Auf der Kinoleinwand begegnen wir Blinden häufiger als im Alltag. Erstmals in dieser Breite widmet sich Jens Hinrichsen dem Phänomen blinder Menschen im Spielfilm: Figuren in einem Spiel, aus dem sie weitgehend ausgeschlossen sind – schließlich wird Kino für Sehende produziert. Was lässt blinde Kinofiguren so attraktiv für Drehbuchautoren und Regisseure erscheinen? Geht es um Blindheit als Metapher oder soll der Zuschauer etwas über den Alltag dieser Menschen erfahren?
Anhand verschiedener Filmbeispiele fragt der Autor, warum das Kino so häufig ganz andere Blindengeschichten erzählt, als das Leben sie schreibt. Warum finden sich fast nie Schurken unter den blinden Kinofiguren? Warum müssen Blinde im Film häufig für Passionsgeschichten herhalten? Mainstream-Produktionen erreichen ein großes Publikum und haben starken Einfluss auf die Bilder, die sich eine Gesellschaft von Behinderten macht. Ein Actionstreifen wie "Daredevil" illustriert idealtypisch das positive Klischee des "Supercrip", des omnipotenten Krüppels.
An einer Hand abzuzählen sind Filme, die sich um einen tieferen Einblick in den Blindenalltag bemühen. Die Perspektive eines Blinden einzunehmen, erweist sich geradezu als Quadratur des Kreises. Dennoch setzen Filmemacher Sehbehinderung und Blindheit immer wieder mit optischen oder akustischen Mitteln ins Bild.
Behandelt werden nicht nur blinde Kinofiguren im Mainstream, auch "besondere Filme", die wirklich etwas über das Leben der blinden oder sehbehinderten Charaktere erzählen, sind Teil der Untersuchung. Dazu gehört Arthur Penns herausragender Helen-Keller-Film „Licht im Dunkel“ ebenso wie „Dancer in the Dark“ von Lars von Trier, in dem die Sängerin Björk eine erblindende Frau spielt. Sind diese Filme mehr als nur "Feelgood-Movies"? Der Autor gibt differenzierte Antworten.
Zu bedenken bleibt: Blinde und Sehbehinderte sind im Alltag Beschränkungen unterworfen, die sich Nichtbehinderte kaum vorstellen können. Diese Menschen sind auf finanzielle, praktische und emotionale Unterstützung in besonderem Maß angewiesen. Die Sensibilisierung des sehenden Publikums mag ein Schritt auf dem Weg zu mehr Verantwortungsgefühl gegenüber Sehbehinderten sein. Doch: wenn ein Zuschauer über das Schicksal eines Blinden zu Tränen gerührt ist, stellt das noch keinen Beitrag zur Emanzipation von Behinderten dar. Ob Spielfilme auf solche Ziele hinwirken können? Das Buch versucht darauf eine Antwort zu geben.
Inhaltsverzeichnis
1 Von Bildern und Bildstörungen – Einleitung
2 Dorn im Auge – Blendung als filmischer Schock
3 Statisten mit Stock – Blinde in Nebenrollen
4 Im Rampenlicht – Blinde in Hauptrollen, ein historischer Überblick
4.1 Die Supercrips
Blinde in neueren Actionfilmen
4.2 Ich sehe was, was Du nicht siehst
Blinde in Thrillern der Sechzigerjahre bis heute
4.3 Opfergang mit Augenbinde
"Dancer in the Dark" von Lars von Trier
4.4 Schwarze Pädagogik
Die Taubblinde Helen Keller und ihr Leben im Biopic
4.5 Der Sonne fern
Exkurs über Werner Herzogs Taubblinden-Film
4.6 Der korrigierte Blick
Der Kinderfilm "Die Blindgänger
5 Ausblick ohne rosa Brille – Schlussbetrachtungen
Literatur- und Quellennachweis
Diese filmwissenschaftliche Untersuchung über Blinde als Figuren in Spielfilmen entstand im Rahmen einer Masterthesis, die im Oktober 2004 an der Berliner Universität der Künste – im Weiterbildungsstudiengang Kulturjournalismus – vorgelegt wurde.
Den Mentoren Thea Herold und Manfred Eichel sei für ihre fachkundige Betreuung noch einmal herzlich gedankt.
