Die Nobelpreisträgerin 2004, Elfriede jelinek, inszeniert sich bewusst selbst - öffentlich wie im eigenen Werk. Weil auch ihre Gegner und konstruktiven Kritiker immer ein Stück Jelinek-Inszenierung wagen. Wechselwirkungen zeigen und Ursachenforschung sind Ziel dieser Arbeit.
So sehr Jelinek die Zustände in der modernen Gesellschaft, vornehmlich in ihrer Heimat Österreich, mittels brutal anmutender Bilder anprangert und mit dem literarischen Finger auf jene zeigt, die ihrer Ansicht nach eine Schuld an den Missständen tragen, muss man doch davon ausgehen, dass sie keine Lehrfigur im Sinne einer Moralpredigerin sein will. Schon gar nicht ist sie ein Star im Boulevard-Sinn. Vielmehr geht es der Autorin darum, das, was ihrer Meinung nach ful ist im Staate Österreich, beim Namen zu nennen, es laut auszusprechen, um eben nicht zuzulassen, dass das passiert, was in Österreich als Negativbeispiel nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen ist: Verdrängung und Vertuschung.
Das Moralisieren, das Lehren ist zwar nicht Jelineks Sache. Trotzdem kann man gerade in den neueren Texten wie Ein Sportstück und Das Werk beobachten, dass Autorin-Figuren auftreten. Diese heißen entweder explizit „Autorin“ oder im Sportstück Elfi Elektra. Solche Auftritte legen nahe, dass Jelinek bestimmten Inhalten eine besondere Stellung zu geben wünscht. Die teilweise übertrieben sarkastisch wirkenden Bühnenanweisungen bekräftigen diese Vermutung. Jelinek will Einfluss nehmen, allerdings zeigt die Ironie, mit der das geschieht, wie schwierig ihr diese Mission erscheint. Die Auftritte der Autorin-Figuren sowie die Regieanweisungen stellen deshalb einen wichtigen Aspekt bei der Selbstkonzeption Jelineks dar. An ihnen lässt sich ein interessantes Bild ablesen über ihre Selbstsicht, ihre Wahrnehmung der öffentlichen Sichtweise ihrer Person sowie ihre Auffassung der eigenen Position im Theater.
In den ersten beiden Abschnitten dieser Arbeit wird das literarische Werk Jelineks auf Merkmale von Selbstinszenierung untersucht. Dabei ist auch eine möglichst umfassende Interpretation der fraglichen Textstellen zu leisten, weil aus dem unmittelbaren Kontext Rückschlüsse zur Frage nach der Selbstinszenierung entstehen. Im dritten Teil folgt eine Beleuchtung Elfriede Jelineks als öffentlicher Person. Darin wird untersucht, wie und in welchem Maß das öffentliche Auftreten der Autorin auf eine Selbstinszenierung auch abseits der Bühne schließen lässt. Denn alles Leben ist immer auch Schauspiel.
Inhalt:
Einleitung
1. Grundsätzliches zu den Auftritten der Autorin-Figuren in Jelineks Stücken
1.1. Quantität der Auftritte
2. Ein Sportstück, Das Werk, Regieanweisungen – Wie sich Jelinek im Theater selbst inszeniert
2.1. Ein Sportstück – Elfi Elektra/Die Autorin
2.1.1 Ein Mischwesen
2.1.1.1. Die Problematik autobiografischer Bezüge
2.1.1.2. „Künstliche Natürlichkeit“ – Die moderne Sage
2.1.1.3. Jelineks Gebrauch antiker Vorbilder
2.1.2. Antiker Krieg und Moderner Sport
2.1.3. Hektor und Achill – Angriffe auf die Autorin
2.1.3.1. Vorwurf der Aggressivität
2.1.3.2. Akzeptanz im eigenen Land
2.1.4. Elfi Elektra als Voyeurin in der Welt des Sports
2.1.4.1. Selbstkonzeption im ersten Monolog
2.1.4.2. Gleichmacher Sport
2.1.4.3. Elfi Elektra als Opfer
2.1.4.4. „Eine Göttin die nicht und nicht gebären kann“
2.1.5 Sport-Welt: lebendige und Tote
2.1.5.1. Die Welt der lebenden – eine geschlossene Gesellschaft
2.1.5.2. Zuschauer als Lebende – Sportler als Tote
2.1.5.3. Widerstand innerhalb der Masse
2.1.5.3.1. Die gegnerische Masse
2.1.6. Elfi Elektra auf der Suche
2.1.7. Der zweite Elektra-Monolog: Kampf dem „unseligen Geschlecht“
2.1.7.1. Der abgeschobene Vater
2.1.7.2. Jelineks Sicht des Matriarchats
2.1.7.3. Zuschreibung von geschlechtlicher Identität
2.1.7.4. Fiktionalität der Geschlechter
2.1.7.5. Elfi Elektra als Mörderin
2.1.7.6. Das Nicht-Opfer
2.1.7.7. Sex und Tod
2.1.7.8. Abschluss des zweiten Elektra Monologs
2.1.8. Der Auftritt der „Autorin“
2.1.8.1. Sprache und Stil
2.1.8.2. Ein Schlusswort
2.2. Das Werk – Die Rolle der Autorin
2.2.1. Die Autorin schaltet sich ein
2.2.2. Struktur des Monologs
2.2.2.1. Prinzip der Verdichtung und Verflechtung
2.2.2.2. Ein gelungenes Sprachspiel – Jelineks Auffassung vom Schreiben
2.2.3. „Von jetzt an gehts bergab“
2.2.4. Peters Antwort
2.2.5. Vergleich zur Autorin-Figur in Ein Sportstück
2.3. Regieanweisungen – Wie Jelinek (mit dem) Theater spielt
2.3.1. Ältere Stü> oder Stützen der Gesellschaft und Krankheit oder moderne Frauen
2.3.2. Auswüchse der Ironie: Szenenanweisungen in Ein Sportstück, In den Alpen und Das Werk
2.3.3. Der Diskurs in den Szenenanweisungen
3. Öffentliche Auftritte – Extravaganz, Idealismus und Provokation
3.1. Agitation und Aufführungsboykott – Reaktionen zur Regierungsbeteiligung der FPÖ
3.1.1. „Kultur-Alarm“
3.1.1.1. Salzburger Festspiele 1999
3.1.1.2. Kampf dem Kulturkampf
3.1.2. Demonstrationen auf dem Stephansplatz
3.1.3. Widerstandslesungen
3.1.4. Das zweite Aufführungsverbot
3.2. Jelinek-Interviews: Über Politik, Sexualität, Selbstauslöschung und das Schreiben
3.2.1. Interviews zu Politik und Literatur
3.2.2 Vermischung von Privatem Literatur und Politik
3.3. Bilder
Nachbemerkung
Literaturverzeichnis
Bildernachweis
Einleitung
„Wer vor Jelineks Texten erschrickt, erschrickt vor sich selbst“, schreibt Elfriede Gerstl in einem Versuch, „die krasse Reaktion der Öffentlichkeit auf das Werk ihrer Kollegin
zu analysieren.“[1] Folglich ist eine Portion Mut erforderlich, um sich mit diesen Texten auseinander zu setzen. Doch so sehr Elfriede Jelinek die Zustände in der modernen Gesellschaft, vornehmlich in ihrer Heimat Österreich, mittels krasser und teils brutal anmutender Bilder anprangert und mit dem literarischen Finger auf jene zeigt, die ihrer Ansicht nach eine Schuld an den Missständen tragen (hier wäre die FPÖ zu nennen, bestimmte Würdenträger der Kirche, Wirtschaftsfunktionäre und all jene, die aus ideologischen Gründen am Mythos Österreich als idyllischem Alpenkleinod festhalten wollen), muss man doch davon ausgehen, dass sie keine Lehrfigur im Sinne einer Moralpredigerin sein will.
Viel mehr geht es der Autorin darum, das, was ihrer Meinung nach falsch läuft im Staate Österreich, beim Namen zu nennen, es laut auszusprechen um eben nicht zuzulassen, dass das passiert, was in Österreich als Negativbeispiel nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen ist: Verdrängung und Vertuschung. Allein dadurch, dass den Menschen immer wieder gesagt wird, wo gesellschaftliche Ungerechtigkeiten (Beispiel: Fremdenhass) herrschen oder wo unangenehme Wahrheiten verdrängt werden (Beispiel: Zwangsarbeit in Nazi - Österreich), wird ein Bewusstsein geschaffen. Dieses Bewusstsein ist der erste Schritt zur Verbesserung der Zustände. Es ist also anzunehmen, dass Jelinek jedem das „Erschrecken“ zugesteht – man muss sich nicht schämen, wenn man erschreckt und sich unterbewusst vielleicht lieber von bestimmten Textpassagen abwenden möchte. Das bedeutet nämlich nur, dass die Autorin ihr Ziel erreicht hat – eine existente Problematik bewusst zu machen und zu zeigen, wie akut das Problem die Zeitgenossen angeht.
