"Die Erzählung", so konstatierte schon Thomas Mann in seinem Roman „Der Zauberberg“, "hat zweierlei Zeit: ihre eigene erstens, die musikalisch-reale, die ihren Ablauf, ihre Erscheinung bedingt; zweitens aber die ihres Inhalts, die perspektivisch ist, und zwar in so verschiedenem Maße, daß die imaginäre Zeit der Erzählung fast, ja völlig mit ihrer musikalischen zusammenfallen, sich aber auch sternenweit von ihr entfernen kann." Und während die musikalisch-reale Zeit individuell und subjektiv ist und so nur bedingt zum Thema analytischer Arbeit werden kann, ist zumindest die Betrachtung der imaginären Zeit der Erzählung auch unter streng wissenschaftlichen Maßstäben möglich. Jeder Text, der nicht nur eine bloße Zustandsbeschreibung ist, schildert einen Verlauf, eine Zeitspanne zwischen zwei Punkten und wird so zu einer Erzählung. Normalerweise wird Zeitlichkeit über konkrete Begriffe der Zeit transportiert, entweder durch die Verwendung von Temporalwörtern, oder die bildliche Beschreibung wachsender und fortschreitender Prozesse. Wenn Entwicklung zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Verlauf nimmt, wird der entstehende Fortschritt auf der Zeitlinie gekennzeichnet.
Eine Erzählung, die frei von Begrifflichkeiten bleibt, die einen konkreten Zeitbezug haben, muss Zeitlichkeit über andere Wege vermitteln. „Gehen“ von Thomas Bernhard ist ein Text, dem eben jene genannten direkten Zugriffe auf die ihm inne wohnende Zeitlichkeit fehlen und sich einer Analyse unter diesem Gesichtspunkt zu entziehen scheint. Dass sich aber trotzdem Möglichkeiten für eine solche Interpretation bieten, will diese Arbeit zeigen. Dabei sollen die Begriffe, die von Gérard Genette in seinem Werk „Die Erzählung“ definiert wurden, die Funktion übernehmen, den Bezug zu einer anerkannten Zeitlichkeitstheorie zu stellen. Gerade weil eine strikte Analyse nach den Maßstäben von Genette aber scheitern muss, dient dieser Bezug mehr dazu sich definierter und bekannter Begrifflichkeiten bedienen zu können. Diese Arbeit versucht den zeitlichen Rahmen der Erzählung herauszuarbeiten, um damit ein Instrumentarium zu liefern, über das dann grundsätzliche Angaben zur erzählten Zeit gemacht werden können. Dabei soll die Entwicklung, die im Mittelpunkt von „Gehen“ steht, auf ihren linearen Ablauf hin geprüft werden und nach Hinweisen gesucht werden, die eine genauere zeitliche Ordnung des Geschehens ermöglichen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Zugang zur Zeitlichkeit
2.1. Ebenen der zeitlichen Staffelungen
2.2. Der Standpunkt des Erzählers
2.3. Der Ursprung des Gesprächs
3. Die Unmittelbarkeit des Geschehens
4. Bewegung als Ausdruck von Zeit
4.1. Die Wiederholung als Takt
4.2. Die Unterbrechung der Bewegung
5. Fazit
Bibliografie
1. Einleitung
"Die Erzählung", so konstatierte schon Thomas Mann in seinem Roman „Der Zauberberg“, "hat zweierlei Zeit: ihre eigene erstens, die musikalisch-reale, die ihren Ablauf, ihre Erscheinung bedingt; zweitens aber die ihres Inhalts, die perspektivisch ist, und zwar in so verschiedenem Maß e, daß die imaginäre Zeit der Erzählung fast, ja v ö llig mit ihrer musikalischen zusammenfallen, sich aber auch sternenweit von ihr entfernen kann."1
Und während die musikalisch-reale Zeit individuell und subjektiv ist und so nur bedingt zum Thema analytischer Arbeit werden kann,2 ist zumindest die Betrachtung der imaginären Zeit der Erzählung auch unter streng wissenschaftlichen Maßstäben möglich. Jeder Text, der nicht nur eine bloße Zustandsbeschreibung ist, schildert einen Verlauf, eine Zeitspanne zwischen zwei Punkten und wird so zu einer Erzählung.
