In dieser Arbeit wird auf die vielschichtigen Bezüge zwischen Ästhetizität und Gewalt eingegangen. Das ästhetische Verfahren Gewalt als ein Stilparadigma in der Kunst aufzufassen wird dabei Hauptgegenstand der Arbeit sein. Dieses Vorgehen soll veranschaulicht werden anhand der Romanverfilmung „Uhrwerk Orange“ von Stanley Kubrick nach dem gleichnamigen Buch von Anthony Burgess. Die Verfilmung wurde kontrovers diskutiert und verursachte einen Streit darüber, wie weit Gewaltdarstellungen zulässig sein dürfen. Ihr wurde vorgeworfen (…) „an die schlimmsten Instinkte des Publikums zu appellieren, indem er versuche antörnende Gewaltszenen herauszuarbeiten(…)“ (Hummel und Jansen, 1984).
Ich möchte unter anderem nachweisen, dass diese Kritik nur von jemandem stammen kann, der Kubrick in seinem Stil gründlich missversteht. Natürlich stellt sich der Rezipient nach dem Film Fragen wie: Ist das noch Kunst? Ist ein Kunstgenuss überhaupt möglich, wenn die Themen Gewalt und Tod sind? Darf man einen Gewaltverbrecher als einen Künstler interpretieren, der seine Taten inszeniert?
Die gesamte filmische Komposition von Kubrick wird unter ästhetischen Gesichtspunkten analysiert werden, denn ich möchte die Sicht auf die künstlerische Eigenart Kubricks nicht durch einen ethischen Diskurs darüber verstellen, inwiefern Gewalt gewertet werden kann. So ist dies keine primär philosophische Arbeit, sondern eine, die sich mit den untereinander verwobenen Perspektiven von Kunst und Gewalt auseinandersetzt. Diesen Topoi soll in ihren verschiedenartigen Ausprägungen in der Literaturgeschichte nachgegangen werden und die Einflüsse illustrieren, die Stanley Kubrick in seiner filmischen Interpretation von Uhrwerk Orange inspiriert haben könnten. Gleichsam kontrastieren sie die Intention, die Anthony Burgess mit seinem Roman ursprünglich verfolgte.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Kunst
2.1 Was ist Ästhetik
2.2 Vorbilder und Einflüsse
2.2.1 Dramenanalyse - Tod des Aristoteles
2.2.2 Ästhetizismus - Gustave Flaubert – ein ästhetisches Vorbild Kubricks?
2.2.3 Spätromantik - Psychologisierung und Transzendierung des Lebens
2.2.4 Moderne - Schmerz und Verzweiflung innerhalb eines sinnlosen Lebens
3 Gewalt
3.1 Uhrwerk Orange
3.1.1 Literaturwissenschaftlich
3.1.2 Medienwissenschaftlich
4 Kunst und Gewalt
4.1 Wie lässt sich die Zensur des Films verstehen
4.2 Warum wird nicht jeder gewalttätig, und wer wirdüberhaupt wodurch gewalttätig?
5 Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
Ich möchte in dieser Arbeit auf die vielschichtigen Bezüge zwischen Ästhetizität und Gewalt eingehen. Das ästhetische Verfahren Gewalt als ein Stilparadigma in der Kunst aufzufassen wird dabei Hauptgegenstand der Arbeit sein. Dieses Vorgehen soll veranschaulicht werden anhand der Romanverfilmung „Uhrwerk Orange“ von Stanley Kubrick nach dem gleichnamigen Buch von Anthony Burgess. Die Verfilmung wurde kontrovers diskutiert und er verursachte einen Streit darüber wie weit Gewaltdarstellungen zulässig sein dürfen. Ihm wurde vorgeworfen (…) „an die schlimmsten Instinkte des Publikums zu appellieren, indem er versuche antörnende Gewaltszenen herauszuarbeiten(…)“.[1] Ich möchte unter anderem nachweisen, dass diese Kritik nur von jemandem stammen kann, der Kubrick in seinem Stil gründlich missversteht. Natürlich stellt sich der Rezipient nach dem Film Fragen wie: Ist das noch Kunst? Ist ein Kunstgenussüberhaupt möglich, wenn die Themen Gewalt und Tod sind? Darf man einen Gewaltverbrecher als einen Künstler interpretieren, der seine Taten inszeniert? Der Film handelt nämlich vom Hauptdarsteller Alex DeLarge, gespielt von Malcolm McDowell. Dieser ist Anführer einer Jugendbande, welche gleich zu Beginn des Films ihre kompromisslose Gewaltbereitschaft zeigt. Im Gegensatz zu seiner Bande sieht Alex seine Taten in einem größeren Zusammenhang. Alex verfolgt nämlich mit seiner Gewalt keine politischen oder wirtschaftlichen Ziele, sondern er sieht diese als „fun" und diesen als wichtigen Bestandteil seiner Persönlichkeit. Seinen Bandenmitglieder, im Film auch „Droogs“ genannt, versprechen sich dagegen einen materiellen Gewinn aus ihren Taten. Alex wechselt während des Films die Perspektive zu seiner Umwelt. Zunächstübt er als Bandenführer Gewalt aus, aber später fällt er dieser zum Opfer. Er wird im weiteren Verlauf an seinen Gräueltaten gemessen ohne eine Chance auf Gnade oder Wiedergutmachung zu bekommen. Er wird von den anderen Personen als Mittel zum Zweck benutzt, damit sie ihre Taten rechtfertigen können. Somit gibt es im ganzen Film keine einzige Person, die sich nicht in irgendeiner Form gewalttätig verhält.
