Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine forschende Abhandlung auf Basis und vor dem Hintergrund der Systemtheorie Luhmanns, in der das Militär, und daran anschließend auch das soziale Phänomen Krieg, diskutiert und analysiert werden sollen. Da sich Luhmann selbst nicht erschöpfend zu dieser Thematik geäußert hat, ist es nötig, andere Autoren seiner Ideenschule hinzuzuziehen, die unter Benutzung des Luhmann'schen Systembausatzes jene gesellschaftliche Lücken füllen, für die Luhmann selbst keine Zeit oder kein Interesse mehr hatte.
Dabei ist auch zu klären, was Militär überhaupt für ein soziales System sein könnte. Erfüllt das Militär in der Gesellschaft die Rolle eines Funktionssystems? Ist Militär zwangsläufig an Staaten gebunden und wenn nein, welche anderen Ausdifferenzierungsformen des politischen Systems sind noch möglich? Stünde Militär als eigenständiges Funktionssystem auf der gleichen Stufe wie Wirtschaft und Recht, wie ist es dann um die strukturelle Kopplung bestellt? Wie kann Krieg unter der Einbeziehung eines nach Luhmann dargestellten Militärsystems zu verstehen sein?
Es drängen sich folgende Thesen auf, die im weiteren Ablauf dieser Arbeit untersucht werden sollen: Erstens nehme ich an, dass das Militär die Merkmale eines sozialen Systems erfüllt und dahingehend systemtheoretisch sowohl erklärbar, als auch analysierbar ist. Daran schließe ich zweitens an, dass Krieg an sich bereits von Luhmann anhand seiner Konflikttheorie behandelt wurde, jedoch lediglich die Begrifflichkeit des Krieges darin fehlt. Nachdem im Anschluss der Einführung die Methodik dieser Arbeit dargelegt werden soll, findet sich im eigentlichen ersten Kapitel dieser Arbeit eine grundlegende Einführung in die Systemtheorie von Luhmann. Daran angeschlossen folgt im zweiten Kapitel eine Untersuchung und Einordnung des Militärs anhand der aufgezeigten Merkmale der Systemtheorie. Da Militär zwangsläufig mit Kriegen verbunden scheint, behandelt das letzte Kapitel des Hauptteils die systemtheoretische Einordnung von Kriegen, bevor in der Schlussbetrachtung letztlich ein Resümee hinsichtlich der aufgestellten Thesen gezogen werden soll.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Methodik
