Im Vorfeld der Wahl des ehemaligen luxemburgischen Ministerpräsidenten Juncker im EP zum neuen Präsidenten der KOM am 15. Juli 2014 war von einem „konstitutionelle[n] Machtkampf zwischen ER und EP“ die Rede. Aufgrund der Formulierung der entsprechenden Passage über Auswahl, Nominierung und abschließende Wahl der Person für das Amt des Präsidenten der KOM im für dieses Prozedere erstmals gültigen Vertrag von Lissabon war unklar, ob das EP oder der ER als intergouvernementales Gremium den entscheidenden Einfluss bei der Bestimmung der Person für das Amt des Präsidenten der KOM haben würde beziehungsweise ob sich Anhänger einer Parlamentarisierung der EU durchsetzen würden oder ob Befürworter einer intergouvernementalen Entwicklungsperspektive die Oberhand würden gewinnen können. Die Regelung im Vertragstext ließ beide Interpretationen zu. Die Klärung dieser institutionellen Frage zwischen supranationaler und intergouvernementaler Perspektive sollte der künftigen Entwicklung der Vertragswirklichkeit überlassen und durch die Vertragswirklichkeit sollte auch entschieden werden, welche der beiden genannten Seiten sich durchsetzen würde. Die Wahlen zum EP 2014 und damit verbunden auch die Wahl Junckers zum Präsidenten der KOM fanden erstmals im Geltungszeitraum des Vertrages von Lissabon statt. Der Prozess an dessen Ende die Wahl Junckers zum Präsidenten der KOM stand, stellte damit „gewissermaßen einen kritischen konstitutionellen Moment dar, welcher die Vertragswirklichkeit der Zukunft nachhaltig prägen wird“.
Doch wie sah diese Vertragswirklichkeit bei den Ereignissen vor und nach der Wahl Junckers im EP tatsächlich aus? Wie hat sich dadurch die Wahlfunktion des EP bei der Investitur Junckers dargestellt? Hat das EP gar seine Rechte überschritten, wie es der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Udo Di Fabio behauptet? War also die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes bei der Wahl Junckers in der Vertragswirklichkeit möglicherweise stärker ausgeprägt als im Vertragstext eigentlich vorgesehen?
Gab es, wenn ja, solche Unterschiede zwischen Vertragstext und Vertragswirklichkeit hinsichtlich der Wahlfunktion des EP auch bei Investituren anderer Präsidenten der KOM?
In der vorliegenden Arbeit wird zur Beantwortung dieser Fragen analysiert, ob es Unterschiede zwischen Vertragstext und Vertragswirklichkeit hinsichtlich der Wahlfunktion des EP und deren Ausprägung seit Gründung der EU gab.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Wahlfunktion eines Parlamentes im Allgemeinen und die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in den primärrechtlichen EU-Vertragstexten im Speziellen
2.1 Die Wahlfunktion als wichtigste Funktion eines Parlamentes
2.2 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in Anlehnung an John Stuart Mill
2.3 Entwicklung und Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes seit Gründung der Europäischen Union auf Basis der verschiedenen Vertragstexte
2.3.1 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes laut dem Vertrag von Maastricht
2.3.2 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes laut dem Vertrag von Amsterdam
2.3.3 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes laut dem Vertrag von Nizza .
2.3.4 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes laut dem Vertrag von Lissabon
2.3.5 Zusammenfassung der Vertragstexte und Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in den Vertragstexten
3 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in der Vertragswirklichkeit .
3.1 Ausprägung der Wahlfunktion bei der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission Jaques Santer
3.1.1 Auswahl und Nominierung von Santer
3.1.2 Meinungsvotum zu Santer im Europäischen Parlament und Rolle des Europäischen Parlamentes bei der Investitur
3.1.3 Fazit
3.2 Ausprägung der Wahlfunktion bei der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission Romano Prodi
3.2.1 Auswahl und Nominierung von Prodi
3.2.2 Zustimmungsvotum zu Prodi im Europäischen Parlament und Rolle des Europäischen Parlamentes bei der Investitur
3.2.3 Fazit
3.3 Ausprägung der Wahlfunktion bei der ersten Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission José Manuel Barroso
3.3.1 Auswahl und Nominierung von Barroso
3.3.2 Zustimmungsvotum zu Barroso im Europäischen Parlament und Rolle des Europäischen Parlamentes bei der Investitur
3.3.3 Fazit
3.4 Ausprägung der Wahlfunktion bei der zweiten Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission José Manuel Barroso
3.4.1 Auswahl und Nominierung von Barroso
3.4.2 Zustimmungsvotum zu Barroso im Europäischen Parlament und Rolle des Europäischen Parlamentes bei der Investitur
3.4.3 Fazit
3.5 Ausprägung der Wahlfunktion bei der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker
3.5.1 Auswahl und Nominierung von Juncker, Wahl Junckers im Europäischen Parlament und Rolle des Europäischen Parlamentes bei der Investitur
3.5.2 Fazit
3.6 Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in der Vertragswirklichkeit
4 Vergleich zwischen Vertragstext und Vertragswirklichkeit und Fazit
5 Ausblick auf die Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 und die damit verbundene Investitur des nächsten Präsidenten der Europäischen Kommission ...
