Im Vorfeld der Wahl des ehemaligen luxemburgischen Ministerpräsidenten Juncker im EP zum neuen Präsidenten der KOM am 15. Juli 2014 war von einem „konstitutionelle[n] Machtkampf zwischen ER und EP“ die Rede. Aufgrund der Formulierung der entsprechenden Passage über Auswahl, Nominierung und abschließende Wahl der Person für das Amt des Präsidenten der KOM im für dieses Prozedere erstmals gültigen Vertrag von Lissabon war unklar, ob das EP oder der ER als intergouvernementales Gremium den entscheidenden Einfluss bei der Bestimmung der Person für das Amt des Präsidenten der KOM haben würde beziehungsweise ob sich Anhänger einer Parlamentarisierung der EU durchsetzen würden oder ob Befürworter einer intergouvernementalen Entwicklungsperspektive die Oberhand würden gewinnen können. Die Regelung im Vertragstext ließ beide Interpretationen zu. Die Klärung dieser institutionellen Frage zwischen supranationaler und intergouvernementaler Perspektive sollte der künftigen Entwicklung der Vertragswirklichkeit überlassen und durch die Vertragswirklichkeit sollte auch entschieden werden, welche der beiden genannten Seiten sich durchsetzen würde. Die Wahlen zum EP 2014 und damit verbunden auch die Wahl Junckers zum Präsidenten der KOM fanden erstmals im Geltungszeitraum des Vertrages von Lissabon statt. Der Prozess an dessen Ende die Wahl Junckers zum Präsidenten der KOM stand, stellte damit „gewissermaßen einen kritischen konstitutionellen Moment dar, welcher die Vertragswirklichkeit der Zukunft nachhaltig prägen wird“.
Doch wie sah diese Vertragswirklichkeit bei den Ereignissen vor und nach der Wahl Junckers im EP tatsächlich aus? Wie hat sich dadurch die Wahlfunktion des EP bei der Investitur Junckers dargestellt? Hat das EP gar seine Rechte überschritten, wie es der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Udo Di Fabio behauptet? War also die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes bei der Wahl Junckers in der Vertragswirklichkeit möglicherweise stärker ausgeprägt als im Vertragstext eigentlich vorgesehen?
Gab es, wenn ja, solche Unterschiede zwischen Vertragstext und Vertragswirklichkeit hinsichtlich der Wahlfunktion des EP auch bei Investituren anderer Präsidenten der KOM?
In der vorliegenden Arbeit wird zur Beantwortung dieser Fragen analysiert, ob es Unterschiede zwischen Vertragstext und Vertragswirklichkeit hinsichtlich der Wahlfunktion des EP und deren Ausprägung seit Gründung der EU gab.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Einleitung
- 2 Die Wahlfunktion eines Parlamentes im Allgemeinen und die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in den primärrechtlichen EU-Vertragstexten im Speziellen
- 2.1 Die Wahlfunktion als wichtigste Funktion eines Parlamentes
- 2.2 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in Anlehnung an John Stuart Mill
- 2.3 Entwicklung und Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes seit Gründung der Europäischen Union auf Basis der verschiedenen Vertragstexte
- 2.3.1 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes laut dem Vertrag von Maastricht
- 2.3.2 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes laut dem Vertrag von Amsterdam
- 2.3.3 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes laut dem Vertrag von Nizza
- 2.3.4 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes laut dem Vertrag von Lissabon
- 2.3.5 Zusammenfassung der Vertragstexte und Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in den Vertragstexten
- 3 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in der Vertragswirklichkeit
- 3.1 Ausprägung der Wahlfunktion bei der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission Jaques Santer
- 3.1.1 Auswahl und Nominierung von Santer
- 3.1.2 Meinungsvotum zu Santer im Europäischen Parlament und Rolle des Europäischen Parlamentes bei der Investitur
- 3.1.3 Fazit
- 3.2 Ausprägung der Wahlfunktion bei der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission Romano Prodi
- 3.2.1 Auswahl und Nominierung von Prodi
- 3.2.2 Zustimmungsvotum zu Prodi im Europäischen Parlament und Rolle des Europäischen Parlamentes bei der Investitur
- 3.2.3 Fazit
- 3.3 Ausprägung der Wahlfunktion bei der ersten Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission José Manuel Barroso
- 3.3.1 Auswahl und Nominierung von Barroso
- 3.3.2 Zustimmungsvotum zu Barroso im Europäischen Parlament und Rolle des Europäischen Parlamentes bei der Investitur
- 3.3.3 Fazit
- 3.4 Ausprägung der Wahlfunktion bei der zweiten Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission José Manuel Barroso
- 3.4.1 Auswahl und Nominierung von Barroso
- 3.4.2 Zustimmungsvotum zu Barroso im Europäischen Parlament und Rolle des Europäischen Parlamentes bei der Investitur
- 3.4.3 Fazit
- 3.5 Ausprägung der Wahlfunktion bei der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker
- 3.5.1 Auswahl und Nominierung von Juncker, Wahl Junckers im Europäischen Parlament und Rolle des Europäischen Parlamentes bei der Investitur
- 3.5.2 Fazit
- 3.6 Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in der Vertragswirklichkeit
- 4 Vergleich zwischen Vertragstext und Vertragswirklichkeit und Fazit
- 5 Ausblick auf die Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 und die damit verbundene Investitur des nächsten Präsidenten der Europäischen Kommission
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit untersucht die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes. Sie beleuchtet die Entwicklung dieser Funktion seit der Gründung der Europäischen Union und analysiert die Ausprägung der Wahlfunktion in der Praxis. Die Arbeit konzentriert sich auf die Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission und die Rolle des Europäischen Parlamentes in diesem Prozess.
- Entwicklung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes
- Analyse der Wahlfunktion in der Praxis
- Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission
- Rolle des Europäischen Parlamentes bei der Investitur
- Vergleich zwischen Vertragstext und Vertragswirklichkeit
Zusammenfassung der Kapitel
Kapitel 1 führt in das Thema der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes ein und erläutert die Relevanz der Thematik. Kapitel 2 analysiert die Wahlfunktion eines Parlamentes im Allgemeinen und die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes im Besonderen. Dabei werden die verschiedenen Vertragstexte der Europäischen Union und die darin festgelegte Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes untersucht. Kapitel 3 beleuchtet die Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in der Praxis. Es werden fünf konkrete Fälle der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission untersucht, um die Rolle des Europäischen Parlamentes in diesem Prozess zu analysieren. Kapitel 4 fasst die Ergebnisse der Analyse zusammen und vergleicht die Wahlfunktion im Vertragstext mit der Wahlfunktion in der Vertragswirklichkeit. Kapitel 5 bietet einen Ausblick auf die Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 und die damit verbundene Investitur des nächsten Präsidenten der Europäischen Kommission.
Schlüsselwörter
Wahlfunktion, Europäisches Parlament, Investitur, Präsident der Europäischen Kommission, Vertragstext, Vertragswirklichkeit, EU-Verträge, Maastricht, Amsterdam, Nizza, Lissabon, Europäische Integration, politische Entscheidungsfindung, demokratische Legitimität.
- Quote paper
- Fabian Herbst (Author), 2015, Zwischen Vertragstext und Vertragswirklichkeit. Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/334715