„Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Analphabet der Zukunft sein.“ (385) Mit diesen Worten zitiert Walter Benjamin eine Aussage Charles Baudelaires in seiner „Kleinen Geschichte der Photographie“. Was bedeutet es, „photographieunkundig“ zu sein? Nicht die fehlenden technischen oder praktischen Fähigkeiten meint Benjamin damit, sondern die Unfähigkeit, eine Fotografie lesen und deuten zu können. Für ihn besitzt das stets im Fortschritt begriffene Medium eine eigene Sprache, die es zu entschlüsseln gilt. Das Vokabular, dessen er sich dabei bedient, ist durchzogen von Begriffen aus den Bereichen der Magie und der Mystik. Benjamin erkennt der Fotografie Eigenschaften an, die über die reine Abbildung der sichtbaren Realität hinausgehen. Seine Faszination erweckt besonders das Einfangen des Moments, des Augenblicks, wie er in der normalen Wahrnehmung nicht festgehalten werden kann, da das menschliche Gehirn nur in fortlaufenden Prozessen begreift. Auf der Suche nach den verborgenen Gehalten des Mediums gelangt Benjamin zu verschiedenen Ansätzen, die er später in weiteren Aufsätzen, vor allem in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ weiterentwickelt, und welche kennzeichnend für den Benjaminischen Blick auf die moderne Medienwelt werden sollen.
Walter Benjamin betritt zusammen mit wenigen anderen Neuzeit-Philosophen ein völlig neues Gebiet der Medienkritik. Die pragmatischen Kriterien der Fotografie beiseite lassend widmet er sich in subjektiver Betrachtungsweise ihren verborgenen Qualitäten. Die Begriffswahl „Kleine Geschichte der Photographie“ ist irreführend insofern, als der Text keine fotografie-historische Abhandlung darstellt. Vielmehr erhebt sich aus der Basis einiger historischer Fakten ein Gerüst von verschiedenen Aspekten, die sich mit Ästhetik und anderen abstrakten Eigenschaften des Mediums befassen. Benjamin verlässt sich ganz auf sein eigenes Gespür und gibt seinen Emotionen Ausdruck, um das Geheimnisvolle, das Verborgene aufzudecken. Damit eröffnet er eine neue Sichtweise auf die Fotografie, die erst einige Zeit nach seinem Tod Beachtung finden sollte. Der Titel dieser Arbeit „Mehr als nur ein Augenblick“ trägt zweierlei Bedeutung: Einerseits gibt die Fotografie für Benjamin auf zeitlicher Ebene mehr wieder als nur einen Augenblick. Sie besitzt die Macht, die Vergangenheit und gleichzeitig die Zukunft wiederzuspiegeln. [...]
Inhalt
I. Sprache eines modernen Mediums
II. Die Kleine Geschichte der Fotografie
1. Intention und Vorgehensweise
2. Ästhetik-Theorie
3. Rezension und Rezeption
4. Sonderbare Aura
5. Nichts als die Wahrheit – die Fotografien Atgets
6. Fotografie und Psychologie
7. Schöpferische Fotografie
8. Übersinnlichkeit und Technik
III. Roland Barthes auf den Spuren Benjamins
IV. Die Zeit
Literaturnachweise
MEHR ALS NUR EIN AUGENBLICK
Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie
I. Sprache eines modernen Mediums
„Nicht der Schrift-, sondern der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Analphabet der Zukunft sein.“ (385) Mit diesen Worten zitiert Walter Benjamin eine Aussage Charles Baudelaires in seiner „Kleinen Geschichte der Photographie“. Was bedeutet es, „photographieunkundig“ zu sein? Nicht die fehlenden technischen oder praktischen Fähigkeiten meint Benjamin damit, sondern die Unfähigkeit, eine Fotografie lesen und deuten zu können. Für ihn besitzt das stets im Fortschritt begriffene Medium eine eigene Sprache, die es zu entschlüsseln gilt. Das Vokabular, dessen er sich dabei bedient, ist durchzogen von Begriffen aus den Bereichen der Magie und der Mystik. Benjamin erkennt der Fotografie Eigenschaften an, die über die reine Abbildung der sichtbaren Realität hinausgehen. Seine Faszination erweckt besonders das Einfangen des Moments, des Augenblicks, wie er in der normalen Wahrnehmung nicht festgehalten werden kann, da das menschliche Gehirn nur in fortlaufenden Prozessen begreift. Auf der Suche nach den verborgenen Gehalten des Mediums gelangt Benjamin zu verschiedenen Ansätzen, die er später in weiteren Aufsätzen, vor allem in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ weiterentwickelt, und welche kennzeichnend für den Benjaminischen Blick auf die moderne Medienwelt werden sollen.