3. Teil I – Grundlagen der Luhmann'schen Systemtheorie
3.1 Einblick in die allgemeine Systemtheorie Luhmanns
3.2 Soziale Systeme
3.3 Kommunikation
3.3.1 Das Universallmedium Sinn
3.3.2 Schrift und Sprache als Kommunikationsmedien
3.3.3 Symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien
3.4 Typen sozialer Systeme
3.4.1 Interaktionssysteme
3.4.2 Organisationen
3.4.3 Gesellschaft
3.4.4 Funktionssysteme
4. Teil II – Das Militär als autopoietisches System
4.1 Die systemische Einordnung des Militärs
4.2 Existiert das Militär in einer Staatenwelt?
4.3 Funktion des Militärsystems und dessen Kommunikation
4.4 Code und Programmierung des Militärs
4.5 Die strukturellen Kopplungen des Militärs
4.6 Das Militär als soziales System
5.Teil III – Der Krieg als Konfliktsystem
5.1 Kriegerischer Konflikt?
5.2 Exkurs: Terrorismus als Sonderform des Krieges?
6. Schlussbetrachtung
Literaturverzeichnis:
1. Einführung
„Mein Projekt lautete damals und seitdem: Theorie der Gesellschaft; Laufzeit: 30 Jahre; Kosten: keine.“[1]
Mit diesen Worten trat der studierte Jurist und promovierte Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) 1969 seine Professur an der Fakultät für Soziologie der neu gegründeten Universität Bielefeld an. Luhmann kann nicht vorgeworfen werden, verschwenderisch gewesen zu sein – jedenfalls nicht in finanzieller Hinsicht. Die von ihm aufgenommene Mammutaufgabe, die er tatsächlich innerhalb des im einleitenden Zitat genannten Zeitrahmens beenden konnte, hatte dabei keinen geringeren Anspruch als den, eine universelle Theorie darzustellen. Er ordnete seine im Studium zahlreicher Lektüre gewonnener Erkenntnisse, seine Gedanken und von ihm aufgestellte Thesen in seinem aus ca. 90.000 einzelnen Papierstücken bestehenden Zettelkasten – eine Mindmap, die das Format eines einfachen Aktenschranks noch heute weit überschreitet. Dem Zettelkasten selbst wohnt ein gewisser Zauber inne, denn seine Ordnung gleicht trotz chronologischer anstatt alphabetischer oder thematischer Sortierung und die analoge Vernetzung durch Schlagworte einer digitalen Suchmaschine. Lediglich die Befassung mit dem Militär kommt im Vergleich zu anderen Teilgebieten der Gesellschaft relativ unbehandelt davon. Diese Lücke soll jedoch nicht weiter ungefüllt bleiben. Dahingehend handelt es sich bei der vorliegenden Arbeit um eine forschende Abhandlung auf Basis und vor dem Hintergrund der systemtheoretischen Theorie Luhmanns, in der das Militär, und daran anschließend auch das soziale Phänomen Krieg, diskutiert und analysiert werden sollen. Da sich Luhmann selbst nicht erschöpfend zu dieser Thematik geäußert hat, ist es nötig, andere Autoren seiner Ideenschule hinzuzuziehen, die unter Benutzung des Luhmann'schen Systembausatzes jene gesellschaftliche Lücken füllen, für die Luhmann selbst keine Zeit oder kein Interesse mehr hatte. Dabei ist auch zu klären, was Militär überhaupt für ein soziales System sein könnte. Denn während Luhmann selbst lediglich eine geringe Zahl von wirklichen Funktionssystemen aufzählte, hält sich die Kreativität und Deutungsfähigkeit der Anhänger und Schüler seiner Ideenschule kaum in Grenzen. So kommen u. a. Walter Reese-Schäfer (* 1951) und Rudolf Stichweh (* 1951) jeweils auf knapp ein Dutzend solcher Systeme.[2] Natürlich ist die Gesellschaftstheorie bzw. die Systemtheorie Luhmanns im Allgemeinen durchaus darauf ausgelegt, weiter gedacht zu werden, da es einem Menschen zwar grundsätzlich möglich ist, ein Grundgerüst zu erstellen – was Luhmann in den besagten 30 Jahren getan hat – jedoch nicht, alle Bestandteile der Welt einzuordnen und zu erklären. Es ist nichts anderes als die Einordnung des noch nicht Eingeordneten. Erfüllt das Militär in der Gesellschaft die Rolle eines Funktionssystems? Ist Militär zwangsläufig an Staaten gebunden und wenn nein, welche anderen Ausdifferenzierungsformen des politischen Systems sind noch möglich? Stünde Militär als eigenständiges Funktionssystem auf der gleichen Stufe wie Wirtschaft und Recht, wie ist es dann um die strukturelle Kopplung bestellt? Wie kann Krieg unter der Einbeziehung eines nach Luhmann dargestellten Militärsystems zu verstehen sein?
Es drängen sich damit folgende Thesen auf, die im weiteren Ablauf dieser Arbeit untersucht werden sollen: Erstens nehme ich an, dass das Militär die Merkmale eines sozialen Systems erfüllt und dahingehend systemtheoretisch sowohl erklärbar, als auch analysierbar ist. Daran schließe ich zweitens an, dass Krieg an sich bereits von Luhmann anhand seiner Konflikttheorie behandelt wurde, jedoch lediglich die Begrifflichkeit des Krieges darin fehlt. Nachdem im Anschluss der Einführung die Methodik dieser Arbeit dargelegt werden soll, findet sich im eigentlichen ersten Kapitel dieser Arbeit eine grundlegende Einführung in die Systemtheorie von Luhmann. Daran angeschlossen folgt im zweiten Kapitel eine Untersuchung und Einordnung des Militärs anhand der aufgezeigten Merkmale der Systemtheorie. Da Militär zwangsläufig mit Kriegen verbunden scheint, behandelt das letzte Kapitel des Hauptteils die systemtheoretische Einordnung von Kriegen, bevor in der Schlussbetrachtung letztlich ein Resümee hinsichtlich der aufgestellten Thesen gezogen werden soll.