Literaturverzeichnis
Anhang
„Es fehlt an Europa in dieser Europäischen Union. Und es fehlt an Union in dieser Europäischen Union.
Das müssen wirändern - und wir müssen das jetzt ändern.“
Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker in sei- ner Rede zur Lage der Union am 09. September 2015
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Übersicht der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission auf Basis der jeweiligen Verträge
Abbildung 2: Sitzverteilung nach den Wahlen zum Europäischen Parlament 2004
Abbildung 3: Zustimmungsvotum zu José Manuel Barroso: Dafür
Abbildung 4: Zustimmungsvotum zu José Manuel Barroso: Dagegen
Abbildung 5: Sitzverteilung nach den Wahlen zum Europäischen Parlament 2009
Abbildung 6: Zustimmungsvotum zu José Manuel Barroso: Dafür
Abbildung 7: Zustimmungsvotum zu José Manuel Barroso: Dagegen
Abbildung 8: Sitzverteilung nach den Wahlen zum Europäischen Parlament 2014
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Mögliche Ausprägungen der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes auf Basis der Vertragstexte
Tabelle 2: Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes auf Basis der jeweiligen Verträge
Tabelle 3: Mögliche Ausprägungen der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in der Vertragswirklichkeit
Tabelle 4: Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in der Vertragswirklichkeit
Tabelle 5: Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes auf Basis der jeweiligen Verträge und in der Vertragswirklichkeit im Vergleich
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1 Einleitung
Im Vorfeld der Wahl des ehemaligen luxemburgischen Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker im Europäischen Parlament zum neuen Präsidenten der Europäischen Kommis- sion am 15. Juli 2014 war von einem „konstitutionelle[n] Machtkampf zwischen Europä- ischem Rat und Europäischem Parlament“ (Jopp und Göler 2014: 157) die Rede. Aufgrund der Formulierung der entsprechenden Passage über Auswahl, Nominierung und abschließende Wahl der Person für das Amt des Präsidenten1 der Europäischen Kom- mission im für dieses Prozedere erstmals gültigen Vertrag von Lissabon (vergleiche
2.3.4) war unklar, ob das Europäische Parlament als supranationales Organ (Brandenbur- gische Landeszentrale für politische Bildung 2015) oder der Europäische Rat als inter- gouvernementales Gremium (Bundeszentrale für politische Bildung 2014) den entschei- denden Einfluss bei der Bestimmung der Person für das Amt des Präsidenten der Euro- päischen Kommission haben würde (Hrbek 2014: 225f.) bzw. ob sich Anhänger einer Parlamentarisierung2 der Europäischen Union durchsetzen würden oder ob Befürworter einer intergouvernementalen Entwicklungsperspektive die Oberhand würden gewinnen können. Die Regelung im Vertragstext ließ beide Interpretationen zu (Jopp und Göler 2014: 157).
Die Klärung dieser institutionellen Frage zwischen supranationaler und intergouverne- mentaler Perspektive sollte der künftigen Entwicklung der Vertragswirklichkeit überlas- sen und durch die Vertragswirklichkeit sollte auch entschieden werden, welche der bei- den genannten Seiten sich durchsetzen würde (Jopp und Göler 2014: 157). Die Wahlen zum Europäischen Parlament 2014 und damit verbunden auch die Wahl Junckers zum Präsidenten der Europäischen Kommission fanden, wie erwähnt, erstmals im Geltungs- zeitraum des Vertrages von Lissabon statt. Der Prozess an dessen Ende die Wahl Junckers zum Präsidenten der Europäischen Kommission stand, stellte damit „gewissermaßen einen kritischen konstitutionellen Moment dar, welcher die Vertragswirklichkeit der Zukunft nachhaltig prägen wird“ (Jopp und Göler 2014: 157).
Doch wie sah diese Vertragswirklichkeit bei den Ereignissen vor und nach der Wahl Junckers im Europäischen Parlament tatsächlich aus? Wie hat sich dadurch die Wahl- funktion des Europäischen Parlamentes (vergleiche 2.2) bei der Investitur Junckers dar- gestellt (vergleiche 3.5)? Hat das Europäische Parlament gar seine Rechte überschritten, wie es der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Udo Di Fabio behauptet (Jopp und Göler 2014: 159)? War also die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes bei der Wahl Junckers in der Vertragswirklichkeit möglicherweise stärker ausgeprägt als im Vertragstext eigentlich vorgesehen?
Gab es, wenn ja, solche Unterschiede zwischen Vertragstext und Vertragswirklichkeit3 hinsichtlich der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes auch bei Investituren anderer Präsidenten der Europäischen Kommission?