1 Einleitung Von Bildern und Bildstörungen
Blinde kommen in Spielfilmen relativ häufig vor. Verglichen mit anderen Behinderungen ist Blindheit das zweithäufigste Handicap, von dem Kino- oder Fernsehgeschichten erzählen. Silke Bartmann[1] macht als statistisch häufigste Gruppe der Behinderten in Spielfilmen die "Körperbehinderten" aus: all die Buckligen, Einbeinigen oder Hinkenden, die in Filmen meist als Bösewichter herhalten müssen. An zweiter Stelle, noch vor den geistig Behinderten, rangieren die Blinden. Sehbehinderte führt Bartmann als gesonderte Gruppe auf, die erst an achter Stelle vorkommt. In Wirklichkeit verhält es sich umgekehrt: Sehbehinderung kommt weit häufiger als völlige Blindheit vor.[2] Schon nach statistischen Maßstäben verzerren Filme also die gesellschaftliche Realität.
Das findet auch Volker Lenk. Im Kino sieht der 40-jährige Pressesprecher des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin vor allem "junge Powerblinde". In der Realität lernt er dagegen eher Menschen jenseits der Siebzig kennen, die aus Altersgründen erblindet sind. Aber natürlich weiß Lenk, dass das Kino anders tickt als die Wirklichkeit: "Für die 85-jährige blinde Oma interessiert sich kein Kinozuschauer", sagt er. Stattdessen seien es die patenten Frauen und die Supermänner, wie in "Erbsen auf halb 6" oder "Daredevil", die Otto Normalzuschauer ins Filmtheater zu locken vermögen.
Im Scherz schlägt Lenk vor, zehn Jahre lang nur neunzigjährige Blinde als Kinofiguren auftreten zu lassen, "bis die Statistik wieder mit der Wirklichkeit übereinstimmt."[3]
Tatsächlich: der gemeine Film-Blinde ist einer von uns: jung, gesund, gutaussehend. Mit der Untersuchung einiger Filmbeispiele will ich fragen, warum das Kino andere Blindengeschichten erzählt, als das Leben sie schreibt. Warum etwa sind blinde Kinofiguren fast immer die Guten? Warum müssen Blinde im Film immer so leiden? Warum sehen sie dabei stets vorteilhaft aus? In ihrem Buch "Bildstörungen" beantworten Stefan Heiner und Enzo Gruber derlei Fragen so:
"Warum ein Mensch im Spielfilm behindert ist oder krank wird, hat immer mindestens zwei Gründe. Und einer davon hat nichts mit der Medizin oder der Macht des Schicksals zu tun, sondern mit den Plänen des Erzählers und mit dem Fortgang seiner (Film–)Geschichte. Was im Alltag behindert oder schmerzt, erweist sich für diese als produktiv, förderlich, ja oftmals unverzichtbar."[4]
Hier wird generell von Behinderten, nicht nur von Blinden gesprochen. Sämtliche verfügbare Sekundärliteratur untersucht nicht blinde Kinofiguren in Speziellen, sondern "Behinderte im Spielfilm" oder "Behinderte in den Medien" allgemein. "Blinde auf der Leinwand", als besonderes Thema ist bisher nirgendwo wirklich ausgelotet worden. Das soll im Folgenden erstmals geschehen.
Bleiben wir zunächst bei der allgemeineren Perspektive, schauen wir auf Behinderte im Kino. Viele Aspekte des allgemeineren Themas lassen sich auf den speziellen Fall von "Blindheit" und "Sehbehinderung" übertragen. Sobald der Filmautor seine Planspiele ausheckt, in denen er behinderte Figuren funktionalisiert, wird jede Form von Behinderung zur Konstruktion. Georg Seeßlen spricht von der Filmkunst als einer "merkwürdige[n] Kunst, [die] Verhältnisse von Objekten und Zeichen, von Körpern und Schatten durcheinander bringt. Nichts ist auf der Leinwand das, was es ist. Alles ist eine Sache und seine Darstellung, Abbildung und Symbol zugleich."[5]
Ohne in diesem Zusammenhang die Begriffe "Behinderung" und "Krankheit" verunklaren zu wollen: In ihrem Essay "Krankheit als Metapher" kritisiert Susan Sontag die Stereotypen, mit der in allen Epochen bestimmte Krankheitsbilder gedeutet wurden und werden, als könne man Krankheit "lesen" wie ein Buch oder ein kulturelles Zeichen.[6] In Filmen wird der Klischeebilder-Vorrat bezüglich Krankheiten oder Behinderungen ausgiebig geplündert.