2. Methodik
Die vorliegende Arbeit betreibt eine Analyse des Militärs und des Kriegs vor dem Hintergrund der Systemtheorie von Niklas Luhmann. Anhand dieser Theorie werden beide genannten sozialen Phänomene analytisch behandelt. Dabei handelt es sich letztlich nur um die methodische Anwendung, die Luhmann selbst immer wieder in seinen Betrachtungen der jeweiligen Teilsysteme durchgeführt hat – eine „theoretische Deduktion eines Funktionskatalog.“[3] Da Militär und daran angeschlossen der Krieg als Topoi bislang zwar von Anhängern der Ideenschule Luhmann aufgenommen wurden, sich Luhmann selbst sich jedoch nicht bis ins letzte Detail zu diesen Phänomenen äußerte, ist diese Arbeit in ihrer Grundform durchaus heuristisch und beruht damit verbunden zwangsweise auf Schlussfolgerungen und Vermutungen.
Neben Luhmanns Werken sind zur Beantwortung der gestellten Fragen und der aufgestellten Thesen zahlreiche Autoren heranzuziehen, die einen verständlichen Einblick in das von Luhmann aufgestellte Konstrukt ermöglichen. Der Einführung in die allgemeine Thematik sind vor allem Dietmar Gensicke (* 1960)[4] und Margot Berghaus (* 1943)[5] dienlich, für die Betrachtung des Militärs sind zudem Uwe Schimank (* 1955), Thorsten Bonacker (* 1970), André Brodocz (* 1969), Rudolf Stichweh und Tobias Kohl relevant. Wegen der Empirielastigkeit bei der systemtheoretischen Begutachtung des Krieges, sind nicht nur Fritz B. Simon (* 1948) und Dirk Baecker (* 1955) hervorzuheben, sondern auch die Darlegungen von Matthias Zimmer (* 1961) und Irene Etzersdorfer (* 1958) von Bedeutung.
3. Teil I – Grundlagen der Luhmann'schen Systemtheorie
3.1 Einblick in die allgemeine Systemtheorie Luhmanns
Für Luhmann ist „System“ ein Begriff, der seiner Auffassung von der Welt als soziales Konstrukt dient. Wie bereits erwähnt, soll die, um diese Begrifflichkeit gebildete universelle Theorie, die gesamte Wirklichkeit abdecken, wobei unter „universell“ keine, eigentlich unmögliche, Wiederspiegelung der kompletten Realität zu verstehen ist und auch keinen exklusiven Wahrheitsanspruch gegenüber anderen Theorien aufzeigt.[6] Die Beobachtung dieser Realität, also letztlich der Konstrukte, fördern schließlich Erkenntnisse zutage. Dabei können verschiedene Beobachter auch Unterschiedliches beobachten und dadurch andere Unterscheidungen treffen, was die dazu führt, dass nicht Realität, sondern konstruierte Realität abgebildet wird.[7] Luhmann löst sich dabei von dem als Ansatzpunkt dienenden strukturell-funktionalistischen Modell von Talcott Parsons (1902–1979) und entwickelt es mithilfe der Integration interdisziplinärer Annahmen aus Biologie, Psychologie und Philosophie weiter. Es ist schlichtweg eine Weiterentwicklung der Parson'schen Medientheorie. Aber auch die Biologie, anteilig die Evolutionstheorie von Charles Darwin (1809–1882), und Ansätze der Kybernetik, haben Luhmann begriffstechnisch geprägt.[8]
Allen Systemen bei Luhmann – er unterteilt diese in organische, psychische und soziale Systeme – ist gemein, dass sie aus verschiedensten Elementen bestehen. Diese Elemente sind systembedingend, vor allem aber systemeigen, und werden Operationen genannt. Durch die Annahme einer systemeigenen Operation findet eine Abgrenzung von System (Innenseite der Form)[9] und Umwelt (Außenseite der Form) statt. In Anwendung auf die genannten Systeme können für organische Systeme das Leben, für psychische System das Bewusstsein und für soziale Systeme die Kommunikation als Operation ausmacht werden[10]. Zudem sind Systeme bei Luhmann selbstreferentiell, da sie nicht nur die Fähigkeit besitzen, Beziehungen zu sich selbst herzustellen, sondern diese Beziehungen zu ihrer Umwelt auch durch Operationen zu differenzieren, an welche eine Anschlussoperation (die eine Strukturbildung möglich macht) beständig angebunden wird.[11] Die Systeme reproduzieren und erhalten sich durch die Anschlussoperationen selbst. Sie schaffen Komplexität, in dem sie sich ausdifferenzieren und führen selbstständig eine Selektion durch. Die aus der Forschung der beiden chilenischen Neurobiologen Humberto Romesín Maturana (* 1928) und Francisco Javier Varela García (1948–2001) zu Beginn der 1970er entstandene Begrifflichkeit der „Autopoiesis“ (Selbsterschaffung, Selbsterhaltung) übernahm Luhmann als Systemeigenschaft und integrierte sie seit Mitte der 1980er Jahre in sein systemtheoretisches Werk.[12] Wichtig hierbei: Komplexität bedeutet ein Vorhandensein mehrerer Anschlussmöglichkeiten einer Operation. Da die Umwelt des Systems jedoch jeweils eine größere Komplexität aufweist als das System selbst, ist die System/Umwelt-Abgrenzung nur schwer aufrechtzuerhalten. Mit Hilfe von Selektionsstrategien werden diejenigen Anschlussoperationen bevorzugt, welche die Abgrenzung zur Umwelt auch weiterhin garantieren.[13]