Walter Benjamin betritt zusammen mit wenigen anderen Neuzeit-Philosophen ein völlig neues Gebiet der Medienkritik. Die pragmatischen Kriterien der Fotografie beiseite lassend widmet er sich in subjektiver Betrachtungsweise ihren verborgenen Qualitäten.
Die Begriffswahl „Kleine Geschichte der Photographie“ ist irreführend insofern, als der Text keine fotografie-historische Abhandlung darstellt. Vielmehr erhebt sich aus der Basis einiger historischer Fakten ein Gerüst von verschiedenen Aspekten, die sich mit Ästhetik und anderen abstrakten Eigenschaften des Mediums befassen. Benjamin verlässt sich ganz auf sein eigenes Gespür und gibt seinen Emotionen Ausdruck, um das Geheimnisvolle, das Verborgene aufzudecken. Damit eröffnet er eine neue Sichtweise auf die Fotografie, die erst einige Zeit nach seinem Tod Beachtung finden sollte.
Der Titel dieser Arbeit „Mehr als nur ein Augenblick“ trägt zweierlei Bedeutung: Einerseits gibt die Fotografie für Benjamin auf zeitlicher Ebene mehr wieder als nur einen Augenblick. Sie besitzt die Macht, die Vergangenheit und gleichzeitig die Zukunft wiederzuspiegeln. Andererseits fordert eine Fotografie zu mehr als nur zu einem „Augen-Blick“ auf. Nicht nur die Augen betrachten ein Foto, sondern auch das Gehirn, die Seele. Vor diesem Hintergrund sollen nun einige Thesen Walter Benjamins hervorgehoben werden, die sich mit den „unbewussten Gehalten“[1] der Fotografie auseinandersetzen. Zusätzlich soll die Beziehung zwischen der „Kleinen Geschichte der Fotografie“ zu einem fast fünfzig Jahre später erschienenen Werk „Die helle Kammer“ von Roland Barthes hergestellt werden, welches jener näher zu stehen scheint als sämtliche zeitgenössische Literatur.
II. Die Kleine Geschichte der Fotografie
1. Intention und Vorgehensweise
Etwa neunzig Jahre nach der Erfindung der Fotografie sieht Walter Benjamin diese an einem Punkt angelangt, wo es notwendig ist, sich umzudrehen und auf ihre Vergangenheit zurückzublicken. Der genaue Verfassungszeitraum der „Kleinen Geschichte der Photographie“ ist unbekannt. Veröffentlicht wurde sie dreigeteilt in der Zeitschrift „Die literarische Welt“ im Jahre 1931. Eine klare Gliederung weist der Text nicht auf, vielmehr besteht er aus verschiedenen Fragmenten, die sich zum Teil ergänzen, zum Teil schwer zuordnen lassen. Innerhalb dieser Passagen argumentiert Benjamin bildhaft und emotionsstark. Allerdings lässt er seine Theorien oft unvollendet und wendet sich sprunghaft neuen Aspekten zu. Es bleibt dem Leser überlassen, Zusammengehöriges zu sammeln und weiterzudenken. Des Weiteren bleiben viele Begriffe unklar beziehungsweise ungreifbar, vor allem sofern es dabei um die Beschreibung von Emotionen geht.
Dies alles eröffnet vielfältige Ansätze zur Interpretation, macht jedoch ein allgemeingültiges Textverständnis absolut unmöglich. Es kann nicht Ziel der Beschäftigung mit Benjamins „Kleiner Geschichte der Photographie“ sein, eine klare Struktur und folgerichtige Vorgehensweise im Text aufzudecken. Die Suche nach eindeutig belegbaren Thesen wird unfruchtbar enden, da es genau die ungreifbaren und übersinnlichen Erscheinungen sind, die Benjamin zu seinem Essay veranlassten, und durch die der Text seinen besonderen Wert gewinnt.