Das „Erschrecken“ vor sich selbst ist der beste Beweis für die Aktualität und die Bedeutsamkeit Jelinekscher Literatur. Das Moralisieren ist nicht Jelineks Sache. Trotzdem kann man gerade in den neueren Texten wie Ein Sportstück und Das Werk beobachten, dass Autorin-Figuren auftreten. Die heißen entweder explizit „Autorin“ oder im Sportstück Elfi Elektra. Solche Auftritte legen nahe, dass Jelinek bestimmten Inhalten eine besondere Stellung zu geben wünscht. Die teilweise übertrieben sarkastisch wirkenden Bühnenanweisungen bekräftigen diese Vermutung. Jelinek will Einfluss nehmen, allerdings zeigt die Ironie, mit der das geschieht, wie schwierig ihr diese Mission erscheint. Die Auftritte der Autorin-Figuren sowie die Regieanweisungen stellen deshalb einen wichtigen Aspekt bei der Selbstkonzeption Elfriede Jelineks dar. An ihnen lässt sich ein interessantes Bild ablesen über Jelineks Selbstsicht, ihre Wahrnehmung der öffentlichen Sichtweise auf ihre Person sowie ihre Auffassung der eigenen Position im Theater.
In den ersten beiden Abschnitten dieser Arbeit wird das literarische Werk Jelineks auf Merkmale von Selbstinszenierung untersucht. Dabei ist auch eine möglichst umfassende Interpretation der fraglichen Textstellen zu leisten, weil aus dem unmittelbaren Kontext wichtige Rückschlüsse zur Frage nach der Selbstinszenierung entstehen. Im dritten Teil folgt eine Beleuchtung Elfriede Jelineks als öffentlicher Person. Darin wird zu untersuchen sein, wie und in welchem Maß das öffentliche Auftreten der Autorin auf eine Selbstinszenierung auch abseits der Bühne schließen lässt. In diesem Zusammenhang erscheint es auch sinnvoll, durch Bildbeispiele eine visuelle Bestätigung zu versuchen.
1. Grundsätzliches zu den Auftritten der Autorin-Figuren in Jelineks Stücken
In den Jelinek-Theatertexten von Totenauberg (1991) an ist eine deutliche Tendenz hinzu einer Art Entfremdung zu spüren. Die Figuren in den Theater-Stücken werden immer weniger als Individuen dargestellt. Zwar war auch in Jelineks früheren Texten immer an Austauschbarkeit der Figuren gedacht. Doch waren beispielsweise in Burgtheater oder Clara S. musikalische Tragödie sogar real existierende oder historische Personen beteiligt. Clara Schumann und die Familie Wessely bestimmen die Handlung. In Totenauberg sind es Heidegger und dessen Lebensgefährtin.
Selbst im Unterschied zu Stecken, Stab und Stangl (1995), dass zwischen Totenauberg und Ein Sportstück (1998) entstanden ist, kann ein stilistischer Unterschied festgestellt werden. Karin Czerny schreibt: „Mehr noch als in Stecken, Stab und Stangl lassen sich klar abgrenzbare Textblöcke herausschälen.“[2] Die eigentliche Handlung und klassische Diskursivität ist dort (wie auch in Totenauberg) bereits nicht mehr existent: „Es gibt keine Handlung (außer dem Häkeln) und keine traditionellen Dialoge. Wie in den früheren Stücken sind die Figuren nur Echokammern unterschiedlicher Diskurse.“[3] Ingo Breuer sieht in Ein Sportstück zudem eine zunehmende Bedeutung der Aktionen auf der Bühne: „Während in Stecken, Stab und Stangl die Gewalt nur diskursiv vorgeführt wird, wird sie hier auch zu einer szenischen Parallelebene. Damit bildet eine Illustration und eine Kommentierung des Sprechtexts mit seiner latenten Gewalttätigkeit.“[4]
Es kann also von einer Steigerung im stilistischen Sinn gesprochen werden. Die älteren Stücke zeigten noch deutliche Spuren typischer Dramentexte. Mit der Zeit wandelte sich der Stil zu immer austauschbareren Figuren, zu Monolog und Sprachflächen statt Dialog und Diskursivität, weg von klassischer Mimesis hin zu der oben beschriebenen szenischen Parallelebene von Handlung.
1.1. Quantität der Auftritte
In den neueren Theaterstücken häufen sich bei Jelinek die „Selbstauftritte“. In Ein Sportstück, In den Alpen, und Das Werk baut sie an verschiedenen Stellen Figuren ein, die entweder „Autorin“ heißen oder durch einen anderen Namen auf einen Selbstbezug zu Elfriede Jelinek darauf hindeuten, dass sie hier ihre eigene Stimme erhebt. Das tut eine Schriftstellerin gemeinhin in jeder ihrer Figuren. Aber durch den „Selbstauftritt“ geschieht dies auf einer anderen Ebene. Darüber hinaus erhält das Gesagt eine gewisse Ausnahmestellung. Sind andere Figuren immer noch durch das ausfüllen einer Rolle teilweise auch fremdbestimmt, kann eine Autorin-Figur nicht nur einen eigenen Standpunkt vertreten. Sie kann auch über ihr eigenes Stück sprechen. Dieser Aspekt erscheint bei der Betrachtung der Selbst-Auftritte Jelineks sehr wichtig zu sein. Immerhin versucht sie auch durch ihre ungewöhnlich expliziten Bühnenanweisungen schon eine Art Vorgriff auf die Aufführungen auszuüben (wieweit dieser ironisch gemeint ist, werde ich in 2.3. besprechen) und darüber hinaus einen Interpretationsansatz oder zumindest eine Verständnishilfe zu leisten.
In Das Werk gibt es einen Auftritt einer Autorin-Figur. „Die Autorin“ hält einen der kürzeren Monologe. Von Seite 169 an bis Seite 172 spricht sie über den Staudammbau zu Kaprun. So gesehen erscheint die Stelle in Bezug auf das gesamte Stück recht unbedeutend. Trotzdem muss man auch dort einen Zusammenhang zu den Regieanweisungen herstellen. Dadurch ist Jelinek selbst in regelmäßigen Abständen immer wieder, auch über ihre übrigen Figuren hinaus, im Stück präsent. Interessant ist auch ein Blick auf das überraschend ausfallende Nachwort Jelineks. Sie bietet im Anschluss an die drei Stücke In den Alpen, Der Tod und das Mädchen III und Das Werk eine Inhaltsangabe oder Interpretationsgrundlage. Dies ist an sich ungewöhnlich für eine Schriftstellerin, die es ansonsten wenig kümmert, das ihr Stil zuweilen als schwierig empfunden wird.
In In den Alpen fehlt eine entsprechende Figur. Es tritt auf den ersten Blick keine „Autorin“ auf. Allerdings findet man in dem insgesamt 58 Seiten umfassenden Text eine unverhältnismäßig erscheinende Fülle von Regieanweisungen. Den Anfang macht die für Jelinek inzwischen typische Anfangs-Anweisung auf Seite 7. Neben den üblichen kurzen Anweisungen folgt eine weitere Längere auf Seite 41, sie kündigt den Auftritt der Figur „Mann“ an und liefert die Erklärung, dass es sich um eine Anlehnung an Paul Celan handeln soll. Auf Seite 59 folgen weitere anderthalb Seiten Bühnenanweisung, zwei Seiten weiter ein abschließender Block. Nimmt man die Massivität dieser Anweisungen, so kann man auch hier wieder den direkten Einfluss durch eine Autoren-Stimme erkennen.
Ein Sportstück ist das Stück mit den, rein zahlenmäßig betrachtet, häufigsten Auftritten von Autorin-Figuren. Gleich zu Beginn hält „Elfi Elektra“ einen Monolog. „Elfi“ ist eine Koseversion von Elfirede. Der zusätzliche Bezug zur Sagengestalt Elektra, Tochter des Agamemnon, unterscheidet diese Figur deutlich von der der „Autorin“, die auf den letzten beiden Seiten des Stücks den Schlussmonolog hält. Der erste „Elfi Elektra“ - Monolog umfasst neun Seiten. (S. 8 - 16)[5] Ein weiterer kürzerer Monolog folgt (Sport, S. 170 –174). Ein dritter kurzer Auftritt findet auf Seite 181 statt. Außerdem wird durch die Figur „Der Taucher“ noch einmal Bezug auf die Figur genommen (Sport, S. 168). Den Schluss bildet ein Monolog der Figur „Autorin“ (Sport, S. 184 – 188).