Die gesamte filmische Komposition von Kubrick wird unter ästhetischen Gesichtspunkten analysiert werden, denn ich möchte die Sicht auf die künstlerische Eigenart Kubricks nicht durch einen ethischen Diskurs darüber verstellen, inwiefern Gewalt gewertet werden kann. Mir ist dabei bewusst, dass eine adäquate Beschäftigung mit einer Ästhetik des Bösen nur vor dem Hintergrund eines moralischen Vorverständnisses des jeweiligen Rezipienten gesehen werden kann. Selbst wenn der literarische Text die Aufhebung ethischer Wertmaßstäbe zum Thema hat, stellt der Autor mit dem Text gerade diese zur Diskussion. Denn ohne jeglichen Bezugspunkt gäbe es für den Autor keine Möglichkeit sich mitzuteilen. Die affektiven Reaktionen des Rezipienten, wie zum Beispiel Angst oder Ekel, ob als Leser oder Kinobesucher treten nur bei sozialisierten Individuen auf, die eine Moralentwicklung durchlaufen haben. Ansonsten könnten sämtliche Gewaltszenen im zu besprechenden Film auch als gerechtfertigt angesehen werden und der Rezipient würde sich vielleicht ein Beispiel an den Protagonisten nehmen. Es tauchen folglich Fragen auf, die nach wie vor aktuell sind. Hat der Betrachter eines Horrorfilms seine dunklen Phantasien durch den Film ausgelebt oder wird er durch den Film erst animiert Gewalttaten selbst umzusetzen? Dieser Punkt wird ebenfalls in der Arbeit beleuchtet werden. Dabei sollen lediglich Ursachen aufgezeigt werden, warum gewaltsame Inhalte in Filmen, in diesem Fall „Uhrwerk Orange“ so einen großen Einfluss auf die Gesellschaft ausüben. Sicherlich lässt die Romanvorlage ebenfalls eine sehr ergiebige Diskussionüber die Gerechtigkeit staatlicher Strafverfahren zu oderüber die Frage nach dem freien Willen eines Bürgers innerhalb eines Staates. Jedoch ist dies keine primär philosophische Arbeit, sondern eine, die sich mit den untereinander verwobenen Perspektiven von Kunst und Gewalt auseinandersetzt. Diesen Topoi soll in ihren verschiedenartigen Ausprägungen in der Literaturgeschichte nachgegangen werden und die Einflüsse illustrieren, die Stanley Kubrick in seiner filmischen Interpretation von Uhrwerk Orange inspiriert haben könnten. Gleichsam kontrastieren sie die Intention, die Anthony Burgess mit seinem Roman ursprünglich verfolgte.
2 Kunst
2.1 Was ist Ästhetik
Wenn man als Laie eine Antwort auf diese Frage möchte bekommt man meistens durch Lexika folgende:
„ Ästhetik: Wissenschaft von den Gesetzen der Kunst, bes. vom Schönen“.[2]
Ästhetik wird hier also mit Kunst und Schönheit in Beziehung gesetzt. Dabei wird jedoch nachzuweisen sein, dass jeder Lexikoneintrag zu kurz greifen muss, wenn versucht werden soll Ästhetik zu definieren. Das Problem liegt in der Natur eines Lexikoneintrages, der, wenn er definiert, automatisch Begrifflichkeiten oder Bezüge bevorzugt und gleichzeitig andere damit ausschließt. Bei dem Begriff Ästhetik fällt also auf, dass nur das Schöne Einlass in den Eintrag gefunden hat. Es kommt meiner Meinung nach sofort die Frage auf, wie dieser wertende Eintrag zu rechtfertigen ist. Er erweckt nämlich den Anschein, dass Kunst immer schön sei und damit nur noch mehr Fragen aufwirft, als das Lexikon als Rat gebende Instanz eigentlich beantworten sollte. Denn was ist eigentlich schön und warum muss Kunst immer schön sein? Die eigentliche Wortherkunft des Begriffs „Ästhetik“ erschließt eine neue Perspektive, an die ich anknüpfen möchte. Ursprünglich kommt das Wort „aísthēsis“ aus dem Altgriechischen und bedeutet „Wahrnehmung“ oder „Empfindung“. Diese Definition ist im Vergleich zu den Lexika-einträgen neutraler und bietet mehr Interpretationsspielraum. Sie macht es nicht fest an einer Lehre oder einem System, sondern bezieht es lediglich auf individuelle Eindrücke, die ein Mensch haben kann, welche Kunst natürlich miteinschließen. Doch taucht durch diese sehr weite Definition ein neues Problem auf. Wenn es nämlich lediglich bei Sinneseindrücken bleibt, gibt es wiederum keinen Maßstab, der den Wert eines Kunstwerks beurteilen könnte. Dann bleibt Schönheit buchstäblich subjektiv im Auge des Betrachters. Dass dem jedoch nicht so ist, beweisen viele alltägliche Beispiele.
In allen Medien werden schöne Menschen mit Vorbildwirkung präsentiert, Glück, Liebe und Erfolg scheinen fast nur noch davon abzuhängen, ob man das richtige Aussehen, die richtige Figur, das richtige Lächeln hat, und wo die Kosmetik nicht ausreicht, um die unzulängliche Natur zu korrigieren, müssen Chemie, Chirurgie und bald wohl auch Gentechnik nachhelfen[3].
Wie kann nun der Anspruch auf Allgemeingültigkeit zusammenkommen mit einem subjektiven ästhetischen Urteil? Dieses komplexe Verhältnis lässt sich mit der Wirkung von Kunst selbst veranschaulichen. Was passiert eigentlich, wenn jemand ein Kunstwerk anschaut? Er wird es vor dem Hintergrund seiner Vorerfahrungen, bzw. seiner Sozialisation beurteilen. In vielen Fällen wird die Aussage fallen: „Das hätte ich auch gekonnt“ oder „Das ist keine Kunst, sondern gehört in den Abfall“. Tatsächlich werden aber bei allen Rezipienten Verstand und Gefühl gleichermaßen angesprochen. Diejenigen, die abfällige Bemerkungen äußern haben also offensichtlich keinen emotionalen Zugang zu dem Werk gefunden, sondern setzen sich selbstgefälligüber das Werk hinweg. Diejenigen jedoch, die erkennen können was das Bild mit ihnen macht, bzw. in ihnen auslöst und diese Wirkung verstandesgemäß reflektieren können, die haben ein differenziertes Kunstverständnis, welches dem Begriff der Ästhetik schon näher kommt. Man könnte auch sagen, dass der Ästhet es versteht durch seine Feinfühligkeit besonders empfänglich für die Botschaft eines Künstlers zu sein. Als Annäherung an den Begriff Ästhetik kann festgehalten werden, dass es zunächst einmal um eine wertneutrale Erfahrung geht. Diese Erfahrung fällt bei jedem Menschen anders aus und jeder zieht andere Schlüsse aus dieser.
Wie kommt jetzt aber die Wertung mit in dieser Erfahrung? Wo ist der Maßstab sagen zu können, dass ein Kunstwerk gelungen ist? Offensichtlich kann es vor dem Hintergrund vieler abfälliger Bemerkungenüber Kunstwerke nicht am Kunstwerk selbst liegen, sondern am Künstler. Es macht den Künstler aus, die Wirklichkeit in einem Kunstwerk so zu verdichten, dass es als ein Exemplar, gar als ein Symbol für etwas Allgemeines stehen kann. Der Grad des Genies ist fähig dazu den Zeitgeist einer ganzen Generation zu treffen, ohne das vielleicht bewusst beabsichtigt zu haben. Es geschah vielleicht einfach aus dem Bedürfnis heraus seinen jeweiligen psychischen Zustand auszudrücken. Und damit hätte man ein Bewertungskriterium um sagen zu können, wie gut es einem Künstler gelungen ist sich in seinen Werken auszudrücken.