Die festgestellte operative Geschlossenheit bedeutet jedoch nicht, dass die Systeme sich vor Einflüssen aus ihrer Umwelt komplett verschließen.[14] Vielmehr sind sie umweltoffen und üben mit Hilfe struktureller Kopplung an den Grenzstellen der Systeme einen gegenseitigen Einfluss aufeinander aus. Diesen Einfluss in Form von Informationen nennt Luhmann (Selbst-)„Irritationen“[15] oder „Störungen.“[16] Sie sorgen für eine Evolution des Systems, das sich ständig an die neuen Gegebenheiten anpassen muss. Wenn jedoch nicht allein eine Information auf das System trifft, sondern gleich ganze Komplexitäten seitens eines Systems von einem anderen System (dessen Umwelt) übernommen werden, bezeichnet Luhmann dies als „Interpenetration.“[17] So kann beispielsweise zwischen einem sozialen und einem psychischen System ein Interpenetrationssystem entstehen, das anhand von Sinn operiert und beide Systeme gegenseitig ko-evolutionär beeinflusst. Das bedeutet, sobald die Komplexität in einem System ansteigt, ist es auch in dem anderen System notwendig, die Komplexität zu steigern bzw. sich dahingehend anzupassen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist bei Luhmann die Beobachtung. Sie stellt nichts anderes als eine Operation und damit die Herstellung einer Unterscheidung dar, die Erkenntnisse produziert – dies bezeichnet Luhmann als „Beobachtung erster Ordnung.“ Da der Beobachter, also ein System, jedoch nicht selbst weiß, welche Unterscheidung er vorgenommen hat, kommt es zum Paradoxon des Blinden Flecks. Anders formuliert: der Beobachter ist nicht in der Lage, sich selbst bei der Beobachtung zu beobachten. Die „Beobachtung zweiter Ordnung“ ist darauf aufbauend die Beobachtung der Beobachtung bzw. die Beobachtung, wie ein System ein anderes System beobachtet. Auch diese beinhaltet einen blinden Fleck. Auf der dritten Ordnungsebene werden dann Beobachtungen von Beobachtungen beobachtet. Die letzte Beobachtungordnung dient der Selbstreflexion, denn durch diese kann der Beobachter sehen, dass er nicht sieht, was er nicht sehen kann. Die Selbstbeobachtung, also das Herstellen von Unterscheidungen, dient damit in einem hohen Maß der Identitätsbildung der Systeme.[18] Es ist hervorzuheben, dass Beobachtungen immer mit einer Grenzziehung verbunden sind – der Beobachter beobachtet eine Umwelt, zu der er sich erst durch die Beobachtung abgrenzt. Da zum Beispiel das Rechtssystem die Welt nur nach seinem Code (siehe Kapitel 3.4.4) recht/unrecht beobachtet, sammelt es andere Erkenntnisse als das Wissenschaftssystem oder gar ein psychische System, die nach anderen Kriterien ihrer Umwelt beobachten.[19]
3.2 Soziale Systeme
All das, was Systeme im Allgemeinen umschreibt, gilt für soziale Systeme im speziellen. Sie sind selbstreferentielle, operativ geschlossene, aber zugleich umweltoffene autopoietische Systeme. Sie sind ebenso wie psychische Systeme sinnorientiert[20] und operieren über Kommunikation. Im Hinblick auf den Menschen bzw. Individuen vertritt Luhmann, sich Emile Durkheim (1858–1917) anschließend: „Nicht die Individuen begründen die Gesellschaft in dem sie sich zum Zusammenleben entschließen und einen entsprechenden Vertrag schließen, sondern die Gesellschaft begründet die Individuen, indem sie es ihnen ermöglicht, sich als Individuen zu behandeln, Verträge zu schließen, sich wechselseitig zu binden, verantwortlich zu machen, zu sanktionieren.“[21] Der Menschen ist dahingehend keine Objekt, sondern ein Adjekt der Gesellschaft, mit durchaus vielseitigen Rollen in verschiedenen Funktionssystemen (Kapitel 3.4.4), und dahingehend ein Teil seiner Umwelt.
