2012 wurde Marcel Reich-Ranickis Rede „Es gilt das gesprochene Wort“ zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus vom 27. Januar 2012 zur „Rede des Jahres 2012“ gekürt mit den Juryworten: „[...] [Ranicki] entfaltet [...] auf eindringliche und äußerst ungewöhnliche Weise die Macht des gesprochenen Wortes. [...] [Ihm] gelingt eine kunstvolle und ergreifende [...] Erzählung. [...].“ Ebenso war die Presse jenen Jahres voll des Lobes, wie an den Headlines der Berichte der Frankfurter Allgemeinen und der SZ über die gehaltene Rede ersichtlich wird: „Mit seinen persönlichen Erinnerungen zog er den Bundestag in seinen Bann“ und „Reich-Ranicki lässt das Parlament verstummen“.
All diese Würdigungen überraschen überaus, fällt doch auf dem Filmdokument der Rede auf, dass Ranicki einen ungemein schlechten und auseinanderfallenden Vortrag im Bundestag hält und das Auditorium von großen Müdigkeitserscheinungen gekennzeichnet ist. Nur zu erahnen ist, dass die textliche Ausgestaltung der Rede von gewissem rhetorischen Können zeugt.
Im Gegensatz dazu fielen die Reaktionen auf die Rede zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome von Philipp Jenninger vom 11. November 1988 in der breiten Öffentlichkeit und vor allem auch auf politischer Bühne vernichtend aus, artikuliert bspw. durch Schlagzeilen wie „Eine Peinlichkeit sondergleichen - unakzeptabel“ in der „Basler Zeitung“ und „Das Resultat: eine Katastrophe“ in der französischen Tageszeitung „Le Monde“.
Im Verhältnis zur Ehrerbietung gegenüber Ranicki erscheint dies verwunderlich: Auch die Rede zum Jahrestag der Novemberpogrome wurde von Jenninger misslungen vorgetragen. Auf der Textebene können jedoch, vergleichbar mit Ranickis Rede, keine gravierenden Mängel ausgemacht werden, ja muss auf den ersten Blick festgestellt werden, dass die Rede gut durchdacht und angemessen scheint.
Diese Arbeit möchte aufgrund der ambivalenten Beurteilung der Reden der Fragestellung nachgehen, a) ob sowohl Ranickis als auch Jenningers Redetext wirklich als achtbar eingeschätzt werden können, b) ob die jeweiligen Vortragsstile wahrlich missglückt sind, c) ob Redetext und Vortragsstil, als alleinige Faktoren im Redesetting, tatsächlich das Urteil der Mitwelt im unmittelbaren Zeitgeschehen bedingten oder d) ob andere Ursachen (wie bspw. das Ansehen des Redners) oder Motive der Adressaten (wie z.B. aufgrund persönlicher Aufstiegsbestrebungen etc.) hinzuziehen sind bzw. gar eine viel bedeutsamere Rolle bei der Kritik einnahmen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Eine erste Annäherung an die Redebeiträge
- Inhaltliche Skizzierung der Reden.
- Vorstellung der Redner Reich-Ranicki und Jenninger..
- Textebene der Reden..
- Umgang mit der jeweilig dargebotenen Vergangenheit....
- Rhetorische Ausführung der Reden durch Reich-Ranicki und Jenninger.….....
- Ort der Reden und historisch-gesellschaftspolitische Lage während der Reden
- Publikum in den Redesettings...
- Kommunikationsgeflecht der Redesettings..
- Funktion und Wirkungsgeschichten der Reden
- Bewertung der Redesettings: Gute Reden - schlechte rhetorische Ausführungen?
- Resümee und Ausblick: Gibt es eine „ideale“ Gedenkrede zum Nationalsozialismus?
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit analysiert die Reden von Marcel Reich-Ranicki und Philipp Jenninger, die beide im Kontext des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus gehalten wurden, und untersucht, inwieweit sowohl der Redetext als auch der Vortragsstil das Urteil der Öffentlichkeit beeinflussten. Die Arbeit fragt nach der Rolle von rhetorischen Ausführungen, der Relevanz von historischen Fakten, und dem Einfluss des Ansehens der Redner und der Motivation der Adressaten.
- Analyse der rhetorischen Ausführungen und des Vortragsstils der Reden
- Beurteilung des Inhalts und der argumentativen Struktur der Reden
- Untersuchung der historischen Bedingungen und des Kontextes der Reden
- Analyse der Rezeption und Wirkung der Reden in der Öffentlichkeit
- Bewertung der Rolle von Ansehen und Motivation im Kontext der Redebeurteilung
Zusammenfassung der Kapitel
Die Arbeit beginnt mit einer Einleitung, die die Fragestellung der Arbeit und die Forschungsmethodik erläutert. Im Anschluss wird eine erste Annäherung an die Reden von Reich-Ranicki und Jenninger vorgenommen, die eine allgemeine Quellenkritik und einen inhaltlichen Überblick über die beiden Reden beinhaltet. Die folgenden Kapitel widmen sich der Ideologiekritik, unterteilt in die Vorstellung der beiden Redner, die Analyse der sprachlichen Mittel, den Umgang mit der dargestellten Vergangenheit und die rhetorische Ausführung der Reden. Des Weiteren werden die Reden der Historischen Kritik unterzogen, wobei der Ort der Reden, die Adressatenkreise und das Kommunikationsgeflecht untersucht werden. In einem Zwischenfazit werden Funktion und Wirkungsgeschichten der Reden zusammengefasst. Die Arbeit endet mit einer Beantwortung der Fragestellung und einem Ausblick auf die Frage, ob es eine ideale Rede im Zusammenhang mit Gedenkveranstaltungen bezüglich des NS-Terrors geben kann.
Schlüsselwörter
Gedenkrede, Nationalsozialismus, Rhetorik, Vortragsstil, Redetext, Historische Kritik, Ideologiekritik, Reich-Ranicki, Jenninger, Kommunikation, Wirkung, Rezeption, Kontext, Ansehen, Motivation.
- Quote paper
- Nico Schloß (Author), 2016, Die Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus von Reich-Ranicki und die Rede zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome von Jenninger. Ein Vergleich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/341227