Vor diesem Hintergrund versteht sich der Buchtitel "Bildstörungen" als Programm. Stefan Heiner und Enzo Gruber zeigen Stereotypen auf, um die kritiklose Übernahme von Klischees zu stören. Auf längere Sicht wollen die Autoren dazu beitragen "das Bild [zu] ändern, an dem die Öffentlichkeit ihr Verhalten gegenüber chronisch kranken und behinderten Menschen orientiert"[7]. Die Untersuchungen im Band konzentrieren sich auf Epilepsie oder Gehörlosigkeit, darin Silke Bartmanns Dissertation ähnlich. Auch in dem Band "Massenmedien und Behinderte"[8] werden Filme über Blinde nur beiläufig erwähnt. Dennoch sind diese Bücher für eine Abgrenzung der Blindheit als Kino-Phänomen wichtig. Denn spätestens mit der Lektüre dieser Untersuchungen fällt ins Auge, was Blindheit im Kino oder Fernsehen gerade nicht repräsentiert. Zum Beispiel gibt es fast keine blinden Erzschurken in Spielfilmen. Noch einmal Georg Seeßlen:
"Eine der furchtbaren Erbschaften, die das Kino von einem seiner Vorläufer, dem Melodram auf der Bühne, übernommen hat, ist die böse Gleichung von Krankheit und Sünde. Entweder ist die Krankheit oder Behinderung eine gerechte "Strafe des Schicksals" für einen moralischen Verstoß, oder aber die Behinderung ist sichtbarer Ausweis der moralischen Verworfenheit. Wie oft müssen wir in der populären Kultur den großen Erzschurken begegnen, die sich durch eine Behinderung ausdrücken."[9]
Bei blinden Kinofiguren verhält sich das anders. Sie eignen sich eher als Opfer von Verbrechen. Wenden sie selbst Gewalt an, so geschieht das meist aus Notwehr. Ein Kapitel wird sich den häufig weiblichen Opferfiguren in Film-Thrillern widmen.
Genres wie Thriller, Actionfilm, Melodram und andere Produkte der Populärkultur eignen sich besonders, um konventionelle Erzählmuster aufzuzeigen[10]. Hier kommen überlieferte Blinden-Vorstellungen aus der nordischen und der antiken Mythologie, sowie aus der Bibel zum Tragen. Doch, um den Bogen von der Fiktion zur Alltagsrealität zu schlagen, selbst eher unterhaltende "Blinden-Filme" enthalten Spuren von Blindenalltag. Sei es, dass die blinden Figuren mit einem Blindenstock unterwegs sind oder Brailleschrift lesen. Solchen realistischen Ingredienzien habe ich in meiner Untersuchung von Filmen nachgespürt.
Nicht um künstlerische Qualitäten der Filme soll es gehen. Eher im Gegenteil. Das zentrale Kapitel dieser Untersuchung enthält eine Reihe von Feuilletons über Kinofilme mit blinden Hauptfiguren. Dabei handelt es sich fast durchweg um sogenannte Mainstream-Produktionen, meist aus den USA. Hollywoodfilme werden nun einmal von vielen Menschen gesehen und haben großen Einfluss auf die Bilder, die wir uns von Behinderten machen. Ein Actionstreifen wie "Daredevil" wurde vom Gros der deutschen Kritiker zwar verrissen, illustriert aber idealtypisch die von Engländern geprägte Idee des "Supercrip"[11], des omnipotenten Krüppels. Ein positives Klischee, das negative Vorurteile gegenüber Behinderten kompensieren soll. Eines lässt sich jedenfalls kaum behaupten: Dass "Unterhaltungsfilme" zuwenig Material böten. Die Annahme, die filmische Unterhaltungsindustrie vermeide das Thema Behinderung, beruht auf einem Irrtum: "Hollywood verbirgt nicht die Schattenseiten, es nährt sich von ihnen"[12]
Doch, keine Angst, die weltweit erfolgreiche Ästhetik des amerikanischen Films sorgt dafür, dass das Publikum selten selbst in den tiefen Schatten gerät. Unter dem Baldachin der Hollywood-Schaukel herrscht schlimmstenfalls linde Kühle. Zwar fordert ein Kulturkritiker wie Georg Seeßlen Filme, die unsere Welt einmal aus dem Blickwinkel der Behinderung darstellen. Doch er muss konstatieren, "dass es keinen erzählenden Film gibt, der konsequent aus der Perspektive eines Behinderten gedreht ist". Möglich, dass Seeßlen hier überzieht, denn: wo hätte es eine subjektive Kamera in Permanenz je in "normalen Filmen" gegeben? Dennoch wäre es interessant, sich eine Filmhandlung vom Standpunkt eines Blinden her vorzustellen. Wären dann schwarze, graue oder weiße Bilder zu sehen? Vielleicht wären nicht-gegenständliche Bilder adäquat, wie sie die Vorspannsequenz zu "Dancer in the Dark" zeigt, die der abstrakte Maler Per Kirkeby für Lars von Trier entworfen hat. Oder müssten es doch realistische Bilder sein? Die meisten Blinden haben Seherfahrungen. Sie schildern nach ihrer Erblindung, wie Geräusche, Gerüche und Tastempfindungen Bilder in ihrem Kopf heraufbeschwören.[13] Doch wie sollen die Sehenden sich das vorstellen? Die obengenannten Möglichkeiten deuten an, wie wenig wir uns in die Wahrnehmungswelten der Blinden hineinversetzen können. Und wie überheblich die Behauptung letztlich ist, man könne mit filmischen Mitteln das Leben von Blinden bebildern.
