Melford Spiros Text „Cultural Relativism and the Future of Anthropology“ erschien inmitten einer debattenfreudigen Zeit über die Dichotomie Relativismus und Universalismus. Das Problem des Partikulären und des Ganzen beschäftigte zwar schon seit langer Zeit die Philosophen. Nichts Neues, die Frage – hingegen eine Modifikation in der Verwendung dieser Problematik. Während bis anhin zumeist auf philosophischer Ebene von Relativismus die Rede war, bezog sich die entstandene Debatte auf eine Anthropologiespezifische, auf eine Kulturbetonte. Melford Spiro liefert mit seinem Text einen Beitrag zur Ausdifferenzierung begrifflich naheliegender Formen des Kulturrelativismus, die inhaltlich gar nicht so nahe beieinander liegen, wie es scheint. Seine Unterscheidung des deskriptiven, normativen und epistemologischen Kulturrelativismus sollte für eine transparentere Verwendung der Begriffe förderlich sein. Im Speziellen untersucht Spiro den epistemologischen Kulturrelativismus, was ihn zum Schluss kommen lässt, dass einzig mit der Methode der interpretativen Anthropologie dem unwissenschaftlichen Partikularismus entgegnet werden könne. Schliesslich stellt Spiro die Gretchenfrage: "Can Anthropology be a Science?"
Inhalt
1. Einleitung
2. Drei Formen des Relativismus
2. 1 Deskriptiver Relativismus
2. 2 Normativer Relativismus
2. 3 Epistemologischer Relativismus
2. 4 Drei Relativismen – Gemeinsamkeiten und Unterschiede
3. Übergänge, Abstraktion und Ethnozentrismus
3. 1 Übergänge – Kognitiver Relativismus / Moralischer Relativismus
3. 2 Das Problem der Abstraktion
3. 3 Ethnozentrismus
4. Kritik am epistemologischen Relativismus
4. 1 Die Forderung radikaler kultureller Diversität
4. 2 Funktionalistische Universalität
5. Frage nach der Wissenschaftlichkeit
5. 1 Can Anthropology be a Science?
5. 2 Should Anthropology be a Science?
6. Kritik an der Hermeneutik des epistemologischen Relativismus
6. 1 Die subjektive Methodik hermeneutischer Anthropologie
6. 2 Der ethnographische Partikularismus hermeneutischer Anthropologie
7. Fazit
8. Bibliographie
1. Einleitung
Melford Spiros Text „Cultural Relativism and the Future of Anthropology“ erschien inmitten einer debattenfreudigen Zeit über die Dichotomie Relativismus und Universalismus. Das Problem des Partikulären und des Ganzen beschäftigte zwar schon seit langer Zeit die Philosophen. Nichts Neues, die Frage – hingegen eine Modifikation in der Verwendung dieser Problematik. Während bis anhin zumeist auf philosophischer Ebene von Relativismus die Rede war, bezog sich die entstandene Debatte auf eine Anthropologiespezifische, auf eine Kulturbetonte. Melford Spiro liefert mit seinem Text einen Beitrag zur Ausdifferenzierung begrifflich naheliegender Formen des Kulturrelativismus, die inhaltlich gar nicht so nahe beieinander liegen, wie es scheint. Seine Unterscheidung des deskriptiven, normativen und epistemologischen Kulturrelativismus sollte für eine transparentere Verwendung der Begriffe förderlich sein, ein erstes Ziel in seinem Text.
In dieser Absicht ist schon etwas zur lehrenden Person des Autors gesagt. Melford Spiro ist momentan als emeritierter Professor an der University of California in San Diego tätig, dort wo er das Departement für Anthropologie gegründet hatte. Sein Ansatz ist von der Psychologie und Boas-Schülern beeinflusst worden. Besonderes Augenmerk widmete er der „Culture and Personality“ Richtung, die von Ruth Benedicts Werk „Patterns of Culture“ geprägt war. Grossvater der Culture and Personality Strömung ist für Spiro Sigmund Freud, der seinerseits eine fundierte und erfolgreiche Reprise und Weiterentwicklung der kurz vor der französischen Revolution aufgetauchten Betrachtungen des Unbewussten einläutete (Melford Spiro 1996, S. 760f.; Peter Sloterdijk 1983, S. 108 - 118).