Von der Quantität her ist Ein Sportstück offenbar das bedeutendste Stück im Hinblick auf Jelineks Selbstauftritte. Die Tendenz, Einfluss auf die Aufführungen eigener Stücke zu nehmen, muss deshalb nicht automatisch größer sein. Auch in Totenauberg und Stecken, Stab und Stangl benutzt Jelinek die ausgedehnten Szenenanweisungen. Allerdings erlangt der Aspekt der „Selbstinszenierung“ mit Ein Sportstück eine neue Intensität.
2. Ein Sportstück, Das Werk, Regieanweisungen – Wie sich Jelinek im Theater selbst inszeniert
In den Stücken Das Werk und Ein Sportstück kann der Aspekt der Selbstinszenierung oder Selbstkonzeption am deutlichsten behandelt werden, weil hier die Autorin Jelinek explizit selbst als Figur „auftritt“. Allerdings müssen zum Thema auch die Bühnenanweisungen und deren Entwicklung im Verlauf der Jahre berücksichtigt werden. Auch dort findet sich jede Menge an Information zum Verständnis der eigenen Rolle als Schriftstellerin und der Sicht des Theaters durch Elfriede Jelinek. Da im Sportstück die Auftritte der Elfi Elektra sowie der Autorin am häufigsten statt finden und vor allem auch besonders umfassend sind, wird dieses auch den größten Teil in Punkt 2. einnehmen.
2.1. Ein Sportstück – Elfi Elektra/die Autorin
Mit Ein Sportstück verstärkt Jelinek noch ihre Tendenz, die Figuren ihrer Stücke entfremdet und realitätsfern zu gestalten. Zwar kann man entgegenhalten, dass mit dem verstorbenen Bodybuilder Andreas Münzer und der Sagengestalt Elfi Elektra immer noch zwei eindeutig zuzuordnende Personen auftreten, die man als „historisch“ einordnen kann. Doch ist deren Auftreten anders gestaltet. Waren die Wesselys oder Heidegger noch Protagonisten ihrer eigenen Biografie, kann dies für Elfi Elektra nicht behauptet werden. Auch bei Andi (der für Andreas Münzer stehenden Figur) ist nur noch bedingt das Wirken innerhalb der eigenen Lebensgeschichte zu erkennen. Er referiert quasi aus dem Jenseits über seinen Tod und wie er den durch Doping-Konsum selbst herbeigeführt hat. Außerdem spricht Andi mehr darüber, wie ähnlich er seinem Idol Arnold Schwarzenegger geworden war oder noch werden wollte. Er hat sich also schon zu Lebzeiten aus sich selbst herausentwickelt.
Die Schaffung der Kunstfigur Elfi Elektra steht in direktem Bezug zu der Verwendung „griechischer Chöre“ (Sport, S. 7) im Stück. Die Anleihe an die griechische Sage nur als Stilmittel zu verstehen wäre jedoch zu kurz gegriffen.
2.1.1. Ein Mischwesen
Die Elfi Elektra-Figur hat auf den ersten Blick nicht viel mit der Sagengestalt aus der griechischen Mythologie zu tun. Sie tritt in einer Szenerie auf, die an eine Sportwettkampf-Stätte erinnern soll. Allein mit diesem Auftritt gelingt es Jelinek, ihre Gleichung, dass der moderne Sport dem antiken Krieg gleicht, deutlich zu machen. Wenn Jelinek von Sport als Tötungsdelikt spricht („Ist Sport ein Mord?“, Sport, S. 173, oder „Das Töten ist einfach mein Lieblingssport“, Sport, S. 85), meint sie damit einen kriegerischen Mord. Dies wird überdeutlich, wenn Hektor und Achill, die beiden Protagonisten des Troja-Kriegs, gegeneinander Tennis spielen (Sport, 124-137). Das Tennis-Match hat diejenigen als Gegner einander gegenüber gestellt, die den vielleicht zähesten und blutigsten Krieg der Antike geführt haben. Das Siegen und Besiegen im Sport ist für Jelinek also unmittelbar dem des Kriegs verwandt. Auch wird klar, dass nicht an die Eroberung durch den Krieg gedacht wird, sondern ganz explizit an das Besiegen oder Vernichten. Die „Sport ist Krieg“-Metapher ist als eine Zerstörungs-Metapher zu verstehen.
Wichtig ist, dass ein antiker Krieg gemeint ist, also einer, der noch Mann gegen Mann (wie in der Tennis-Symbolik enthalten) geführt wurde. Moderner Krieg mit Massenvernichtungswaffen und hochentwickelter Technik ist etwas anderes. Dieser würde höchstens in eine Zerstörungs-Metapher im Zusammenhang mit Andis Selbstvernichtung durch Drogenkonsum („Dieser Chemiebaukasten, den ich mir zugeführt habe [...] hat mich restlos abgebaut“, Sport, S. 99) oder der Gletscherbahnkatastrophe in In den Alpen passen. In Ein Sportstück ist in erster Linie an eine altertümliche Mann-gegen-Mann-Kriegsführung gedacht (auf die genauere Deutung der Sport-Krieg-Metapher werde ich in 2.1.2. eingehen).
Interessant ist dabei, dass die Antike auch auf andere Art in das Stück eingearbeitet werden könnte. Immerhin wird der Ursprung allen Sports auf die Wettkämpfe von Olympia zurückgeführt. Trotzdem wählt Jelinek einen Sport-Krieg-Vergleich. Die Brutalität, die sich auch in antiken Ring- und Faustkämpfen hätte widerspiegeln können, wird absichtlich auf Krieg festgelegt.
Interessant wird der Troja-Bezug dadurch, dass Elektra der Sage nach die Tochter des Agamemnon, eines der Protagonisten des Trojanischen Krieges, ist. Elektra leidet unter der Ermordung ihres Vaters durch Aigisthos.
„Elektra führte inzwischen im Königspalast ihres ermordeten Vaters das traurigste Leben, und nur die Hoffnung, ihren Bruder einst, zum Manne herangewachsen, als Rächer in den väterlichen Hallen erscheinen zu sehen, fristete ihr kummervolles Dasein.“[6]
Die Thematik des Vatermords wird auch im ersten Satz vom Sportstück angesprochen. Von Rache ist jedoch nicht wirklich die Rede. Überhaupt muss vorsichtig umgegangen werden mit dem Motiv der Rächerin. Elektra war der Sage nach zwar von Rachegelüsten erfüllt. „Elfi Elektra“ ist jedoch ein Mischwesen zwischen Jelinek und der Sagengestalt. Man kann sagen, es besteht aus einer „Jelinek-Komponente“ (die der zeitgenössischen Schriftstellerin) und einer „Elektra-Komponente“ (die der Widerständlerin im Königshaus). Anne Fleig bezeichnet die Figur als aus dem „unübersehbaren Reich der Jelinekschen Untoten“ stammend.[7] Fleig spricht zudem von einer „Tragödienfigur“, die Elektra natürlich auch ist. Die Verbindung zu den Chören legt diesen Bezug nahe, weil auch diese das griechische Theater widerspiegeln. Allerdings kann man sich der Sache auch anders nähern. Da es sich beim Sportstück um ein Theaterstück handelt, ist die Elfi Elektra-Figur ohnehin eine (post-) dramatische Figur. Der tatsächliche Ursprung ist dennoch die Sage, auf die die antiken Autoren sich in ihren Werken bezogen. Das Motiv der Sage wird im weiteren Verlauf noch eine Rolle spielen.
Theodor W. Adorno betont im Zusammenhang mit Hugo von Hofmannsthals Elektra-Monolog die isolierte Stellung der Heldin. „Der Elektra-Monolog Hofmannsthals, der auf solche Nuancen doch wohl sich verstand, beginnt: ‚Allein, ganz allein.’“[8] Adorno legt nahe, dass Hofmannsthal in diesem Zustand eine Art Idealzustand sieht, ein „auf sich zurückgeworfen sein“, aus dem heraus eine Art gnostische Erfahrung resultieren kann.[9] Er hält dann aber dagegen: „Umgekehrt wird die Sprache, gegen Heidegger, eher so entscheiden, daß man in großen Städten, oder auf Festen, einsam ist, aber nicht allein sein kann.“[10] Adorno macht einen Unterschied zwischen Einsamkeit und „allein sein“ – ersteres ist ein Zustand des Verlassen-Seins, letzteres der bei Hofmannsthal suggerierte Zustand der zu Erleuchtung führen soll. Elektra dürfte in ihrer Lage im Hause der Klytaimnestra dementsprechend eher „einsam“ denn allein gewesen sein. Dieser Zug passt auch auf Jelineks Figur: sie befindet sich zwar inmitten von Massen, steht aber ohne Gleichgesinnte oder Verbündete da. Was ja auch der Sagengestalt zugeschrieben werden muss. Inwiefern sich Jelinek ebenfalls sozusagen als Einzelkämpferin sieht, werde ich in 2.1.5.3 im Zusammenhang mit Elfi-Elektra-Äußerungen zur Rezeption Jelinekscher Stücke genauer beleuchten.