Dennoch setzen Filmemacher Sehbehinderung und Blindheit immer wieder mit optischen oder akustischen Mitteln ins Bild. Schon die Entscheidung, eine blinde Figur mittels Großaufnahme von ihrem Umfeld zu isolieren, kann als filmisches Mittel der Perspektivierung begriffen werden. Dazu treten bei den Filmbeispielen dann auffallend düster ausgeleuchtete Szenerien oder unangenehm verstärkte Umweltgeräusche, welche die Erfahrung von Blindheit simulieren sollen. Auf solche filmischen Mittel werde ich bei den untersuchten Filmen immer wieder hinweisen.
Ausgehend von den oben beschriebenen Leitfragen nach Metaphorik, Blindenalltag und Mitteln filmischer Simulation soll ein Weg "vom Groben zum Feinen" beschritten werden. Ausgangspunkt ist das Schockmoment der Blendung, mit drastischen Szenenbeispielen, wie sie wohl jedem Kinozuschauer schon einmal in die Glieder, oder: in die Augen gefahren sind.
Hier ist die Identifikation mit dem Leinwandgeschehen ganz auf das Körperliche beschränkt. In solchen Momenten ist Kino bestenfalls das Hämmerchen, mit dem der Arzt ans Knie des Patienten klopft, um einen Reflex auszulösen. Nach dem Motto: Der Zuschauer ekelt sich – aha: er reagiert normal. Der Bogen spannt sich dann über die blinden Kinofiguren in Mainstream-Produktionen – hier ist im Ansatz eine Identifikation mit Figuren möglich, so plakativ diese auch dargestellt sein mögen – bis hin zu "besonderen Filmen", die wirklich etwas über das Leben der blinden oder sehbehinderten Charaktere erzählen. Ob diese Filme mehr sind als nur "Feelgood-Movies"[14], wird zu untersuchen sein. Eines bleibt zu bedenken: Blinde und Sehbehinderte sind im Alltag Beschränkungen unterworfen, die sich Nichtbehinderte kaum vorstellen können. Diese Menschen sind auf finanzielle, praktische und emotionale Unterstützung in besonderem Maß angewiesen. Die Sensibilisierung des sehenden Publikums mag ein Schritt auf dem Weg zu mehr Verantwortungsgefühl gegenüber Sehbehinderten sein. Doch: wenn ein Zuschauer über das Schicksal eines Blinden zu Tränen gerührt ist, stellt das noch keinen Beitrag zur Emanzipation von Behinderten dar. Ob Spielfilme auf solche Ziele hinwirken können – das lässt sich frühestens im Fazit dieser Arbeit beantworten.
2 Dorn im Auge Blendung als filmischer Schock
Die Blendung[15], die Zerstörung des Auges, war die schwerste Verstümmelungsstrafe in der Antike und im Mittelalter. Sie wurde an Verrätern, Falschmünzern und Dieben vollstreckt.[16] Das Kino hat seine Verwandtschaft mit dem Circus Maximus und dem Hinrichtungs-Spektakel nie ganz abgeschüttelt. In seinen düsteren Folterkammern, in Horror- und Splatter-Filmen, darf sich der sensationslüsterne Zuschauer an zerstochenen, zerstampften, herausgerissenen Augen delektieren, obwohl es ihn schaudert bei der Vorstellung, dies könnte ihm selber zustoßen – oder gerade deshalb.