Bereits Immanuel Kant hat dieses Paradox zwischen Allgemeingültigkeit und subjektiven Werturteil beschrieben. In seinem Werk „Kritik der Urteilskraft“ entwickelt er ein System, welches den komplexen Begriff der Ästhetik darstellt. Weil sich subjektive Werturteile nicht logisch zu einem Konsens deduzieren lassen, bleibt jedes Urteil als Idee bestehen. Jedes Werturteil wirbt damit darum als Konsens erfahren zu werden, liefert also gute oder schlechte Argumente dafür als exemplarisch gelten zu dürfen. Kant hat damit den Versuch unternommen der Ästhetik seine eigene Logik zu geben. Nach ihm können vier Merkmale eines ästhetischen Urteils festgehalten werden.
1. Das ästhetische Urteil ist autonom und gleichberechtigt zu allen anderen wissenschaftlichen Urteilen.
2. Es erhebt Anspruch auf Allgemeingültigkeit
3. Es kann nicht auf einen einzigen Begriff gebracht werden, sondern erfüllt die Welt unabschließbar.
4. Diese Unabschließbarkeit hat die Eigenschaft einer eigentümlichen Lust.
Kants Interpretation von Ästhetik distanziert sich also von einer einzigen wahren Bewertung und entwickelt eher eine Art Rezeptionsästhetik, dessen Charakter darin liegt, dass jeder Betrachter durch seine Erfahrung vom Kunstwerk dem selbigen einen bestimmten Wert zuschreibt. Dieser Wert stehe dann in unabschließbar zur Diskussion um einen gemeinsamen Konsens. Als letzten Punkt fügt Kant noch die Lust ein, welche die Ästhetik erzeuge. Wodurch wird nun die Lust am Kunstwerk erzeugt? Auch hier geht es wieder um das Spannungsverhältnis zwischen Verstand und Gefühl. Kant ist der Meinung, dass sich die besagte Lust nur durch eine Interesselosigkeit dem Kunstobjekt gegenüber einstellt. Diese Formulierung kann meiner Meinung nach missverstanden werden, denn es ist eher einer Art Distanz zum Kunstwerk, die es ermöglicht es genauer wahrzunehmen. Jemand, der durch seine Gefühle zum Kunstwerk, zum Künstler etc. befangen ist, kann das Werk und dessen Wirkung auf sich selbst nicht kritisch genug hinterfragen und wird damit auch kein ästhetisches Urteil abgeben, welches Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben kann. Denn dann bleibt es gerade als subjektives Urteil entweder nur Schwärmerei oder Verriss. Um es mit den Worten von Kant zu sagen:
Man muß nicht im mindesten für die Existenz der Sache eingenommen, sondern in diesem Betracht ganz gleichgültig sein, um in Sachen des Geschmacks den Richter zu spielen.[4]
Somit entsteht also aus dem Wechselspiel von Verstand und Gefühl die Lust an der Ästhetik. Diese Lust ist frei von Wertungenüber etwaige Schönheit oder Hässlichkeit in der Kunst. Sie ist befreit von moralischen Reglements, weil sie ansonsten als Teil der Autonomie der Ästhetik nicht wertgeschätzt werden könnte. Diese Abgrenzung von der Moral mag eine Befreiung sein und der Erfahrung von Ästhetik gerecht werden. Doch läuft sie aufgrund dieses Werte-Vakuums immer Gefahr institutionell vereinnahmt zu werden. Zum Beispiel weiß jede Diktaturüber diesen Mechanismus Bescheid und kann ohne jegliche Legitimation Gegenstände zu Kunst erklären und andere zu „entarteter“ Kunst. Deshalb kommt das Ästhetische nie ganz ohne den Bezug auf das Ethische aus. Schon bei Kant bleibt dieser Bezug bestehen, wenn er sagt, dass das Schöne gleichzeitig ein Symbol des Sittlich Guten ist. Das bedeutet, dass auch Kant sich nicht vollständig von wertenden Gleichsetzungen trennt, dass zum Beispiel schöne Menschen immer gutes tun und hässliche einen frevelhaften Charakter haben und nur schlechtes tun können. Genau dieses Paradoxon werde ich im nächsten Kapitel beim Regisseur Stanley Kubrick erörtern. Denn seine Filme hatten seiner Meinung nach ebenfalls nur den Anspruch Kunst zu sein, thematisierten jedoch trotzdem Werte und Normenkonflikte. Er sagte zum Beispiel 1971über Kunst folgendes:
„Ich glaube nicht, daß irgendein Kunstwerk eine andere Verantwortungübernimmt, als Kunst zu sein“.[5]
Dieses Credo bezeugt eine klare Affinität zum Ästhetizimus, einer Kunst und Geistesepoche des 19. Jahrhunderts. Die Literaten dieser Zeit forderten nach einer Kunst, die nur sich selbst verpflichtet sei. Théophile Gautiers Vorwort zu „Mademoiselle de Maupin“ von 1834 gilt hier als ein Manifest des L’art pour l’art, welches den Appell an eine autonome Kunst weiter forcierte.[6]
2.2 Vorbilder und Einflüsse
2.2.1 Dramenanalyse - Tod des Aristoteles
Der Held bei Kubrick befindet sich ständig in einer Revolte. Diese ist jedoch nicht so offensichtlich wie zum Beispiel ein anarchisches Aufbegehren gegen gesellschaftliche oder politische Maßregelungen. Sie ist subtiler und rührt an dem Selbst und Weltverständnis eines jeden Individuums. Damit erzeugt er sozusagen eine innerpsychische Revolte, indem er den einfachen Menschen der komplexen Umwelt gegenüberstellt. Die Umwelt kann dabei in seinen Filmen verschiedene Ausmaße nehmen. Im besagten Film „Uhrwerk Orange“ ist es der Staat, der gegenüber gestellt wird, beim Film „Spartacus“ ist es die Gladiatorenschule und bei „Full Metal Jacket“ sind es die vietnamesischen Feinde. Kubrick benutzt diese Dialektik, um beide Seiten miteinander zu verschränken. Gerade der Film „Uhrwerk Orange“ kann hier als ein Paradebeispiel angeführt werden. Zunächst wird dem Zuschauer suggeriert, dass der Held Alex als der Bösewicht des Films zu gelten habe, dem nur Antipartie entgegengebracht werden könne. Als Alex jedoch vom Staat zu einer Gehirnwäsche verurteilt wird, ist der Zuschauer geneigt Mitleid mit ihm zu empfinden, und den Staat als grausam zu verurteilen. Doch welche Gewalt wiegt nun schwerer? Und kann man sich als Zuschauerüberhaupt noch mit den Figuren identifizieren?
