Zwanzig Jahre vergingen zwischen Stanley Kubricks erstem Entwurf zur Verfilmung von Arthur Schnitzlers Traumnovelle und der Realisierung von “Eyes Wide Shut”. Gemeinsam mit Frederic Raphael verfasste Kubrick das Drehbuch, und aus der geplanten Drehzeit von drei Monaten wurden schließlich fünfzehn, in denen er seine Hauptdarsteller Tom Cruise und Nicole Kidman zu hervorragenden Leistungen brachte.
Aus der erotischen Farce des ersten Entwurfs wurde ein Film über ein verlorenes Traumreich der Dekadenz. Es ist aber auch ein Film, der sich mit dem Ende der achtziger Jahre in New York auseinandersetzt und somit wie jeder Film des Ausnahme-Regisseurs Stanley Kubrick die Gesellschaft beleuchtet.
In der Arbeit erfolgt zunächst die Auseinandersetzung mit der Novelle, dann mit dem Film, schließlich der Vergleich zwischen beiden, um herauszufinden, welche Elemente Kubrick in “Eyes Wide Shut” der Romanvorlage hinzugefügt hat. Im Grossen und Ganzen haben die Autoren sich recht genau an die literarische Vorlage gehalten, sogar ganze Dialogpassagen wortwörtlich übernommen. Daher stellt sich bei den Ergänzungen, die vorgenommen wurden, umso mehr die Frage nach den Gründen. Die Antworten ergeben sich aus der Einordnung der einzelnen Abweichungen in den Gesamtzusammenhang des Films. Die Veränderungen, die sofort auffallen, werden zuerst vorgestellt, später die kleinen, aber signifikanten Unterschiede aufgezeigt.
Inhaltverzeichnis
1. Einleitung
2. Titel
3. Zeit und Ort
4. Figuren
4.1. Victor Ziegler
4.2. Mandy
4.3. Nick Nightingale
4.4. Sandor Szavost, Gayle und Nuala
5. Ausdehnung und Ausschmückung
5.1. Victor Zieglers Weihnachtsparty
5.2. Die Orgie
6. Drei wichtige Elemente
6.1. Der Weihnachtsbaum
6.2. Die Brille
6.3. Der Spiegel
7. Drei auffällige Faktoren
7.1. Geld
7.2. Pot
7.3. Homosexualität
8. Drei bedeutungsvolle Worte
8.1. Sonata
8.2. Fidelio
8.3. „fuck“
9. Störungen
10. Die Maske
11. Fazit
12. Literaturangaben
1. Einleitung
Zwanzig Jahre vergingen zwischen Stanley Kubricks erstem Entwurf zur Verfilmung von Arthur Schnitzlers Traumnovelle und der Realisierung von “Eyes Wide Shut”.
Gemeinsam mit Frederic Raphael verfasste Kubrick das Drehbuch und aus der geplanten Drehzeit von drei Monaten wurden schließlich fünfzehn, in denen er seine Hauptdarsteller Tom Cruise und Nicole Kidman zu hervorragenden Leistungen brachte.
Aus der zunächst geplanten erotischen Farce des ersten Entwurfs wurde “ein Film über ein verlorenes Traumreich der Dekadenz und ein Film über das Ende der achtziger Jahre in New York [...]. Es ist ein Film über das Ende jenes Bürgertums, das seine sexuelle Ökonomie auf der Vorstellung von ‘Liebe’ aufgebaut hatte, als mythisches Ineinander von Begehren, Offenheit und Planung, oder, um es in Kubricks Kosmologie zu sagen: das Paradoxon einer vollkommen freiwilligen Gefangenschaft.”[1]
Für meine Hausarbeit habe ich mich zunächst mit der Traumnovelle, dann mit dem Film auseinandergesetzt, um herauszufinden, welche Elemente Kubrick in “Eyes Wide Shut” der Romanvorlage hinzugefügt hat.
Im Grossen und Ganzen haben die Autoren sich sehr genau an die literarische Vorlage gehalten, sogar ganze Dialogpassagen wortwörtlich übernommen. Daher stellt sich bei den Ergänzungen, die vorgenommen wurden, umso mehr die Frage nach den Gründen.
Die Veränderungen, die einem sofort auffallen, werde ich als erstes vorstellen, um später noch auf die kleinen, aber signifikanten Unterschiede einzugehen.