Doch lässt sich die Blendung im Kino ganz pauschal nur als billige Effekthascherei abtun? Häufig ist die Glaskörper-Verletzung, wie andere Formen von Gewalt in der Kunst, als gewollter Tabubruch geschehen. Eine Blendung, die uns die Augen öffnet. Für uns selbst. Schon im Theater der griechischen Antike erschütterte ein Botenbericht das Publikum, König Ödipus habe sich mit der Spange seiner Gemahlin und Mutter Eurydike geblendet. Und entließ die Zuschauer, so wollte es Aristoteles in seiner Dramentheorie, gereinigt von den hervorgerufenen Leidenschaften.
Eine Blendung, im Bühnen-Off vorgenommen, das erscheint vergleichsweise harmlos. Die Filmkamera ist da unerbittlicher. Kalt registriert sie die Vernichtung dessen, was die Bedingung ihrer eigenen Existenz ist. Ohne die Sehkraft keine Bilder, keine Fotografie, kein Kino. Und doch reizten schon die Macher des frühen Films das Tabu der Blendung aus. 1908, als der stumme Film weit mehr noch als heute auf die Bilder setzte, ließ der Regisseur des ersten Westernfilms, Edwin S. Porter, einen Zugräuber direkt in die Kamera schießen, mitten ins Sehorgan des Zuschauers ("The Great Train Robbery", USA 1908). Sergej Eisenstein gelang sein wohl berühmtester Kameraschuss in "Bronenosec Potemkin" (UdSSR 1952)[17]. Mitten im Massaker auf den Treppen von Odessa fokussiert die Kamera ein Frauengesicht in Großaufnahme. Ihr Brillenglas ist von einer Gewehrkugel zersplittert. In den Sechzigerjahren benutzte der englische Maler Francis Bacon dieses Schreckensbild als Malvorlage.
Bacons Künstlerkollege, Salvador Dalí, hatte 1928 zusammen mit dem Filmregisseur Luis Buñuel den Experimentalfilm "Un Chien Andalou" (Frankreich 1928) geschaffen. Ein kühner, assoziativer Reigen verstörender Bilder ersetzte eine konventionell-zusammenhängende Filmerzählung. Schon die Exposition brennt sich ins Gedächtnis ein. Auf den harmlosen Eingangstitel "Es war einmal" folgt die Ansicht eines Mannes, der auf einem nächtlichen Balkon sein Rasiermesser schärft. Er blickt auf den Mond, durch den gerade eine schmale Wolke zieht. Dann nähert sich der Mann einer jungen Frau und durchschneidet ihr, die Kamera wechselt hier von der Groß- zur Detailaufnahme, mit dem Rasiermesser das linke Auge. Man kann sich denken, dass die Darstellerin in Wirklichkeit unverletzt blieb. Den Schnitt nach dem Schnitt exekutierten Dalí und Buñuel an einem Eselskopf. Die Schockwirkung blieb dennoch nicht aus. Bis heute nicht. Trotzdem hatten die Künstler nicht den plumpen Effekt, sondern tiefere Bedeutung im Sinn. Wie der ganze "Andalusische Hund" lässt sich die Blendungs-Szene als Angriff auf bürgerliche Sehgewohnheiten lesen. Oder als symbolische Vergewaltigung, in dieser Interpretation figurieren Mond und Auge, Messer und Wolke als vaginale, beziehungsweise phallische Entsprechungen.[18]
Die Blendungs-Urszenen des Stummfilms trieben weitere Blüten. Alfred Hitchcock, der subtile Sadist des Kinos, hatte eine besondere Vorliebe für den Frontalangriff aufs Augenpaar. In seinem "Foreign Correspondent" (USA 1941) schießt ein Attentäter einem Diplomaten mitten ins Gesicht, der fällt rücklings eine Treppe hinunter. Hitchcock zitiert hier Eisensteins Treppensequenz. Etwas versteckter verarbeitet er sie noch einmal in eine Innenszene von "Psycho" (USA 1960): Ein Messerhieb trifft den Privatdetektiv mitten ins Auge[19], dann stürzt er eine Treppe hinunter. In Hitchcocks Geflügel-Schocker "The Birds" (USA 1962)[20] blicken wir in die leeren, schwarzen Augenhöhlen eines toten Farmers. Ein Schwarm Seemöven hat sie ihm ausgehackt. Den furchtbaren Akt selbst erspart uns Hitchcock, ganz im Gegenteil zu Mel Gibson, dessen dumpfer Jesus-Film "Passion of Christ" (USA 2004)[21] sich an einer Szene delektiert, in der ein Rabe einem Gekreuzigten ein Auge aushackt. Ein grausames Detail, das man im Neuen Testament vergeblich sucht. Im filmischen Machwerk muss es einer der beiden mit Jesus Gekreuzigten erleiden. Dem Heiland selber erspart Gibson diese Folter. Auch wenn er Jesus sonst nichts erspart. Solche Blendungs-Szenen tauchen im Kino jüngeren Zeit vermehrt auf, denn spätestens seit Quentin Tarantinos Kultfilm "Pulp Fiction" (USA 1995) sind Szenen mit offener Gewalt besonders in Mode gekommen.
