „Dem Geiste ist nie etwas anderes gegenwärtig als Perzeptionen, und er kann unmöglich eine Erfahrung über ihre Verknüpfung mit Gegenständen gewinnen. Daher ist die Annahme einer solchen Verknüpfung ohne jede Grundlage in der Schlussfolgerung.“[29] Hume will sich nur auf Erfahrung stützen, denn: „Wenn wir a priori denken (reason), so scheint jedes Ding fähig, jedes andere hervorzubringen.“[30] Als Skeptiker kann er nicht ausschließen, dass es sinnliche Tatsachen gibt. Er bezweifelt aber deren stringente Nachweisbarkeit als Außenwelt für den menschlichen Verstand. Zur Begründung des Dilemmas prägt er einen unwiderlegbaren Satz, der in aller Konkretheit auch von Löwith stammen und als starker Einwand gegen Kants Transzendentalphilosophie gelten könnte: „Nature is always too strong for principle.“[31]
Kants Prinzipien aber lassen die sinnliche Welt der Natur ganz schwach und sogar nichtig erscheinen. Schopenhauer beschreibt detailliert, wie Kant die Sinnenwelt ignoriert: „Es ist zum Erstaunen, wie Kant, ohne sich weiter zu besinnen, seinen Weg verfolgt, seiner Symmetrie nachgehend, nach ihr Alles ordnend, ohne jemals einen der so behandelten Gegenstände für sich in Betracht zu nehmen. Ich will mich näher erklären. Nachdem er die intuitive Erkenntniß bloß in der Mathematik in Betracht nimmt, vernachlässigt er die übrige anschauliche Erkenntnis, in der die Welt vor uns liegt, gänzlich, und hält sich allein an das abstrakte Denken, welches doch alle Bedeutung und Werth erst von der anschaulichen Welt empfängt, die unendlich bedeutsamer, allgemeiner, gehaltreicher ist, als der abstrakte Theil unserer Erkenntnis ... Nachdem er die ganze Sinnenwelt abgefertigt hat mit dem Nichtssagenden ‚sie ist gegeben‘, macht er nun die logische Tafel der Urtheile zum Grundstein seines Gebäudes.“[32]
Was Schopenhauer hier anschaulich schildert, bringt Löwith methodisch auf denselben Punkt: „Das ‚Ganze‘ dieser nicht unmittelbar sichtbaren, sondern wissenschaftlich erdachten Welt ist hinsichtlich seiner allgemeinen Verfassung ein ‚mathematisches‘ Ganzes, d.h. ein solches, das aus Teilen besteht und darum endlos teilbar bzw. zusammensetzbar ist, ohne daß der es ‚abbauende‘ und ‚aufbauende‘ Verstand jemals an ein absolutes oder unbedingtes Ende kommen könnte. Das Ganze ergibt sich nur im Durchlaufen einer unendlichen Sukzessionsreihe von bedingter Erscheinung zu bedingter Erscheinung. Das Ganze der Welt ist uns empirisch nie vollständig gegeben; es bleibt eine ideelle Aufgabe oder ein Postulat, wie Gott und die Unsterblichkeit der Seele.“[33] In einer Endlosspirale des Reflektierens nichtet Kant die sichtbare Welt zu einer Welt in seinem Bewusstsein. Mit Nietzsche gesprochen, ist ‚die wahre Welt zur Fabel geworden‘. Hier entdeckt Nietzsche Anfang und Endes eines Nihilismus der Tat. Nietzsche hebt im übrigen Humes Kritik am Vernunftbegriff Kants hervor. Hume habe schlüssig nachgewiesen, „dass es der Vernunft ganz unmöglich sei a priori und aus Begriffen eine solche Verbindung zu denken.“[34]
Zusammenfasssend kann gesagt werden, dass die Wertschätzung Humes im englischen Sprachraum mit der Kants im deutschen vergleichbar ist. Hume schaut aber nur auf den Menschen, dem die eigene Physis alles zur Verfügung stellt, was er zum Handeln benötigt. Welt und Gott sind für ihn überflüssige Denkgegenstände. Kant benutzt Humes Skeptizismus, sein tabula rasa-Denken nur als Einstieg in einen vermeintlich voraussetzungslosen Denkweg, ohne seine Schlussfolgerungen zu teilen.
Schopenhauer glaubt allerdings nachweisen zu können, dass Kant kein gläubiger Christ gewesen sein könne. Dies ist umso bemerkenswerter, als Kants Nachlasswerk Opus postumum seinerzeit (zu Schopenhauers Lebenszeit) noch verschollen war. Schließlich erklärt Kant erst dort, dass der moralische Imperativ die einzig vernehmbare Stimme Gottes sei. In seinem berühmten Werk „Die großen Denker“ legt Will Durant Schopenhauer aus: „Der große Pessimist glaubte, daß Kant wirklich Skeptiker war, der zwar selbst den Glauben aufgegeben hatte, aber aus Angst vor den Folgen für die öffentliche Moral zögerte, den Glauben des Volkes zu zerstören.“[35] Durant zitiert anschließend Paulsen: „Kant aber deckt uns das Grundlose [der spekulativen Theologie] auf, läßt hingegen die populäre unangetastet und stellt sie sogar in veredelter Gestalt auf, als einen auf moralisches Gefühl gestützten Glauben.“[36]
Ein Nenner für das Thema dieses Essays wäre: Hume will sich nur über die Sinne orientieren. Kant versteigt sich in einer fiktiven Transzendenz. Löwith hat verdeutlicht, dass Welt für Kant nur als regulative Idee gilt, die keinerlei dingliche Realität besitzt. Auch hier trägt Kants Generalnenner aus dem philosophischen Testament seines Nachlasses: „Ich bin ein Gegenstand von mir selbst und meiner Vorstellungen. Dass noch etwas außer mir sey ist ein Product von mir selbst. Ich mache mich selbst. ... Wir machen alles selbst.“[37]
Ein krasserer Subjektivismus und eine heillosere Selbstsetzung ist wohl kaum denkbar. Im Vergleich dazu muss die Abhandlung des 26-jährigen David Hume über die menschliche Natur („Treatise on Human Nature“), welche die gesamte christliche Umwelt empörte, als lässliche Jugendsünde erscheinen. Wenn nämlich Hume nachzuweisen suchte, dass der Mensch nur seinen Sinneswahrnehmungen trauen könne, suchte er schließlich nur zu erkennen, was ist. Kant dagegen bestimmt apodiktisch, was zu sein hat.