Hier könnte man sich fragen, obüberhaupt eine Identifikation beabsichtigt gewesen ist. Ich bin der Meinung, dass er konsequent Identifikation verhindern wollte, um einen Anreiz zum Nachdenken zu geben. Wenn man nun Kubricks Stilüberträgt auf die Analyse von Dramentheorien lässt die Vermeidung von Identifikation Assoziation zum Epischen Theater zu. Diese Konzeption nach Bertholt Brecht nutzt den sogenannten Verfremdungseffekt, um die Bühnenillusion als solche zu offenbaren. Dieser Effekt kann zum Beispiel im Theater dadurch geschaffen werden, dass der Erzählrahmen durch direkte Ansprache an das Publikum zerstört wird. Auch die Darsteller können dem Publikum ihre Rolle zeigen, anstatt sie zu verkörpern, indem sie zum Beispiel sagen: Jetzt spiele ich einen seriösen Geschäftsmann. Folglich hebt alles die Illusion auf was zur Distanz zum aufgeführten Geschehen führt und verhindert damit eine Identifikation. Diese Distanz ist auch notwendig, denn der Zuschauer soll aufgeschreckt werden und sich Fragen stellen wie: Wieso macht der Regisseur das so? Das hätte ich nicht gedacht. So darf man es doch nicht machen. Somit beschäftigen sie sich kritisch mit der Thematik und stehen quasi in Kommunikation zum Geschehen.
Diese Form des Theater steht natürlich im genauen Gegensatz zu der Konzeption des Aristoteles. Diese Konzeption möchte gerade eine Illusion erschaffen, die Wirklichkeit nachbilden. Hinter dieser Forderung nach Nachbildung steht die Katharsis-Theorie. Diese bezweckt durch möglichst wirklichkeitsgetreue Schauspiele Erregungszustände im Zuschauer zu initiieren. Dieses künstliche Evozieren soll das Publikum von ihremübermaß an Gefühlen befreien, welche ihnen schadeten, wenn sie diese nicht durch das Theater kanalisierten. Das Ziel des aristotelischen Theaters ist also, dass der Zuschauer Identifikationspotential geboten bekommt, damit er in seinen Gefühlen bestätigt wird und sich zum Beispiel sagt: Dasselbe habe ich auch durchgemacht, denn so ist die menschliche Natur und so wird sie immer bleiben. Inwiefern diese Theorie heute noch tragfähig ist, werde ich im letzten Kapitel erörtern. Im Gegensatz zu Aristoteles sind die Charaktere bei Kubrick authentisch und können es trotzdem nicht sein.
Der Held Alex bei „Uhrwerk Orange“ ist nur solange authentisch, wie er noch seine gewaltsame Persönlichkeit besitzt. Die Soldaten bei „Full Metall Jacket“ sind solange authentisch bis sie paradoxerweise mit der grausamen Realität des Krieges konfrontiert werden, insbesondere in der Szene, wo sie ein kleines Mädchen tödlich anschießen und zuschauen wie es stirbt. Bei Spartacus gibt es die Szene wo der Herr der Gladiatorenschule, Batiatus, mit seinen Gästen den Sklaven beim Sex zu sehen möchte und Spartacus sagt: „Wir sind keine Tiere“[7]. Spartacus‘ verzweifelter Versuch seine Würde zu erhalten muss scheitern, weil er zwar kein Tier sein mag, aber auch kein richtiger Mensch. Die zuvor beschriebene Revolte besteht darin als moderner Mensch allen sinnstiftenden Wertesystemen enthoben zu sein. Alle beschriebenen Beispiele zeugen von Charakteren, die moralisch in der Schwebe gehalten sind. Denn einerseits schaffen sie es nicht „bessere“ Menschen zu werden, andererseits sind sie zivilisiert genug, um nicht in vollkommene Anarchie und triebgesteuerte Bestialität zu verfallen. Im Rückgriff auf das vorherige Kapitelüber Ästhetik lässt sich die Parallele ziehen, dass Kubrick in seinen Filmen eigentlich gar nicht erzählt[8], weil es ihm nicht darum geht mit seinen Filmen ein positives oder negatives Statementüber einen Sachverhalt abzugeben. Er stellt lediglich sein Kunstwerk, sein subjektives Werturteil von Kunst zum Diskurs. Dabei tut er das auf so eine provokante Art und Weise, die Kritiker anrührt zu sagen, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Denn diejenigen, die ihn kritisieren sind jene, die noch an die gesellschaftliche Relevanz von Kunst als moralisches Parameter glauben.
Denn wenn in früheren Kunstwerken böse Taten dargestellt wurden, waren sie eingebettet in einen soziologischen oder psychologischen Funktionszusammenhang. Der „Böse“ galt als ein Abtrünniger, der durch soziale Missstände oder psychische Krankheit aus der bürgerlichen Ordnung gefallen war. Der „Böse“ war also nur ein Teil des Guten und ließ sich demnach läutern und wieder eingliedern. Doch Kubrick zerstört diesen Einheitsgedanken des allgegenwärtigen Guten und verleiht dem „Bösen“ an sich eine eigene Autonomie.
Was also anscheinend viel schlimmer wiegt als der Inhalt von Kubricks Filmen ist die Verletzung eines fast zweihundertjährigen Selbstverständnisses von Kunst und Ästhetik, welches die Identität und den Profit derjenigen gefährdet, die seine Filme nicht mögen.[9] Diesem Kunstverständnis einer art utile[10], also einer zu einem Zweck unterworfenen Kunst widersetzten sich die Literaten des Ästhetizismus. Bei Stanley Kubrick spielt vor allem Gustave Flaubert eine herausragende Rolle, dessen Werke ihn in seinem Selbstverständnis von Ästhetik beeinflussten.
2.2.2 Ästhetizismus - Gustave Flaubert – ein ästhetisches Vorbild Kubricks?