2. Ästhetik-Theorie
Dem Text zugrunde liegt eine Theorie, die von Walter Benjamin als die eigentliche Geschichte der Fotografie angesehen wird, die aber nicht von ihm selbst stammt. Tiefergehend befasst sie sich mit der Ästhetik der Fotografie, die hier nicht ihren Kunstwert meint, sondern ihre Qualitäten in der Darstellung der Gesamtheit des Objekts, sozusagen in der Darstellung der Wahrheit. Dies soll in den nächsten Kapiteln genauer erläutert werden, hier aber geht es zunächst um das Grundgerüst, die Ästhetik-Theorie.
Walter Benjamin teilt die Geschichte der Fotografie in drei Phasen ein. Den ersten Zeitraum von ca. zehn Jahren nach ihrer Erfindung durch Daguerre, die Zeit der Daguerreotypie, betrachtet Benjamin als ihre Blütezeit. Dies hat mehrere Gründe. Zum einen lobt Benjamin die durch die Malerei geschulten hohen handwerklichen Fähigkeiten der ersten Fotografen-Generation, die vor allem aus Portraitmalern bestand, welche sich dem neuen Medium zuwandten. Auch besitzen die frühen Bilder eine besondere „Aura“. Hier begegnet der Leser zum ersten Mal einem der zentralen Begriffe der „Kleinen Geschichte der Photographie“ und Benjamins gesamten Gedankengutes. Auch für die weitere Benjaminische Literatur wurde die so genannte Aura sehr wichtig und vielfach interpretiert. Als Hauptvertreter dieser frühen Blütezeit der Fotografie nennt Walter Benjamin den schottischen Portraitmaler und Fotografen David Octavius Hill.
Das Ende dieser ersten Ära setzt ein mit der rasch voranschreitenden Industrialisierung, die die Fotografie zu einem Massenmedium werden lässt. Benjamin schreibt: „Schließlich aber drangen von überall her Geschäftsleute in den Stand der Berufsfotografen ein [...]“ (S. 376). Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war die Erfindung des Visitformats durch Disderi im Jahre 1858. Das praktische Format und die zunehmende Vereinfachung der Technik führten zu Preissenkungen, was eine regelrechte „Visitkartenepidemie“ zur Folge hatte, die erst um 1870 langsam abklang.[2] Mit dem Beginn der Vermarktung der Fotografie „setzte ein jäher Verfall des Geschmacks ein“ (S. 374). Am stärksten äußert sich dieser in der Portraitfotografie. Der Inbegriff des schlechten Geschmacks besteht in Benjamins Augen in der überladenen und funktionslosen Staffage des Ateliers. Die nutzlosen Requisiten und Versatzstücke empfindet er als „so zweideutig [schwankend] zwischen Exekution und Repräsentation, Folterkammer und Thronsaal“ (S. 375). In dieser Stufe des Abstiegs erlebt die Fotografie eine Verdrängung der Aura, die Bilder verlieren ihre Wirkung. Als Beispiel führt Benjamin eine Atelierphotographie an, die den jungen Kafka zeigt: „Dies Bild in seiner uferlosen Trauer ist ein Pendant der frühen Photographie, auf welcher die Menschen noch nicht abgesprengt und gottverloren in die Welt sahen, wie hier der Knabe.“ (S. 376)
Die dritte Phase der Fotografie-Geschichte, die um die Jahrhundertwende eingeleitet wird, beschreibt Benjamin als einen Wiederaufstieg, der allerdings nie wieder zur einstigen Qualitätsstufe zurückführen konnte. Den Wiederaufstieg habe man dem „Busoni der Photographie“ (S. 377), dem französischen Maler und Fotografen Eugène Atget zu verdanken. Benjamin bewundert an Atget dessen Blick für die Realität: „Atget war ein Schauspieler, der angewidert vom Betrieb, die Maske abwischte und dann daran ging, auch die Wirklichkeit abzuschminken.“ (S. 377) Ihm gelingt es, das Objekt von der nun wertlosen Aura zu befreien. Atget gehört zu den Vorläufern der surrealistischen Fotografie, der Benjamin nahe steht. „[...] Diese Leistungen sind es, in denen die surrealistische Photographie eine heilsame Entfremdung zwischen Umwelt und Mensch vorbereitet. Sie macht dem politisch geschulten Blick das Feld frei, dem alle Intimitäten zugunsten der Erhellung der Details fallen.“ (S. 379) Damit endet die „Kleine Geschichte der Photographie“ im eigentlichen Sinn. Es folgen Ausführungen bisher gewonnener Ansätze und neue Gedanken.