Melford Spiro betrieb Feldforschungen in Mikronesien, Burma und Israel. Er arbeitete auch an struktural-funktionalen „Cross-cultural-studies“ und versuchte ein Werkzeug zur Typisierung und Klassifizierung von sozialen Strukturen zu schaffen, denen Institutionen zu Grunde liegen. Ein im Kern universalistisches Vorhaben, das aber Institutionen und nicht Kulturen vergleicht (Melford Spiro 1965, S. 1097ff.). Als Metapher mögen hier ein Granatapfel und eine Mandarine dienen. Beide sind eine Frucht, analog zur Kultur, doch ihre innere Struktur fällt ganz unterschiedlich aus. Darin und in seiner psychologischen Herkunft liegen möglicherweise die Wurzeln für seine moderate Betrachtung des Kulturrelativismus, der Bejahung einer „psychic unity of man“. Spiro nennt als eigene Einflüsse nebst Freud, den Linguisten Edward Sapir, Rohrschachforscher A. Irving Hallowell oder Margarete Mead und Clyde Kluckhohn.
Das Problem des Kulturrelativismus besteht aus der psychologischen Perspektive in der Frage, wie subjektiv individuelle Charakteristiken im Menschen sich zur Kultur verhalten. Sind diese Charakteristiken das Produkt biologischer, sozio-psychologischer Universalität oder liegt ihnen eine inkommensurable Eigenheit inne, die kulturell ganz spezifisch determiniert ist, die relativ zu Ort und Zeit ist. Melford Spiro taucht in diese fundamentale Frage ab und versucht in seiner Kritik zum hermeneutischen Ansatz des epistemologischen Kulturrelativismus einen wissenschaftstheoretischen Weg aus dem Problem aufzuzeigen. Die interpretative Anthropologie bietet seiner Meinung nach durchaus die Möglichkeit, kulturelle Vielfalt und universelle Charakteristiken von Individuen unter einen Hut zu bringen. Der Übergang vom Individuum zur Kultur gilt wohl als Knackpunkt in diesen Gedanken. Damit Kulturen aber als solche nichttrivial wahrgenommen werden könnten, ist es laut Spiro notwendig, sich der Universalitäten im Individuum bewusst zu bleiben und generelle Theorien - der Wissenschaft zuliebe - nicht auszuschliessen. In dieser Hinsicht ist sein epistemer Fundus nicht zu verkennen und blüht auf, als Vertreter des Cultural and Personality Ansatzes.
Diese Arbeit möchte einen analytischen Einblick in Melford Spiros Text geben und der anthropologischen Relevanz des Relativismusproblems gerecht werden. Im Besonderen erfährt der epistemologische Kulturrelativismus eine herausragende Bearbeitung. Dabei wird Melford Spiros Kritik an der Hermeneutik innerhalb dieses Ansatzes speziell behandelt. Die Abneigung Spiros gegenüber einem partikularistischen Kulturdeterminismus ist unverkennbar und verdient in seiner Kritik grössere Aufmerksamkeit. Schliesslich wird die existentielle Frage gestellt, ob Anthropologie Wissenschaft sein kann und soll. Melford Spiro bejaht.
2. Drei Formen des Relativismus
2. 1 Deskriptiver Relativismus
Melford Spiro definiert den deskriptiven Relativismus auf der Basis des Kulturdeterminismus. Die Kultur, welche bestimmend auf die psychischen, sozialen oder artefaktischen Kreationen des Menschen wirkt, wird beim deskriptiven Relativismus in seiner Vielfalt wiedergegeben. Es handelt sich dabei um eine panoramaartige Beschreibung kultureller Variabilität, welche im Einzelfall durch die Kultur am jeweiligen Ort oder zur jeweiligen Zeit geprägt ist. „Relativism begins with the observation of diversity“, geben Meiland/Krausz in ihrem Vorwort zu “Relativism” Spiro Recht (Meiland/Krausz 1982, S. 1).