Ein Markenzeichen von Stanley Kubrick ist seine Selbstdisziplin und sein Perfektionismus. Er möchte an allen Bearbeitungsschritten des Films beteiligt sein und nichts dem Zufallüberlassen.[11] Man kann also feststellen, dass Kubrick seine Filme eher mit einem rationalen Kalkül plant, als sie aus einer Intuition heraus zu verarbeiten. Wie zuvor Kant hat auch Kubrick das Ansinnen die Kunst als eine autonome Wissenschaft zu betrachten. In diesem Bestreben ähnelt er besonders Flaubert, dessen Anspruch es ebenfalls war alles kühl und mit Bedacht zu erschaffen.[12] Die Schwierigkeit dieses Anspruches besteht nun darin das Kunstwerk für sich selbst sprechen zu lassen. Flaubert drückt dies folgendermaßen aus:
Die Hauptschwierigkeit bleibt für mich darum nicht minder der Stil, die Form, das undefinierbar Schöne, das sich aus der Konzeption selbst ergibt.[13]
Ohne einen Maßstab, Ziel oder Zweck, dem die Kunst unterworfen werden soll, fällt es offensichtlich schwer die pure Schönheit sichtbar zu machen. Dieses Problem macht sich auch bei einer der Schlüsselszenen des Films „Uhrwerk Orange“ bemerkbar. Es geht um die Szene, in der der Bandenführer Alex deLarge die Frau des Schriftstellers Mr. Alexander vergewaltigt. Die Szene wurde bereits drei Tage geprobt, ohne dass sie Kubrick zufriedenstellte. Er wusste nicht was fehlte, aber wollte solange filmen, bis irgendetwas geschieht, dass wirklich aufnahmewürdig sei.[14] Es ist so gesehen merkwürdig, dass Kubrick, der Perfektionist, auf eine Eingebung wartete, anstatt den Schauspielern Vorschriften zu machen. Doch sah paradoxerweise gerade er seine Arbeit als Regisseur nur darin den Schauspieler mit Ideen zu versorgen, ihn zu inspirieren, anstatt ihm beizubringen, wie er zu spielen habe.[15] Folglich wusste er genau, dass er nichts erzwingen konnte, wenn er es ähnlich wie Flaubert schaffen wollte ein Werk zu kreieren, was für sich selbst spricht.
Über diesen Schaffensprozess sagt Kubrick zum Beispiel:
Es ist unmöglich zu definieren, worin dieser Prozeß besteht; er hat offensichtlich mit Geschmack und Imagination zu tun, und in diesem entscheidenden Augenblick (crucial period of time) wird der Film wirklich geschaffen[16]
Obwohl er also sehr perfektionistisch war, war er sich auch der Unsicherheiten und der Zweifel während des Schaffensprozess bewusst. Es war folglich eine Art magischer Moment, als er den Schauspieler Malcolm McDowell alias Alexander DeLarge darum bat während der Szene ein Lied zu singen. Diesem fiel spontan nur der Song von Gene Kelly „ Singing in the rain“ ein und plötzlich eröffnete sich eine ganze neue Sichtweise auf die Szene, die dem ganzen Film seine Widersprüchlichkeit gibt. Denn ein fröhlicher, lebenslustiger Song konnotiert mit einer sexuellen Gewalttat erschreckt und erschüttert den Zuschauer in seinen filmischen Gewohnheiten. Die Gleichsetzung suggeriert nämlich, dass der Regisseur Gewalt billigt und sie verherrlicht, was, wie ich später ausführen werden, natürlich nicht der Fall ist. Flaubert bekam sogar wegen seinem Roman „Madame Bovary“ gerichtliche Probleme. Obwohl sein Roman 1856 in einer Zeitschrift zensiert veröffentlicht wurde, kam es zu einem Prozess wegen angeblicher Verherrlichung von Ehebruch.[17] Die Anschuldigungen gegen Flaubert ähneln dabei stark denen, die auch an Kubrick herangetragen wurden.
Kälte, Zynismus, Nihilismus, Brutalität, Amoralität, Unmenschlichkeit.[18]
Bei beiden ist der Kanon der Negativurteile ein Zeichen dafür, dass dieser neuartige Stil missverstanden wurde.[19] Zusammenfassend kann gesagt werden, dass beide, Kubrick und Flaubert, in ihrem Selbstverständnis von Kunst eine romantische Seele mit einem analytischen Verstand verbinden.[20] Es gäbe noch mehr Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, wie zum Beispiel die große Varianz im Oeuvre der beiden. Dadurch ließen sie sich von Zeitgenossen nicht genau auf ein Genre festlegen. Beide legten auch durch ihre Perfektion mehr Wert auf Qualität, als auf Quantität und verweigerten sich damit konsequent den ökonomischen Forderungen des Kunstmarktes.[21]
Aber für den weiteren Textverlauf ist vor allem wichtig zu verstehen, dass Kubricks künstlerisches Selbstverständnis zweifelsfrei in der Tradition der europäischen Kulturgeschichte steht.[22] Hier soll nicht nur Gustave Flaubert als ein Vorbild angeführt werden, sondern auch Ernst Theodor Amadeus Hoffman, der als einer der Begründer der „schwarzen Romantik“ Kubrick durch Topoi der Spätromantik inspirierte. Diesen Autor und die entsprechende Epoche werde ich im nächsten Kapitel erläutern.
2.2.3 Spätromantik - Psychologisierung und Transzendierung des Lebens
Bei der Beschäftigung mit der Spätphase der Romantik fällt das Interesse der Autoren an Religion und Psychologie auf. Dabei wird in den Texten meistens entwicklungspsychologisch ein Protagonist entworfen, der während er mit inneren Konflikten zu kämpfen hat verschiedene Phasen durchlebt. Prägnant an den meisten Texten ist immer ein Stimulus, der das Unterbewusstsein der Person zum Vorschein kommen lässt und dessen Charakter negativ beeinflusst, ihn auch oft dazu bringt entweder sich selbst umzubringen oder anderen Menschen Gewalt anzutun. Die Sozialisierung des Individuums durch sinngebende Instanzen wie Religion oder andere Doktrinen scheitert also letztlich immer an verdrängten Trieben, die oft auch inzestuös sind. In dem Roman „Die Elixiere des Teufels“ von E.T.A. Hoffmann bemerkt die Hauptperson Medardus, ein Mönch, erst zum Schluss, dass erüber einen Fluch in seiner Ahnenlinie mit allen im Text vorkommenden Personen verwandt ist. Clemens Brentanos Roman „Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl“ behandelt ein durch Vergewaltigung im Kindesalter evoziertes Trauma, welches sich, symbolisch codiert, im Erwachsenenalter mit schicksalhafter Notwendigkeit Bahn bricht.