Mit Gewalt geht Tarantino selbst inzwischen so inflationär um, dass die Orgien spritzenden Blutes in Filmen wie "Kill Bill: Vol. 1" (USA 2003) für den Zuschauer nur noch ertragen sind, wenn er sich einredet, er betrachte abstrakte Malerei. Die Trägheit des Auges ist unabdingbar für die Filmwahrnehmung – ohne eine gewisse Trägheit des Großhirns verlässt man das Kino wahrscheinlich schon nach zehn Minuten. "Kill Bill: Vol. 2" (USA 2004), der intelligentere Film dieses Diptychons über einen Rachefeldzug, setzt die Grausamkeiten sparsamer ein. Beatrix Kiddo (Uma Thurman) reist im zweiten Teil immer noch durch die Lande, mit einer Todesliste im Gepäck, auf der sie die Namen ihrer früheren Peiniger abhakt. Bevor sie den Schlimmsten von ihnen, Bill, killt, geht es in "Kill Bill: Vol. 2" zunächst Elle Driver (Daryl Hannah) an den Kragen, einer blonden Amazone mit Augenklappe. Da ihr ohnehin schon ein Auge fehlt – Logik des Gewaltkinos – muss auch das zweite dran glauben. Während des Duells setzt Beatrix einen Spezialgriff ein. Die geblendete Elle schlägt im Hintergrund fluchend und orientierungslos um sich. Währenddessen sehen wir Uma Thurmans nackten Fuß genüsslich ein glibberiges Etwas zertreten. Mit einem quietschenden Geräusch hat der Tonmeister das Seine dazu beigetragen.
Mit ähnlich grausamer Frivolität behandelt Steven Spielberg das Thema in "Minority Report" (2002). Der Film spielt in einem futuristischen, orwellschen Amerika, in dem die Personalien aller Bürger als Iris-Daten im Zentralcomputer gespeichert sind. Der Polizist John Anderton (Tom Cruise) wird selbst von der Polizei gejagt und muss sich die Augen durch ein künstliches Augenpaar austauschen lassen, um den Augen-Scanner zu täuschen. Eine komplizierte Operation. Richtig unappetitlich wird es zur OP-Vorbereitung im schmierigen Unterschlupf, bevor ein Unterwelt-Quacksalber und seine Assistentin, die er als "Miss van Auck"[22] vorstellt, zur Tat schreiten. Die Tat wird uns erspart. Aber der Anblick einer am Kopf festzuschnallenden Apparatur mit zwei Saugnäpfen reicht uns schon.[23] Vielleicht hätte das Gerät Buñuel und Dali gefallen.
3 Statisten mit Stock Blinde in Nebenrollen
Drei blinde Männer tapsen an den Straßen von Havanna entlang. Es sind Farbige, jeder von ihnen klopft den Kantstein mit seinem Blindenstock ab, doch als ob das nicht genügte, klammern sie sich aneinander fest. Hätte der soeben verklungene Calypso-Rhythmus des Songs "Three Blind Mice" nicht eher folkloristische Stimmung verbreitet, man müsste seufzen: Welch´ Bild des Jammers! Doch keineswegs taumeln die Drei im nächsten Moment als breughelsche Gestalten in den Abgrund.[24] Mit diesem Täuschungsmanöver beginnt eine der erfolgreichsten Filmserien der Kinogeschichte. Es handelt sich um den Anfang des 007-Streifens "Dr. No" (USA 1962)[25]. Und die Blinden sind gar nicht blind, sondern perfide Auftragskiller, die wenig später zwei Mitarbeiter des britischen Geheimdienstes erschießen. Ein Fall für 007. Wo Gut und Böse so säuberlich voneinander geschieden sind wie in James-Bond-Filmen - nur die Femmes Fatales der Serie dürfen ambivalent sein - können wirklich Blinde nie zur verbrecherischen Seite gehören. Aber Blindheit wird mit Vorliebe als Gag eingesetzt, nicht nur als amüsante Fälschung wie im Fall der "drei blinden Mäuse".