2.1.1.1 Die Problematik autobiografischer Bezüge
Es ist natürlich nicht so, dass Jelineks Vater wie der der Sagengestalt ermordet worden wäre. Eine autobiografische Bedeutung der Figur ist in dieser Unmittelbarkeit weitgehend auszuschließen[11]. Zwar lässt ein erster Blick auf die Biografie Friedrich Jelineks, Vater von Elfriede Jelinek, durchaus Gedanken in der Richtung zu, diese zerstreuen sich aber bei genauerem Blick wieder.
Jelineks Vater war zwar Jude und verlor nach Österreichs Anschluss an das Dritte Reich seinen Arbeitsplatz. Er durfte jedoch weiterhin Chemie studieren, da dringend Fachleute gesucht waren.[12] Also kann keineswegs von einem „Rachemotiv“ für am Vater verübte Verbrechen (wie in der Agamemnon-Sage) gesprochen werden. Auch der Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, „wo Friedrich Jelinek am 22. 5. 1969 in völliger geistiger Umnachtung an Herzschwäche stirbt“, ist nicht offensichtlich fremdverschuldet.[13]
Auch das gespannte Verhältnis der Sagengestalt zu ihrer Mutter Klytaimnestra stimmt nicht mit Jelineks Mutterverhältnis überein. Während Elektra ihre Mutter als Mit-Täterin beim Vatermord verurteilte, hat die Autorin eine enge Beziehung zur Mutter, wenn sie auch unter deren Leistungserwartung leidet und während ihrer Jugendzeit zeitweilig psychische Probleme bekommt. Später kommt es auch zu einer Phase der Rebellion gegen die Mutter.[14] Was sie jedoch nicht davon abhält, während ihrer Ehe mit Gottfried Hüngsberg nur ein Drittel ihrer Zeit beim Ehemann zu verbringen. „Etwa zehn Tage im Monat verbringt Elfriede Jelinek bei ihrem Mann in München, ansonsten lebt sie zusammen mit ihrer Mutter in Wien.“[15] Autobiografische Anleihen dieser Art liegen Jelinek also fern. Im weiteren Verlauf wird jedoch darüber zu diskutieren sein, wie stark zum einen der öffentliche Diskurs um die Autorin Elfriede Jelinek durchaus als autobiografischer Einfluss auf die Stücke wirkt. Jelineks Auftritte in der Öffentlichkeit und die Behandlung der Autorin spiegeln sich durchaus an einigen Stellen wieder.
In Punkt 2.1.8.1. wird jedoch deutlich werden, dass Jelinek tatsächlich ihre eigene Biografie im Sportstück durchaus tiefgreifend behandelt - und zwar nicht nur in Bezug auf sich als öffentliche Figur, sondern durchaus das Privatleben betreffend. Der dort besprochene zweite Elektra-Monolog bezieht sich sehr intensiv auf den Tod des eigenen Vaters. Elisabeth Spanlang weist darauf hin, dass sich Jelinek auch an anderer Stelle mit diesem Punkt ihrer Biografie auseinandersetzt, bei dem es sich anscheinend um ein besonders prägendes Ereignis handelt:
„In den kurzen Erzählungen Erschwerende Umstände oder Kindlicher Bericht über einen Verwandten setzt sich die Tochter, an den geschilderten Umständen deutlich erkennbar, hohnvoll, um den Schrecken zu bannen, mit der Biographie des Vaters auseinander. Auch weite Passagen der Klavierspielerin beschäftigen sich in derselben Tonlage mit seinem tragischen Schicksal.“[16]
Wenn eine an der Änderung der gesellschaftlichen Zuständen interessierte Schriftstellein von der Konsequenz Elfriede Jelineks ein eigenes Schicksal so in ihren Texten verarbeitet, kann man also tatsächlich von einer schwierigen Erfahrungsbewältigung sprechen. Darin liegt sicher der Grund, warum Jelinek ihre eigene Biografie ausnahmsweise über ihre Rolle als öffentliche Figur hinaus in ihr Werk einfließen lässt. Trotzdem muss mit Sorgfalt vorgegangen werden, um eventuelle Über- und Fehlinterpretationen solcher Einflüsse zu vermeiden.
2.1.1.2. „Künstliche Natürlichkeit“ - Die moderne Sage
Die Rache an den Vatermördern kann also als Parallele zwischen der Sagenfigur Elektra und der Kunstfigur Elfi Elektra ausgeschlossen werden. Trotzdem spielt die Handlung der Sage eine Rolle im ersten Monolog von Ein Sportstück. Diesen eröffnet die Figur so: „Die Flüsse, die das Blut von meinem Vater rot gefärbt hat, sind wieder sauber, oder fängt jetzt ein neuer Krieg mit Mama an?“ (Sport, S. 8) Der im Badegewölbe eines Palastes ermordete Agamemnon[17] hat hier nicht das Wasser des Bades rot gefärbt, sondern „die Flüsse“. Auch die Auseinandersetzung in der Sage mit Klytaimnestra klingt bereits als „ein neuer Krieg mit Mama“ an. Alles ist allerdings von der Antike in die Moderne übersetzt. Seine Mutter mit „Mama“ anzureden entspricht natürlich der Sprache der griechischen Mythologie, selbst in deutscher Übersetzung, nicht. Auch das Motiv des Flusses kann als Modernisierung gesehen werden. Ein ausführlicher Diskurs schließt sich an:
„Die Herren der Flüsse machen natürliche Künstlichkeit oder besser: künstliche Natürlichkeit aus ihm. Allerdings - der Fluß, näht man ihm ein neues Bett, bleibt er doch der alte, der bösartige, der mit harten Bandagen, die seine Gelenke nicht schonen werden, erst naturgeschützt werden muß, um überhaupt wieder Fluß werden zu können. In seinem neuen Dreß bewegt er sich natürlich viel lieber. Es muß immer erst etwas passieren, bis wir bewirken, dass die Flüsse endlich vernünftig werden. (...) Dieser Fluß fließt jetzt seit hundert Jahren brav in seinem gut gebauten betonierten Bett, und bei Hochwasser steigt er um etwa dreißig Zentimeter, die er danach, widerwillig, wieder hergeben muß. Und jetzt wollen sie ihm sein Bett aufreißen, damit wieder Natur herrschen soll, der Fluß wieder, wie in alten Zeiten, mäandern darf, und seine Ufer auch noch formschön, na, vielleicht nicht gerade formschön, aber doch dem Landschaftskörper biologisch angepasst werden.“ (Sport, S. 9-10)
Der einst begradigte Fluss soll wieder durch ein „natürliches“ Bett geleitet werden. Das Thema Flussbegradigung ist keines, das aus einer Sage stammt. Es ist vielmehr ein Thema modernen Naturschutzes. Allerdings erscheint die Aufhebung der Begradigung nicht als eine von Jelinek positiv betrachtete Handlung zu sein. Die Ausführungen stecken voller Ironie. Ein Beispiel ist das Wortspiel „nicht gerade formschön“, das zusätzlich zur eigentlichen Bedeutung „nicht wirklich formschön“ eben auch noch den Sinn „nicht formschön, weil gerade“ beinhaltet.
Der Kern der Ironie liegt jedoch im Widerspruch „künstliche Natürlichkeit“. Damit spielt die Autorin unmittelbar auf die Praxis der Begradigung der Natur (des Flusses) und den anschließenden Versuch der Wiederherstellung des Urzustands (des „mäandernden“ Flusslaufs) durch einen erneuten (künstlichen) Eingriff an. Wirklich natürlich war der Fluss ohnehin nur, solange er in dem ursprünglichen Flussbett verlief. Versuche, ihn wieder dorthin zurückzuführen sind allenfalls „künstliche Natürlichkeit“.