In der vorliegenden Arbeit wird zur Beantwortung dieser Fragen analysiert, ob es Unter- schiede zwischen Vertragstext und Vertragswirklichkeit hinsichtlich der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes und deren Ausprägung seit Gründung der Europäischen Union gab.
Hierzu wird zunächst in Abschnitt 2.1 die Bedeutung der Wahlfunktion für ein Parlament allgemein herausgestellt, bevor in Kapitel 2.2 die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in Anlehnung an John Stuart Mill definiert wird.
Auf Grundlage dieser Definition wird in Unterkapitel 2.3 die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes und deren Ausprägung auf Basis der verschiedenen primärrechtlichen EU-Verträge4, also der Vertragstexte, dargestellt.
In Kapitel 3 schließt eine Betrachtung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes und deren Ausprägung in der Praxis, also in der Vertragswirklichkeit, an. Hierzu bewegt sich die Analyse weg von den Vertragstexten hin zu einer Untersuchung der Vertrags- wirklichkeit.
Um die Ausprägung der Wahlfunktion in Vertragstext und Vertragswirklichkeit nachvollziehbar abstufen und messen zu können, wird im Voraus dazu eine Skala in Anlehnung an Martin Sebaldt eingeführt (vergleiche 2.3.5).
In Teil 4 werden die Ergebnisse von 2.3 und 3 gegenübergestellt und so die eingangs gestellte Forschungsfrage, ob es Unterschiede zwischen Vertragstext und Vertragswirklichkeit hinsichtlich der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes und deren Ausprägung seit Gründung der Europäischen Union gab, beantwortet.
Im Schluss in Punkt 5 schließt ein Ausblick auf die Geschehnisse vor und nach den Wah- len zum Europäischen Parlament 2019 und dadurch auch auf die damit verbundene In- vestitur eines neuen Präsidenten der Europäischen Kommission die Arbeit ab. Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes und deren Ausprägung in Vertragstext und Vertragswirklichkeit wurden in der Literatur bislang kaum beachtet oder analysiert. Falls die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes Gegenstand von Untersuchungen oder Betrachtungen war, liegen diese zum Großteil zeitlich schon erheblich zurück: Sebaldt ist bislang der einzige, der verschiedene Parlamentsfunktionen hinsichtlich ihrer Ausprägung in Vertragstext und Vertragswirklichkeit untersucht und dabei zum Teil auch Unterschiede zwischen diesen beiden Ausprägungen festgestellt hat (Sebaldt 2009: 61). Dabei geht er auch auf die in dieser Arbeit behandelte Wahlfunktion ein (Sebaldt 2009: 65-69) und analysiert die Parlamente von 23 Demokratien, nicht aber das Europäische Parlament (Sebaldt 2009: 47).
Hinsichtlich des Europäischen Parlamentes attestiert Philipp Dann der europäischen Volksvertretung zwar, seinen Einfluss bei der Ernennung des Präsidenten der Europäi- schen Kommission in den letzten Jahren deutlich ausgebaut zu haben. Dadurch hat sich die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes kontinuierlich immer stärker ausge- päischen Gemeinschaft bzw. seit dem Vertrag von Lissabon (vergleiche 2.3.4) den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union und den Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (Europäisches Parlament; Informationsbüro in Deutschland 2015).
prägt. Allerdings weißt Dann nicht genauer auf mögliche Unterschiede zwischen Vertragstext und Vertragswirklichkeit hin und misst die Ausprägung der Wahlfunktion auch nicht explizit (Dann 2009: 355).
Laut Dietmar Nickel hat das Europäische Parlament seine Rechte bei der Einsetzung des Präsidenten der Europäischen Kommission erweitert und damit seine Wahlfunktion sukzessive stärker ausgeprägt (Nickel 2005: 75). Nickel präzisiert seine Aussage jedoch nicht weiter und geht ebenfalls nicht auf mögliche Unterschiede zwischen Vertragstext und Vertragswirklichkeit ein (Nickel 2005: 75).
Birgit Suski analysiert die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes zwar in den Gründungsverträgen5 (Suski 1996: 108; 113-115), der Einheitlichen Europäischen Akte6 (Suski 1996: 163) und dem Vertrag von Maastricht (Suski 1996: 170f.), betrachtet dabei aber nur die Vertragstexte und misst keinen Grad der Ausprägung. Wolfgang Wessels postuliert, dass dem Europäischen Parlament mit dem im Vertrag von Maastricht eingeführten Beteiligungsverfahren bei der Investitur des Präsidenten der Eu- ropäischen Kommission der Einstieg in die Wahlfunktion gelungen ist, ohne allerdings die Ausprägung der Wahlfunktion exakt zu messen oder Unterschiede zwischen Ver- tragstext und Vertragswirklichkeit zu untersuchen (Wessels 1995: 895f.). Torsten Oppelland schreibt dem Europäischen Parlament auf Basis des Vertrages von Lissabon eine „nur sehr indirekt[e]“ Wahlfunktion zu. Er betrachtet allerdings nicht die Vertragswirklichkeit und misst die Ausprägung der Wahlfunktion auch nicht ausdrück- lich (Oppelland 2010: 89).