Normalerweise wird Zeitlichkeit über konkrete Begriffe der Zeit transportiert, entweder durch die Verwendung von Temporalwörtern, oder die bildliche Beschreibung wachsender und fortschreitender Prozesse. Wenn Entwicklung zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Verlauf nimmt, wird der entstehende Fortschritt auf der Zeitlinie gekennzeichnet.
Eine Erzählung, die frei von Begrifflichkeiten bleibt, die einen konkreten Zeitbezug haben, muss Zeitlichkeit über andere Wege vermitteln. „Gehen“ von Thomas Bernhard ist ein Text, dem eben jene genannten direkten Zugriffe auf die ihm inne wohnende Zeitlichkeit fehlen und sich einer Analyse unter diesem Gesichtspunkt zu entziehen scheint. Dass sich aber trotzdem Möglichkeiten für eine solche Interpretation bieten, will diese Arbeit zeigen.
Dabei sollen die Begriffe, die von Gérard Genette in seinem Werk „Die Erzählung“ definiert wurden, die Funktion übernehmen, den Bezug zu einer anerkannten Zeitlichkeitstheorie zu stellen. Gerade weil eine strikte Analyse nach den Maßstäben von Genette aber scheitern muss, dient dieser Bezug mehr dazu sich definierter und bekannter Begrifflichkeiten bedienen zu können. Diese Arbeit versucht den zeitlichen Rahmen der Erzählung herauszuarbeiten, um damit ein Instrumentarium zu liefern, über das dann grundsätzliche
Angaben zur erzählten Zeit gemacht werden können. Dabei soll die Entwicklung, die im Mittelpunkt von „Gehen“ steht, auf ihren linearen Ablauf hin geprüft werden und nach Hinweisen gesucht werden, die eine genauere zeitliche Ordnung des Geschehens ermöglichen.
2. Der Zugang zur Zeitlichkeit
Die Erzählung „Gehen“ von Thomas Bernhard scheint nur die Zeit eines Spazierganges zu umfassen, denn fast unbemerkt finden die Ausflüge in anderen Zeitebenen statt. Durch den Einsatz verschiedener Erzählebenen wird der sonst so selbstverständliche Zugang zur Zeitlichkeit erschwert, und auch die gelegentlichen Angaben von bestimmten Zeitpunkten und Zeitspannen generiert nur ein ungenaues Bild der verstrichenen Zeit.3
Die wenigen zeitlichen Angaben sind dabei nur ein Aspekt der Problematik, ein weiterer ist in der Häufigkeit des Zitats zu sehen.
Bernhard scheint durch die Art der Erzählung, die Verwendung und Verstrickung von konstant mindestens zwei Erzähl- und Zeitebenen, das Erstellen eines zeitlichen Ablaufmodells der Erzählung schwierig machen zu wollen.
Ein Ich-Erzähler berichtet von Gesprächen, die er mit einer Figur, namens Oehler geführt hat und zitiert diesen dabei häufig. Oehler selber berichtet seinerseits von Gesprächen, die er mit der Figur Karrer geführt hat und zitiert wiederum diesen sehr häufig.
Die iterative Struktur manifestiert sich auch darin, daß der Text mit zwei einander ständig abwechselnden Erzählperspektiven operiert, der Perspektive eines Ich-Erzählers und der jener Figur namens Oehler, die sich nicht etwa relativieren, sondern bestätigen. 4
Sowohl die Gespräche zwischen dem Erzähler und Oehler als auch die Gespräche zwischen Oehler und Karrer finden im Verlauf eines fast identischen Spazierweges statt. Während dem aktuellen Spaziergang und den damit verbundenen aktuellen Gedankengängen wird versucht, die vergangenen Gedankengänge und Gehbewegungen Karrers nachzuzeichnen, die zu dessen Verrücktwerden geführt haben.
Durch die Verschachtelung der Ereignis- und Erlebniswelten, wird eine eindeutige zeitliche Zuordnung der Ereignisse fast unmöglich gemacht. Die zeitlichen Grenzen, in denen Handlung stattfindet, werden diffus.
2.1. Ebenen der zeitlichen Staffelung
Das Prinzip der verschiedenen Erzählebenen, die durch Zitate, über Umwege immer beim Ich-Erzähler zusammenlaufen, wird durch jede neue Figur um eine Ebene erweitert.