Der skeptische Philosoph Karl Löwith, der Kant in einer lebenslangen Doppelrolle sieht, nämlich als „ernsthafter Metaphysiker“ und als Physiker, für den das Machen Vorrang hat, urteilt im letzten Band seiner Schriften: „Die letzte Konsequenz dieser Methode des Rückgangs auf sich selbst, zwecks Auffindung eines rationalen Zugangs zu Gott und zur Welt, ist Eddingtons These, daß der Physiker aus der Natur nur zurückgewinne, was er zuvor in sie hineingelegt habe, welche These Heisenberg als ‚die wesentliche Einsicht der modernen Physik‘ bezeichnet.“[38] All dies sei eine Folge der Entsinnlichung der sichtbaren Welt.
Literaturverzeichnis
Durant, Will, Die großen Denker, Bergisch Gladbach 1996
Hume, David, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Kommentar von L. Wiesing, Frankfurt/M. 2007
--, Vom schwachen Trost der Philosophie, Göttingen 2014
Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1990
--, Opus postumum II, Akademie-Ausgabe Bd. 22, Berlin 1926
--, Briefe, hrsgg. V. Jürgen Zehbe, Göttingen 1970
Löwith, Karl, Gott, Mensch und Welt – Paul Valéry, Sämtliche Schriften Bd. 9, Stuttgart 1986
Nietzsche Handbuch, Stuttgart 2000
Schopenhauer, Arthur in 6 Bänden, Bd.2: Kritik der Kantischen Philosophie, Berlin 1902
Streller, Justus, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 1952
Wetz, Franz Josef, Lebenswelt und Weltall, Stuttgart 1994
[...]
[1] zit. n. Hume, David, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Kommentar von L. Wiesing, Frankfurt/M. 2007, S. 415f.
[2] B 774
[3] Vorrede 10
[4] B 773
[5] B 792
[6] Hume, David, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, a.a.O., S. 416f.
[7] B 22
[8] Hume, David, Vom schwachen Trost der Philosophie, Göttingen 2014, S. 56
[9] Hume, David, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, a.a.O., S. 177
[10] ebd., S. 191f.
[11] zit. n. . Hume, David, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Kommentar von L. Wiesing, a.a.O., S. 412
[12] ebd., S. 413
[13] KrdrV, B 128
[14] B XXX
[15] Hume, David, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, Kommentar von L. Wiesing, a.a.O., S. 417
[16] Hume, David, Vom schwachen Trost der Philosophie, a.a.O., S. 24
[17] Hume, David, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, a.a.O., S. 110f.
[18] Schopenhauer, Arthur in 6 Bänden, Bd.2: Kritik der Kantischen Philosophie, Berlin 1902, S. 510
[19] Löwith, Karl, Gott, Mensch und Welt – Paul Valéry, Sämtliche Schriften Bd. 9, Stuttgart 1986, S. 52
[20] zit.n. Löwith a.a.O., S. 52
[21] ebd., S. 53
[22] Wetz, Franz Josef, Lebenswelt und Weltall, Stuttgart 1994, S. 36
[23] Kant, Immanuel, Briefe, hrsgg. V. J.Zehbe, 1970, Brief 16, S. 30
[24] Streller, Justus, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 1952, S. 299
[25] Kant, Immanuel, Briefe, a.a.O., S. 195
[26] ebd.
[27] Löwith, Karl, Gott, Mensch und Welt, a.a.O., S. 64
[28] Schopenhauer, Arthur in 6 Bänden, Bd.2, a.a.O., S. 418f.
[29] Hume, David, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, a.a.O., S. 192
[30] ebd., S. 204
[31] ebd., S. 200
[32] Schopenhauer, Arthur in 6 Bänden, Bd.2, a.a.O., S. 429f.
[33] Löwith, Karl, Gott, Mensch und Welt, a.a.O., S. 56
[34] Nietzsche Handbuch, Stuttgart 2000, S. 411
[35] Durant, Will, Die großen Denker, Bergisch Gladbach 1996, S. 360
[36] ebd.
[37] Kant, Immanuel, Opus postumum II, Akademie-Ausgabe Bd. 22, Berlin 1926, S. 82
[38] Löwith, Karl, Gott, Mensch und Welt, a.a.O., S. S. 15
- Quote paper
- Wolf K. Obermanns (Author), 2017, Kant konfrontiert mit David Hume. Entsinnlichung der natürlichen Welt, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/352486
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