Andere Autoren sprechen dem Europäischen Parlament eine Wahlfunktion gänzlich ab (Dauses und Fugmann 1995: 25-29; Europäische Gemeinschaften / Europäisches Parlament und Pöhle 1989: 3f.; Grabitz u. a. 1988: 7; Grabitz und Schmuck 1984: 438; Lorenz 2000: 56-71; Schmuck 1994: 21f.).
Insofern ist die nun folgende Analyse die erste, die sich mit möglichen Unterschieden zwischen Vertragstext und Vertragswirklichkeit hinsichtlich der Wahlfunktion des Euro- päischen Parlamentes und deren Ausprägung seit Gründung der Europäischen Union aus- einandersetzt.
2 Die Wahlfunktion eines Parlamentes im Allgemeinen und die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in den primärrechtlichen EU-Vertragstexten im Speziellen
2.1 Die Wahlfunktion als wichtigste Funktion eines Parlamentes
Um die für diese Arbeit zentrale Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes und deren Definition (vergleiche 2.2) besser erfassen und nachvollziehen zu können, wird an dieser Stelle auf die Parlamentarismusforschung zurückgegriffen. Die Parlamentarismusforschung versucht, begriffliche und analytische Ordnung in den vielfältigen Aufgabenbereich von Parlamenten zu bringen (Marschall 2005: 133).
Die ersten, die die Aufgaben eines Parlamentes differenzierten, waren John Stuart Mill und Walter Bagehot (Göler 2011: 292). Der Brite Bagehot fasste dabei erstmals in einem Funktionskatalog Aufgaben und bestimmte Funktionen eines Parlamentes zusammen (Patzelt 2003: 18) und machte bereits 1867 in Bezug auf das House of Commons, das britische Parlament (UK Parliament 2015b), folgende fünf Parlamentsfunktionen aus: Die „elective [function]“ (Bagehot 1867: 165), die „expressive function“ (Bagehot 1867: 166), die „teaching function“ (Bagehot 1867: 166), die „informing function“ (Bagehot 1867: 166f.)“ und die „function of legislation“ (Bagehot 1867: 168).
Andere Parlamentarismusforscher nennen folgende Funktionen:
Stefan Marschall sieht als Hauptfunktionen eines Parlamentes die Wahl, die Gesetzge- bung, die Kontrolle und die Kommunikation (Marschall 2005: 135). Werner J. Patzelt nennt die Vernetzungsfunktion, die Responsivitätsfunktion, die Dar- stellungsfunktion, die kommunikative Führungsfunktion, die Regierungskontrolle, die Gesetzgebung, die Wahlfunktion und die Kreationsfunktion (Patzelt 2003: 43).
Martin Sebaldt zählt als Parlamentsfunktionen die Kreation, die Gesetzgebung, die Kontrolle und die Repräsentation und Kommunikation auf (Sebaldt 2009: 61). Diese nur kleine Auswahl an verschiedenen, in der Literatur zur Parlamentarismusforschung prominenten, Funktionskatalogen zeigt bereits, wie unterschiedlich diese Kataloge aussehen können. Ihnen allen gemein ist aber, wenn auch zum Teil durch andere Formulierungen, die Nennung der Wahlfunktion, was bereits auf eine exponierte Stellung dieser Funktion in der Parlamentarismusforschung hindeutet.
Diese Auffassung lässt sich auch durch den bereits erwähnten Walter Bagehot bestätigen, der die Wahlfunktion als wichtigste aller Parlamentsfunktionen bezeichnet: „The elective [function] is now the most important function of the [parliament]“ (Bagehot 1867: 165). Die Wahlfunktion genießt in der Parlamentarismusforschung offenkundig einen beson- ders hohen Stellenwert.
2.2 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in Anlehnung an John Stuart Mill
Nach der theoretischen Einordnung wird die Wahlfunktion des Europäischen Parlamen- tes an sich definiert. Auf dieser Definition baut die weitere Arbeit auf. Generell bezieht sich die Wahlfunktion im Parlamentarismus und in der Parlamentaris- musforschung meist nur auf den Premierminister (von Beyme 2014: 234), also auf den Chef der Exekutive (von Beyme 2014: 12). Der von Stefan Marschall als Klassiker (2005: 134) und von Daniel Göler als Mitbegründer der Differenzierung von Parlamentsaufga- ben (2011: 292) bezeichnete John Stuart Mill schreibt über die Wahlfunktion des briti- schen House of Commons:
„It has never been thought desirable that Parliament should itself nominate even the members of a Cabinet. It is enough that it vir- tually decides who shall be prime minister“(Mill 1950: 314).