Die Theorie von der frühen Blütezeit, des anschließenden Verfalls und des Wiederaufstiegs entwickelte Benjamin, wie gesagt, nicht selbst. Er ließ sich anregen von einigen Ansätzen aus seinerzeit aktuellen Bildbänden.[3] Die Quellen des Textes seien im folgenden Abschnitt genannt.
3. Rezension und Rezeption
Neben der Darstellung der Geschichts- beziehungsweise Ästhetiktheorie hat der Text eine zweite Funktion. Benjamin rezensiert und rezipiert einige gerade erschienene Bildbände: zum einen „Aus der Frühzeit der Photographie, 1840-70“[4] von Helmuth Th. Bossert und Heinrich Guttmann, zweitens „David Octavius Hill, der Meister der Photographie“[5] von Heinrich Schwarz, zum dritten „Urformen der Kunst, photographische Pflanzenbilder“[6] von Karl Bloßfeldt, viertens Eugène Atgets, „Lichtbilder“[7], fünftens August Sanders „Antlitz der Zeit“[8], und sechstens „Die Welt ist schön“[9] von Albert Renger-Patzsch. All diese Bildbände entstammen bezüglich Stil und Motivwahl sehr verschiedenen Kategorien. Benjamin widmet sich nicht nur den Bildern, sondern insbesondere auch den Einleitungen der Herausgeber. In seiner Thesenbildung beeinflussen ihn vor allem die Vorworte von Schwarz, Recht und Orlik. Nicht immer ist dies anhand von Zitaten, die Benjamin verwendet, nachzuweisen. Oftmals bleibt der Urheber einer These unerwähnt. Der Frage nach der eigentlichen Leistung des Textes geht Rolf H. Krauss nach und kommt zu dem Schluss, dass es vor allem die „Einsichten [sind], die über die Photographie hinausreichen“[10]. Zu ihnen gehört der Begriff der Aura.
[...]
[1] Als „unbewusster Gehalt“ wird innerhalb dieser Arbeit jene Bildwirkung bezeichnet, die durch subjektive, assoziative Wahrnehmung zu Tage tritt. Sie ist zu unterscheiden von einem „bewussten Bildinhalt“, den tatsächlich sichtbaren Fakten einer Fotografie.
[2] vgl. Brückner, Wolfgang: Äußerst getroffen und schön. Historische Photographie in Unterfranken. Würzburg 1989. S. 26
[3] vgl. Krauss, Rolf H.: Walter Benjamin und der neue Blick auf die Photographie. Ostfildern 1998. S. 14-20.
[4] Bossert, Helmuth, Th.; Guttmann, Heinrich: „Aus der Frühzeit der Photographie, 1840-70“. Frankfurt 1930.
[5] Schwarz, Heinrich: David Octavius Hill, der Meister der Photographie. Leipzig 1931.
[6] Bloßfeld, Karl: Urformen der Kunst, photographische Pflanzenbilder. Hrsg. von Karl Nierendorf. Berlin 1928.
[7] E. Atget, Lichtbilder. Mit einer Einleitung von Camille Recht. Leipzig 1931.
[8] Sander, August: Antlitz der Zeit. Mit einer Einleitung von Alfred Döblin. München 1929.
[9] Renger-Patzsch, Albert: Die Welt ist schön. Hrsg. von Carl Georg Heise. München 1928.
[10] Krauss. S. 27.
- Quote paper
- Margit Maier (Author), 2004, Mehr als nur ein Augenblick. Zu Walter Benjamins "Die kleine Geschichte der Photographie", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/34456
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