Kubrick interessiert dabei vor allem die psychische Spaltung der Personen. Seine Charaktere befinden sich, wie bereits im Kapitel 2.2.1 beschrieben, in einem unauflösbaren Konflikt zwischen ihren eigenen Ansprüchen und der Umwelt. Diese Figurenkonstellation forciert er nun mit psychologischer Präzision, indem er zum Beispiel das Motiv des Doppelgängers aus der besagten Epoche entlehnt. Beim Film „Uhrwerk Orange“ sind es zum Beispiel die gleichen Namen von zwei Personen, die Kubrick im Film gegenüberstellt. Der Anführer der Jugendbande heißt nämlich Alexander mit Vornamen, sein Opfer, der Schriftsteller dessen Frau er später vergewaltigt, heißt Alexander mit Nachnamen. Beide Personen sind im Film gleichzeitig Täter und Opfer, ihre Intentionen sind wie bei dem Symbol des Yin Yang ineinander verschränkt und bilden scheinbar eine Einheit. Dabei lebt die eine Hälfte des Ichs ungehindert die Triebe aus, die sich die andere Hälfte nicht eingestehen kann. Der Gewaltverbrecher Alex lebt seine Taten und kostet sie förmlich aus. Doch auch Mr. Alexander ändert seine vorher linksliberale Gesinnung und agiert letztlich genauso gewalttätig wie das totalitären Regimes. Gegen dieses hatte Mr. Alexander sein ganzes Leben als Schriftsteller gekämpft und sich gegen staatliche Eingriffe eingesetzt. Analog zu dem Modell vonüber-Ich, Ich und Es, ist es bei Kubrick die fatale Konsequenz, dass das Ich seiner Protagonisten zwischen beiden Polen aufgerieben wird und entweder sich tötet oder anderen Schaden zufügt.
Es ist also nur eine scheinbare Einheit, die jedes Individuum für sich wahren kann, aber durch gesellschaftliche Verdrängungsprozesse wieder zur Spaltung kommt. Kubricks Figuren propagieren also nur unter dem Banner der instrumentalisierten Vernunft die Einheitlichkeit[23], scheitern jedoch letztlich an ihrer Dissoziation. Damit gelingt es Kubrick zu zeigen, dass nicht nur eine einzige Figur, wie im aristotelischen Theater tragisch scheitert, sondern er kann das Scheitern eines größeren Sinnzusammenhanges deutlich machen. Seine Charaktere streben nämlich nicht allein in das Zentrum der Handlung, sondern im Zentrum steht die Dialektik der sich spiegelnden Charaktere. Das Motiv des Doppelgängers verhindert eine Linearität der Handlung, die handelnden Subjekte befinden sich durch diesen Kunstgriff Kubricks quasi in einer Endlosschleife an Handlung, von der es keine Erlösung gibt. Eine „reinigende“ Katastrophe am Ende bleibt somit aus. Die eigentliche Katastrophe bei Kubrick ist es also, dass der Mensch nieüber sich selbst hinaus kommen kann. Ähnlich der mythologischen Knabenfigur des Narziss.
Vom schönen Narkissos wurde erzählt, er habe sein Spiegelbild erst im sechzehnten Lebensjahr erblickt, als er sichüber einer der vielen Quellen am Helikon neigte[…]. Narkissos verliebte sich in sein Spiegelbild und verschmachtete, oder er tötete sich aus unerfüllter Liebe.[24]
Mitüber sich selbst hinaus kommen ist die romantische Sehnsucht nach Transzendenz gemeint. Das Verlangen der romantischen Literaten nach einer höheren Daseinsebene schlug sich nieder in Topoi vom Wandern, dem Fernweh oder der Natur. Der romantische Mensch war auf der Suche nach sich selbst, erhoffte sich durch Religion und Psychologie Antwortenüber seinen Ursprung und sein Schicksal. Diese Hoffnung auf Selbsterkenntnis wird bei Kubrick jedoch systematisch durchkreuzt, indem die narzisstischen Charaktere im Doppelgänger einen anderen zu sehen glauben, als sich selbst. Kubrick konstruiert also jedes Mal eine ausweglose Situation für seine Charaktere, deren immer alle scheinbaren Lösungswege ihrer Krise verstellt sind. Denn ähnlich wie Spartacus kein Leben in Würde führen kann, ist es auch dem Anführer Alex in Kubricks fiktivem Staat nicht möglich zu einem mündigen Bürger mit Verantwortungsgefühl zu werden. Kubrick entlehnt damit die Entzweiung von Natur und Gesellschaft[25], wie sie in der romantischen Literatur im Protagonisten als Spannung zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein angelegt ist, um das Scheitern des Individuums in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Diesen Zusammenhang möchte ich nun weiter ausführen.
In einem Rückgriff auf das Kapitel 2.1. wird deutlich werden, welche komplexe und symbolisch codierte Kulturkritik er eigentlich ausübt, wenn man ihn richtig versteht. Ich möchte vorher noch klarstellen, dass Kubricks Programmatik eine ästhetische ist und seine Auseinandersetzung mit verschiedenen Geistesepochen keinen konkreten historischen Anlass hat, sondern lediglich Modellcharakter haben soll.[26] Kubrick ist nicht nur an den Krisen des Individuums interessiert, sondern möchte mit seinen Filmen ein mentales Paradigma sichtbar machen, welches für eine gesamte Epoche stehen kann. Er möchte zum Beispiel auch auf die Epoche der Aufklärung Bezug nehmen, was viele Verweise in seinen Filmen bestätigen. Er baut zum Beispiel in „Uhrwerk Orange“ zahlreiche Verweise auf das 18. Jahrhundert ein. Es tauchen gleich mehrmals Kostüme aus diesem Jahrhundert auf: so in der Szene im Plattenladen, wo Alex einen Lodenmantel trägt, und in der Schlusssequenz, wo Alex unter Beobachtung einer signifikant gekleideten Menschenmenge Sex hat. Die Frage ist nun inwiefern Kubrick diese Verweise verwendet. Er bedient sich Motive der Spätromantik und hinterlässt Hinweise auf die Aufklärung in seinen Filmen. Der Film Barry Lyndon spielt sogar im 18. Jahrhundert. Es ist aber noch nicht klar, welchen Zusammenhang er damit herstellen möchte.