Mill definiert die Wahlfunktion des House of Commons so, dass alleine das Parlament entscheidet, wer Premierminister, also Chef der britischen Exekutive (Helms 2005: 195), wird.
In Bezug auf diese Arbeit stellt der Präsident der Europäischen Kommission als Chef der Exekutive der Europäischen Union (Decker 2003: 19) das Äquivalent zum britischen Premierminister dar, wobei das Europäische Parlament als Parlament der Europäischen Union (Weidenfeld 2013: 116) mit dem House of Commons vergleichbar ist. Dies bedeutet für die Wahlfunktion auf Ebene der Europäischen Union, dass in Anlehnung an John Stuart Mill alleine das Europäische Parlament entscheiden müsste, wer Präsident der Europäischen Kommission wird.
Soll nun dem folgend einzig und allein das Europäische Parlament entscheiden, wer Präsident der Europäischen Kommission wird, muss das Europäische Parlament die entscheidende Rolle bei dem Prozess der Auswahl der Person für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission sowie deren anschließenden Nominierung und, wie sich in der Analyse der Vertragstexte zeigen wird, dem abschließenden Votum bzw. der Wahl im Europäischen Parlament spielen (Wonka 2004: 9). Dieser gesamte Prozess bestehend aus Auswahl, Nominierung und Votum bzw. Wahl wird im Weiteren zusammengefasst als die Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission, sodass sich die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes voll und ganz auf die Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission bezieht (Göler 2011: 302).
Die verschiedenen Abläufe der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission auf Basis der in den folgenden Abschnitten untersuchten Verträge sind in Kapitel 2.3.5 in Abbildung 1 grafisch dargestellt und zusammengefasst.
Um zu untersuchen, wie die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in den Ver- tragstexten (vergleiche 2.3) und in der Vertragswirklichkeit (vergleiche 3) ausgeprägt war bzw. ist, muss die Rolle des Europäischen Parlamentes bei der Auswahl der Person für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission sowie deren anschließenden No- minierung und dem abschließenden Votum bzw. der Wahl im Europäischen Parlament, also bei der gesamten Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission, bewertet werden.
Die Intensität dieser Rolle, die das Europäische Parlament bei der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission spielt, ist somit ein Maß für die Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes.
Die Definition für die Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in Anlehnung an John Stuart Mill lautet folglich:
Je höher die Intensität der Rolle, die das Europäische Parlament bei der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission spielt, desto größer ist die Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes.
Um im Folgenden die Forschungsfrage dieser Arbeit zu beantworten, wird zuerst analy- siert, wie die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes auf Basis der verschiedenen primärrechtlichen EU-Verträge, also durch die Vertragstexte, ausgeprägt war bzw. ist (vergleiche 2.3) bevor die Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in der Vertragswirklichkeit betrachtet wird (vergleiche 3). Abschließend werden beide Erkenntnisse zusammengefasst und miteinander verglichen (vergleiche 4).
2.3 Entwicklung und Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes seit Gründung der Europäischen Union auf Basis der verschiedenen Vertragstexte
In diesem Unterkapitel wird untersucht, wie sich die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes allein auf Basis der verschiedenen Vertragstexte entwickelt hat und wie stark sie dabei jeweils ausgeprägt war bzw. ist.
Dazu werden im Folgenden diejenigen Artikel der entsprechenden Verträge analysiert, die sich mit der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission befassen. Denn wie in 2.2 definiert, konzentriert sich die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes und deren Ausprägung darauf, wie hoch die Intensität der Rolle war bzw. ist, die das Europäische Parlament bei der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission, in diesem Falle aufgrund der Vertragstexte, spielte bzw. spielt.
Erstmals fand das Europäische Parlament im Vertrag von Maastricht, mit dem die Euro- päische Union gegründet wurde (Europäisches Parlament; Informationsbüro in Deutsch- land 2015), bei der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission Erwähnung (Schmidt und Schünemann 2009: 354). Deshalb werden im Folgenden alle primärrecht- lichen EU-Verträge seit dem Vertrag von Maastricht untersucht, um festzustellen, wie sich die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes auf Basis der verschiedenen Ver- träge entwickelt hat. In einer abschließenden Zusammenfassung (vergleiche 2.3.5) wird dargelegt, wie stark die Wahlfunktion dabei jeweils ausgeprägt war bzw. ist.
2.3.1 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes laut dem Vertrag von Maas- tricht
Wie bereits oben erwähnt, wurde das Europäische Parlament erstmals durch den Vertrag von Maastricht an der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission beteiligt. Mit dem Vertrag von Maastricht, der 1991 von den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union unterzeichnet wurde und Ende 1993 in Kraft trat (Schmidt und Schünemann 2009: 352), wurde der Vertrag über die Europäische Union geschaffen und der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft geändert (Europäisches Parlament; Informationsbüro in Deutschland 2015). Bezüglich der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes heißt es dort in Artikel 158, Absatz 2:
„Die Regierungen der Mitgliedstaaten benennen nach Anhörung des Europäischen Parlaments im gegenseitigen Einvernehmen die Persönlichkeit, die sie zum Kommissionspräsidenten zu er-nennen beabsichtigen. [...] Der Präsident und dieübrigen Mit-glieder der Kommission [...] stellen sich als Kollegium einem Zu-stimmungsvotum des Europäischen Parlaments. Nach Zustim-mung des Europäischen Parlaments werden der Kommissions-präsident und dieübrigen Mitglieder der Kommission von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen ernannt“(Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 1992: 224/59).