3.3 Kommunikation
Die Grundlage der Autopoiesis jeglicher sozialen Systeme gliedert sich in drei Selektionsstufen: Information, Mitteilung und Verstehen.[22] Die Kommunikation findet hierbei zwischen Alter und Ego statt – diese beiden Begriffe sind keineswegs einfach mit Sender und Empfänger gleichzusetzen, denn während in dem üblichen Sender-Empfänger-Modell eine Information übertragen wird,[23] baut das Kommunikationsmodell auf einen mehrteiligen Selektionsprozess auf, bei dem keine Information wie ein Staffelstab weitergegeben wird, sondern vielmehr eine Anregung stattfindet.[24] Zuerst wird die Information, die nicht weniger als „eine Differenz, die den Zustand eines Systems ändert“ ist,[25] durch einen Beobachter erschaffen. Denn die Information ist keinesfalls etwas, das in der Welt grundsätzlich vorhanden ist, sondern wird erst durch die Wahrnehmung, also die Beobachtung (durch Alter), zu einer solchen. Sie ist damit ein systeminternes Produkt.[26] Da Alter jedoch mehr beobachtet, und über mehr Informationen verfügt, als er überhaupt mitteilen kann, kommt es zur ersten und zweiten Selektion.[27] Die von Bernhard Miebach als „intendierte Handlung“[28] umschriebene die Mitteilung ist jedoch nicht das Ende der Kommunikation. Vielmehr kommt es auf die dritte Stufe der Selektion an: dem Verstehen. Hierbei kann Ego die von Alter ausgegangene Mitteilung entweder annehmen, und diese somit verstehen, oder eben auch nicht. Ein erfolgreiches Verstehen kommt nur zustande, wenn Ego die Mitteilung samt der enthaltenen Information so versteht, wie Alter sie auch gemeint hat. Da die Mitteilung auch als diese wahrgenommen wurde, ist der Prozess der Kommunikation erfolgreich gewesen.[29] Es ist in erster Linie nicht relevant, was Ego versteht, sondern nur, dass die Mitteilung verstanden wird. Der Existenz des sozialen Systems wegen sollte die erfolgreich durchgeführte Operation jedoch kein Einzelfall bleiben.