Geht es ihm darum, in der Thematisierung ihrer Defizite die Aufklärung fortzuschreiben, oder bezieht er eine romantisch eingefärbte Gegenposition, wofür ja immerhin die auffällige Vorliebe für Motive und Themenkonstellationen aus dem Kanon romantischer Literatur ein Indiz sein könnte?[27]
Man könnte zunächst auch davon ausgehen, dass er eine romantische Gegenposition vertritt, auch wegen seiner Vorliebe für romantische Topoi. Aber es wurde mir klar, dass diese Ansicht nicht nur zu kurz greift, sondern Kubrick auch gänzlich missversteht. Denn zu behaupten, dass Kubrick eine Gegenposition entwickle, hieße gleichzeitig ihn auf eine einzige Position festzulegen. Dies widerspricht jedoch seinem Kunstverständnis, welches frei ist von jeglichen Wertungen oder Bevorzugungen. Damit erklärt sich auch, warum ich zuvor darauf hingewiesen habe, dass Kubrick beide Epochen nur als Modellcharakter verstanden wissen möchte. Es sind für ihn wertneutrale Entwürfe einer Weltanschauung, die damals Anspruch auf universelle Gültigkeit erhoben. Jede Epoche für sich genommen hatte also einen Leitspruch, eine Methode, die versprach die Welt erkennen und erklären zu können. Eine Doktrin, die dem einzelnen Individuum Orientierung gab und Sinn stiftete. Kubrick nutzt nun, symbolisch codiert, die Sprache jener Zeit und zerstört in seinen Filmen konsequent jede Möglichkeit der Charaktere sich einen Sinn in ihrem Leben zu konstruieren. Erst jetzt kann man nachvollziehen, welcher Zusammenhang gemeint ist. Kubrick nimmt gerade den Punkt, an dem beide geistigen Strömungen aufeinanderprallen, und sich neutralisieren, als Ausgangspunkt seiner Ästhetik.[28] Es ist der äußerste Rahmen, der Makrokosmos, seiner Dialektik. Der Mikrokosmos in Form der Figurenkonstellation und der Makrokosmos durch Epochen sind beide darauf angelegt die Filme als reine Kunstwerke wirken zu lassen. Die Filme thematisieren zwar soziale, politische und ethische Defizite einer Gesellschaft, bieten aber keine Lösungsvorschläge an, da dies wiederum einer Wertung gleichkäme. Kubricks Statement ist somit, philosophisch gesagt, dasjenige, was nicht sichtbar ist. Etwas was jenseits aller Zeichenhaftigkeit stattfindet und eigentlich nicht mehr darstellbar ist. Es wird nun noch klarer, warum es so schwer ist Kunst erfahrbar zu machen, denn die Arbeit des Kunstwerks besteht darin dem Sprachlosen eine Sprache zu geben, das Abwesende zu vergegenwärtigen.[29] Aus dieser ästhetizistischen Tradition des L’art pour l’art speist sich auch der Pessimismus Kubricks. Es liegt der Schluss nahe, dass Kubrick bezweifelte, dass Kunst ein Mittel zur Besserung der Gesellschaft sei. Die zyklische Struktur seiner Filme und seines Gesamtwerks zeugen davon, dass er kein teleologisches Weltbild besessen hat und nicht an einen Fortschritt der Menschheit glaubte. Im Kapitel 3.1.1.1 werde ich auf die Symmetrie des Werks „Uhrwerk Orange“ noch gesondert eingehen. Dieses pessimistische Weltbild ist, allen Kritikern die im Konservatismus vorwerfen zum Trotz, sehr modern.[30] Dieser moderne Einschlag in seinem Gesamtwerk soll im nächsten Kapitel genauer ausgeführt werden.
2.2.4 Moderne - Schmerz und Verzweiflung innerhalb eines sinnlosen Lebens
Welche Indizien gibt es dafür, dass Kubrick mit der literarischen Moderne assoziiert werden kann? Für eine differenzierte Antwort, muss zunächst der Begriff „Moderne“ geklärt werden. Wenn etwas modern ist, dann gibt es auch immer etwas, was zuvor unmodern und alt war. So haben sich im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts Literaturdebatten abspieltüber verschiedene Anschauungen von Ästhetik. Dabei ging es darum, dass die Vertreter der modernen Literatur versuchten die klassischen Vorbilder der Antike zuüberwinden, indem sie auf Themen des Zeitgeschehens Bezug nahmen. Das bedeutet, dass sie sich kritisch mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld auseinandersetzen, anstatt einem vorgefertigten Schema einer art utile zu folgen.
Moderne Literatur ist sich ihrer jeweiligen Zeit und ihrer jeweiligen Geschichte bewusst und thematisiert dieses Wissen inhaltlich und formal. Das Prädikat „modern“ lässt sich daher nicht auf einen bestimmten Inhalt oder auf einzelne formale Kriterien festlegen.[31]
Kubricks Kunstverständnis deckt sich mit dem Prädikat „modern“, da auch seine Werke selbstreferentiell sind. Aber auch die die entlehnten Themenkonstellationen sind erkennbar. Die Urbanisierung, die Anonymität der Masse und der technischer Fortschritt als Zeichen der Moderne finden sich ebenfalls in Kubricks Werken. Er benutzt nämlich in vielen seiner Filme die Relation zwischen Mensch und Maschine. Im Film „2001: Odyssee im Weltraum“ ist es zum Beispiel der Automat HAL 9000, der eigentlich darauf programmiert war den Astronauten zu helfen, sie aber töten will, als beschlossen wird, dass HAL abgeschaltet werden soll. Aber Kubrick benutzt nicht nur eine Maschine, um den technisierten Menschen zu verdeutlichen. Im Kriegsfilm „Full Metal Jacket“ ist es der Krieg als solches, der als totbringende Maschinerie den Menschen vernichtet. In „Uhrwerk Orange“ ist dieser Mechanismus subtiler. Im merkwürdigen Titel des Films steckt bereits die technische Assoziation. Doch welchen Sinn hat ein Uhrwerk, welches die Form einer Orange hat? Zweifelsohne ist es eine Gegenüberstellung von Organischem und Maschinellen, also Künstlichem. In dieser Relation könnte man Alex als dieses Konstrukt ansehen. Er ist äußerlich zwar noch ein Mensch, also organisch, aber nach der Konditionierung im Kino funktioniert er nur noch und lebt nicht mehr.
Der Pfarrer des Gefängnisses drückt es so aus:
Menschliche Güte ist etwas, für das man sich entscheidet, das man für sich selber wählt. Wenn ein Mensch nicht mehr wählen kann, dann hört er auf Mensch zu sein.[32]
Dem Menschen wird also seine ureigene Fähigkeit entzogen, die ihn als Mensch ausmacht Ein modernes Analogon dazu wäre zum Beispiel das Gedicht „Der Panther“ (1902) von Rainer Maria Rilke. Rilke schildert seine Beobachtungen eines Panthers im Zoo. Das Tier lebt nicht mehr naturgemäß als Raubtier in Freiheit, sondern ist von den Menschen zum Schauobjekt degradiert worden. Gerade der Blick spielt auch bei Kubricks Werken, ins Besondere bei „Uhrwerk Orange“ eine bedeutende Rolle.