Bereits nach Auswahl der Person für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kom- mission musste das Europäische Parlament von nun an angehört werden. Das Anhörungs- und Meinungsvotum (Nasshoven 2011: 88) dabei war zwar nicht bindend (Peñalver García und Priestley 2015: 17), spielte aber bei der Investitur des Präsidenten der Euro- päischen Kommission Jacques Santer eine wichtige Rolle (vergleiche 3.1.1 und 3.1.2). Nach der anschließenden Nominierung musste das Europäische Parlament wegen des Vertrages von Maastricht seine Zustimmung für die gesamte Europäische Kommission inklusive des von den Regierungen der Mitgliedstaaten ausgewählten und nominierten Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission geben. Durch das Erfordernis dieses Zustimmungsvotums wurde das Europäische Parlament formal in die Lage versetzt, unter Umständen jeden Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Euro- päischen Kommission scheitern zu lassen. Allerdings hätte das Europäische Parlament zu diesem Zweck auch die gesamte Europäische Kommission ablehnen müssen, da nur über die gesamte Europäische Kommission inklusive des Präsidenten abgestimmt wurde, nicht aber vorher schon exklusiv und bindend nur über den Präsidenten der Europäischen Kom- mission. Das änderte sich mit dem folgenden Vertrag von Amsterdam (vergleiche 2.3.2).
2.3.2 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes laut dem Vertrag von Ams- terdam
Durch den Vertrag von Amsterdam, 1997 unterzeichnet und 1999 in Kraft getreten (Schmidt und Schünemann 2009: 360), wurde der mit dem Vertrag von Maastricht ge- schaffene Vertrag über die Europäische Union und auch der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft geändert (Bundesregierung 2015). Bezogen auf die Investi- tur des Präsidenten der Europäischen Kommission wurde im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft der Artikel 158 in Artikel 214 umnummeriert und in Absatz 2 nun folgendermaßen gefasst:
„Die Regierungen der Mitgliedstaaten benennen im gegenseiti-gen Einvernehmen die Persönlichkeit, die sie zum Präsidenten der Kommission zu ernennen beabsichtigen; diese Benennung bedarf der Zustimmung des Europäischen Parlaments. [...] Der Präsident und dieübrigen Mitglieder der Kommission [...] stellen sich als Kollegium einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments. Nach Zustimmung des Europäischen Parlaments werden der Präsident und dieübrigen Mitglieder der Kommis-sion von den Regierungen der Mitgliedstaaten im gegenseitigen Einvernehmen ernannt“(Amtsblatt der Europäischen Gemein-schaften 1997: 340/268).
An Auswahl und Nominierung der Person für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission änderte sich durch den Vertrag von Amsterdam nichts. Hier hatten weiterhin die Regierungen der Mitgliedstaaten alle Kompetenzen. Das Europäische Parlament musste nun aber nicht nur dem gesamten Kollegium der Europäischen Kommission in- klusive ihres Präsidenten zustimmen, sondern hatte jetzt mit dem Zustimmungsvotum das Recht und die Pflicht erhalten, schon vorher exklusiv und bindend über den vorgeschla- genen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission abzustim- men. Nun war das Europäische Parlament in der Lage, einen für das Europäische Parla- ment unerwünschten Kandidaten zu verhindern ohne dabei, wie noch im Vertrag von Maastricht (vergleiche 2.3.1), die restliche Europäische Kommission ablehnen zu müssen.
2.3.3 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes laut dem Vertrag von Nizza
Der Vertrag von Nizza wurde 2001 unterzeichnet (Schmidt und Schünemann 2009: 362), trat 2003 in Kraft (Schmidt und Schünemann 2009: 366) und änderte wiederum den Vertrag über die Europäische Union und den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Europäisches Parlament; Informationsbüro in Deutschland 2015). Hinsichtlich der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes wurde dabei auch Artikel 214, Absatz 2 geändert und wie folgt formuliert:
„Der Rat, der in Zusammensetzung der Staats- und Regierungs-chefs tagt, benennt mit qualifizierter Mehrheit die Persönlichkeit, die er zum Präsidenten der Kommission zu ernennen beabsich-tigt; diese Benennung bedarf der Zustimmung des Europäischen Parlaments. [...] Der Präsident und dieübrigen Mitglieder der Kommission [...] stellen sich als Kollegium einem Zustimmungs- votum des Europäischen Parlaments. Nach Zustimmung des Eu-ropäischen Parlaments werden der Präsident und dieübrigen Mitglieder der Kommission vom Rat mit qualifizierter Mehrheit ernannt“(Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 2002: 325/121).