So hat Ödipus persönlich in Mel Brooks "History of the World" (USA 1981)[26] seinen Kurzauftritt, alt, zerlumpt, blind - und lustig anzusehen. Er stolpert unerwartet durchs alte Rom (!) und stößt sich den Kopf an einer Tempelsäule. Höhnisch ruft jemand ihm zu: "Ödipus, wie geht´s der Mutti?" Bei Mel Brooks, der mit seinen Genreparodien in den Siebziger- und Achtzigerjahren den rabaukigen, den bösen Humor kultiviert hat, geht der Anschlag gegen den guten Geschmack noch an. Wenn in der "Stewardessen School" (USA 1986)[27] des gleichnamigen Films blinde Test-Passagiere engagiert werden, um die angehenden Flugbegleiterinnen in schwierige, für manche Zuschauer lachmuskelreizende Situationen zu bringen, ist das Niveau unterschritten. Man nehme einen Blinden, lasse ihn gegen ein Tablett mit Bordverpflegung stolpern und schon lacht das Kino.
Wenn in solchen Filmen Klischee-Blinde als Lachnummer dienen, sind sie nicht mehr als Statisten mit Blindenstock. Doch auch in "Supporting Roles", wie die Amerikaner tragende Nebenrollen nennen, dürfen Blinden-Darsteller kaum Charaktere entwickeln, dienen ihre Rollen eher als Hilfsfiguren, die Stichworte geben. Das wird in Peter Bogdanovichs "Mask" (USA 1988)[28] deutlich. Im Zentrum steht ein Behinderter, ein durch Knochenwachstum des Schädels verunstalteten Jungen, der sich furchtbar einsam fühlt, aber am Schluss der Geschichte doch das "passende" Mädchen findet - das nämlich blind ist.
Blinde Menschen, so wird in Filmen meistens vorausgesetzt, blicken "tiefer", weil sie sich nicht vom Äußeren ihres Gegenübers blenden lassen. Ob wirklich jeder Blinde eine bessere Menschenkenntnis hat als seine sehenden Artgenossen, sei dahingestellt. In Spielfilmen gehört die Fähigkeit des tiefen Blicks in die Seele zur festen Ausstattung eines Blinden. In Alfred Hitchcocks propagandistisch angehauchtem Thriller "Saboteur" (USA 1942)[29] lernen wir den fälschlich eines Sabotage-Anschlags verdächtigten Barry Kane (Robert Cummings) kennen, der auf seiner Flucht vor der Polizei in eine Blockhütte gerät, die einsam im Wald steht. Hier lebt ein Blinder, der Freeman heißt, wunderbar Klavier spielen kann und auch sonst ein feines Gehör hat. Schnell bekommt der alte Mann heraus, dass Barry flüchtig, aber reinen Gewissens ist, ohne dass der Verfolgte ein Wort über die Umstände seiner Anwesenheit verloren hat. Niemand sonst hat Barry bisher geglaubt. Als Freemans Nichte Patricia (Priscilla Lane) überraschend zu Besuch kommt, erkennt sie in Barry den steckbrieflich Gesuchten und will ihn der Polizei ausliefern. Doch Freeman hält sie zurück und wirft ihr die Oberflächlichkeit aller Sehenden vor: "I can see a great deal further than you can. I can see intangible things. For example, innocence."[30] Die sprichwörtliche Weisheit des Blinden, sein Blick ins Herz des prototypischen Amerikaners, bekommt in "Saboteure" eine nationale, ja kriegswichtige Dimension. Denn dadurch, dass Freeman[31] seinen Besucher nicht verrät, wird Barry später die Arbeit der wirklichen Saboteure stoppen können. "Go ahead and do the things I wish I could do"[32], mit diesen Worten verabschiedet Freeman seinen Gast. Der Blinde ruft zur guten Tat auf, doch selber wird er nicht aktiv.
[...]
[1] Bartmann, Silke: Der behinderte Mensch im Spielfilm, Münster 2001, S. 87.
[2] Der Brockhaus definiert Sehbehinderte als "Personen mit stark eingeschränktem Sehvermögen, die sich im Unterschied zu den Blinden in einer ihnen nicht vertrauten Umgebung noch in unterschiedlichem Umfang ohne fremde Hilfe zurechtfinden können, zu einer Teilnahme am gesellschaftlichen und v.a. Berufsleben jedoch nur beschränkt oder gar nicht befähigt sind.".