Dieses Objekt wird dabei zum Sinnbild für etwas Höheres, zu einer Art Gleichnis für den Zustand des modernen Menschen, der sich in den neuen Großstädten seiner natürliche Umgebung beraubt fühlt. Wenn man nun bei dem Bild des Raubtiers bleibt und Alex als ein solches interpretiert, sind seine Taten dann gerechtfertigt, weil sie seiner Natur entsprechen? Oder hat er sämtliche Rechte durch seine Taten verwirkt und die Menschenwürde ist letztlich doch nicht unantastbar? Diese Fragen evoziert Kubrick beim Zuschauer ganz gezielt und manipuliert ihn in seinem Urteilsvermögen. Denn der Zuschauer ist gewilltüber die Gewalttaten von Alex hinwegzusehen und doch Mitleid zu empfinden. Das liegt zunächst daran, dass Alex‘ Taten in der ersten Hälfte des Films liegen und damit zum Ende hin eher vergessen werden. Aber vor allem liegt es an dem Modus der beiden Gewaltausübungen. Alex Taten sind ungeachtet der Grausamkeit noch persönlich. Er steht seinem Opfer noch körperlich gegenüber und der Akt als solches ist ebenfalls noch persönlich. Die Gewalt des Staates gegen Alex ist jedoch unpersönlich. Sie ist instrumentalisiert worden und durch die Künstlichkeit dieser staatlichen Maschinerie auch emotionslos geworden. Damit ist die staatliche Gewalt eher eine seelische als eine körperliche, wie es der Eingriff in Alex‘ Psyche beweist.
Man könnte hier auch Assoziationen ziehen zur Geschichte der Kriegswaffen. Im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg stehen sich die Gegner noch gegenüber. Es wird noch mit Schwertern gekämpft und selbst die Musketen haben Bajonette zum Kämpfen. Im ersten Weltkrieg waren es bereits Panzer und Giftgas, die dazu beitrugen, dass der Krieg unpersönlicher wurde. Der Gegner war keine Person mehr, sondern wurde zu einer anonymen Masse. Bis zur modernen Kriegsführung mussten Soldaten materiell entlohnt werden. Ein zu entrichtender Kriegssold begrenzte die Soldaten auf das vorhandene Vermögen des jeweiligen Königs. Dieser Krieg war damit eine Art Geschäft und wurde rational geführt. In den modernen Zeiten war der Lohn der Soldaten ein ideeller. Es konnten nun große Menschenmassen durch ein gemeinsames Nationalgefühl mobilisiert werden. Der Krieg wurde durch Propaganda emotional aufgeladen und unter einem staatlich instruierten Leitbild geführt. Die „kalte“ und unpersönliche Art der Gewalt verleitet den Zuschauer dazu, sich doch mit Alex zu identifizieren. Er fühlt sich jedoch im gleichen Moment dabei ertappt, etwas getan zu haben, was moralisch verwerflich scheint, nämlich sich mit einem Gewaltverbrecher zu identifizieren. Die verstörende Wirkung für den Zuschauer speist sich nun daraus, dass erstens vom Regisseur keine Auflösungen angeboten werden, aber auch zweitens, dass nun die Gewalt in ihrer Rohheit offenbar wird, nachdem es keine Milderung durch die Moral mehr gibt. Die Tat bedarf keiner Legitimationen mehr und ist keinen Interpretationen unterworfen. Sie ist sich, wie das Kunstwerk, selbst genug und verweist auf sich selbst. Man könnte sagen, dass die Bilder im Film aufgehört haben eine Botschaft, eine zusammenfassende Moral zu kommunizieren. Der Zuschauer fühlt sich von diesem „Schweigen der Bilder“[33] irritiert und beginnt damit Sinn in dem Film zu suchen. Er will nicht akzeptieren, dass der Regisseur den Film bewusst als ein eigenes Kunstwerk konstruiert hat. Doch wer diesen Schritt tut, der bestätigt, dass er Kubricks Arbeit nicht verstanden hat.
Wer das Schweigen des Kunstwerkes nicht aushält, verleugnet fundamentale Erkenntnisse des späten 19. Jahrhunderts und flüchtet sich in die trügerische Sicherheit ganzheitlicher Weltentwürfe, wie sie das 18. Jahrhundert noch formulieren konnte.[34]
Wenn es nämlich keine Bewertungskriterien mehr gibt, wieso sollten dann nicht auch die Gewalttaten von Alex eine Art von Kunst sein? Kubrick bleibt damit in seiner ästhetischen Programmatik konsequent. Er entlarvt jeden Zuschauer als einen Heuchler, der noch an einen Sinn in der Kunst glaubt.
[...]
[1] Hummel und Jansen, 1984, S.143.
[2] Duden, 1996, S. 127,
[3] Liessmann, 2010, S. 9
[4] Kant, 1995, S. 117
[5] Kirchmann, 2001, S. 45.
[6] Ebd., S. 46.
[7] Seesslen & Jung, 1999, S. 76.
[8] Kirchmann, 2001, S. 42
[9] Kirchmann, 2001, S. 27.
[10] Ebd.
[11] Ebd., S. 22
[12] Voß, 2007, S. 206.
[13] Ebd., S. 205.
[14] Hummel und Jansen, 1984, S. 141
[15] Ebd.
[16] Ebd.
[17] Kirchmann, 2001, S. 231.
[18] Ebd.
[19] Ebd.
[20] Ebd., S. 228
[21] Ebd.
[22] Ebd. , S. 28
[23] Kirchmann, 2001, S. 118.
[24] Kerényi, 2003, S. 138
[25] Kremer, 2007, S. 83
[26] Kirchmann, 2001, S. 53
[27] Ebd. , S. 57.
[28] Kirchmann, 2001, S. 49.
[29] Grimminger, 2000, S. 22.
[30] Kirchmann, 2001, S. 58
[31] Kimmich & Wilke, 2011, S. 10.
[32] Burgess, 2006, S. 105
[33] Kirchmann, 2001, S. 58
[34] Ebd.
- Quote paper
- Alexander Schmieding (Author), 2012, Ästhetik der Gewalt. Funktionale Äquivalenzen zwischen Gewalt und Kunst im Film "Uhrwerk Orange", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/352085
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