Bezüglich der Vertragsgrundlage der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes än- derte sich durch den Vertrag von Nizza faktisch nichts. Zwar mussten die Staats- und Regierungschefs nun nicht mehr, wie noch im Vertrag von Amsterdam (vergleiche 2.3.2), im gegenseitigen Einvernehmen entscheiden. Durch den Vertrag von Nizza war bereits eine qualifizierte Mehrheit für einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Euro- päischen Kommission ausreichend. Diese Änderung hatte aber auf die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes an sich zunächst keinerlei Einfluss, sodass die Inhalte über die Investitur der Präsidenten der Europäischen Kommission und damit die Äußerungen über die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes auf Grundlage des Vertrages von Ams- terdam (vergleiche 2.3.2) auch nach dem Vertrag von Nizza Bestand hatten.
2.3.4 Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes laut dem Vertrag von Lissa- bon
Durch den 2007 unterzeichneten, 2009 in Kraft getretenen (Schäfer und Wessels 2014: 442f.) und bis heute gültigen Vertrag von Lissabon wurden abermals der Vertrag über die Europäische Union und der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft refor- miert, wobei der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union umbenannt wurde (Schäfer und Wessels 2014: 443). Die Vertragsgrundlage der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes findet sich seit dem Vertrag von Lissabon in Artikel 17, Absatz 7 des Vertrages über die Europäische Union:
„Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Euro- päischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder. [...] Der Präsi-dent, der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheits-politik und dieübrigen Mitglieder der Kommission stellen sich als Kollegium einem Zustimmungsvotum des Europäischen Par-laments. Auf der Grundlage dieser Zustimmung wird die Kom-mission vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit er-nannt“(Amtsblatt der Europäischen Union 2010: 83/26).
Durch den Vertrag von Lissabon fanden erstmals die Wahlen zum Europäischen Parla- ment und das Ergebnis dieser Wahlen Eingang in die Vertragsgrundlage der Wahlfunk- tion des Europäischen Parlamentes. So muss von nun an das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament vom Europäischen Rat bei der Auswahl des Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission berücksichtigt werden. Neu ist auch, dass das Europäische Parlament den Präsidenten der Europäischen Kommission dem Wortlaut nach nun auch tatsächlich wählen muss, während es vorher nur zustimmen musste. Der Begriff „Wahl“ zeigt dabei gegenüber der EU-Bevölkerung die Bedeutung der Wahlen zum Europäischen Parlament für die Bildung der Europäischen Kommission und vor allem für die Besetzung des Amtes ihres Präsidenten, „was die Relevanz der Wahlen in der öffentlichen Wahrnehmung deutlich steigern könnte“ (Göler 2011: 303).
2.3.5 Zusammenfassung der Vertragstexte und Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in den Vertragstexten
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Übersicht der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission auf Basis der jeweiligen Verträge; eigene Darstellung mit Material von Wonka (2004: 9)7
In Abbildung 1 sind in einem Überblick die in 2.3.1, 2.3.2, 2.3.3 und 2.3.4 dargestellten Abläufe der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission auf Basis der jeweiligen Verträge grafisch zusammengefasst. Dabei besteht jede Investitur wie in 2.2 erläutert aus Auswahl, Normierung und Votum bzw. Wahl. Jeder dieser Teile ist dabei mit seinem entsprechenden EU-Organ dargestellt.
Um den Grad der Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes auf Basis der oben genannten und hier dargestellten verschiedenen Vertragstexte und später auch in der Vertragswirklichkeit (vergleiche 3) messen zu können, wird hinsichtlich einer ge- eigneten Skala für die Ausprägung der Wahlfunktion auf den Ansatz von Martin Sebaldt zurückgegriffen.
Sebaldt untersucht wie eingangs beschrieben die formale und faktische Ausprägung von verschiedenen Funktionen von Parlamenten, darunter auch die Ausprägung der Wahlfunktion (Sebaldt 2009: 65-69). Seine Analyse kann dementsprechend eine Orientierung für diese Arbeit geben.
Auch hier gilt die oben formulierte und an John Stuart Mill angelehnte Definition für die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes:
Je höher die Intensität der Rolle, die das Europäische Parlament bei der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission spielt, desto größer ist die Ausprägung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes.