Der Rückgriff auf die Sage (Namensbezug und Verwendung des Bildes vom rotgefärbten Wasser) macht also folgendes möglich: die Sage wird auf moderne Problematiken ausgedehnt. Nun ist eine Sage laut Wörterbuch-Definition eine „Erzählung einer für wahr gehaltenen oder auf einen wahren Kern beruhenden Begebenheit.“[18] Götter- und Heldensagen werden zudem als Mythos geführt.[19] Jelinek schafft also eine Art „moderne Sage“ und behandelt darin einen „modernen Mythos“ – den Mythos der Natürlichkeit. Der zunächst begradigte und anschließend sozusagen wieder natürlich gemachte Fluss steht demnach sinnbildlich für den Umgang mit der Natur der modernen Gesellschaft. Karl Wagner beschreibt Jelineks Vorgehen so:
„Gerade die Echtheit und Natürlichkeit, die mit den Alpen und damit metonymisch für ihre Bewohner assoziiert wird, ist ein Effekt von Mehrfachbeschreibungen. (...) Deren vermeintliche Natürlichkeit wird gerade von Elfriede Jelinek mit großer Beharrlichkeit als höchst artifizielle Veranstaltung kenntlich gemacht. Mit den Mitteln der Parodie, der ironischen Kontrafraktur und Reduktion werden diese Genres zur Kenntlichkeit entstellt und inventarisiert.“[20]
Wagner spricht von „ironischer Kontrafraktur“. Nichts anderes ist der Diskurs um „künstliche Natürlichkeit“ und die Aufhebung einer viele Jahre zuvor durchgeführten Flussbegradigung. Die Autorin braucht nicht mit dem Begriff „artifiziell“ aufzuwarten. Der Sinn ihrer Ausführungen oder auch die Sinnlosigkeit des Beschriebenen wird durch die Ironie deutlich. Vom „Krankenbett für den Fluß“ ist schließlich als Gipfel der Ironie in der Fluss-Symbolik die Rede. (Sport, S. 15)
2.1.1.3. Jelineks Gebrauch antiker Vorbilder
Dass Jelinek in der antiken Sage durchaus einen aktuellen Bezug per se erkennt, kann daran gezeigt werden, dass sie das Thema ins Zentrum eines Vortrags im jüdischen Museum zu Wien stellt. Dort spricht sie über das Buch „Die Sexualisierte Gewalt“ von Helga Amesberger, Katrin Auer und Brigitte Halbmeyer.
„In der Antike hat es seine Größe bekommen und behalten. Agamemnon, der Heerfürst, opfert seine Tochter, ein Verbrechen, das sich fortpflanzen wird, wie von selber, bis zu seiner Ermordung durch die Gattin Klytämnestra und dann deren Ermordung durch ihren Sohn Orest und daraus die großen Sprünge in der Zivilisation: vom Mutterrecht zum Vaterrecht zum abstrakten Recht, zum Symbolischen, zur Verrechtlichung selbst, der symbolische Tausch Tod gegen Strafe, so wie das Geld letztlich die Abstraktion des Tauschs ist. Getötet wird sowieso für alles und jedes.“[21]
Direkt in Anschluss an die Beschreibung der Zustände der Antike oder das Gebaren antiker Herrscher stellt sie den Bezug zu den Zuständen im Dritten Reich und den Gebaren der damaligen Herrschern her:
„Aber die Konzentrationslager der Nazis, die haben nicht ihresgleichen, da gibt es keine Verrechtlichung und keine Abstraktion, und da ist das Opfer auch nicht mehr Subjekt, nicht nur wegen seiner schieren Menge, Millionen von Menschen, sondern auch weil das Sprechen darüber das Geschehen schon wieder auffrißt, weil man es nicht glauben kann, und das Opfer selbst kann, im Sprechen, nicht glauben, was es da sagt, weil, was es erlebt hat, nicht so gewesen sein kann, wie es gewesen ist.“[22]
Diese unmittelbare Gegenüberstellung zweier so unterschiedlicher und zeitlich weit von einander entfernter Geschehnisse macht deutlich, dass Jelinek Gewalt, und insbesondere Gewalt gegenüber Wehrlosen, nicht als Phänomen einer bestimmten Zeit ansieht, sondern als einen dem Menschen natürlich immanenten Wesenszug. Offenbar sieht Jelinek die Gewalt als ein Mittel der Herrschenden, da sie zum einen das antike Königshaus des Agamemnon und zum anderen die Deutsche Naziführung als Beispiele heranzieht. Das Dritte Reich muss als Beispiel dienen, weil das Buch, zu dem Jelinek den Vortrag hält, eben von den Gräueltaten der Nazis gegenüber den (weiblichen) Juden handelt.
Trotzdem ist der Bezug zur Antike vielsagend. Oft wird mit der griechischen Antike eine Art Helden-Charakter verbunden. Kriege werden geradezu glorifiziert, nur weil sie Handlung antiker Literatur sind. Der direkte Zusammenhang mit der Hitler-Zeit, die als das vielleicht dunkelste Kapitel der Geschichte überhaupt gilt, schafft etwas Interessantes: Einem „goldenen“ Zeitalter wird eine rabenschwarze Epoche quasi gleich gestellt. An der Bestialität zwischen der Opferung der wehrlosen Tochter ist kein wesentlicher Unterschied zur Einkasernierung und Tötung eines wehrlosen Juden zu erkennen. Sicherlich ist die systematische Tötung und die ungeheuerliche Maschinerie, die Hitlers Helfer aufgebaut haben, noch ein bedeutender Unterschied zu dem, was im Hause Agamemnon stattfand. Aber Jelinek geht es mehr um die Natur des Tötens und speziell der des Tötens wehrloser Opfer (die sie im weiteren Verlauf als „Nicht-Opfer“ definiert). Die Grundhaltung des Machtausübenden und die Unerbittlichkeit sind in beiden Fällen (und daher vielleicht sogar grundsätzlich immer) von der gleichen Qualität.
2.1.2. Antiker Krieg und Moderner Sport
Die Elfi Elektra-Figur kann also zunächst einmal als die Verschmelzungsinstanz von Antikem und Modernem gesehen werden. Durch die Anleihe an die Figur aus der Sage verbannt Jelinek das, was sie beschreibt ebenfalls in das Reich der Sage beziehungsweise des Mythos. Die kritisierten Sachverhalte haben dadurch von vornherein den Charakter einer Halbwahrheit. Sie stammen aus einer irrealen Welt, in der Sage und Gegenwart verschmelzen. Die Chöre, die Figuren Hektor und Achill sowie die des Tauchers, der als Elektras Bruder bezeichnet wird (Sport, S. 167/168), verstärken dies noch. Die tennisspielenden Helden des trojanischen Kriegs bringen einen weiteren Aspekt ans Licht, da der moderne Sport durch den Rückgriff auf die Antike mit Krieg gleichgesetzt wird.
Ausgerechnet die beiden Protagonisten des Trojanischen Kriegs spielen harmonisch miteinander. Anne Fleig beschriebt es so:
„Die ihnen individuell zugeschriebene Geschichte des tapferen Kriegers wird bei Jelinek ironisch durchkreuzt, wenn die großen Gegenspieler des Trojanischen Krieges zu Sportfunktionären mutiert im besten Einvernehmen miteinander Tennis spielen. (...) Jelineks Text exemplifiziert die Gleichung Sport ist Mord/Mord ist Sport und liefert eine aktuelle Variante der Todesarten einer strikt getrennten Ordnung der Geschlechter. ‚Der Tod ist das einzig mögliche Auftreten des Mannes – bösartige Lebensbegriffe, Feindschaften, Krieg. Bei der Frau das Gegenteil, die Mutterschaft. Warum wollen diese Mütter immer andere Söhne als sie hatten? Soviel ich auch strample und schwitze, ich hatte mich in der Mutterrede längst festgehalten, als ich zur Odyssee in die Fremde aufbrechen wollte.’“[23]
Wenn also die Welt des Sports der Welt der antiken Kriege oder kriegerischen Handlungen wie der der Ilias und der Odyssee entspricht, wirft das ein interessantes Licht auf die Elfi Elektra-Figur. In der Sage ist Elektra, wie bereits erwähnt, als eine Rächerin beschrieben, die sich isoliert fühlt. Den Vater hat man ihr genommen, der Bruder ist im Exil und von der Mutter wird sie gehasst.[24] Auch die Figur in Jelineks Stück ist isoliert. Der Bruder (analog zum Bruder in der Sage) ist als Taucher praktisch „abgetaucht“. Die übrigen Figuren misshandeln sie. In einer Regieanweisung heißt es beispielsweise: „Elfi Elektra kriecht kurz hervor, wird getreten und verschwindet gleich wieder.“ (Sport, S. 181)
Man kann hier mit gebotener Vorsicht erneut versuchen einen Bezugspunkt zwischen der Sagenfigur und Jelinek aufzubauen. Auch Jelinek ist in der öffentlichen Meinung häufig beschimpft worden und sieht die Mehrheit der Österreicher gegen sich.[25] Auch hier kann von Isoliertheit gesprochen werden. Umso mehr, wenn von der Welt des Sports die Rede ist. In dieser muss sich die Autorin als Außenseiterin fühlen. Sie ist diejenige, die kritisiert, die den Sport als Krieg entlarvt und schonungslos die Gewalttätigkeit des Sports aufzeigt. Hier scheint der Bezugspunkt stimmig. Auch Elektra war eine einsame Kämpferin, die sich gegen die Herrschaft von Klytaimnestra und Aigisthos stemmte. Auch sie musste einiges erdulden. Dass dies in Form von körperlicher Gewalt geschieht, ist logisch, weil Gewalttätigkeit das gesamte Stück durchzieht. Man kann sagen, dass die Gewaltakte symbolisch für die Angriffe von Kritikern und Öffentlichkeit gegen die Autorin stehen. Die Gemeinsamkeit liegt im Leid der Elektra. Elfi Elektra soll also nicht als Rächerin, sondern vielmehr als Anklägerin und als Misshandelte gesehen werden. An dieser Stelle wird auch deutlich, dass die eigene Biografie Jelineks sicher nicht völlig ausgeschlossen wird. Gerade durch die Selbstauftritte lässt die Autorin einiges von ihr selbst Erfahrenes in das Stück einfließen. Allerdings bezieht sich dies, abgesehen von der Vater-Thematik, auf ihr Verhältnis zur Öffentlichkeit und zum Theater (Vgl. 2.1.1.1).