Man kann sich eine Auslegeordnung unterschiedlichster Kulturen vorstellen, die fein säuberlich porträtiert sind. Es gibt auf dem Auslegeplatz keine besseren oder schlechteren Plätze (Melford Spiro 1986, S. 259). Das evaluative Element fällt aus Spiros Sicht aber nicht ganz weg. Wo liegen innerhalb des Auslegeplatzes zwischen den Kulturen die Grenzen, die es zulassen von Variabilität zu sprechen? Sobald Grenzen gezogen werden, wird gewertet. Dies muss aber nicht nach einem „right-wrong-Schema“ geschehen, sondern würde für die deskriptive Differenzierung als „true-false-Gegensatz“ auftreten. „True“ im Sinne einer nichtmoralischen, bejahenden Antwort, was das Vorhandensein deskriptiv unterschiedlicher Phänomene betrifft (Melford Spiro 1986, S. 260).
Gemäss Spiro würden Theoretiker Vermutungen über die Grösse der kulturellen Variabilität anstellen. Einige Denker hätten sich jedoch mit dem Rahmen dieser selbst, also dem Kulturdeterminismus, auseinandergesetzt, wobei drei Formen entstanden: eine starke, eine moderate und eine schwache. (Melford Spiro 1986, 259f.)
2. 2 Normativer Relativismus
Beim normativen Relativismus stellt Melford Spiro zwei unterschiedliche Perspektiven fest. Zum einen, diejenige, welche sich mit Kultur per se auseinandersetzt. Zum anderen, eine Sichtweise, die deren mutmasslichen sozialen und psychologischen Produkte berücksichtigt. Beiden ist gemeinsam, dass sie auf den deskriptiven Relativismus aufbauen würden (Melford Spiro 1986, S. 260). Vorerst wird hier die erste Perspektive behandelt.
Spiro legt fest, dass alle Normen kulturell konstituiert seien, ganz im Sinne des Kulturdeterminismus. Es würden aber keine trans kulturellen Normen bestehen, mit denen eine Kultur als besser und eine andere als weniger wert betrachtet werden kann. Transkulturell bedeutet soviel wie jenseits der Kultur stehend. Somit existieren keine objektiven, aussenstehend kulturelle Massstäbe (Melford Spiro 1986, S. 260).
Die kulturelle Variabilität ist gemäss Spiro eine Begründung, dass auch keine pan kulturellen Normen vorhanden sein könnten. Normen die für alle Kulturen gelten würden und als Metanormen eine wertende Relation zu den unzähligen Kulturen knüpfen, seien unzulässig. Für Melford Spiro ist klar: Transkulturelle und pankulturelle Normen sind ethnozentrisch. Die einzig normative Ansicht die zugelassen sei, ist diejenige, dass alle Kulturen im selben Masse wertvoll seien. Eine Betrachtungsweise unter diesen Vorzeichen würde einen Vergleich zwischen totalen Kulturen, einzelner kultureller Systeme oder gar partikulärer kultureller Phänomene zulassen, sofern dieser auf derselben Abstraktionsebene geschieht (Melford Spiro 1986, S. 260).
Was die sozialen und psychologischen Produkte betrifft, würden diesbezüglich keine universell akzeptierten Wertenormen vorkommen. Alle Ansichten über Verhaltensmuster, Erkenntnis, Emotionen oder die Beurteilung von richtig und falsch, müsse relativ zu den jeweiligen kulturellen Normen der zu untersuchenden Gesellschaft geschehen. Spiro bringt hier ein Beispiel von Ruth Benedict, die schreibt, dass Elemente der Charakteristik der Kwakiutl mit westlichen Normen betrachtet als paranoid bezeichnet werden könnten, aus der Perspektive der Kwakiutl selbst, jedoch als komplett normal (Ruth Benedict 1934).
Einer solchen Auslegung von Relativismus, wie sie auch im moralischen Relativismus vorkommt, liegt ein moderater Kulturdeterminismus zu Grunde. Dies bedeutet, dass davon ausgegangen wird, alle sozialen und psychischen Charakteristiken seien kulturell determiniert. Einige dieser Charakteristiken würden durchaus universelle Phänomene sein. Damit bejaht der moralische Relativismus die These einer „psychic unity of mankind“ (Melford Spiro 1986, S. 265). Ein konkretes Beispiel eines solchen universellen Phänomens ist das Inzesttabu, wie es Claude Levi-Strauss darstellt (Claude Lévi-Strauss 1984, S. 57.).