2. Titel
Arthur Schnitzler hat seinem Roman den Titel “Traumnovelle” gegeben, der ganz pragmatisch gewählt ist, denn diese Novelle handelt von Träumen verschiedener Art.
Stanley Kubrick hingegen nennt seinen Film “Eyes Wide Shut” - die Augen weit geschlossen. Welcher Sinn steht dahinter?
Zunächst einmal ist dieser Titel ein Oxymoron, das heißt zwei sich widersprechende Begriffe sind miteinander verbunden. Wenn man genauer darüber nachdenkt, fällt auf, dass dieser Ausdruck an den gebannten Zustand eines Wachtraumes erinnert, in dem das Auge des Träumers geschlossen und weit geöffnet zugleich ist, wodurch die Verbindung zum Original hergestellt wäre.
Außerdem liegt die Vermutung nahe, dass Kubrick den Zuschauer durch den Titel schon zur richtigen Sichtweise seines Films bewegen will. Ihm scheint daran gelegen, zu zeigen, was sich im Kopf der Figuren abspielt, nicht vor deren Auge. Dies wird beispielsweise in den Schwarz- Weiß- Szenen deutlich, die auf klassische Weise Bills Gedanken visualisieren, wenn er sich vorstellt, wie Alice Sex mit dem Marineoffizier hat.
Das Publikum soll mehr Aufmerksamkeit darauf legen, was sich im Geiste abspielt, als darauf, was gesehen wird. “You’re not even looking at it”, lautet einer von Alices ersten Sätzen, als Bill sich im Spiegel betrachtet, anstatt wie aufgefordert ihre Frisur zu begutachten. Dies kann als eine weitere Aufforderung an das Publikum angesehen werden, aufmerksam zu beobachten.
Kubrick macht sich ja auch einen Spaß daraus, das Auge des Zuschauers zu enttäuschen, indem er ihn mit dem allerersten Bild einen kurzen Blick auf Nicole Kidmans nackten Körper werfen lässt, was unweigerlich auf mehr hoffen lässt. Mehr allerdings als in dieser Einstellung kriegt man von Alice nicht zu sehen.
Auch Bills Augen sind zum Teil sehr weit geschlossen. Zwar mimt er auf der einen Seite den hilfsbereiten, großzügigen Dr. Harford, auf der anderen Seite aber scheint er unaufmerksam gegenüber seinen Familienangelegenheiten zu sein. Gleich in der ersten Szene weiß er nicht, wo seine Brieftasche liegt, er kennt den Namen des Kindermädchens nicht und überlässt Alice weitgehend alles, was mit ihrer gemeinsamen Tochter Helena zu tun hat.
Auch scheint er weder sich selbst noch seine Ehe besonders gut beurteilen zu können. Offen sind seine Augen lediglich für die vielen sozialen und sexuellen Möglichkeiten.
Im Gegensatz zu Bill trägt Alice eine Brille, allerdings nur in manchen Szenen, worauf ich aber unter Punkt 6.2. noch genauer eingehen werde.
3. Zeit und Ort
Während Schnitzlers Traumnovelle im Wien des späten 19. Jahrhunderts spielt, hat Kubrick seine Handlung in das New York der 90er verlegt. Dabei ist der eine Ort so zeitlos und unwirklich wie der andere.
Aus Schnitzlers Karneval, der im Frühling stattfindet und somit als Zeit des Erwachens und des Neubeginns gilt, wird bei Kubrick Weihnachten, das Fest der Liebe und Familie, und die Zeit unmittelbar davor. Damit scheint er zum einen kritisieren zu wollen, dass die heutige Gesellschaft die eigentliche Bedeutung religiöser Feste vergessen hat. Zum anderen aber hat es ganz praktische Gründe, denn die Weihnachtszeit bietet zahlreiche Möglichkeiten zur Beleuchtung. Auf die Ausleuchtung der Szenen und deren Bedeutung einzugehen, würde leider viel zu weit führen, aber festzuhalten bleibt, dass Kubrick das Licht sehr bewusst und gekonnt einsetzt, Gefühle damit unterstreicht oder kontrastiert, und die Adventszeit mit ihrem Mangel an Tageslicht und ihrem Überfluss an künstlichen Schummerlichtern ihm hier offenbar passend erschien.
Besonders interessant ist hierbei der Weihnachtsbaum, der immer wieder, fast in jeder Lokalität, nahezu in jeder Szene auftaucht. Darauf werde ich unter Punkt 6.1. noch genauer eingehen.