Es ist nicht verwunderlich, dass ausgerechnet Elfi Elektra die Grundgleichung des Stückes ausspricht. „Ist Sport den Mord? Ich glaube, man muss differenzieren: nicht immer!“ (Sport, S. 173) Dass es im Sport auch Ausnahmen dieser Regel gibt, ist eigentlich nicht mehr als die Bestätigung dieser extrem wirkenden Gleichung. Es ist denkbar, dass so die Sportarten ausgeklammert werden sollen, die nicht auf ein körperliches Kräftemessen in letzter Konsequenz herauslaufen. Natürlich würde es seltsam klingen, Wettkämpfe wie Synchronschwimmen, Golf oder Schach als „mörderischen Sport“ zu kennzeichnen. Trotzdem wirkt der Ausspruch „nicht immer“ keineswegs wie eine Verharmlosung. Eben dadurch, dass angezeigt wird, dass nur in Ausnahmefällen von der Aussage abzuweichen ist, bekommt die Gleichung „Sport ist Mord“ eine umso eindringlichere Qualität.
Der Tod als Folge von sportlichem Ehrgeiz oder sportlichem Extremismus zieht sich wie ein roter Faden durch das Stück. Das Schicksal des Andi ist ein mustergültiges Beispiel für den todbringenden Charakter des Sports. An anderer Stelle ist von der „Überholspur in den Tod“ in Bezug auf Motorsport die Rede (Sport, S. 18). Auch der Chor stimmt sozusagen mit ein:
„Warum haben sie Ihren Sohn in den Krieg des Sports geschickt, wenn Sie ihn doch gleich wieder zurückhaben wollen? (...) Na sehen sie!, daß man also mit Blut und Schweiß und Schmerz einen Vertrag unterschrieben hat, aus dem man nicht so einfach aussteigen kann. Die einen kassieren für diesen Vertrag, die anderen werden früher oder später von Ärzten einkassiert, damit all den Überständigen, die ins Ziel wankten, nachdem der Zeitnehmer die Uhr bereits eingepackt hatte, zur Strafe je ein kleiner Knorpel aus dem Knie geschnitten werden kann.“ (Sport, S. 22/23)
Auch hier ist von Sport und Krieg als derselben Sache die Rede. Die Formulierung „Blut und Schweiß und Schmerz“ erinnert stark an die Ankündigung Winston Churchills, den Deutschen Streitkräften im Zweiten Weltkrieg mit „Blut, Schweiß und Tränen“ entgegenzutreten. Auch in diesem Detail ist der Bezug zum Krieg wieder präsent. An sich wäre die Aussage, dass im Sport ein Vertrag mit „Blut und Schweiß und Schmerz“ unterschrieben werde nichts Ungewöhnliches. Schweiß und Schmerz gehören zum Sport dazu, das sinnbildliche Unterschreiben eines Kontrakts könnte als Stilmittel missverstanden werden. In Sportarten wie dem Boxen fließt auch Blut, Radsportler, die gestürzt sind, haben oft blutige Arme und Beine, gelegentlich kann es auch in anderen Sportarten mal blutig zu gehen. Niemanden würde die Offenlegung dieser Tatsachen sonderlich beunruhigen. Durch die Anleihe an den berühmten Ausspruch aus dem Zweiten Weltkrieg verleiht Jelinek dem aber wiederum eine andere Qualität. Kriegerisches scheint im Sport allgegenwärtig.
Die Brutalität, mit der dabei vorgegangen wird, ist unmissverständlich. Wer zu spät ins Ziel kommt, wird unerbittlich bestraft, in diesem Fall wird „ein Stück Knorpel aus dem Knie geschnitten“. Man könnte auch sagen, wer im Sport nicht genug Leistung bringt, wird gequält. So erscheint es immer auswegloser in dieser Welt zuzugehen. Was bleibt Sportlern schon übrig, als mit allen Mitteln ihre Leistung zu optimieren um der Strafe zu entgehen? Eben diese Zwangslage wird in dem unterschriebenen Vertrag im Zitat deutlich: Man kann „nicht so einfach aussteigen“. In wie weit Jelinek beim aus dem Knie geschnittenen Knorpel an einen Weg der Leistungsverbesserung gedacht hat, ist jedoch unklar. Es überwiegt eher das Motiv der körperlichen Qual.
Es ist im Sport keine Seltenheit, dass Knorpelschäden an den Knien operativ behoben werden, damit der Sportler weiter aktiv sein kann. Eines der populärsten Beispiele der jüngeren Vergangenheit ist der Radprofi Jan Ullrich, der die gesamte Radsaison 2002 wegen solcher Operationen aussetzen musste.[26] Es ist durchaus möglich, dass die Autorin ähnliche Fälle im Kopf gehabt hatte und diese seltsame Praktik ansprechen wollte. Letztlich geht es dabei darum, einen durch Sport verursachten Schaden zu beheben, damit weiter Sport getrieben werden kann. Dazu muss dem Körper etwas „weggeschnitten“ werden. Es ist gut möglich, dass Jelinek diese drastische Maßnahme durch die ihr eigene Technik offen legen will. Die Reduzierung auf das Wesentliche, hier das zu späte Erreichen des Ziels und die daraus resultierende Operation, lassen die Dinge, die in der Welt des Sports schon als Normalität akzeptiert werden, ungeheuer brutal und übertrieben wirken.[27] Außerdem wirkt es geradezu absurd, dass ein durch Sport Geschädigter sich operieren lässt, damit er sich erneut durch Sport schädigen kann.
Natürlich ist Ein Sportstück keine Aneinanderreihung von Anti-Sport-Aussagen. Es gibt auch gegenteilige Äußerungen, die die Verfechter des Sports repräsentieren. Diese wirken umso ironischer:
„Schenken sie mir bitte ihren Leib, damit ich den Sport, der ja früher eine Kulthandlung gewesen ist, wieder umwandeln kann in eine schlichte, doch gewiss nicht uninteressante körperliche Darbietung, die vielleicht, das sage ich jetzt mal so ins Blaue hinein, vielen etwas bringen würde.“ (Sport, S. 174/175)
Kurz zuvor sagt die gleiche Figur (genannt „Erster“) jedoch während sie das „Opfer“ tritt: „Wir tarnen unsere Handlungen, indem wir sagen, es sei Krieg. Dem Kampf schenke ich mich.“ (Sport, S. 174) Der Krieg wird hier auf Gewalt außerhalb der Sportstätten bezogen. Die gesamte Szenerie des Stücks soll ja von Massen und Mengen, die einander feindlich gegenüber stehen, bestimmt sein. In der einführenden Szenenanweisung heißt es: „Die beiden Mengen sind die Feindmengen, von ihren Übergriffen handelt im Grunde das ganze Stück, vielleicht aber auch von was ganz anderem.“ (Sport, S. 8) Man kann sagen, dass es zwei Ebenen der Gewalt gibt. Zum einen die der Fangruppen oder Hooligans und zum anderen die der Sportler untereinander. Die Figur „Erster“ spricht jedoch vom Sport selbst als „Kulthandlung“ und „schlichter körperlicher Darbietung“, was eher positiv und harmlos klingt. Doch allein die Aussage, dass ihm für die Ausübung derselben erst einmal ein „Leib geschenkt“ werden muss, der ungeachtet der förmlichen Bitte durch das Treten des Opfers ja erzwungen wird, rückt den Sport wieder zurück in die Nähe von Gewalt, Zwang und Brutalität.