Es ist eine Anschlusskommunikation von Nöten, die erfolgen kann, wenn das „Verstehen selbst wiederum […] eine neue Mitteilungshandlung“[30] ist. Für den Fall der Anschlusskommunikation muss also eine vierte Selektionsstufe folgen, die danach fragt was verstanden wurde. Während das erste Verstehen strukturell geprägt ist, geht es bei letzteren um ein Sinnverstehen[31]. Wichtig hierbei: da laut Luhmann „nur die Kommunikation kommunizieren kann,“[32] bildet nicht der Mensch den Mittelpunkt der Systemtheorie. Personen oder soziale Gruppen können die Standpunkte von Alter und Ego einnehmen, also beispielsweise Mitteilungen machen, aber das allein bildet noch keine Kommunikation.[33]
3.3.1 Das Universallmedium Sinn
Sinn ist für Luhmann „das Medium, das mit der Differenz von Aktualität und Potenzialität arbeitet, und zwar mit der Differenz, mit der Unterscheidung in dem Sinne, dass die Einheit der Unterscheidung immer mitspielt, dass man also immer in dem, was man aktuell sieht, Möglichkeitsperspektiven hat und umgekehrt Möglichkeiten nicht thematisieren kann, nicht denken kann, auch gar nicht kommunikativ denken kann, wenn man dies nicht aktuell tut.“[34] Sinn ist damit eine „universelle Ressource“[35] für die Aufrechterhaltung von Kommunikation, das den Übergang von Ego zu Alter und somit einer neuen Operation ermöglicht. Die Medien der sinnhaften Kommunikation sind unter anderen Schrift und Sprache, wobei die einzelnen Silben und Worte wiederum die Form davon sind.[36] Sinn als „Medium ist nicht verneinbar, wohl aber einzelne Formen“[37] schreibt Margot Berghaus und verneint damit die Reduktion des Begriffs auf die Unterscheidung, ob etwas sinnvoll oder sinnlos ist. Sie betont die Einheit aus aktualisierten und potenzierten Sinn.[38] Anders formuliert: das, was für den einen Sinn ergibt, ist für jemand anderen nicht zwangsläufig sinnvoll (oder eben noch nicht sinnvoll). Sinn ist auch dahingehend besonders, da es sowohl sozialen als auch psychischen Systemen als Ressource dient. Wenn beide Systeme miteinander interpenetrieren, dann unter Vorbehalt eines Sinngehalts.[39] Soziale Systeme sind auf Bewusstseinssysteme auch deswegen angewiesen, da die Wahrnehmung letzterer dazu dient den sozialen Systemen die Möglichkeit auf Informationen über ihre physikalische Umwelt zu geben – ohne, dass diese in ihrer gesamten Komplexität auf die Kommunikation einwirkt.[40] Psychische Systeme filtern und setzen Anreize, welche durch Kommunikationssysteme wiederum bei den Selektionsprozessen berücksichtigt werden. Denn wie bereits geschildert ist die Kommunikation das Abgrenzungsmerkmal eines sozialen Systems. Kommunikationssysteme bewegen sich existenztechnisch auf einem schmalen Grat, denn nach jeder abgeschlossenen und dann zerfallenden Operation muss eine neue Operation folgen, was ihre Dynamik und dahingehend auch eine dynamische Stabilität begründet. Anhand der genannten Einflüsse, die zugleich zufällig und konflikthaltig sein können (Variation) – beispielsweise ein „Nein“ in einer Konversation – selektiert das System in eine andere Richtung und strukturiert sich dahingehend um, dass die Möglichkeit einer weiterer Kommunikation dennoch aufrechterhalten werden kann. Dies umschreibt Luhmann dann als evolutionären Prozess.[41] Hier schließen sich auch die Begrifflichkeiten der „Kontingenz“ und „doppelten Kontingenz“ an: Kontingenz allein beschreibt die Möglichkeit der Varianz, innerhalb von Systemen gebunden an die Möglichkeiten, entweder immer gleich zu operieren oder sich neu zu strukturieren. Doppelte Kontingenz ist ein Überbegriff für eine Vielzahl möglicher Ereignisse bzw. Handlungsketten, die im Falle einer Kommunikation durch die Möglichkeiten des Verstehens Egos (Kontingenz) und zusätzlich der von Alter (doppelte Kontingenz) eintreffen könnten.[42] Wenn Alter Ego eine mit einer Information gefüllte Mitteilung gibt, dann ist ihm bewusst, dass Ego mehrere Möglichkeiten des Verstehens besitzt. Ego wiederum weiß um Alters Wissen[43]. Zumal sich Sinn über eine sachliche, soziale und zeitliche Dimension differenzieren lässt. Also die Erörterung von einem bestimmten Thema, unter der benötigten Zeit und der Betrachtung, ob die anderen ebenso selektieren.[44]
[...]
[1] Vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt (Main) 1997, S. 11 (künftig zitiert: Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft).
[2] Vgl. Roth, Steffen: Die Zehn Systeme. Ein Beitrag zur Kanonisierung der Funktionssysteme (2014), S. 4f. (https://steffenroth.files.wordpress.com/2014/02/14-02-24-die-zehn-systeme-ein-beitrag-zur-kanonisierung-der-funktionssysteme1.pdf, letzter Aufruf: 13.09.2015, 08.30 Uhr; künftig zitiert: Roth: Die Zehn Systeme).
[3] Vgl. Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 747.