[3] Telefonat mit Volker Lenk am 1.9.2004.
[4] Heiner, Stefan / Gruber, Enzo: Bildstörungen, Frankfurt am Main 2003, S. 11.
[5] Seeßlen, Georg: Freaks and Heroes, in: Der Tagesspiegel, 9.3.2002.
[6] Vgl. Sontag, Susan: Krankheit als Metapher, Frankfurt am Main 1996.
[7] Heiner/Gruber, S. 25.
[8] Vgl. Kagelmann, H. Jürgen / Zimmermann, Rosmarie: Massenmedien und Behinderte, Weinheim und Basel 1982.
[9] Seeßlen, S. 33.
[10] Viele der in den folgenden Kapiteln erwähnten Filme werden im Internet auf den Seiten von "http://www.disabilityfilms.co.uk" aufgelistet.
[11] Ein Begriff, den der englische Filmwissenschaftler Paul Darke geprägt hat, vgl. Heiner/Gruber S. 51.
[12] Heiner/Gruber, S. 19.
[13] Einen empfehlenswerten Artikel zum Thema "Was Blinde sehen" hat der US-Neurologe Oliver Sacks in der Erstausgabe der Zeitschrift "Leib & Leben" geschrieben.
[14] Vgl. Seeßlen.
[15] Der Brockhaus definiert Blendung als: "das völlige oder teilweise Zerstören des Sehvermögens."
Die bekannteste Form, mit glühenden Eisenstäben, gab dieser Foltermethode den Namen. Es war nicht die einzige Form der Blendung.
[16] Brockhaus, ebd.
[17] Deutscher Titel: "Panzerkreuzer Potemkin".
[18] Vgl. Durgnat, Raymond: Luis Buñuel, London 1967, S. 101.
[19] Der Hitchcock-Biograph Donald Spoto weist darauf hin, dass ein Privatdetektiv im Englischen auch "Private Eye" genannt wird. Vgl. Spoto, Donald: Alfred Hitchcock, Hamburg 1984, S. 509.
[20] Deutscher Titel: "Die Vögel".
[21] Deutscher Titel: "Die Passion Christi".
[22] So lautet der Name in der deutschen Synchronfassung, eine Übertragung des Wortspiels mit "Miss van Eyck" im amerikanischen Original.
[23] Spielberg liebt das Filmzitat – hier erinnert er an eine ganz ähnliche Apparatur in Stanley Kubricks "Clockwork Orange" (England 1971), die einen jugendlichen Straftäter während einer Anti-Gewalt-Therapie
davon abhält, die Augen zu schließen. Sie verhindert jeden Lidschlag, dem Delinquent Alex (Malcolm McDowell) wird Tränenflüssigkeit eingeträufelt, während er sich Gewaltszenen zu Beethoven-Musik ansehen muss – eine Art Gehirnwäsche.
[24] Eine christliche Metapher ist die des Blinden, dem die christlichen Tugenden (2. Brief Petri, I, 9) und der wahre Glaube (Johannes 12, 40; 2. Korinther, 4,4) fehlen. Vor allem die niederländische Kunst hat das zum Bildanlass genommen. Neben Hieronymus Bosch malte Pieter Brueghel d.Ä. im Jahr 1568 mit "Das Gleichnis von den Blinden" eine sechsköpfige Gruppe von Blinden, die in einen Abgrund stürzt.
[25] Deutscher Titel: "James Bond jagt Dr. No" – im Folgenden gilt: die Angabe fehlt, wenn der Film in keiner deutschen Fassung vorliegt oder der deutsche Verleihtitel nicht zu recherchieren war.
[26] Deutscher Titel: "Mel Brooks – Die verrückte Geschichte der Welt".
[27] Deutscher Titel: "Stewardessen Academy".
[28] Deutscher Titel: "Die Maske".
[29] Deutscher Titel: "Saboteur".
[30] "Ich blicke ein ganzes Stück tiefer als Du. Ich sehe Dinge, die man nicht greifen kann. Zum Beispiel Unschuld."
[31] Der Mann trägt einen sprechenden Namen. "Freedom", "Freiheit" ist nicht nur eine Kernformel der modernen Demokratien, er wurde auch als Kampfbegriff von allen Kriegsparteien im Zweiten Weltkrieg benutzt.
[32] "Nun geh und tu das, was ich auch gerne täte."
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