Auch die friedlich tennisspielenden Hektor und Achill schaffen es nicht, den Sport als wirklich friedliche Angelegenheit erscheinen zu lassen. Allein die Tatsache, dass zwei aus der Sagenwelt bekannte Kriegsherren einander gegenüber stehen, lässt das Motiv der Gewalt immer mitschwingen. Gleich zu Beginn sagt Achill: „Ich blute ihnen hier den Teppich voll. (...) Ich bin verletzt.“ (Sport, S. 124) Später heißt es: „Ja, nur die Nähe des Todes verleiht meinem Leben Befriedigung.“ (Sport, S. 125) Durch den gesamten Textabschnitt ziehen sich Andeutungen dieser Art, wie: „Er wollte ein paar Runden schwimmen, in einen Golfkrieg ziehen, joggen oder sich in ein trojanisches Seitpferd spannen lassen.“ (Sport, S. 128) „Krieg gegen unseren Herrn Präsidenten.“ (Sport, S. 131) „Millionen Geschlagener, vom Infarkt, Krebs, Schlaganfall Getöteter!“ (Sport, S. 133)
Es muss beachtet werden, dass auch die Zuschauer erst durch ihre große Zahl ein entscheidendes Kriterium darstellen. Wären nur wenige hundert Menschen an Fußball interessiert, würde kein Fernsehsender davon berichten. Folglich wäre weniger Geld im Spiel und dadurch der Ehrgeiz und die Risikobereitschaft der Athleten vermutlich geringer. So würden wiederum weniger Verletzungen passieren. Der Zuschauer wird in der Masse quasi zum Mittäter in Sachen „Gewalt im Sport“, auch ohne selbst Gewalt auszuüben.
2.1.3. Hektor und Achill - Angriffe auf die Autorin
Bemerkenswert scheint ein Abschnitt während dieses Dialogs (der im Gegensatz zur monologischen Sprachstruktur des übrigen Textes steht), der auf die Autorin, also auf die Elfi Elektra-Figur beziehungsweise auf die Autorin-Figur (die allerdings bis dahin noch nicht genannt wurde), bezogen ist.
„Sie, Frau Autor, warum sind Sie denn so aggressiv? Wir haben Ihnen doch nichts getan. Was plustern Sie sich dermaßen auf? Am liebsten gehen doch wir ins Theater. Und uns interessiert nicht was Sie sagen. Wir! Was wir irgend nur taten, war ein unschuldiger Kuß. Harmlos. Sogar den Käfer, den fröhlichen, haben wir unter Ihrer Füße Sohlen spielen lassen! Wir hätten Ihnen auch bestellen können, dass Sie ihn zertreten und Ihnen dafür eine Förderung zukommen lassen können.“ (Sport, S. 130)
2.1.3.1. Vorwurf der Aggressivität
Gleich mehrere Aspekte der öffentlichen Jelinek-Kritik kommen hier durch die beiden antiken Figuren zum Tragen. Zunächst wird Jelinek als aggressiv beschrieben. Letztlich findet so eine Verkehrung der Tatsachen statt. Die Autorin schreibt stets über gewalttätige und aggressive Sachverhalte. In den früheren Werken stand die Sexualität und damit die von Männern ausgeübte sexuelle Gewalt im Vordergrund. Texte wie Krankheit oder moderne Frau, Lust, oder Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte können da als beispielhaft genannt wird. Auch ihre latente Österreich-Kritik wurde ihr immer wieder vorgehalten. Als Reaktion auf ihr Stück Burgtheater, in dem sie mit der Nazi-Vergangenheit der beliebten Schauspieler-Familie Wessely abrechnete, erntete Jelinek heftige Kritik.
„The vehement criticism of the play has not been for aesthetic reasons – although it has been attacked on qualitative grounds as well – but rather because of the fact that Jelinek is reported to have modelled her characters on real-life Austrian actors. (…) The sentiments they express are clearly anti-Semitic and pro-Nazi.”[28]
Allyson Fiddler sieht in dem Stück einen entscheidenden Punkt in Jelineks Karriere, von dem an, sie mit Titulierungen wie “Nestbeschmutzerin” oder “Denkmalzertrümmrerin” bedacht wurde.
„Burgtheater is perceived as a threat to the image of one of Austria’s most important cultural institutions (…) But Jelinek’s play is more than a simple exercise of ‘denkmalszertrümmern’. (…) more significantly, it is an attempt to demythologise a form of blind patriotism and arrogant chauvinism encapsulated in the concept of Austrian Heimat.”[29]
Bei der Kritik an Jelineks Literatur als aggressive oder, im Sinne von Denkmal-Zertrümmern, zerstörerische Literatur, wird vergessen, dass die Autorin die Dinge, die sie anspricht lediglich offenlegen will, sie aber natürlich nicht dafür verantwortlich ist, dass die Dinge sind, wie sie sind. Die Kritik, die hier vom tennisspielenden Achill (stellvertretend für die in Ein Sportstück angegriffenen Sport-Befürworter) geäußert wird, ist quasi ein Vorgriff auf das, was die Autorin in der Tradition der früheren Kritiken ihrer Werke erwartet: ein Angriff gegen sie als aggressive Aufrührerin, die ein weiteres Stück österreichischer Kultur torpedieren will. „Wir haben Ihnen doch nichts getan“ wirkt jedoch als ein schwaches Argument.
Daran schließt sich eine Anspielung an den Streit um die Gestalt, die Inhalte und die Umsetzung von Theaterstücken an. „Am liebsten gehen doch wir ins Theater. Und wir interessieren uns nicht für das was Sie sagen“ soll heißen, dass diejenigen, die ins Theater gehen, bestimmen wollen, was in den Stücken behandelt wird. Eine solche Fremdbestimmung kann von Jelinek natürlich nicht hingenommen werden. Die poetisch anmutende Diktion in den folgenden Sätzen lässt die Äußerungen dementsprechend lächerlich klingen.
Die Aggressivität wird nach Meinung von Elfriede Gerstl inzwischen schon impliziert, ohne dass Jelinek sich darum bemühen muss:
„Öffentlich erscheint sie distanziert und distanzierend, sie muß gar nichts Provokantes mehr äußern, um z.B. bei Journalisten - und damit Lesern und Nicht-einmal-Lesern ihrer Texte aggressive Phantasien zu evozieren. Erstens: Die Aggressivität und das Psychoinventar ihrer Spielfiguren wird eins zu eins der Autorin zugeschrieben, zweitens komme ich zur Stellvertreterfunktion der Autorin/des Autors am Beispiel Elfriede Jelinek.“[30]
Der Text, in dem Gerstl dies ausführt hat den treffenden Untertitel „Die Frau als Wutableiter“. Jelinek kann so als der ideale „Wutableiter“ der nationalistisch oder zumindest konservativ geprägten österreichischen Gesellschaft gesehen werden.
2.1.3.2. Die Akzeptanz im eigenen Land
Ein weiterer Punkt wird in der Folge der „Fremdbestimmung“ ins (Tennis-) Feld geführt. Der Autorin wird eine „Förderung“ in Aussicht gestellt, wenn sie sich an das hält, was ihr vorgegeben wird. Damit schneidet Jelinek das Problem von Anerkennung im eigenen Land an. Förder-Preise hat sie nach eigener Einschätzung zu selten bekommen, auch der Verdienst im eigenen Land ist dürftig.
„Von dem, was ich in Österreich verdiene, könnte ich auch heute noch, glaube ich, nicht einmal einen Monat im Jahr leben; abgesehen von einigen Literaturpreisen, die man mir gegeben hat, als man es nicht mehr vermeiden konnte, wie den Preis der Stadt Wien (1989) oder den Würdigungspreis für Literatur. Aber es ist mir z.B. nicht gelungen, irgendwelche Stipendien zu bekommen. Einmal habe ich ein Staatsstipendium erhalten, das aber wirklich alle bekommen.“[31]
Jelinek empfindet offenbar, dass ihr Werk nicht genügend gewürdigt wird. Grund dafür ist ihrer Meinung nach, dass sie sich nicht beeinflussen lässt, von dem was seitens der Öffentlichkeit vielfach von ihr verlangt wird. Stattdessen verfolgt sie ihre Themen weiter in alle Konsequenz. „Förderung“ wird ihr daher nicht oder nur selten, „als man es nicht mehr vermeiden konnte“, zugestanden. Es scheint aber nicht so, als sei sie darüber zornig oder traurig. Vielmehr wirkt der Angriff der Achill-Figur so, als soll er die Unbestechlichkeit und Unbeeinflussbarkeit der Autorin verdeutlichen. Die Aussage könnte, salopp ausgedrückt, auch so umschrieben werden: „Ich weiß, dass die Reaktionen auf dieses Stück wieder feindseliger Natur sein werden. Aber so war es schon immer und es ist mir inzwischen auch recht so.“ In jedem Fall wird jedoch deutlich, dass Jelinek, auch wenn sie weitgehend auf autobiografische Details verzichten will, schon auf solche zurückgreift, die Kritik und Diskussionen ihrer Stoffe in der Öffentlichkeit angehen (Vgl. Anmerkung 3). Offensichtlich scheint ihr das eine legitime Ausnahme zu sein, weil diese Diskurse unmittelbar mit ihren Texten zusammenhängen und es sich nicht um unabhängige Lebenserfahrungen handelt, die einen autonomen Einfluss auf ihr Werk ausüben könnten. Die Einstellung der Bevölkerung ist ja gerade Thema vieler Texte und daher ist die Einstellung zu den Jelinek-Texten auch wieder ein legitimes Thema eines darauffolgenden Textes.