2. 3 Epistemologischer Relativismus
Spiro erklärt, dass für den epistemologischen Relativismus der menschliche Verstand eines Neugeborenen als Tabula rasa betrachtet wird. Die Kultur determiniert, was es denkt und fühlt und was es schließlich lebt. Damit wird hier die starke Form des Kulturdeterminismus berücksichtigt, wie sie eingangs beim deskriptiven Relativismus erwähnt ist. Der besagte Kulturdeterminismus ist ein umfassender. In Zusammenkunft mit der Ansicht, dass eine grenzenlose kulturelle Diversität bestünde, wächst daraus eine partikularistische Theorie des Kulturdeterminismus. Als Gegensatz zu dieser Theorie steht eine generische Auffassung (Melford Spiro 1986, S. 261). Zwei Begriffe die vorerst nach Klärung schreien.
Der generische Kulturdeterminismus begreift Kultur als menschenspezifische Anpassung. Jede Kultur ist ein mögliches Muster der Anpassung. Es bestände nach diesem Kulturdeterminismus eine Sammlung von psychischen, menschenspezifischen Charakteristiken, einer „psychic unity of mankind“. Die pankulturelle Natur des Menschen sei kombiniert aus der stammesgeschlechtlich determinierten biologischen Einheit und der kulturell determinierten „psychic unity of mankind“ entstanden (Melford Spiro 1986, S. 261). In anderen Worten, die vererbten Voraussetzungen und psychische, durch menschenspezifische Anpassung charakterisierte Muster, würden in jedem Menschen wirken, seien also universell. Diese Kombination von biologischen und psychischen Elementen entspricht nicht der strengen Form des Kulturdeterminismus.
Partikularistischer Kulturdeterminismus besagt, dass jede Kultur eine Sammlung von kulturell partikulären menschlichen Charakteristiken schaffen würde. Deswegen seien alle Kulturen radikal verschieden. Das führt zu einer immensen kulturellen Vielfalt, einer grenzenlosen gar. Jede Kultur sei einzigartig und inkommensurabel, also unvergleichbar. Aus diesem Grunde würde auch die Existenz einer universellen „psychic unity of mankind“ nicht goutiert, da deren Komponenten kulturell variabel seien. Hier wird der Kulturdeterminismus im strengen Sinne aufgefasst (Melford Spiro 1986, S. 261f.).
Für die epistemologischen Relativisten resultieren daraus zwei Schlüsse. Zum einen sind panhumane Generalisationen betreffend Kultur, menschlicher Natur und Geist falsch oder sinnleer, sowie deren untermauernde Theorien trivial oder ungültig. Einzige Ausnahme seien partikuläre Gruppen, wo eine innere Generalisation möglich sei, sofern diese anhand aktueller Informationen über die Gruppe geschehe (Clifford Geertz 1973, S. 25f.). Als Beispiel bringt Spiro, Untersuchungen über Aggressionen bei den Ilongoten, die nicht mit westlicher Ethnopsychologie erklärt werden könnten, sondern eine emische Betrachtungsweise brauchen würden, um gültig zu sein (Melford Spiro 1986, S. 262).
Im zweiten Schluss wird der epistemologische Relativismus dem Partikularismus in der strengen Form gerecht. Da Kulturen inkommensurabel seien und die Devise „all science is ethnoscience“ gelten würde, sei es unmöglich eine Kultur erklären zu wollen. Erklärungen würden auf Generalisationen gründen, die, wie oben gezeigt, für Kulturen unzulässig seien. Deshalb wurde ein neues Modell, dasjenige der interpretativen Anthropologie notwendig, welches eine Kultur anhand deren Symbole ausleuchten würde. Die interpretative Anthropologie bedeutete einen wissenschaftstheoretischen Paradigmawechsel (Melford Spiro 1986, S. 263; Clifford Geertz 1973).
Zusammenfassend kann der epistemologische Relativismus als Theorie der interpretativen Anthropologie betrachtet werden, die der kulturellen Vielfalt und der Inkommensurabilität der Kulturen entspricht. Sie fundiert auf einem strengen Kulturdeterminismus, der kulturspezifisch prägend auf epistemes Neuland des Menschen wirkt.
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