[4] Vgl. Gensicke, Dietmar: Luhmann, Stuttgart 2008 (künftig zitiert: Gensi>
[5] Vgl. Berghaus, Margot: Luhmann leicht gemacht. Eine Einführung in die Systemtheorie, Köln/Weimar/ Wien 2003 (künftig zitiert: Berghaus: Luhmann leicht gemacht).
[6] Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht, S. 25 f.
[7] Vgl. ebd., S. 27f.
[8] Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer gemeinen Theorie, Frankfurt (Main) 1987, S. 7 (künftig zitiert: Luhmann: Soziale Systeme).
[9] Ebenso wie „Außenseite der Form“ eine Anlehnung an die Terminologie von George Spencer Brown als Begriff einer umschließenden Unterscheidung, der sich Luhmann in seinen Werken bedient: Vgl. Laws of Form, New York 1979.
[10] Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht, S. 92.
[11] Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 31.
[12] Dazu das maßgebliche Werk: De Máquinas y Seres Vivos: Una teoría sobre la organización biológica, Santiago de Chile 1972 (englischsprachige Ausg. unter d. Titel: Autopoiesis and Cognition. The Realization of the Living (= Boston Studies in the Philosophy of Science, Bd. 42), hrsg. v. Robert S. Cohen u. Marx W. Wartofsky, Dordecht 1980 (1. Aufl. 1973)].
[13] Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 47f.
[14] Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht, S. 50
[15] Selbstirritation meint einen Entwicklungsanstoß aus dem System selbst heraus ohne Umwelteinfluss. Zudem darf Irritation nicht mit Interpenetration gleichgesetzt werden da hier teilweise ganze Komplexitäten von anderen Systemen übernommen werden. Vgl. Miebach, Bernhard: Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung, Wiesbaden 2014, S. 275 (künftig zitiert: Miebach: Soziologische Handlungstheorie).
[16] Vgl. Miebach: Soziologische Handlungstheorie, S. 275.
[17] Vgl. ebd., S. 270f.
[18] Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht, S. 45f.
[19] Vgl. Bonacker, Thorsten: Die Konflikttheorie der autopoietischen Systemtheorie, in: Sozialwissen-schaftliche Konflikttheorien. Eine Einführung (= Friedens- und Konfliktforschung, Bd. 5), Opladen 2008, S. 267–291 (künftig zitiert: Bonacker: Die Konflikttheorie der autopoietischen Systemtheorie).
[20] Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht, S. 47.
[21] Vgl. Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung, Bd. 6. Die Soziologie und der Mensch, 3. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 129f. (künftig zitiert: Luhmann: Soziologische Aufklärung 6).
[22] Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 190.
[23] Vgl. Gensi>
[24] Vgl. Luhmann: Soziale Systeme, S. 193f.
[25] Vgl. Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 190.
[26] Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht, S. 71.
[27] Vgl. ebd., S. 72.
[28] Vgl. Miebach: Soziologische Handlungstheorie, S. 273.
[29] Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht, S. 73f.
[30] Vgl. Gensi>
[31] Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht, S. 89f.
[32] Vgl. Luhmann: Soziologische Aufklärung 6, S. 113.
[33] Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht, S. 59f.
[34] Vgl. ebd., S. 233.
[35] Vgl. Gensi>
[36] Vgl. Hohm, Hans-Jürgen: Soziale Systeme, Kommunikation, Mensch. Eine Einführung in soziologische Systemtheorie, 2., überarb. Aufl., Weinheim/München 2006, S. 68 (künftig zitiert: Hohm: Soziale Systeme).
[37] Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht, S. 109.
[38] Vgl. ebd., S. 109f.
[39] Vgl. Berghaus: Luhmann leicht gemacht, S. 64f.
[40] Vgl. ebd., S. 65.
[41] Vgl. Miebach: Soziologische Handlungstheorie, S. 323.
[42] Vgl. ebd., S. 251.
[43] Vgl. Gensi>
[44] Vgl. Hofmann, Wilhelm: Der Staat im kommunikativen Handgemenge. Zum Verhältnis von Staat, Politik und Kommunikation bei Niklas Luhmann, in: Die Staaten der Weltgesellschaft. Niklas Luhmanns Staatsverständnis (= Staatsverständnisse ,Bd. 13), hrsg. v. Marcelo Neves u. Rüdiger Voigt, Baden-Baden 2007, S. 24.
- Quote paper
- Fabian Senger (Author), 2015, Das Militär als soziales System? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/342121
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