Dass die Schriftstellerin Elfriede Jelinek ein bedeutender Bestandteil des kulturellen Lebens in Österreich ist, lässt sich bei aller Ablehnung seitens einiger Kritiker eben nicht leugnen. Eine gewisse Genugtuung lässt sich aus den teilweise hilflos klingenden Sätzen der Achill-Figur ebenfalls herauslesen. Das Gesagte wirkt eher wie die Verteidigung eines beleidigten Kindes, und nicht wie eine ausgefeilte Autoren-Kritik: „Für jeden Einzelnen ist es unerträglich, allein zu sterben. Wissen wir doch alles. Warum sagen Sie es denn dauernd?“ (Sport, S. 130)
[...]
[1] Gerstl, Elfriede. Elfriede Jelinek. "Schrilleres weiß ich heute nicht anzubieten." Die Frau als Wutableiter. http://polyglot.lss.wisc.edu/german/austria/jelinek.html Anmerkung zu Internetzitaten: Da Zitate aus online-Quellen nach meiner Feststellung hin und wieder Rechtschreibfehler beinhalten, behalte ich mir vor, solche stillschweigend zu korrigieren, sofern es sich um offensichtliche Rechtschreib- oder Tippfehler handelt.
[2] Czerny, Karin. Elfriede Jelinek. Ein Sportstück. http://www.literaturhaus.at/buch/buch/rez/jelinek/ S. 1.
[3] Breuer, Ingo. Zwischen ‚posttheatralischer Dramatik’ und ‚postdramatischem Theater’. Elfriede Jelineks Stücke der neunziger Jahre. http://www.inst.at/trans/9Nr/breuer9.htm S. 2.
[4] Ebenda. S. 3.
[5] Jelinek, Elfriede. Ein Sportstück. Hamburg, 1998. Ich werde Ein Sportstück im weiteren Verlauf der Arbeit mit (Sport) und der dazugehörigen Seitenzahl zitieren. Also etwa: (Sport, S.10).
[6] Schwab, Gustav. Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Dritter Teil. Stuttgart, 1986. S. 17.
[7] Fleig, Anne. Zwischen Text und Theater: Zur Präsenz der Körper in Ein Sportstück von Jelinek und Schleef. In: Fischer-Lichte, Erika und Anne Fleig (Hrsg.). Körperinszenierungen – Präsenz und kultureller Wandel. Tübingen, 2000. S. 87.
[8] Adorno, Theodor W. Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. http://www.kk.jgora.pl/gutenberg/etextde/Adorno%20Theodor%20-%20Jargon%20der%20Eigentlichkeit.txt S. 1.
[9] Adorno, Theodor W. Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. http://www.kk.jgora.pl/gutenberg/etextde/Adorno%20Theodor%20-%20Jargon%20der%20Eigentlichkeit.txt S. 1.
[10] Adorno, Theodor W. Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie. http://www.kk.jgora.pl/gutenberg/etextde/Adorno%20Theodor%20-%20Jargon%20der%20Eigentlichkeit.txt S. 1.
[11] Generell hat Jelinek stets darauf gedrungen, die eigene Biografie aus den Werken auszuschließen. In einem Interview mit Riki Winter sagte sie beispielsweise: „Ich habe immer darauf gedrungen, dass man zur Beurteilung eines literarischen Werks das Leben, die Biographie, nicht heranziehen sollte.“ Lediglich in Die Klavierspielerin lässt Jelinek nach eigener Aussage autobiographische Züge in eines ihrer Stücke einfließen. Winter, Riki. Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: Bartsch, Kurt und Günther Höfler (Hrsg.). Dossier 2. Elfriede Jelinek. Graz, 1991. S. 9.
[12] Spanlang, Elisabeth. Ein Strindberg-Stück ist eine Operette dagegen“. Anmerkungen zu einer ungewöhnlichen Biographie. In: Bartsch, Kurt und Günther Höfler (Hrsg.). Dossier 2. Elfriede Jelinek. Graz, 1991. S. 248.
[13] Spanlang, Elisabeth. Ein Strindberg-Stück ist eine Operette dagegen“. Anmerkungen zu einer ungewöhnlichen Biographie. In: Bartsch, Kurt und Günther Höfler (Hrsg.). Dossier 2. Elfriede Jelinek. Graz, 1991. S. 249.
[14] Spanlang, Elisabeth. Ein Strindberg-Stück ist eine Operette dagegen“. Anmerkungen zu einer ungewöhnlichen Biographie. In: Bartsch, Kurt und Günther Höfler (Hrsg.). Dossier 2. Elfriede Jelinek. Graz, 1991. S. 252-253.
[15] Spanlang, Elisabeth. Ein Strindberg-Stück ist eine Operette dagegen“. Anmerkungen zu einer ungewöhnlichen Biographie. In: Bartsch, Kurt und Günther Höfler (Hrsg.). Dossier 2. Elfriede Jelinek. Graz, 1991. S. 256.
[16] Spanlang, Elisabeth. Ein Strindberg-Stück ist eine Operette dagegen“. Anmerkungen zu einer ungewöhnlichen Biographie. In: Bartsch, Kurt und Günther Höfler (Hrsg.). Dossier 2. Elfriede Jelinek. Graz, 1991. S. 249.
[17] Schwab, Gustav. Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Dritter Teil. Stuttgart, 1986. S. 15-16.
[18] Das Bertelsmann-Lexikon. Gütersloh/Berlin/München/Wien, 1974. S. 323.
[19] Der Readers Digest Brockhaus. Wiesbaden, 1973. S. 847
[20] Wagner, Karl. Österreich – eine S(t)immulation. Zu Elfriede Jelineks Österreich-Kritik. In: Bartsch, Kurt und Günther Höfler. Dossier 2. Elfriede Jelinek. Graz, 1991. S. 79-80.
[21] Jelinek, Elfriede. Das weibliche Nicht-Opfer. http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede/ S. 1.
[22] Jelinek, Elfriede. Das weibliche Nicht-Opfer. http://ourworld.compuserve.com/homepages/elfriede/ S. 1.
[23] Fleig, Anne. Zwischen Text und Theater: Zur Präsenz der Körper in Ein Sportstück von Jelinek und Schleef. In: Fischer-Lichte, Erika und Anne Fleig (Hrsg.). Körperinszenierungen – Präsenz und kultureller Wandel. Tübingen, 2000. S. 98/99.
[24] Schwab, Gustav. Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Dritter Teil. Stuttgart, 1986. S. 15-17.
[25] Auf den öffentlichen Jelinek-Diskurs gehe ich im zweiten Teil der Arbeit ein.
[26] Migels, Karsten. Jahresrückblick Radsport. Saison 2003. Stuttgart, 2003. S. 39. Jan Ullrich musste nicht nur wegen des kaputten Knies aussetzen, sondern auch eine Doping-Sperre absitzen.
[27] Vgl. Anmerkung 11: Karl Wagner spricht in dem Zusammenhang von „Reduktion“.
[28] Fiddler, Allyson. Rewriting Reality: An Introduction to Jelinek. Oxford, 1994. S. 102.
[29] Fiddler, Allyson. Rewriting Reality: An Introduction to Jelinek. Oxford, 1994. S. 110.
[30] Gerstl, Elfriede . Elfriede Jelinek. „Schrilleres weiß ich heute nicht anzubieten.“ Die Frau als Wutableiter. http://polyglot.lss.wisc.edu/german/austria/jelinek.html S. 1.
[31] Janke, Pia (Hrsg.). Jelinek und Österreich. Die Nestbeschmutzerin. Salzburg und Wien, 2002. S. 208.
- Quote paper
- Guido Scholl (Author), 2004, Elfriede Jelinek als literarische Figur und öffentliche Person, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34930
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.