Der einzige Ort im ganzen Film, an dem es keine Zeichen von Weihnachten gibt, ist Somerton, der Schauplatz der Orgie. Dadurch bekommt der Zuschauer den Eindruck, die Geschehnisse dort seien “outside time, if not outside space”[2], also quasi jenseits von Zeit und Raum. Gleichzeitig erscheinen daher die Orgie sowie das gigantische Gebäude, in dem sie stattfindet, unwirklicher.
Für erwähnenswert halte ich den Unterschied in der Länge gewisser Handlungen. So nimmt der Kostümball in der Traumnovelle lediglich eine knappe Seite ein, während wir von Zieglers Weihnachtsparty fast zwanzig Minuten sehen. Ich persönlich vermute, dass Kubrick hierin eine gute Möglichkeit gefunden hat, die Charaktere seiner Hauptfiguren
vorzustellen und bereits etwas über ihre Ehe zu verraten. Der Zuschauer sieht, dass beide gerne eine Möglichkeit zu flirten wahrnehmen, wobei Bill die Entscheidung, sich auf zwei Models einzulassen, abgenommen wird, während Alice das eindeutige Angebot des Ungarn Szavost ablehnt mit der Begründung, sie sei verheiratet. Dies ist für den Zuschauer umso interessanter, da er nachher - im Gegensatz zu Bill - weiß, dass es keinen Grund zur Eifersucht gegeben hätte, obwohl Alice diese provozieren möchte.
Mit dieser Szene und weiteren Gründen für ihre Ausdehnung werde ich mich unter Punkt 5.1. intensiver auseinandersetzen.
So unterschiedlich der Ort und die Zeit auch sein mögen, im Endeffekt handeln Schnitzlers Traumnovelle und Kubricks “Eyes Wide Shut” von der gleichen Gesellschaft, die von Tabus beherrscht wird. Möglicherweise war eine weitere Intention des Regisseurs also aufzuzeigen, dass sich im Grunde nicht viel ändert.
4. Figuren
4.1. Victor Ziegler
Die Figur Victor Zieglers wurde von den Drehbuchautoren Kubrick und Raphael hinzugefügt, um die Gedanken von Fridolin/ Bill visualisieren zu können, die in der Traumnovelle zumeist sehr ausführlich beschrieben sind.
Ziegler ist eine zentrale Figur in der Geschichte, da er zuerst das Fest organisiert, auf dem alles beginnt, sich dann als Teilnehmer der Orgie zu erkennen gibt, was die Möglichkeit, das in Somerton Erlebte sei ebenfalls nur ein Traum, ausschließt, und zuletzt Erklärungen anbietet für das, was Bill gesehen hat. Dabei allerdings benimmt er sich so, dass seine Ausführungen nur Möglichkeiten bleiben, weder Bill noch der Zuschauer weiß am Ende, ob man Ziegler glauben kann.
All die Gedanken, die Fridolin sich auf dieser mysteriösen Gesellschaft und auf der Kutschfahrt nach Hause macht, ob es nun eine geheime Sekte gewesen sei, die Frauen alle bloß Prostituierte, oder am Ende vielleicht das Ganze nur eine Komödie, eine Farce, diese Gedanken werden kurz vor Schluss des Films von Victor Ziegler im Billard- Zimmer ausgesprochen. Als Bill die Unterhaltung verlässt, weiß er im Grunde auch nicht viel mehr als vorher. Ziegler fingiert als Bills alter ego.
Laut Michel Chion wollte Kubrick mit der Figur Victor Zieglers einen Charakter erschaffen, der zwischen Bills Alltag und der geheimen Gesellschaft in Somerton eine Verbindung herstellt.
Diese Art Verbindung gibt es in der Traumnovelle nicht.
Außerdem kann man Victor Ziegler als einen für Kubrick ganz typischen Charakter ansehen. Eine schockierende, provozierende und triebhafte Vaterfigur findet sich in jedem seiner Filme.
[...]
[1] Seesslen, Georg/ Jung, Fernard: Stanley Kubrick und seine Filme. Marburg 1999, Seite 284
[2] Chion, Michel: Eyes Wide Shut. London 2002, Seite 59
- Quote paper
- Natalie Buch (Author), 2003, Stanley Kubricks Eyes Wide Shut - Was hat der Filmregisseur der literarischen Vorlage 'Traumnovelle' von Arthur Schnitzler hinzugefügt?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/35179
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