„ Es kommt zu einer iterativen Hintereinanderschaltung von Ä uß erungen, die sich selbst wiederholen, wobei die jeweilige Sprecheridentifikation schwer durchschaubar ist, sofern sei nicht explizit angegeben wird (durch „ sagte A “ oder „ so B “ ).
Eine solche Situation enthält sehr deutlich die Erzählung Gehen: das Gespräch Karrers mit Rustenschacher und dessen Neffe wird Gegenstand des Gesprächs zwischen Oehler und Scherrer, welches wiederum Gegenstand des Gesprächs zwischen Oehler und dem Ich-Erzähler wird, was die Erzählung ausmacht. “ 5
Die erzählte Zeit, die auf den ersten Blick die Zeitspanne eines Spazierganges umfasst, wird so um ein wesentliches Maßgesteigert. Innerhalb dieser Zeitspanne liegen wenigstens der Spaziergang Karrers, inklusive des Verrücktwerdens bei Rustenschacher, und der Spaziergang des Erzählers mit Oehler. Außerdem findet Karrers Einweisung in Steinhof und das Gespräch zwischen Oehler und Scherrer statt.
Wenn man Aussagen über die erzählte Zeit treffen möchte, ist es demnach wichtig, zwischen den unterschiedlichen Ebenen zu differenzieren und auch von unterschiedlichen Zeitrahmen in den jeweiligen Ereignisebenen auszugehen. Inhaltlich wird dieser Aspekt sehr deutlich, wenn die letzten Zeilen der Erzählung von einem im-Bett-liegenden Karrer berichten, und damit einen Zeitpunkt in die Geschichte eingliedern, der allein durch die aktuelle Handlung eine zeitliche Differenz generiert.
2.2. Der Standpunkt des Erzählers
Die Problematik der verschiedenen Erzählebenen macht sich gravierend bemerkbar, wenn man versucht die genaue zeitliche Position des Erzählers zu bestimmen, die elementar für die Betrachtung der Zeit ist.
Es ist unklar, ob der Erzähler gerade mit Oehler spazieren geht oder ob er zu einem späteren Zeitpunkt über das Geschehen berichtet. Der unmittelbare Charakter der Erzählung impliziert eine Zeitdeckung zwischen der Erzählzeit und der erzählten Zeit und verstärkt damit den Eindruck einer unmittelbaren Aufzeichnung. Die vielschichtige und komplexe Thematik der Gespräche lässt dies aber unwahrscheinlich erscheinen.
Zusätzlich verwendet Bernhard eine praktisch dynamische Erzählposition, die mal in der einen mal in der anderen Zeitebene lokalisiert werden kann. Die logische Position des Ich-Erzählers beim aktuellen Spaziergang mit Oehler wird ergänzt durch abstrakte Positionen, die aus der Unklarheit der Zitate resultiert. Durch die Überschneidungen der Charaktere Oehler und Karrer und das Verwischen der Grenzen zwischen dem eigentlichen Erzähler und Oehler als Erzähldistanz, wird eine Zuordnung der Gedankengänge und Aussagen ausgehebelt. Wiederum wird die Verwendung der Zitate zum Stolperstein bei einer genauen Bestimmung des momentanen zeitlichen Standpunktes. Die Inkonsistenz bei der Kennzeichnung des Urhebers macht eine Unterscheidung sogar unmöglich.
Mir fällt auf, wie oft Oehler Karrer zitiert, ohne ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, dass er Karrer zitiert. Oft sagt Oehler mehrere von Karrer stammende Sätze und denkt sehr oft ein von Karrer gedachtes Denken, denke ich, ohne ausdrücklich zu sagen, das, was ich jetzt sage, ist von Karrer, das, was ich jetzt denke, ist von Karrer. 6
Man muss also zwischen Passagen unterscheiden, die eindeutig als ein Zitat Karrers gekennzeichnet sind, und denen, die Oehler als Urheber bezeichnen. Die genannte Neigung Oehlers, nicht immer darauf aufmerksam zu machen, wenn er Karrer zitiert, muss die Konsequenz haben, dass man diese nicht gekennzeichneten Passagen auch zeitlich nicht zuordnen kann. Wird Karrer zitiert, beinhaltet dies immer zwei Erzählmomente, den des Zitierens und den des eigentlichen Sagens, die klar gegeneinander abgegrenzt werden können.
