In seinem Werk „Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur“ widmet sich Michail Bachtin den Eigenarten der Groteske, indem er am Beispiel der mittelalterlichen Volkskultur und exzessiven Tradition des Karnevals den groteken Leib anschaulich seziert.
Orchestriert von hallendem Gelächter erschließt sich dem Leser auf rund 152 Seiten die Theorie des Grotesken, die sich als eine Art Weltempfinden an der Schnittstelle von Sein und Nichtsein erhebt.
Mittelalter hin oder her. Übersetzen wir Bachtins „Karneval und Lachkultur“ in unsere Zeit, so wird eins klar: Das einzige, was uns bleibt sind nicht die Masken der Verleumdnung sondern nur das Lachen!
Lachen, bevor der Kopf (vor Sorge) platzt
In seinem Werk „Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur“ widmet sich Michail Bachtin den Eigenarten der Groteske, indem er am Beispiel der mittelalterlichen Volkskultur und exzessiven Tradition des Karnevals den groteken Leib anschaulich seziert.
Orchestriert von hallendem Gelächter erschließt sich dem Leser auf rund 152 Seiten die Theorie des Grotesken, die sich als eine Art Weltempfinden an der Schnittstelle von Sein und Nichtsein erhebt.
Lachen ist gesund!
Darüber weiß man nicht nur Bescheid, wenn man nach Pilates und Lachyoga mit Bauchmuskelkater im Bett liegt, sondern man einfach mal frei und herzhaft aus voller Seele lacht. Und es ist wahr!
Dass es im Mittelalter nichts zu lachen gab, wird mit dem Blick auf die Lebensumstände und -erwartungen der Menschen dieser Zeit leicht deutlich.
Kälte, Krankheiten, Plagen, politische Unruhen, Kriminalität, Hexenverfolgung, Ausbeutung und Unterdrückung steuerten neben einer Vielzahl weiterer Alltagsbelastungen ihren Teil zu der geringen Lebensqualität der Menschen bei. Warum im Karneval trotzdem gefeiert wurde und wieso das Lachen in solch unbeständigen Zeiten voller Angst und Sorge, erschütternder denn je war, macht ein kleiner Exkurs plausibel.
Bemüht man sich zunächst formal um eine Definition von Lachen, stößt man möglicherweise auf folgendes Theorem:
„ Lachen entsteht durch eine Mimik, bei der der Mund in die Breite gezogen wird, die Zähne sichtbar werden und um die Augen Fältchen entstehen. Zugleich entstehen durch eine Abfolge stoßweise hervorgebrachter, unartikulierter Laute, die Kenntlichmachung von Kitzel, Freude, Erheiterung, Entlastung, Nervosität, Angst, Schock, Hohn, Schadenfreude, Aggression, etc. “ ( http://www.duden.de/rechtschreibung/lachen )
Wie nicht ganz falsch, doch irritierend dieser Versuch einer Definition ist, verdeutlicht umso mehr das ambivalente Wesen und breite Bandweite implizierter Faktoren, die beim Lachen zum Tragen kommen. Gespickt mit Widersprüchen und Paradoxien, wird es ungefilterter Ausdruck menschlicher Natur. Nicht ohne Grund sehen Gelotologen im Lachen den Ausdruck naiver Lebensfreude und das Urvertrauen zum Dasein schlechthin.
So muss dem Lachen in erster Linie eine kathartische Funktion zugesprochen werden, die das emotionale Überleben des Menschen sichert.
Die menschlichen Gesichtszüge unkenntlichmachende, kleine Hyperventilation dient als Ventil für angestaute, überschüssige Energie jeglicher Art. Durch den Effekt des überraschenden Perspektivwechsel wird das eigene Wertesystem durch einen Reiz gebrochen, der nicht logisch stimulierbar und damit paradox ist. Dank des damit natürlich unterbrochenem, kontrollierten Denken, fühlt sich der Mensch anschließend wesentlich erleichterter, entspannter, selbstsicherer, produktiver, kreativer, freier, entgifteter und „entstresster“.