Sebaldt nennt in seiner Analyse generell fünf mögliche Ausprägungen für die Wahlfunk- tion: sehr gering, gering, mittelgroß, groß, sehr groß (Sebaldt 2009: 239). Die Intensität der Rolle, die das Europäische Parlament bei der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission spielt und die ein Maß für die Ausprägung der Wahlfunk- tion ist (vergleiche 2.2), steigt dabei kontinuierlich von sehr gering bis sehr groß, da das Europäische Parlament bei jeder nächsten Stufe auf der Skala einer größere Rolle bei der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission spielt und so stärker an der In- vestitur beteiligt ist. Dadurch ist die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes bei je- der nächsten Abstufung von sehr gering bis sehr groß immer größer ausgeprägt. Um jeden der vier behandelten Vertragstexte eine der fünf möglichen Ausprägungen zu- zuordnen, wird auf eine von Sebaldt für seine Arbeit erstellte Tabelle zurückgegriffen (siehe Anhang 1). Sebaldt verwendet diese Tabelle als Analyseinstrument, um die Aus- prägung der verschiedenen Parlamentsfunktionen, darunter auch die der Wahlfunktion, zu messen und jeweils einem der fünf Werte (sehr gering, gering, mittelgroß, groß oder sehr groß) zuzuordnen (Sebaldt 2009: 239-243). Für die Analyse der vier Vertragstexte wurde der entsprechende Teil der Tabelle von Sebaldt leicht verändert, um ihn der Thematik dieser Analyse anzupassen.
In Anlehnung an die Tabelle von Sebaldt ergibt sich als Analysetool für die Messung der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes in den Vertragstexten die nachstehende Tabelle mit folgenden möglichen Ausprägungen8:
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 1: Mögliche Ausprägungen der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes auf Basis der Vertragstexte; eigene Darstellung9 in Anlehnung an Sebaldt (2009: 239)
In Verbindung der Definition der Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes mit der an Sebaldt angelehnten Tabelle 1 und der Untersuchung der Rolle des Europäischen Parla- mentes bei der Investitur des Präsidenten der Europäischen Kommission auf Basis der verschiedenen Verträge lassen sich durch die verschiedenen Vertragstexte für die Wahl- funktion des Europäischen Parlamentes folgende Ausprägungen ausmachen:
[...]
1 Zur besseren Lesbarkeit wird in der weiteren Arbeit die maskuline Form personenbezogener Substantive verwendet. Frauen, Männer und andere Geschlechter werden mit dem Text jedoch gleichermaßen ange- sprochen.
2 Unter Parlamentarisierung der Europäischen Union wird hier der Prozess verstanden, dem Europäischen Parlament sukzessiv eine bestimmte Rolle beim policy making, bei der Kontrolle der Exekutivorgane und in der öffentlichen Debatte zuzuweisen (Costa 2008: 259) bzw. dem Europäischen Parlament schrittweise mehr neue Kompetenzen und Rechte zuzusprechen (Rittberger und Schimmelfennig 2005: 60f.).
3 In der Literatur ist bei ähnlichen Sachverhalten stets von Verfassung bzw. Verfassungsrecht (statt Ver- tragstext) und Verfassungswirklichkeit (statt Vertragswirklichkeit) die Rede (Batt 2003; Grosser 1983; Hennis 1968). Da aber die rechtliche Grundlage der Europäische Union und damit auch des Europäischen Parlamentes und dessen Wahlfunktion keine Verfassung sondern stets ein Vertrag (vergleiche 2.3) war bzw. ist (Schäfer und Wessels 2014), wird in dieser Arbeit das Begriffspaar Vertragstext und Vertragswirk- lichkeit als Ausdruck der Analyse von Theorie (Vertragstext) und Praxis (Vertragswirklichkeit) verwendet.
4 Das sogenannte Primärrecht ist das ranghöchste Recht der Europäischen Union (EUR-Lex 2010b). Es umfasst im Wesentlichen den Vertrag über die Europäischen Union, den Vertrag zur Gründung der Euro-
5 Mit den sogenannten Gründungsverträgen wurde die Europäische Gemeinschaft bzw. die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als Vorläufer der heutigen Europäischen Union gegründet (Novak 2015).
6 Die Einheitliche Europäische Akte war mit ihrem Inkrafttreten 1987 die erste große Reform der Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaft (EUR-Lex 2010a).
7 MS=Mitgliedstaaten, ER=Europäischer Rat, Es=Einstimmigkeit, qM=qualifizierte Mehrheit, EP=Europäisches Parlament, MV=nicht bindendes Meinungsvotum, ZV=Zustimmungsvotum, eM=einfache Mehrheit, aM=absolute Mehrheit; KP=Präsident der Europäischen Kommission
8 Trotz der durch Tabelle 1 vorliegenden Differenzierung lässt sich möglicherweise nicht jeder Vertragstext spiegelbildlich einer der fünf Ausprägungen zuordnen. Bei etwaigen Differenzen wird deshalb diejenige Ausprägung gewählt, die dem Vertragstext am nächsten kommt.
9 KP=Präsident der Europäischen Kommission, ER=Europäischer Rat, EP=Europäisches Parlament
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- Fabian Herbst (Author), 2015, Zwischen Vertragstext und Vertragswirklichkeit. Die Wahlfunktion des Europäischen Parlamentes, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/334715
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