Wird Karrer zitiert, ohne dass es als solches erkenntlich wird, entsteht eine Unklarheit in Bezug auf die zeitliche Bestimmung.
2.3. Der Ursprung des Gesprächs
Ein weiterer Aspekt der Textabschnitte, die durch philosophische Überlegungen gefüllt sind, ist der zeitliche Rahmen, in dem solche Klugheiten entstehen. Die Komplexität des philosophischen Diskurses lässt vermuten, dass nicht die Erkenntnisse eines Nachmittags wiedergegeben werden, sondern Überlegungen, die über einen längeren Zeitraum entstanden sind, komprimiert zusammengefasst werden. Trotz ihrer Unmittelbarkeit und der dadurch vermittelten zeitlichen Geschlossenheit, beinhaltet eine solche Passage eine eventuell viel größere Zeitspanne, da durch die Zusammenfassung eine Raffung stattfindet.
Oehler und Karrer gehen seit langer Zeit immer wieder dieselbe Strecke, und wie sich der Ablauf der Ereignisse während des Spaziergangs wiederholt (Einkehr bei Obenaus, Tauben füttern und Streit bei Rustenschacher), wiederholen sich auch die Gespräche nach dem immer selben Muster.7 Das letzte Gespräch beinhaltet aber immer auch die Überlegungen und Ergebnisse aller vorherigen; und eine Figur, die die letzte Version eines immer wieder geführten Gespräches wiedergeben möchte, muss zwangsläufig auch aus allen vorherigen zitieren.
Die Ähnlichkeit der Abläufe zwischen den Spaziergängen von Oehler und dem Ich-Erzähler und den Spaziergängen von Oehler und Karrer, wird im Gespräch über den Konflikt des Genies mit demösterreichischen Staat belegt: „ Darüber habe ich genau an dieser Stelle mit Karrer gesprochen, nachdem wir ein paar Stunden vorher auf dem Begräbnis Hollensteiners gewesen sind. “ 8 Die Wiederholung der Geh- und Denkmuster in den Spaziergängen Karrers wird an seiner immer wiederkehrenden abschließenden Handlung deutlich.
[...]
1 Mann, Thomas: Der Zauberberg. Frankfurt am Main, 1991.
2 Genette trug diesem Problem Rechnung, indem er das Verhältnis zwischen der Dauer der Geschichte und der Dauer der Erzählung unter der Perspektive der Geschwindigkeit betrachtet.
3 Zum Beispiel erfährt man auf S. 81 (Seitenangaben ohne weitere Quellenangaben beziehen sich im Folgenden auf „Bernhard, Thomas. Gehen. Frankfurt am Main, 1971.), dass Oehler mal nach dreißig Jahren Amerika nach Wien zurückgekehrt ist, allerdings ohne Angabe, wie lange das wiederum zurückliegt. Auch der Bezug zu S. 22 vermittelt nur vage die seitdem verstrichene Zeit von wahrscheinlich zwanzig Jahren.
4 Albes, Claudia: Der Spaziergang als Erzählmodell. Studien zu Jean-Jacques Rousseau, Adalbert Stifter, Robert Walser und Thomas Bernhard. Tübingen/ Basel 1999, S.33.
5 Jahraus, Oliver: Die Wiederholung als werkkonstitutives Prinzip im Œuvre Thomas Bernhards. Frankfurt am Main/ Bern/ New York/ Paris, 1991. (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, Deutsche Sprache und Literatur; Bd. 1257), Hervorhebung im Original, S. 35.
6 Bernhard, Thomas: Gehen. Frankfurt am Main, 1971, S. 22.
7 Auch hier wieder der Verweis auf S.22, in der Oehler behauptet, seit zwanzig Jahren die Klosterneuburgerstraße mit Karrer zu begehen.
8 Bernhard, Thomas: Gehen. Frankfurt am Main, 1971, S.40.
- Quote paper
- Jan Lechner (Author), 2004, Über die Zeit und ihre Strukturen in "Gehen" von Thomas Bernhard, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/32994
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