Das karnevaleske, groteske Lachen des Mittelalters war schöpferisch, befreiend, selbstkritisch, reflexiv, auch aggressiv, doch keineswegs bösartig oder gewalttätig, sodass wir von diesem Bereich des Lachens absehen werden. In seinem Buch bezeichnet Bachtin die aus dem Karneval hervorgegangene Lachkultur somit zu Recht als sogenannte Schutzform. Das Karvallachen förderte Verbundenheit, Gruppenzugehörigkeit, Belastbarkeit und „Problemlösekräfte“. Als freie Waffe in der Hand des Volkes, bat das Lachen im Karneval oftmals die einzige Möglichkeit Freiheit zu genießen, ohne anschließend eingeäschert zu werden.
Sich tot lachen, um zu neuem Leben, neuem Mut zu erwachen, lautete demanch die Devise, wenn auch unbewusst.
Wie furchtbar fruchtbar dunkle Zeiten sein können, wird am Besispiel der Groteske klar, die aus der Kollision mittelalterlicher Lebsumständen und karnevaleskem Ausnahmeuzustand hervorging. Der Karneval wurde Schauplatz der Befreiung und Überwindung der herrschenden Wahrheit - wenn auch nur illusorisch.
Mit schallendem Gelächter wichen Ernst, Repression, Zwang, Gottesfurcht, öffentliche Zensur und innerer Zensor zeitweise Hemmungslosigkeit, Gotteslästerung und Selbstverlust.
Einander gegenüber standen sich: Feudale Wahrheit und Volkswahrheit, offizielle Kultur und Lachkultur, offizielles Leben und Karnevalsleben, Ernst und Ausgelassenheit, wie auch Repression und Freiheit. Unter dem Traualtar des Widersinns wurden im Karneval so die Gesetze der Welt außer Kraft gesetzt, alle Trennungen aufgehoben und Gegensätze vermählt. Es lebte die umgestülpte Welt: Hosen und Töpfe wurden zu Kopfbedeckungen, Haushaltsgeräte zu Waffen, Kleidung verkehrt herum getragen. An der symbolischen Spitze der neuen Ordnung: Der Narrenkönig. Kurz nach seiner Ernennung wurde dieser auch schon wieder gestürzt.
Dabei vollzieht sich die Groteske an dieser Schnittstelle von scheinbar Unvereinbarem und offenbart sich im Moment der Befreiung des Bewusstseins.
Weder Vergangenheit, noch Zukunft spielten eine Rolle. Allein das Jetzt dominierte, dem sich niemand entziehen konnte. Der Platz bebte, das Volk parodierte heilige Texte, trank und aß im Übermaß, war ruchlos, anstößig und lüstern. Der freie, familiäre Umgang miteinander als neuer Modus der Beziehung, förderte das Außerkraftsetzen der episch tragischen Distanz untereinander. Antigesitig, antihierarchisch, antiindividuell, antimateriell manifestierte sich der Karneval in einer Art zeitweiligen Utopie. Eine willkommene Form der Abwechslung, tolerierter Ausnahmezustand, der die Menschen auf die bevorstehende Fastenzeit vorbereiten sollte.
Somit ist der eigentliche groteske Kern der Volkskultur keine primär ästhetische Haltung, sondern vielmehr ein negierend bajahendes Lebensgefühl, das aus dem Schoß des Karnevals entspringt. Der groteske Leib widmet sich der Frage „Wo hört der Körper auf und wo beginnt die Welt?“ Während heutzutage die Antwort auf diese Frage je nach Bekanntheitsgrad so ausfallen würde: „Meine Haut und zwischen 0-4 Metern Distanzzone. Danke!“, wird beim Anblick karnevalesker Abbildungen deutlich, dass die mittelalterlichen Körpergrenzen im Karneval einem etwas anderen Verständnis unterlagen. Von Interesse waren Körpergrenzen unkenntlichmachende Partien, wie Bauch und Nabel, Geschlechtsorgane,Mund, Nase und Darmausgang. Sie zeugen von unergründlichen Tiefen und sich stetig verändernden Höhen. Anders als in der Neuzeit, in der expressive Körperteile, wie Augen, Gesicht, Lippen und Muskeln im Mittelpunkt der Betrachtung und Einschätzung von Individuen stehen, haben in der Groteske diese Körpergegenden eine eher nebensächliche Rolle.
Im Karneval überwand der Körper seine leibeigene Begrenztheit und erhob sich in seiner Loslösung von Kontur und Scham zu neuem schöpferischen Potenzial. Vollzogen wird und wurde der Vorgang der Entgrenzung durch den kontinuierlichen äußeren und inneren Austausch an Körperstellen, die den Akt des Körperdramas vollziehen. Essen, Trinken, Ausscheidungen, Sex, Schwangerschaft, Geburt, Körperwuchs, Krankheiten, Altern, Zerfetzung, Zerteilung, Tod, Zerfall gehören zu den Tragödien des Alltags und des Lebens. Zu keinem Zeitpunkt ist der Leib ein abgeschlossener Organismus, sondern ein permanent werdender. Der Leib schlingt sozusagen die Welt in sich hinein und wird von ihr verschlungen. In diesem Sinne kann und ist der groteske Leib kein individueller, sondern kollektiver. Während unser Körperverständnis auf der Idee eines individuellen, abgeschlossenen Leibs in einer fertigen Welt basiert - schutzatmosphärisch verpackt - ist der groteske Leib nie allein und immer in Aktion. Unausweichlich miteinander verknüpft sind Lebensanfang und Lebensende, sprich Geburt und Tod, Selbstverlust und Selbstfindung.
Aus der Perspektive der klassischen Ästhetik des geschlossenen und formvollendeten Körpers sind diese Prozesse abstoßend, hässlich und obszön. Gerichtet gegen alles Ganze und Hohe, das Erstrebenswerte und unerreichbare, war der Charakter des Karnevallachen nicht nur universell, positiv und optimistisch, sondern vor allem kämpferisch.
Wenn alles Bedrohliche ins Komische gekehrt wird und man diesen Moment gemeinsam zelebriert, hat man nichts mehr zu verlieren und nichts mehr zu fürchten, alles wird relativiert. Wirklich frei ist die Groteske demnach nur in einer Welt ohne Furcht.
So war die Zeit der euphorischen Eskalation maßgeblich nicht an der allgemeinen Verdummung, sondern für das Aufblühen der Renaissance verantwortlich.
Betrachten wir noch ein letztes Mal mittelalterliche Lebensumstände, verstehen wir umso mehr die Intensität des grotesken Leibes und das damit verbundene Weltempfinden. Denn das Mittelalter muss im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel gestunken haben. Unterwäsche? Binden? Fehlanzeige. Die monatliche Blutung rann entsprechend einfach die Beine hinunter. Dass nach dem Toilettengang der Inhalt des Nachttopfes aus dem Fenster auf die Straße geschleudert wurde und Hygiene als schädlich galt, interessierte niemanden.
Wer nun über solche Worte oder Zeiten verächtlich den Kopf schüttelt und „Pfui Teufel“ denkt, der sollte nicht vergessen, dass Tampons, Klospülung und Kokosöl zwar von der eigentlichen Sache ablenken, sie jedoch nicht vertreiben. Der Mensch bleibt Mensch, gefangen im Kreislauf, ohne Antwort auf die Frage nach dem Leben.
Mittelalter hin oder her. Übersetzen wir Bachtins „Karneval und Lachkultur“ in unsere Zeit, so wird eins klar: Das einzige, was uns bleibt sind nicht die Masken der Verleumdnung sondern nur das Lachen!
Michail M. Bachtin. Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Fischer Wissenschaft. 1990. Print.
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- Anonymous,, 2016, "Karneval und Lachkultur". Michail Bachtins Grotesker Leib, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/338095
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